Chronische Pankreatitis in der Hausarztpraxis

Die chronische Pankreatitis ist mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität verbunden. Männer sind häufiger betroffen als Frauen, und der Höhepunkt liegt zwischen 45 und 72 Jahren. Alkohol und Tabak sind die wichtigsten modifizierbaren Risikofaktoren. Das Leitsymptom ist der chronische, rezidivierende, postprandiale Oberbauchschmerz. Das komplexe Krankheitsbild rechtfertigt eine jährliche oder noch engmaschigere Überwachung. Im vorliegenden Artikel wird auf die Klinik, die Diagnostik und das Management der chronischen Pankreatitis eingegangen.

Chronic pancreatitis is associated with significant impairment of quality of life. Men are more commonly affected than women, and the peak age is between 45 and 72 years. Alcohol and tobacco are the main modifiable risk factors. The leading symptom is chronic, recurrent, postprandial upper abdominal pain. The complex clinical picture warrants annual or even closer monitoring. In this article, we review the clinic, diagnosis, and management of chronic pancreatitis.
Key Words: Chronic pancreatitis, gastroenterology, upper abdominal pain

Die chronische Pankreatitis ist ein relevantes Krankheitsbild sowohl für die hausärztliche als auch die gastroenterologische Praxis und geht mit einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität und -erwartung einher. Männer sind häufiger betroffen als Frauen und der Höhepunkt liegt zwischen dem 45.-72. Lebensjahr (1). Die chronische Pankreatitis sollte von der akuten wie auch von der rezidivierenden akuten Pankreatitis unterschieden werden, bei welchen definitionsgemäss keine Zeichen der chronischen Pankreatitis vorliegen.

Ätiologie und Pathogenese

Der Begriff der chronischen Pankreatitis beschreibt einen langsamen irreversiblen Schaden des Pankreasparenchyms infolge eines anhaltenden oder schrittweise, irreversiblen fibroinflammatorischen Prozesses mit typischen klinischen und morphologischen Mustern. Alkohol und Tabak sind die wichtigsten beeinflussbaren Risikofaktoren, sehr wahrscheinlich sind weitere prädisponierende Genetik- und Umweltfaktoren mitverantwortlich (2). Seltenere Ursachen sind unter anderem die Autoimmunpankreatitis, der primäre Hyperparathyroidismus, die zystische Fibrose oder ein frühes Malignom. Die biliäre Genese, also Choledocholithiasis oder Sludge, konnte als Ursache für die chronische Pankreatitis nicht belegt werden. In 9 bis zu 60% aller Fälle kann keine Ursache identifiziert werden (3).

In 21% der Fälle kommt es nach dem ersten Schub einer akuten Pankreatitis zu erneuten akuten Schüben und darauffolgend in 36% zur chronischen Pankreatitis (1).

Klinik

Sobald die typische Klinik und Noxen erkennbar sind, sollte eine chronische Pankreatitis in Erwägung gezogen werden. Das Leitsymptom sind chronische, rezidivierende, postprandiale, typische gürtelförmige Oberbauchschmerzen (2).

Ein wichtiges Problem ist die Malnutrition und der Gewichtsverlust, welche oft Ausdruck der exokrinen Pankreainsuffizienz sind. Klinische Merkmale sind Zeichen der Mangelernährung, Gewichtsverlust und Steatorrhö. Ein weiterer Co-Faktor der Malnutrition ist oft auch der Lebensstil mit schlechten Ernährungsgewohnheiten kombiniert mit Alkohol- und Nikotinkonsum.

Die endokrine Insuffizienz hingegen zeigt sich als pankreopriven Diabetes mellitus.

Das Risiko für ein Adenokarzinom des Pankreas (Abb. 1) als schwerwiegendste Komplikation und Differentialdiagnose ist deutlich erhöht (4). Beispielsweise fünf Jahre nach Diagnosestellung der chronischen Pankreatitis ist das Karzinomrisiko achtfach erhöht (5). Ein Pankreaskarzinom Screening ist ausser bei der hereditären chronischen Pankreatitis oder positiven Familienanamnese für Pankreaskarzinom jedoch nicht empfohlen (6). Treten B-Symptome, Ikterus oder eine neue exo- oder endokrine Insuffizienz auf, sollte aktiv mittels Schichtbildgebung ein Karzinom gesucht werden.

Weitere wichtige lokale Komplikationen sind in der Tabelle 1 zusammengefasst.

