Panhypopituitarismus mit Diabetes insipidus und Knochen­schmerzen – Steckt eine Systemerkrankung dahinter?

Der 27-jährige Patient stellte sich aufgrund von einseitigen Beinschmerzen vor. In der Vorgeschichte war ein Diabetes insipidus respektive Panhypopituitarismus bekannt. Laboranalytisch bestand eine unzureichende Hormonsubstitution. Im MRI fiel eine grosse Kontrastmittel-aufnehmende Raumforderung in der Hypophyse mit Ausdehnung bis in den Hypothalamus auf. Mittels FDG-PET/CT konnte eine hypermetabole Läsion im Bereich des Femurschaftes links dargestellt werden. Nach Biopsie der Läsion konnte die Diagnose einer multisystemischen Langerhans-Zell-Histiozytose gestellt werden.

Anamnese und Befunde

Der 27-jährige Patient stellte sich aufgrund von Oberschenkelschmerzen linksseitig vor. Die Beschwerden hätten seit einigen Wochen bestanden und an Intensität zugenommen. Die Schmerzen seien in Ruhe von dumpfer Qualität, bei Belastung stechend mit Ausstrahlung in das Knie. Der Patient betreibt regelmässig Kampfsport und fühlte sich durch die Schmerzen eingeschränkt. Die eingenommenen Schmerzmittel (Paracetamol, Ibuprofen) hätten nicht geholfen.
Als Vorerkrankung wurde beim Patienten im Alter von 15 Jahren ein Diabetes insipidus diagnostiziert. Die Abklärungen wurden aufgrund einer zunehmenden Schwäche mit begleitendender Polyurie und Polydipsie veranlasst. Im damals durchgeführten MRI des Neurocraniums wurde ein verdickter Hypophysenstiel mit diffuser Kontrastmittelanreicherung der Hypophyse festgestellt. Das Ganzkörper MRI war unauffällig. Es wurde ein Diabetes insipidus am ehesten im Rahmen einer lymphozytären Hypophysitis festgehalten. Einige Jahre nach Diagnosestellung entwickelte der Patient weitere Hormonausfälle (Hypocortisolismus, Hypothyreose, Hypogonadismus, Wachstumshormonmangel), so dass retrospektiv ein Panhypopituitarismus diagnostiziert wurde. Der Patient hatte allerdings keine regelmässigen endokrinologischen Kontrollen, sodass bislang nur eine Behandlung des Diabetes insipidus mit Desmopressin erfolgte und die übrigen Hormonachsen nicht substituiert wurden.
Systemanamnestisch lagen keine B-Symptome vor. Seit einigen Jahren bestand vermehrte Müdigkeit, keine Visusstörungen und kein regelmässiger Alkohol- oder Nikotinkonsum.
Im Status wies der Patient einen adipösen Habitus (BMI 34 kg/m2) mit fahlem Hautkolorit und spärlicher Körperbehaa­rung auf. Die klinische Untersuchung (inklusive Hirnnerven­status) war unauffällig. Im Bereich der beklagten Schmerzen am linken Bein war keine Hautrötung, keine Druckdolenz oder Überwärmung festzustellen und die Untersuchungen von Hüfte und Knie waren blande. Laboranalytisch fanden sich bis auf den Panhypopituitarismus mit inadäquater Hormonsubstitution keine Auffälligkeiten, insbesondere keine erhöhten Entzündungswerte und keine Blutbildveränderungen.
Zusammenfassend handelt es sich um einen 27-jährigen Patienten mit einseitigen Beinschmerzen und einem langjährig vorbekannten, nicht adäquat substituierten Panhypopituitarismus mit Diabetes insipidus in der Annahme einer durchgemachten lymphozytären Hypophysitis.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Muskuloskelettale Beschwerden sind ein häufiges Problem im klinischen Alltag. (Post)traumatische Ursachen, meist im Bereich von Gelenken, sind bei jungen, respektive aktiven Patienten die häufigste Ursache. Eine solche Anamnese liegt jedoch bei unserem Patienten nicht vor. Bei atypischer Lokalisation und länger anhaltenden unerklärten Knochenschmerzen, muss auch an eine neoplastische Genese gedacht werden. Bei jungen Patienten sind das in erster Linie primäre Knochentumore, bei älteren Patienten sind Metastasen (Prostata-, Mamma-, Bronchialkarzinom) oder Manifestationen eines Multiplen Myeloms zu erwarten.
Im Gegensatz zu den Knochenschmerzen ist ein zentraler Diabetes insipidus, respektive ein Panhypopituitarismus sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein sehr seltenes Krankheitsbild. Die häufigste Ursache des zentralen Diabetes insipidus ist idiopathisch. Bekannte Auslöser sind primäre Tumore (meist Kraniopharyngeom) oder sekundäre intrakranielle Neoplasien (Metastasen, Lymphome, Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH)), infiltrative oder entzündliche Erkrankungen (Sarkoidose, Granulomatose mit Polyangiitis, autoimmune lymphozytäre Hypophysitis) oder traumatische Ursachen (Fraktur, neurochirurgischer Eingriff) [1] (Tabelle1). Bei allen Formen können magnetresonanztomographisch unspezifische Veränderungen (Verdickung des Hypophysenstiels, gesteigerte Kontrastmittel-Anreicherung) auftreten, so dass die bildmorphologischen Veränderungen bezüglich der Diagnosefindung oft nicht weiterhelfen. Aufgrund der Lokalisation ist die Abklärung mittels Gewebeuntersuchung eingeschränkt und oft nicht vertretbar.

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Aufgrund des nicht adäquat substituierten Panhypopituitarismus erfolgte zur Standortbestimmung ein MRI des Neurocraniums. Hier konnte eine atrophierte Hypophyse mit fadendünnem Hypophysenstiel und fehlendem Hypophysenhinterlappen-Signal dargestellt werden. Des Weiteren bestand eine deutlich Kontrastmittel-aufnehmende Raumforderung im Bereich des Hypothalamus, des Chiasmas und Tractus opticus beidseits (Abb.1A und B).
Diese Befunde eines jungen Patienten mit Diabetes insipidus mit progredientem Hormonausfall, atrophierter Hypophyse mit fadendünnem Hypophysenstiel und deutlich Kontrastmittel aufnehmender Raumforderung im Hypothalamus und atraumatischen Knochenschmerzen passen zu einer Manifestation einer multisystemischen LCH, weshalb wir im nächsten Schritt ein Ganzkörper 18F-fluorodeoxyglucose (FDG)PET/CT durchführten. Die Untersuchung zeigte eine intensive FDG-Aufnahme in der hypothalamischen Raumforderung. Im Bereich der beklagten Schmerzen (Femurdiaphyse links) fand sich eine intensiv FDG-avide Raumforderung in der Muskulatur rund um die Femurdiaphyse mit lokalen Arrosionen der angrenzenden Kortikalis, ohne gesteigerte Stoffwechselaktivität im Knochenmark (Abb. 1C und D). Diese Läsion am Femur links war gut zugänglich für eine CT-gesteuerte Biopsie.

Diagnose

Mittels CT-gesteuerter Biopsie konnte Gewebe perifemoral gewonnen werden. In der histopathologischen Aufarbeitung zeigte sich ein Eosinophilen-reiches Entzündungsinfiltrat mit proliferierten atypischen Zellen mit „Kaffeebohnen-artigen“ Kernen. Die Immunhistochemie mit dem Nachweis der typischen Marker CD1a, Langerin, S100 und CD68 führte zur Diagnose einer LCH (Abb. 2). Somit wurde die Diagnose einer multisystemischen LCH mit Hirn und Weichteilbeteiligung gestellt.

Kommentar

Die LCH gehört zusammen mit der Erdheim-Chester Erkrankung zu den häufigsten histiozytären Erkrankungen, wobei es sich insgesamt um sehr seltene Krankheitsentitäten handelt. Die Inzidenz wird auf 1 Fall/1.5 Millionen Menschen pro Jahr geschätzt [2]. Sowohl Kinder als auch Erwachsene können betroffen sein, mit höherer Inzidenz bei Kindern.
Historisch wurde die LCH als entzündliches Geschehen betrachtet und war auch bekannt unter dem Namen „Histiozytosis X“ oder „Hand-Schüller Christian“ Krankheit. Mittlerweile konnte jedoch gezeigt werden, dass die LCH durch eine unkontrollierte Proliferation von Antigen präsentierenden Zellen, den Langerhans Zellen, entsteht. Heutzutage ist bekannt, dass >50% der LCH Fälle eine BRAF p.V600E Mutation[3] und >90% der LCH/ECD Fälle eine aktivierende Mutation im Mitogen-activated-protein kinase/extracellular-signal-regulated kinase (MAPK/ERK) Signalweg aufweisen[4]. Nach diesen Erkenntnissen wurden die histiozytären Erkrankungen 2017 den hämatopoietischen Neoplasien gemäss WHO zugeordnet [5].
Klinisch handelt es sich um ein sehr heterogenes Krankheitsbild mit unterschiedlichem Verlauf vom radiologischen Zufallsbefund bis zum Multiorganversagen. Grundsätzlich wird zwischen einer unifokalen und multifokalen/multisystemischen Erkrankung mit Mehrorganbeteiligung unterschieden. Am häufigsten manifestiert sich die Krankheit im Knochen, meistens in Form von Osteolysen und in der Hypophyse mit prädominantem Diabetes insipidus, der den weiteren Manifestationen viele Jahre vorausgehen kann. Die LCH der Lunge im frühen Stadium präsentiert sich meist in Form von peribronchialen, pulmonalen Noduli mit Transformation zu Zysten im Verlauf der Erkrankung[6]. Die pulmonale LCH ist meist mit Nikotinkonsum assoziiert und wird als Spezialentität betrachtet [7]. Letztlich können aber alle Organe betroffen sein. Die Beschwerden sind meist unspezifisch, was zu einer Verzögerung der Diagnose über Jahre führen kann.
Bei unserem Patienten wurde im Kindesalter ein Diabetes insipidus festgestellt. Eine Systemerkrankung wurde zum Diagnosezeitpunkt gesucht, jedoch nicht gefunden. Aufgrund der Lokalisation (Hypophyse) wäre eine Biopsie mit nicht vertretbarer Morbidität verbunden gewesen. Wie bei unserem Patienten kommt es bei einem hypophysären Befall der LCH häufig als erstes zu einem Ausfall der Hormone aus dem Hypophysenhinterlappen, im Verlauf zu einem progredienten Hormonausfall aus dem Hypophysenvorderlappen und Jahre später zur Beteiligung weiterer Organe (in unserem Fall Weichteile). Die ossäre Beteiligung der LCH ist relativ häufig, dabei ist ein Weichteilbefall typischerweise die Folge einer Ausbreitung aus dem benachbarten Knochen/Knochenmark. Eine primäre Weichteilbeteiligung mit sekundärer Arrosion der benachbarten Kortikalis, wie bei unserem Patienten, ist in der Literatur selten beschrieben. Die Diagnose einer LCH stützt sich auf den histopathologischen Nachweis der Langerhans-Zell-Infiltrate. Eine Biopsie der Hypophyse wird in der Regel nicht durchgeführt, so dass bei einer Hypophysen Manifestation und Verdacht auf eine LCH ein Ganzkörper FDG-PET/CT die Standarduntersuchung ist[7]. Da LCH Läsionen häufig sehr stark FDG-avide sind, wird versucht die Läsion mit dem stärksten Hypermetabolismus zu biopsieren. Aufgrund der unterschiedlichen Zellularität und Beimischung von Entzündungszellen sind grosszügige Biopsien für eine korrekte Diagnose erforderlich.
Histopathologisch sind LCH Läsionen durch proliferierte Zytoplasma-reiche Zellen mit Kaffeebohnen-artigem Kern mit häufig länglicher Membranfurchung charakterisiert. Je nach Aktivität der Langerhans-Zell-Histiozytose finden sich beigemischte eosinophile Granulozyten unterschiedlicher Dichte sowie Lymphozyten und Plasmazellen. Die diagnostischen immunohistochemischen Marker für Langerhans-Zellen sind CD1a und Langerin (CD207). Da >50% der LCH eine BRAF pV600E Mutation aufweisen [3], ist auch die BRAF-V600E Immunhistochemie diagnostisch hilfreich. Bei fehlender immunhistochemischer Expression von BRAF, respektive negativer Mutationsanalyse wird meist ein NGS für Gene, welche im MAPK-ERK Signalweg involviert sind, durchgeführt [7].
Bei unserem Patienten konnte weder eine BRAF Mutation noch eine Alteration der Gene MAP2K1, KRAS, NRAS oder PIK3CA nachgewiesen werden.
Die therapeutischen Möglichkeiten unterscheiden sich stark. Eine unifokale LCH ist bei Erwachsenen Patienten häufig kurativ behandelbar, wobei es verschiedene lokale Therapien gibt (z.B. Radiotherapie, chirurgische Resektion, Steroidinfiltration). Im Spezialfall der Single-system pulmonalen LCH sollte zwingend ein Rauchstopp empfohlen werden. Dies alleine kann bereits zu einem vollständigen Rückgang der LCH Läsionen führen [7].
Da die Krankheit sehr selten ist und es nur äusserst wenige prospektive Studien gibt, ist der optimale Behandlungsalgorithmus der multisystemischen Krankheit unklar. Bei Patienten mit asymptomatischer Erkrankung und ohne Beteiligung von kritischen Organen (wie Hirn, Leber und Lunge) oder Vorliegen einer Endorgan-Dysfunktion kann vorerst beobachtet werden. Bei Patienten mit symptomatischer Erkrankung oder Beteiligung von Hirn, Leber und Lunge gibt es verschiedene therapeutische Möglichkeiten von konventionellen Chemotherapeutika, Bisphosphonaten (bei Knochen prädominanter Erkrankung), Immunmodulatoren, Hydroxyurea, Methotrexat, Hochdosistherapie mit ASCT und zielgerichteten Therapien wie BRAF-und MEK-Inhibitoren. Aufgrund des schnellen Ansprechens und der hohen Ansprechrate wird bei Befall von kritischen Organen (Hirn, Leber, Milz) eine zielgerichtete Therapie favorisiert [7].
Unser Patient ist sehr jung und hatte einen „kritischen Organbefall“ (Gehirn), sodass wir eine MEK-Inhibitor Therapie mit Cobimetinib empfohlen haben. Nach wenigen Wochen Behandlung war unser Patient schmerzfrei. Im FDG-PET/CT konnte nach drei Monaten eine vollständige metabolische Remission der LCH Manifestation am Femurschaft und eine deutliche Re-gredienz der Läsion im Hypothalamus und Hypophyse festgestellt werden. Nach Einleitung der Substitutionstherapie mit Levothyroxin, Testosteron und Hydrocortison verbesserte sich die Leistungsfähigkeit des Patienten markant. Trotz des guten Therapieansprechens wird der Patient lebenslang auf eine Hormonsubstitutionstherapie angewiesen sein.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
LCH Langerhans-Zell-Histiozytose
MAPK/ERK Mitogen-activated-protein kinase/extracellular-signal-reulated kinsase
MRI Magnetresonanztomographie
NGS Next-generation sequencing
(FDG) PET/CT 18F-fluorodeoxyglucose Positronen Emissions Tomographie/Computer Tomographie

 

Dr. med. Martina Bertschinger

Medizinische Onkologie und Hämatologie
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse
8401 Winterthur

Martina.bertschinger@ksw.ch

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie
Manuskript eingereicht: 30.07.2023
Nach Revision angenommen: 18.10.2023

 

  • Bei einem Diabetes insipidus/Panhypopituitarismus und Osteolysen soll an eine LCH gedacht werden.
  • Die LCH ist eine myeloide Neoplasie und die häufigste histiozytäre Erkrankung.
  • Eine bioptische Untersuchung soll erzwungen werden, zur Diagnosesicherung und Mutationsanalyse.
  • Für die LCH existieren unterschiedliche, teils sehr effektive Therapieformen.

1. Maghnie M, Cosi G, Genovese E, et al. Central diabetes insipidus in children and young adults., N Engl J Med. 2000;343(14):998-1007.
2. Makras P, Stathi D, Yavropoulou M, et al, The annual incidence of Langerhans cell histiocytosis among adults living in Greece. Pediatr Blood Cancer. 2020;67(9):e28422.
3. Badalian-Very G, Vergilio J, Degar B, et al. Recurrent BRAF mutations in Langerhans cell histiocytosis. Blood. 2010;116(11):1919-1923.
4. Diamond EL, Durham B, Haroche J, et al. Diverse and targetable kinase alterations drive histiocytic neoplasms. Cancer Discov. 2016;6(2):154-165.
5. Swerdlow SH, Campo E, Harris NL, et al. WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues: International Agency for Research on Cancer, 2017
6. Brauner MW, Grenier P, Tijani K, Battesti JP, Valeyre D. Pulmonary Langerhans cell histiocytosis: evolution of lesions on CT scans. Radiology. 1997;497-502.
7. Goyal G, Tazi A, Go RS, et al., International expert consensus recommendations for the diagnosis and treatment of Langerhans cell histiocytosis in adults, Blood. 2022;139 (17): 2601–2621.

Lebenslange Maskenpflicht

Ein 31-jähriger Landwirt wird auf eine mutmassliche Pneumonie behandelt. Bei Beschwerdepersistenz trotz antibiotischer Behandlung kommt unter Berücksichtigung der Berufsanamnese der Verdacht auf eine Hypersensitivitätspneumonitis Typ Farmerlunge auf. Hinweise aus verschiedenen Untersuchungsmodalitäten und der klinische Verlauf bestätigen die Verdachtsdiagnose. Durch die rasche Diagnosestellung und ergriffenen Massnahmen gelingt ein Verbleib im angestammten Beruf.

Anamnese und Befunde

Ein 31-jähriger, bislang gesunder Landwirt ohne Raucheranamnese stellte sich im Januar in der hausärztlichen Sprechstunde auf Grund von seit zwei Wochen bestehendem Husten, Abgeschlagenheit und Unwohlsein vor. Klinisch imponierten rechtsbasale Rasselgeräusche bei einer Sauerstoffsättigung von 94 %. Unter Annahme einer ambulant erworbenen Pneumonie erfolgte die antibiotische Behandlung mit Clarithromycin. Zwei Wochen später stellte sich der Patient erneut vor, da es seit dem Vortag zu thorakalem Druckgefühl, Kopfschmerzen und vermehrtem Husten mit blutig tingiertem Auswurf gekommen sei. In der Auskultation bestanden feine periphere Rasselgeräusche beider Lungen. Im Labor waren eine milde Leukozytose (9.2 x103/µl, 86% segmentkernige Leukozyten) und eine CRP-Erhöhung auf 51 mg/l auffällig. Ein Röntgen-Thorax zeigte angedeutete beidseitige Infiltrate. Es wurde eine Therapie mit Levofloxacin 400 mg/d, Prednisolon 40 mg/d und Symbicort® 200/6 mcg 2-0-2 Hub begonnen. Bereits einen Tag später zeigte sich eine klinische Besserung. Über die nächsten 14 Tage kam es jedoch – meistens am Abend, besonders nach Tätigkeiten im Stall – zum erneuten Auftreten der Symptome. Klinisch ließen sich erneut bilaterale pulmonale Rasselgeräusche auskultieren bei im Labor normalisierten Entzündungswerten.

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Differentialdiagnostisch zogen wir bei wiederkehrender, anfallsartiger Dyspnoe und Husten ein Asthma bronchiale in Betracht. Die Lungenfunktion zeigte jedoch keine obstruktive, sondern eine leichte restriktive Ventilationsstörung (TLC 75%Soll) mit einer grenzwertig tiefen CO-Diffusionskapazität. Die Oxygenation war in Ruhe dank leichter Hyperventilation knapp suffizient (PO2 70 mmHg, SpO2 95%, PCO2 33 mmHg). Unter mittelschwerer Belastung (100 Watt) bestand eine signifikante Arbeitshypoxämie (PO2 58 mmHg, SpO2 90%, PCO2 32 mmHg). Eine infektiöse Ursache erschien bei Symptompersistenz trotz antibiotischer Therapie und tiefen Entzündungswerten unwahrscheinlich. Zur weiteren Beurteilung wurde ein CT-Thorax durchgeführt, in welchem beidseitige, basal betonte milchglasartige Trübungen des Lungenparenchyms zur Darstellung kamen (Abbildung 1). In Zusammenschau der klassischen Anamnese mit zunehmendem Reizhusten und abendlicher Malaise, dem klinischen Bild mit bilateralen inspiratorischen Rasselgeräuschen, wie auch der restriktiven Ventilationsstörung und den Charakteristika einer interstitiellen Lungenerkrankung in der Bildgebung wurde der Verdacht einer HP – bei Tätigkeit als Landwirt entsprechend einer HP Typ Farmerlunge – gestellt.

Zur weiteren Diagnosesicherung wurde eine Bronchoskopie mit BAL und TBB durchgeführt. In der Bronchoskopie zeigten sich makroskopisch unspezifische entzündliche Veränderungen. Die Ergebnisse der BAL mit leichter Eosinophilie und leichter Lymphozytose (43 %), sowie einer erniedrigten CD4/CD8-Ratio (0.44) konnten die Verdachtsdiagnose stützen. Histopathologisch wurden lymphozytäre interstitielle Infiltrate sowie vereinzelt histiozytäre Granulome und intraalveoläre Masson-Körperchen nachgewiesen. In der Zusammenschau der typischen Anamnese, Klinik und weiteren Befunde konnte die Diagnose einer HP Typ Farmerlunge gestellt werden. Der positive Verlauf mit vollständiger Remission der Beschwerden unter konsequentem Tragen eines Atemschutzes bei Allergenexposition und Kortisontherapie während der verbleibenden Heu-Fütterungszeit erhärtete diese Diagnose.
Die initial gemessene Restriktion war nach dreiwöchiger Behandlung mit Prednison 40mg/d fast vollständig regredient und der Gasaustausch normalisiert. Mit dem Ende der Heu-Fütterungszeit konnte die Steroideinnahme gestoppt werden. Aufgrund Malcompliance beim Tragen des Atemschutzes kam es bisher zu einem einmaligen Rezidiv. Bei nun hervorragender Compliance hinsichtlich des Atemschutzes bei den Stallarbeiten ist der Patient beschwerdefrei und die pneumologischen Verlaufskontrollen fielen unauffällig aus.

Diagnose

Die Farmerlunge ist die häufigste Form der Hypersensitivitätspneumonitis (HP, auch Exogen allergische Alveolitis) und wird beim Auftreten bei Landwirten als Berufskrankheit anerkannt. Die HP beschreibt eine klinisch sehr variable, granulomatöse, interstitielle Lungenerkrankung, die das Resultat einer Inflammation im Lungenparenchym ist [1].
Diese wird nach vorgängiger Sensibilisierung bei einem anfälligen Individuum durch die wiederholte Inhalation von aerogenen Allergenen ausgelöst. Eine ganze Reihe an auslösenden Allergenen sind bekannt, die meisten davon sind organische Proteinstrukturen von Bakterien, Pilzen oder Tieren, seltener auch organische oder anorganische Chemikalien [1]. Speziell bei der Farmerlunge spielen Antigene von Bakterien oder Pilzen im schimmelnden Heu, Stroh oder Getreide eine zentrale Rolle. Die Datenlage hinsichtlich Prävalenz und Inzidenz der Farmerlunge ist auf Grund einer vermuteten hohen Dunkelziffer und fehlenden einheitlichen Diagnosekriterien mangelhaft. Lokale Faktoren wie Klima, Jahreszeit und Art der landwirtschaftlichen Verfahren beeinflussen die Prävalenz. Die Inzidenz der Farmerlunge ist beispielsweise zum Ende der Heu-Fütterungszeit am höchsten und im Herbst am niedrigsten, nachdem sich die Tiere im Freien aufgehalten haben [2]. Zudem korreliert die Inzidenz positiv mit der Anzahl der Regentage der vorgängigen Heu-Saison. Feuchtigkeit, wie auch die Lagerung des Strohs und Heus in Ballen statt lose oder in Quadern, führt über eine erhöhte Fermentationstemperatur zu einer vermehrten Proliferation von HP-assoziierten Erregern. Beim Öffnen von Stroh- und Heuballen und bei der Tierfütterung gelangen diese Antigene in die Luft [3]. Frisches Heu stellt in der Regel keine Allergenquelle dar.
Wie bei allen Formen der HP ist auch bei der Farmerlunge die klinische Präsentation sehr variabel und wird heute nach Empfehlung der kürzlich herausgegebenen Guideline der American Thoracic Society (ATS) nach radiologischen und histologischen Erscheinungsbild in eine nicht-fibrotische (nfHP) und fibrotische HP (fHP) unterteilt, um den prognostischen Unterschieden der beiden Formen gerecht zu werden, bei der die fibrotische HP mit einem schwereren Verlauf und schlechterem Outcome einhergeht [4,5].
Führende Symptome beider Formen der HP sind Dyspnoe und Husten. Nach einer Latenzzeit zur Antigenexposition von 3-12 Stunden – beim Landwirt ist dies typischerweise zu Beginn der Nacht, nachdem er am späten Nachmittag bei der Tierfütterung mit Heu und Stroh in Kontakt gekommen ist – kann es zusätzlich zu grippeartigen Symptomen wie Abgeschlagenheit, Fieber, Inappetenz sowie zu thorakalem Engegefühl kommen. Klassischerweise klingen diese Beschwerden nach einigen Stunden wieder ab mit Persistenz des Hustens und der Dyspnoe. In der klinischen Untersuchung fallen oft bilaterale inspiratorische Rasselgeräusche auf [1]. Anhand der Symptomkonstellation kann nicht auf die Entität der HP (nfHP/fHP) geschlossen werden [5].
Ein diagnostischer Goldstandard existiert nicht. Aufgrund Überschneidungen der diagnostischen Charakteristika mit anderen Lungenpathologien und dem variablen Erscheinungsbild der Erkrankung kann keine Untersuchungsmodalität isoliert zur Diagnosestellung herangezogen werden, sondern basiert auf der Zusammenschau einer Reihe von wegweisenden Befunden unterschiedlicher Modalitäten. Der erste Schritt setzt eine vermutete stattgehabte oder anhaltende Allergenexposition voraus.
Das Verschwinden oder eine Besserung der Symptome nach Meidung des Allergens sowie ein Wiederauftreten der Beschwerden nach Reexposition kann die Verdachtsdiagnose stützen. Ein solcher Karenz-Reexpositionstest fällt jedoch nicht immer positiv aus (beispielsweise wenn das vermutete Allergen nicht komplett gemieden werden kann oder bereits eine fortgeschrittene Fibrose vorliegt) [6].
Die in der Praxis schnell zugängliche Diagnostik, wie Labor, Röntgen und Lungenfunktion, weisen meist unspezifische Ergebnisse auf. Im Labor wird häufig eine Erhöhung des CRPs und der BSG sowie eine Leukozytose gesehen. Die Untersuchung auf präzipitierende IgG im Serum wird in unklaren Fällen empfohlen, ist jedoch isoliert betrachtet wenig spezifisch [7]. Im Röntgen-Thorax, welches in 30 % der Fälle normal ausfällt, können bilaterale Infiltrate oder bei fortgeschrittener Erkrankung Zeichen der Fibrose zur Darstellung kommen [1]. Oft zeigt sich eine restriktive Ventilationsstörung in der Lungenfunktion. Auch eine Gasaustauschstörung kann vorliegen [8].
Als bildgebendes Verfahren wird ein High-Resolution-CT (HRCT) empfohlen, welches bei typischen Befunden eine sichere Unterscheidung zwischen nfHP und fHP zulässt. Bei weiterhin unklarer Diagnose wird auf Befunde aus BAL und transbronchialer Biopsie zurückgegriffen. Typische Befunde aus diesen Modalitäten sind in Tabelle 1 ersichtlich [5].

Das Feld der Differentialdiagnosen der HP ist weit und reicht von anderen interstitiellen Lungenerkrankungen über chronisch obstruktive Lungenerkrankungen zu bakteriellen und viralen Pneumonien [1].
Zentraler Bestandteil des Managements der Farmerlunge ist die Umsetzung von geeigneten Massnahmen zur Meidung bzw. Reduktion der Allergeninhalation (z.B. Tragen einer Schutzmaske bei Heustaub exponierten Tätigkeiten, gute Stalllüftung zur Reduktion der Allergenlast, ausreichende Trocknung des Heus vor Einlagerung). Unter diesen Vorkehrungen gelingt es in den meisten Fällen, dass die Betroffenen im Beruf bleiben können [9]. In der klinischen Erfahrung führte die Weiterentwicklung der Atemschutzsysteme (Abbildung 2) zu einer höheren Compliance. Korticosteroide werden meist für wenige Wochen zur Symptomkontrolle eingesetzt. Bei Fällen mit fortschreitender Fibrosierung steht mit Ofev® (Nintedanib) ein Antifibrotikum zur Verfügung, womit das Fortschreiten einer Erkrankung im besten Fall gebremst werden kann.
Die Prognose der HP variiert stark von Fall zu Fall. So besteht bei der nfHP, wie dieser Fall Anhand des Beispiels einer Farmerlunge zeigt, bei rascher Diagnose und konsequenter Allergenkarenz eine gute Prognose mit möglicher Krankheitsstabilisierung bis hin zur vollständigen Remission. Der Nachweis einer Fibrose ist mit einer schlechteren Prognose assoziiert.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
BAL Bronchoalveoläre Lavage
BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit
fHP fibrotische Hypersensitivitätspneumonitis
HP Hypersensitivitätspneumonitis
HRCT High-Resolution Computer Tomographie
IVC Inspiratorische Vitalkapazität
nfHP nicht-fibrotische Hypersensitvitätspneumonitis
TBB Transbronchiale Biopsie

pract. med. Jörn Eggimann

Hausarztpraxis Ogimatte AG
Ogimatte 7
3713 Reichenbach i. Kandertal

joern.eggimann@gmail.com

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

History
Manuskript eingereicht: 25.09.2023
Manuskript angenommen: 18.10.2023

 

  • Das Engramm aus respiratorischen und systemischen Symptomen in zeitlicher Korrelation zu einer Tätigkeit oder Umgebung sollte dringend an eine HP denken lassen.
  • Die Befunde gängiger schnell erhältlicher Untersuchungsmodalitäten (Labor, Lungenfunktion, Röntgen-Thorax) können bei der HP unauffällig ausfallen und sollten daher nicht zum Ausschluss dieser Diagnose führen.
  • Eine rasche Diagnosestellung und Vermeidung des potentiellen Auslösers sind prognostisch entscheidend.

1. Riario Sforza GG, Marinou A. Hypersensitivity pneumonitis: a complex lung disease. Clin Mol Allergy. 2017;15:6.
2. Terho EO, Heinonen OP, Lammi S, Laukkanen V. Incidence of clinically confirmed farmer’s lung in Finland and its relation to meteorological factors. Eur J Respir Dis Suppl. 1987;152:47–56.
3. Roussel S, Reboux G, Million L, Dalphin JC, Piarroux R. Pneumopathies d’hypersensibilité et exposition aux moisissures et actinomycètes de l’environnement. J Mycol Méd. 2006;16:239–47.
4. Kadura S, Raghu G. Hypersensitivity pneumonitis: Principles in diagnosis and management. Respirology. 2023.
5. Raghu G, Remy-Jardin M, Ryerson CJ, et al. Diagnosis of hypersensitivity pneumonitis in adults: an Official ATS/JRS/ALAT Clinical Practice Guideline. Am J Respir Crit Care Med. 2020; 202(3): e36– 69.
6. Fernández Pérez ER, Travis WD, Lynch DA, et al. Diagnosis and Evaluation of Hypersensitivity Pneumonitis: CHEST Guideline and Expert Panel Report. Chest. 2021;160(2):e97-e156.
7. Spagnolo P, Rossi G, Cavazza A, et al. Hypersensitivity Pneumonitis: A Comprehensive Review. J Investig Allergol Clin Immunol. 2015;25(4):237-50
8. Sennekamp J, Müller-Wening D, Amthor M, et al. German Extrinsic Allergic Alveolitis Study Group. [Guidelines for diagnosing extrinsic allergic alveolitis (hypersensitivity pneumonitis) (German Extrinsic Allergic Alveolitis Study Group)]. Pneumologie. 2007;61(1):52-6.
9. Ntawuruhunga E, Kursnera D, Chouanièrea D, et al. Farmerlunge: Beitrag der Arbeitsmedizin. Schweiz Med Forum 2010;10(3):39-42.

Kein Stadt-Land Gefälle bei Hodenkrebs im Kanton Bern

Hodenkrebs stellt eine in hohem Masse heilbare Erkrankung bei Männern dar. Ältere Berichte weisen auf ein Stadt-Land Gefälle mit weiter fortgeschrittenen Erkrankungen und schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Gebieten hin. In einer Patientenkohorte von 296 Männern mit Hodenkrebs des Inselspitals Bern fanden wir im Zeitraum 2010-2020 keine klinisch relevanten Unterschiede in Präsentation, Therapie und Behandlungsergebnis abhängig von der Wohnregion der Patienten.

Einführung

Hodenkrebs kann seit der Einführung Cisplatin-basierter Chemotherapien selbst in den weit metastasierten Tumorstadien geheilt werden. [1] Das häufigste Frühsymptom ist eine tastbare Verhärtung oder eine Vergrösserung des Hodens, die schmerzhaft oder schmerzlos sein kann und von den meisten Betroffenen selbst bemerkt wird. Verwechslungen mit einer Epidydimitis sind häufig. Sofern die Diagnose frühzeitig gestellt wird, kann bei einer auf den Hoden beschränkte Erkrankung die alleinige Entfernung des befallenen Hodens ausreichend sein. Metastasierte Patienten und Patienten mit primär extragonadalen Tumoren benötigen in der Regel eine Chemotherapie mit drei bis vier Zyklen Cisplatin-basierter Chemotherapie. Weniger häufig wird in der Schweiz eine Bestrahlung oder eine primäre Resektion von abdominellen Lymphknotenmetastasen eingesetzt. [2]
Allerdings berichteten Hölzel et al 1991 in einer viel beachteten Veröffentlichung von einem erheblichen Stadt-Land Gefälle mit schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Regionen in Deutschland selbst 10 Jahre nach Zulassung von Cisplatin. [3] Wir stellten uns die Frage, ob ein solches Stadt-Land Gefälle in der Schweiz heute noch existiert. Zu diesem Zweck untersuchten wir eine Kohorte konsekutiver Patienten, die in den Jahren 2010 bis 2020 am Inselspital Bern diagnostiziert und behandelt wurden, hinsichtlich Tumorgrösse und Stadium bei Primärpräsentation sowie Behandlungserfolg abhängig von der Wohnregion der Patienten.

 

Material und Methoden

Patienten wurden anhand von Operationsberichten, Anmeldungen bei Tumorkonferenzen und Verordnungen von Chemotherapien identifiziert. Die Behandlungen, der Behandlungserfolg und die Nachsorge wurde mittels Arztberichten nachvollzogen. Wo nötig wurden nachsorgende Praxen und Spitäler angeschrieben und zusätzliche Nachsorgeinformationen eingeholt. Die Stadieneinteilung erfolgte nach der Klassifikation der Union for International Cancer Control (UICC). Die prognostische Einteilung metastasierter Patienten erfolgte zusätzlich nach der Klassifikation der International Germ Cell Cancer Cooperative Group (IGCCCG). [4] Die Zuordnung der Patienten zu einer städtischen, intermediären oder ländlichen Wohnregion erfolgte über die Stadt/Land-Typologie 2012 des Bundesamtes für Statistik. [5] Die Darstellung der Überlebenswahrscheinlichkeiten erfolgte nach der Methode von Kaplan und Meier. Hierzu wurde das Programm STATA (StatCorp, College Station, Texas, USA, Version 16.1) eingesetzt. Das progressionsfreie Überleben wurde definiert als der Zeitraum zwischen der Erstdiagnose und dem Zeitpunkt des Auftretens eines Progresses oder dem Tod des Patienten, je nachdem welches Ereignis früher auftrat, das Gesamtüberleben als der Zeitraum von der Erstdiagnose bis zum Tod jedweder Ursache bzw. der letzten bekannten Nachbeobachtung. Patienten bei denen die Nachsorge nicht weiter eruiert werden konnte, wurden zum Zeitpunkt des letzten Patientenkontaktes zensiert. Der letzte Erfassungszeitpunkt für alle Patienten war der 31.12.2022.

Ergebnisse

Patientenkollektiv

Die Patientenkohorte umfasste insgesamt 296 Patienten. Details zu den Patientencharakteristika findet sich in Tabelle 1. Etwa die Hälfte der Patienten befanden sich in einem klinischen Stadium I mit auf den Hoden beschränkter Erkrankung. Die übrigen Patienten waren zum Diagnosezeitpunkt bereits metastasiert allerdings zumeist in einer günstigen Prognosegruppe nach der IGCCCG Klassifikation.

Durchgeführte Therapien

Gemäss internationalen Empfehlungen bestand die häufigste Behandlungsstrategie für Patienten im Stadium I in einer aktiven Überwachung, d.h. mit alleiniger regelmässiger Nachbeobachtung nach erfolgter Orchiektomie (Tabelle 2). Somit konnten 86/153 (56%) Patienten im Stadium I eine weitere Therapie nach Orchiektomie erspart werden. Insgesamt 37/153 (24%) Patienten rezidivierten aus einem Stadium I und wurden wie primär metastasierte Patienten behandelt. Primär metastasierte oder Patienten mit Rezidiv aus einem initialem Stadium I erhielten mehrheitlich eine Chemotherapie Cisplatin, Etoposid und Bleomycin.

Behandlungserfolg

Patienten wurden im Median 49 Monate nachbeobachtet (Interquartile Range 25-85 Monate). Zum Zeitpunkt der letzten Nachbeobachtung waren 272/296 (92%) Patienten krankheitsfrei und 21/296 (7%) Patienten waren verstorben, bei 3/296 (1%) war die Nachsorge abgebrochen. Die Todesursache war bei 12 Patienten die Tumorerkrankung, bei 4 Patienten verblieb die Todesursache unklar, 5 starben an anderen Ursachen. Die progressionsfreie Überlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug für die gesamte Kohorte 76% bzw. 73%, die Gesamtüberlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug 93% (Abbildung 1).

Vergleich der Regionen

Die Primärpräsentation abhängig vom Wohnort der Patienten ist in Tabelle 3 dargestellt. Somit wurden Patienten in ländlichen Regionen nicht mit weiter fortgeschrittenen Tumoren diagnostiziert als in städtischen Regionen. Die progressions-freie Überlebenswahrscheinlichkeit und die gesamte Überlebenswahrscheinlichkeit unterschieden sich ebenfalls nicht (Abbildungen 1 und 2).

Diskussion

Seit der Einführung von Cisplatin in die Behandlung vor ca. 40 Jahren wird die Mehrzahl der Männer mit Hodenkrebs geheilt. Seither haben sich die Behandlungsergebnisse kontinuierlich weiter verbessert. [6] Heutzutage können über alle Stadien hinweg mehr als 90% der Betroffenen mit einer Heilung ihrer Krebserkrankung rechnen. Allerdings weisen ältere Berichte darauf hin, dass Männer aus ländlichen Regionen mit weiter fortgeschrittenen Tumoren bzw. in höheren Tumorstadien diagnostiziert werden und insgesamt schlechtere Behandlungsergebnisse erfahren als Männer aus städtischen Regionen.

In einer Kohorte konsekutiver Patienten mit Hodenkrebs, die in den Jahren 2010-2020 am Inselspital in Bern diagnostiziert und behandelt wurden, fanden wir keine klinisch relevanten Unterschiede abhängig von der Wohnregion der Betroffenen. Dies kann im Gegensatz zu früheren Jahren einer besseren Körperwahrnehmung und an einem besseren Gesundheitsbewusstsein von Männern liegen, an einem verbesserten Wissen über Hodenkrebs unter Ärztinnen und Ärzten in ländlichen Regionen oder an einer schnelleren Überweisungspraxis an ein Hodenkrebszentrum wie das Inselspital Bern. Wesentliche Einschränkungen der Analyse sind ein Selektionsbias, da nur Patienten des Inselspitals Bern untersucht wurden und der retrospektive Studienansatz. Zudem ist die Zahl der Patienten aus intermedären und ländlichen Gebieten im Vergleich zum städtischen Einzugsgebiet deutlich geringer. Vor allem aber ist unklar, ob die Ergebnisse aus dem Kanton Bern auf andere Regionen der Schweiz oder an in der Behandlung von Hodenkrebs weniger erfahrene Krebszentren übertragbar sind. Diese Frage wird in weiteren Analysen untersucht werden.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
AFP Alpha-Fetoprotein
HCG Humanes Choriongonadropin
IGCCCG International Germ Cell Cancer Cooperative Group
UICC Union for International Cancer Control

Prof. Dr. med. Jörg Beyer

Universitätsklinik für Medizinische Onkologie
Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
Freiburgstrasse 41
3010 Bern

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

  • Historie
    Manuskript eingereicht: 06.06.2023
    Nach Revision angenommen: 05.09.2023

 

  • Männer mit Hodenkrebs können mehrheitlich geheilt werden
  • Es gibt im Kanton Bern keine klinisch relevanten Unterschiede bei Diagnose und Behandlungserfolg unter Männern aus städtischen oder ländlichen Regionen

1. Honecker F, Aparicio J, Berney D, et al. ESMO Consensus Conference on testicular germ cell cancer: diagnosis, treatment and follow-up. Ann Oncol 2018;29:1658-1768.
2. Beyer J, Berthold D, Bode PK, et al. Swiss germ-cell cancer consensus recommendations. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30023.
3. Hölzel D, Altwein JE. Hodentumoren. Ist der Rückgang der Mortalität in der Bundesrepublik Deutschland zu langsam erfolgt? Dtsch Ärztebl 1991;88:A-4123-4130.
4. The International Germ Cell Cancer Collaborative Group. International germ cell consensus classification: A prognostic factor-based staging system for metastatic germ cell cancers. J Clin Oncol 1997; 15: 594–603.
5. Bundesamt für Statistik, Räumliche Verteilung. Available at: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/raeumliche-verteilung.html (Letzer Zugriff: 26.11.2022).
6. Fankhauser CD, Sander S, Roth L, et al Improved survival in metastatic GCC. Ann Oncol 2018; 29: 347-351.

Das akute Koronarsyndrom: Nach der Revaskularisation ist vor der (Sekundär-) Prävention

Die Behandlung des akuten Koronarsyndroms (ACS) ist eine medizinische Erfolgsgeschichte, deren Behandlungsstrategien während der letzten Dekaden kontinuierlich gereift sind und die zugrunde legende Evidenz hoch ist. Gegenüber dem «Thrombolyse-Zeitalter» konnte die Mortalität beim akuten ST-Hebungsinfarkt (STEMI) dank der primären perkutanen Koronarintervention (PCI, Evidenzklasse I, Level A), welche die schnelle mechanische Wiederherstellung des Blutflusses im verschlossenen Koronargefäss in der Mehrzahl der Fälle erlaubt, in der Schweiz eindrücklich von 10-18% auf heute durchschnittlich 4% Prozent gesenkt werden, wobei der Nutzen bei beiden Geschlechtern und auch bei betagten Patienten zum Tragen kommt (1, 2). Nicht minder wichtig hierfür war die Organisation einer medizinischen Infrastruktur (STEMI-Hotline, schweizweit flächendeckendes Angebot PCI-fähiger Spitäler mit 24 Stunden/7 Tage Bereitschaft, direkte Einlieferung ins Herzkatheterlabor unter Umgehung des Notfalls, IB), die die rasche Diagnose und zielgerichtete Notfallverlegung der (mit Ausnahme weniger aus entlegenen Regionen stammender) Patientinnen und Patienten innert 60 Minuten ermöglicht. In Analogie zum STEMI hat sich auch beim Nicht-ST-Hebungs-ACS (NSTE-ACS) die frühe Revaskularisation bewährt (IA). Die Bestimmung des hoch-sensitiven Troponins unter Anwendung von 0h/1h Algorithmen ermöglicht beim NSTE-ACS eine rasche Triage hinsichtlich der weiteren Diagnostik und Behandlung (IB). Durch Fortschritte in der Stenttechnologie sowie bei der medikamentösen antithrombotischen Therapie (insbesondere potente P2Y12-Inhibitoren, IA) konnte zudem das Risiko von Stentthrombosen auf etwa 1% innerhalb des 1. Jahres gesenkt werden (3).
In Anbetracht der grossen Fortschritte während der Frühphase der Behandlung des ACS legte sich der Fokus der Forschung in den letzten Jahren vermehrt auf die Sekundärprävention, die Verhinderung künftiger ischämischer, aber auch hämorrhagischer Ereignisse. Und diese Massnahmen beginnen bereits bei der Behandlung der Culprit-Läsion. So erlaubt der Einsatz von intrakoronarer Bildgebung (optische Kohärenztomographie oder intravaskulärer Ultraschall) während der PCI die Häufigkeit künftiger Ereignisse im behandelten Gefäss («Target Vessel Failure») zu reduzieren (4) und wird deshalb in den aktuellen europäischen (European Society of Cardiology, ESC) Leitlinien bei ACS-Patienten mit einer IIaA Indikation empfohlen (5). Darüber hinaus ermöglicht die intrakoronare Bildgebung die Identifizierung vulnerabler (häufig nicht-stenosierender) Plaques, welche unter hoch-intensiver lipid-senkender Therapie mit PCSK9-Inhibitoren in Ergänzung zur Statintherapie eine Plaque-Regression aufweisen können (6).
Es besteht robuste Evidenz, dass eine komplette Revaskularisation bei ACS-Patienten, d.h. Behandlung zusätzlicher signifikanter Stenosen in Nicht-Infarkt-Gefässen sowohl durch angiographischen als auch funktionellen Nachweis und unabhängig vom Alter prognostisch günstig ist (7). Die europäischen Leitlinien empfehlen, dies innert 45 Tage nach dem initialen ACS-Ereignis durchzuführen (IA) (5). Zwei in diesem Sommer publizierte grosse randomisierte Studien (MULTISTARS AMI und BIOVASC) legen nahe, dass bei hämodynamisch stabilen Patienten eine komplette Revaskularisation noch während der Index-Prozedur erfolgen kann, ohne Nachteile hinsichtlich des kombinierten Endpunktes von Tod, Myokardinfarkt, Hirninfarkt, ungeplanter Revaskularisation (und Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz bei MULTISTARS AMI) nach einem Jahr im Vergleich zu einer staged Intervention innert 45 Tagen (8, 9).
Die dritte wesentliche Neuerung in den aktuellen ESC-Leitlinien betrifft die Dauer und Art der antithrombotischen Therapie nach dem ACS. Während bislang bei mittels PCI behandelten ACS-Patientinnen und Patienten eine relativ starre Empfehlung einer einjährigen (oder bei hohem Blutungsrisiko mindestens 6-monatigen) dualen Antiaggregationstherapie (DAPT) bestand (IA), haben die Resultate mehrerer Studien, welche verschiedene DAPT-Strategien untersucht haben, dazu geführt, dass nun auch beim ACS verkürzte DAPT-Strategien von 1-3 Monate (IIbB bzw. IIaA) zur Reduktion des Blutungsrisikos in Betracht gezogen werden – natürlich unter Berücksichtigung des individuellen ischämischen Risikos (5). Zunehmend nimmt auch die Erkenntnis Einzug, dass nach der initialen DAPT-Phase eine Monotherapie mit einem P2Y12-Inhibitor anstelle des traditionellen Aspirins eine Alternative darstellt (IIbA). Langfristig ist die Adhärenz zur Leitlinien-empfohlenen Therapie ausschlaggebend. Neben der antithrombotischen Therapie ist insbesondere die hoch-intensive lipidsenkende Therapie mit Statinen (IA) und ggf. PCSK-9-Inhibitoren (IA) zu nennen, deren Beginn bereits unmittelbar nach Infarkt sicher ist (10, 11).

In der aktuellen Ausgabe fassen J. Stehli und B. Stähli in einem Übersichtsartikel sowohl die altbewährten als auch die neuesten Empfehlungen hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung des gesamten Spektrums des ACS – vom NSTE-ACS über den STEMI bis hin zum ACS mit kardiogenem Schock oder Kreislaufstillstand – konzis zusammen (12). Im Zentrum der Mini-Review stehen praktische Empfehlungen für eine schnelle Diagnostik und zielgerechte Akut-Behandlung der Patientinnen und Patienten sowie eine Übersicht über die erwähnten neuen Erkenntnisse hinsichtlich der kompletten Revaskularisation und dualen Antiaggregation, die in der klinischen Praxis sehr hilfreich sind.

Prof. Dr. med. Stephan Windecker

Universitätsklinik für Kardiologie
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Jonas Dominik Häner hat keine Interessenkonflikte. Stephan Windecker gibt Forschungs-, Reise- oder Lehr-Grants an die Institution an von Abbott, Abiomed, Amgen, Astra Zeneca, Bayer, Braun, Biotronik, Boehringer Ingelheim, Boston Scientific, Bristol Myers Squibb, Cardinal Health, CardioValve, Cordis Medical, Corflow Therapeutics, CSL Behring, Daiichi Sankyo, Edwards Lifesciences, Farapulse lnc. Fumedica, Guerbet, ldorsia, lnari Medical, lnfraRedx, Janssen-Cilag, Johnson & Johnson, Medalliance, Medicure, Medtronic, Merck Sharp & Dohm, Miracor Medical, MonarQ, Novartis, Novo Nordisk, Organon, OrPha Suisse, Pharming Tech, Pfizer, Polares, Regeneron, Sanofi-Aventis, Servier, Sinomed, Terumo, Vifor, V-Wave. Stephan Windecker dient als Advisory Board Mitglied und / oder Mitglied von Steering-/Exekutivkommittees von Studien, welche durch Abbott, Abiomed, Amgen, Astra Zeneca, Bayer, Boston Scientific, Biotronik, Bristol Myers Squibb, Edwards Lifesciences, MedAlliance, Medtronic, Novartis, Polares, Recardio, Sinomed, Terumo und V-Wave unterstützt werden mit Zahlungen an die Institution aber ohne persönliche Zahlungen. Stephan Windecker ist ebenfalls Mitglied von Steering-/Exekutivkommittees verschiedener lnvestigator-initiierter Studien, welche von der Industrie unterstützt werden ohne Einfluss auf seine persönliche Vergütung.

1. Radovanovic D, Nallamothu BK, Seifert B, Bertel O, Eberli F, Urban P, et al. Temporal trends in treatment of ST-elevation myocardial infarction among men and women in Switzerland between 1997 and 2011. Eur Heart J Acute Cardiovasc Care. 2012;1(3):183-91.
2. Boeddinghaus JG, Oliver; Meier, Pascal; Muller, Olivier; Nietlispach, Fabian; Räber, Lorenz; Weilenmann, Daniel; Jeger, Raban. The SWISS PCI Survey – coronary and structural heart interventions in Switzerland 2020. Cardiovascular Medicine. 2022;25:75-8.
3. Windecker S, Latib A, Kedhi E, Kirtane AJ, Kandzari DE, Mehran R, et al. Polymer-based or Polymer-free Stents in Patients at High Bleeding Risk. N Engl J Med. 2020;382(13):1208-18.
4. Zhang J, Gao X, Kan J, Ge Z, Han L, Lu S, et al. Intravascular Ultrasound Versus Angiography-Guided Drug-Eluting Stent Implantation: The ULTIMATE Trial. J Am Coll Cardiol. 2018;72(24):3126-37.
5. Byrne RA, Rossello X, Coughlan JJ, Barbato E, Berry C, Chieffo A, et al. 2023 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes. Eur Heart J. 2023.
6. Biccire FG, Haner J, Losdat S, Ueki Y, Shibutani H, Otsuka T, et al. Concomitant Coronary Atheroma Regression and Stabilization in Response to Lipid-Lowering Therapy. J Am Coll Cardiol. 2023.
7. Biscaglia S, Guiducci V, Escaned J, Moreno R, Lanzilotti V, Santarelli A, et al. Complete or Culprit-Only PCI in Older Patients with Myocardial Infarction. N Engl J Med. 2023;389(10):889-98.
8. Stahli BE, Varbella F, Linke A, Schwarz B, Felix SB, Seiffert M, et al. Timing of Complete Revascularization with Multivessel PCI for Myocardial Infarction. N Engl J Med. 2023.
9. Diletti R, den Dekker WK, Bennett J, Schotborgh CE, van der Schaaf R, Sabate M, et al. Immediate versus staged complete revascularisation in patients presenting with acute coronary syndrome and multivessel coronary disease (BIOVASC): a prospective, open-label, non-inferiority, randomised trial. Lancet. 2023;401(10383):1172-82.
10. Koskinas KC, Windecker S, Pedrazzini G, Mueller C, Cook S, Matter CM, et al. Evolocumab for Early Reduction of LDL Cholesterol Levels in Patients With Acute Coronary Syndromes (EVOPACS). J Am Coll Cardiol. 2019;74(20):2452-62.
11. Raber L, Ueki Y, Otsuka T, Losdat S, Haner JD, Lonborg J, et al. Effect of Alirocumab Added to High-Intensity Statin Therapy on Coronary Atherosclerosis in Patients With Acute Myocardial Infarction: The PACMAN-AMI Randomized Clinical Trial. JAMA. 2022;327(18):1771-81.
12. Staehli, Barbara E., Akutes Koronarsyndrom: Diagnose und Behandlung, PRAXIS (Bern 1994). 2024; 113 (1): 661-665.

Prof. Richard Cathomas im Gespräch mit Verlegerin Eleonore Droux

Ihre Highlights am diesjährigen ESMO? 

Richard Cathomas : Das absolute Highlight war natürlich die Präsentation der Resultate der EV-302/Keynote-A39 Studie (Powles et al., LBA6). Diese Studie wurde beim metastasierten Urothelkarzinom (mUC) durchgeführt und verglich die seit Jahren etablierte Erstlinien-Chemotherapie mit Platin/Gemcitabine gegenüber der Kombination des Antibody-drug Konjugats (ADC) Enfortumab vedotin (EV) und Pembrolizumab. Der primäre Endpunkt war das Gesamtüberleben (OS). Zum ersten Mal seit Jahrzehnten konnte eine Studie in der Erstlinientherapie des metastasierten Urothelkarzinoms einen signifikanten und klinisch sehr relevanten OS Benefit mit einer Verdopplung des Gesamtüberlebens zeigen (31.5 Monate mit EV/Pembro vs 16.1 Monate mit Platin/Gemcitabine ; HR 0.47). Hiermit ist ein neuer Standard definiert worden und die Prognose dieser Erkrankung hat sich massiv verbessert. Zu beachten sind speziellen Toxizitäten der Kombination mit EV/Pembro die ein vorausschauendes und proaktives Management benötigen.  

Welche Resultate/Erkenntnisse haben Sie überrascht? Positiv oder negativ?

Im Bereich des metastasierten Prostatakarzioms wurden zwei grosse Phase 3 Studien präsentiert, in denen die Zugabe des PD-1 Inhibitors Prembrolizumab zur Standardtherapie geprüft wurde. Die Keynote-641 Studie (Graff et al., 1771MO) wurde bei Patienten mit metastasiertem kastrations-resistentem Prostatakarzinom (mCRPC) und die Keynote-991 (Gratzke et al., 1772MO) beim metastasierten hormon-sensitiven Prostatakarzinom (mHSPC) durchgeführt. In beiden Studien wurde Placebo-kontrolliert die Zugabe von Pembrolizumab zur standardmässigen Behandlung mittels Androgendeprivation und Enzalutamid  untersucht. Leider zeigten beide Studien keinerlei Hinweise auf einen Benefit bezüglich des radiologischen Progressions-freien Überlebens (rPFS) oder des OS. Die einzige Indikation für eine Behandlung mittels Immuntherapie beim metastasierten Prostatakarzinom ist somit weiterhin das Vorliegen einer Mikrosatelliten-Instabilität (MSI high). Der Mikrosatellitenstatus sollte immer untersucht werden, eine MSI-high Situation liegt jedoch nur in 1-2% der Fälle vor.

Welche Erkenntnisse haben für Ihre tägliche Praxis eine grosse Bedeutung?

Neben der bereits eingangs erwähnten EV-302 Studie für das Urothelkarzinom ist beim Prostatakarzinom meines Erachtens die PSMAfore Studie (Sartor et al., LBA13) als practice changing einzustufen. In diese randomisierte Phase 3 Studie wurden Patienten mit progredientem mCRPC und vorgängiger Behandlung mit Androgendeprivation und einem ARPI (androgen receptor pathway inhibitor: Abiraterone, Enzalutamid, Apalutamid, Darolutamid) eingeschlossen. Verglichen wurde die Therapie mit dem Radionuklid 177Lu-PSMA-617 gegenüber einem ARPI-Switch. Beim primären Endpunkt zeigte sich eine Verdoppelung des rPFS (12.02 Monate vs 5.59 Monate, HR 0.43) mit 177Lu-PSMA-617. Beim OS konnte keine Verbesserung gezeigt werden jedoch erhielten 84% der Patienten im Kontrollarm aufgrund eines geplanten Crossovers auch die Therapie mit 177Lu-PSMA-617. Zu kritisieren ist die Wahl des Kontrollarms, da in dieser Situation eigentlich Docetaxel die Behandlung der Wahl darstellt. Jedoch sind viele Patienten und Ärzte aufgrund von erhöhter Toxizität gegenüber Docetaxel kritisch eingestellt und nicht alle Patienten sind in der Lage Docetaxel zu erhalten. Insgesamt stellt 177Lu-PSMA-617 meiner Meinung nach eine neue zusätzliche Therapiemöglichkeit beim mCRPC nach Versagen einer APRI-Behandlung dar.

Gibt es Fortschritte bei der Identifizierung von Biomarkern, die in der Zukunft prognostisch und prädiktiv verwendet werden können?

Am ESMO 2023 wurden mehrere positive Studien beim Urothelkarzinom mit dem FGFR Inhibitor Erdafitinib in verschiedenen Indikationen vorgestellt. FGFR hat sich definitiv als erster brauchbarer prädiktiver Biomarker beim Urothelkarzinom herausgestellt. Die Phase 3 Studie THOR beim mUC zeigte für Patienten mit FGFR-Alterationen eine signifikante Verbesserung des OS mit Erdafitinib gegenüber Chemotherapie (Siefker-Radtke et al., 2359O und Loriot et al., 2362MO). Da FGFR-Alterationen beim nicht-muskleinvasiven Blasenkarzinom gehäufter vorkommen, wurde Erdafitinib auch in dieser Indikation mit Erfolg geprüft (THOR-2, Catto et al., LBA102), jedoch ist die Toxizität bei systemischer Gabe hoch. Abhilfe schaffen könnte hier eine intravesikale lokale Applikation wie sie erstmals am ESMO gezeigt wurde (Device TAR-210, Vilaseca et al., LBA104). Solche lokalen zielgerichteten Therapien könnten beim Blasenkarzinom in Zukunft eine grosse Rolle spielen.

Welche Rolle spielen Liquid Biospsies und ctDNA in ihrem Bereich?

Beim Blasenkarzinom laufen bereits Studien zum Einsatz der ctDNA für die Therapiefindung in der adjuvanten Behandlung. Hier sind bald weitere Resultate zu erwarten.
Am ESMO 2023 wurden erstmals Resultate der ProBio Studie für Patineten mit mCRPC gezeigt. Dabei erfolgte bei Studieneinschluss eine ctDNA Analyse und basierend auf den Resultaten wurden die Patienten verschiedenen Behandlungen zugeführt (Grönberg et al., LBA86). Es handelt sich um eine sehr interessante Studie mit adaptivem Design. Die erste Analyse zeigte, dass basierend auf Mutationen im Bereich des Androgenrezeptors das Ansprechen auf verschiedene Therapien unterschiedlich ausfällt. Noch ist der Einsatz aber auf Studien begrenzt, eine Limitierung stellt sicher noch die Sensitivität dar : in der ProBio Studie konnte in fast 40% der Patienten keine ctDNA nachgewiesen worden obwohl nur metastasierte Patienten untersucht wurden.

Wie sehen Sie die Schweiz als Forschungsplatz am ESMO repräsentiert?

Auch dieses Jahr war die Schweiz sowohl mit SAKK Studien wie auch mit Studien aus verschiedenen Institutionen am ESMO wieder ingesamt gut vertreten. PD Dr. Michael Mark zeigte zusammen mit der SAKK eine Subgruppen-Analyse der SAKK 80/19 Studie (Mark et al., 2167P). Dabei konnte für Patienten mit Knochenmetastasen unter Immuntherapie kein Vorteil einer antiresorptiven Therapie auf das Auftreten von symptomatischen skelettalen Events (SSE) gefunden werden. Die Patienten mit Immuntherapie hatten zudem häufiger Kieferosteonekrosen. Der Einsatz von Antiresportiva muss in dieser Situation also gut bedacht sein. Die Abteilung Onkoloige/Hämatologie des Kantonsspitals Graubünden präsentierte die Resultate der « Hilotherapie-Studie » : bei Patienten unter Taxan-Chemotherapie wurde eine kontrollierte Kühlung der Hände und Füsse mittels eines Kühlgerätes durchgeführt. Als interne Kontrolle diente bei jedem Patienten die kontralaterale Extremität. Es konnte gezeigt werden, dass die Kühlung mit dem Hilotherapiegerät eine Reduktion der Taxan-induzierten peripheren Neuropathie bewirken kann (Johnson et al., 2104P).

Eleonore E. Droux

droux@medinfo-verlag.ch