Diagnostik

Bei der Anamnese sollten die pankreastypischen Beschwerden gezielt gefragt werden und eine Quantifizierung der Noxen sowie des Gewichtsverlaufes erfolgen. Weiter sind Voroperationen wie z.B. Cholezytektomie, eine stattgehabte Pankreatitis und die Familienanamnese interessant. In der klinischen Untersuchung sollte auf einen Ikterus und die Malnutrition geachtet werden, palpatorisch wird eine Raumforderung der Pankreasloge, die Splenomegalie oder Umgehungskreisläufe gesucht.

Die Bildgebung ist eine der wichtigsten Bestandteile der Diagnostik. Die Verfahren der Wahl mit hoher Spezifizität und Sensitivität sind die Endosonografie (Endoskopischer Ultraschall, Abk. EUS, Bild 2), die Computertomografie (Abk. CT, Abb. 3) und die Magnetresonanztomografie (Abk. MRI). Die transabdominale Sonografie kann das Pankreas leider häufig nur ungenügend darstellen, dient aber als kostengünstige und breit verfügbare initiale Untersuchung. Die Zeichen der chronischen Pankreatitis bestehen u.a.

aus einem erweiterten, irregulären Hauptgang, Pankreatikolithen (Abb. 2), Verkalkungen (Abb. 3), hyperechogene Foci und Septen, lobuliertes Parenchym, Atrophie (Abb. 3) und ev. lokale Komplikationen (Tab. 1).

Alle bildgebenden Methoden haben ihre Vor- und Nachteile und sollten idealerweise mit einer Fachperson je nach Fragestellung vorbesprochen werden, um Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Die EUS eignet sich v.a. zur Detektion früher Stadien der chronischen Pankreatitis. Suspekte Befunde können diagnostisch punktiert werden und lokale Komplikationen wie Pseudozysten oder Walled-off Nekrosen können endoskopisch behandelt werden. Die CT stellt Kalk (Abb. 3) äusserst zuverlässig dar. Falls der Verdacht auf Pankreaskarzinom besteht, sollte zwecks Beurteilung der Resektabilität ein spezifisches Pankreasprotokoll sowie eine Thorax-CT angemeldet werden. Das MR empfiehlt sich mit dem MRCP Zusatzprotokoll, um den Gallen- und Pankreasgang darzustellen.

Bitte beachten Sie die Tabelle 2 mit den möglichen Laborparametern für eine Kontrolluntersuchung in der Praxis.

Management

  • Die anhaltende Abstinenz von Alkohol und Tabak stehen an erster Stelle, um die Prognose und die Schmerzen günstig zu beeinflussen und die Patienten sollten niederschwellig in einem professionellen Rahmen suchtmedizinisch oder psychiatrisch begleitet werden. Die Substitution von Enzymen beeinflusst die Schmerzen nicht direkt (2) und sollte im Allgemeinen nicht primär zur Schmerztherapie eingesetzt werden. Dies gilt nicht, falls die Schmerzen im Zusammenhang mit der Malabsorption stehen (3).
  • Zur Schmerztherapie kann das WHO-Stufenschema angewendet werden. Falls opiatbedürftige Schmerzen ohne erklärende neue lokale Komplikation entstehen, sollte nach neueren Daten innert weniger Monaten nach Beginn der Opiattherapie eine chirurgische Therapie diskutiert werden, um die Schmerzen längerfristig positiv zu beeinflussen (7). Auch im Falle einer fehlenden Besserung nach endoskopischer Therapie sollte eine chirurgische Therapie in Betracht gezogen werden. Ein invasives Verfahren sollte bei lokalen Komplikationen meistens nur gewählt werden, wenn dies Beschwerden verursacht. So besteht beispielsweise bei einem erweiterten Pankreashauptgang mit Pankreatikolithen ohne Schmerzen oder weitere Komplikationen keine Indikation zur invasiven Therapie (3).
  • Die Beurteilung und das Management von relevanten Komplikationen sollten in einem Zentrumsspital interdisziplinär mit einer interventionellen Endoskopie, Pankreaschirurgie und interventionellen Radiologie beurteilt werden. Je nach Problem ist teils auch ein direktes chirurgisches Verfahren geeignet. Ein Pankreaskarzinom wird gemäss den üblichen onkologischen Richtlinien behandelt.
  • Falls eine exokrine Insuffizienz mittels Zeichen der Malnutrition, Steatorrhö und erniedrigter Stuhl-Elastase objektiviert werden kann, ist die Indikation zur Ernährungstherapie und Pankreas-Enzym-Substitution gestellt (8). Gemäss Spezialitätenliste (9) des Bundesamtes für Gesundheit der in der Schweiz häufig eingesetzten Präparate Creon© oder Panzytrat© wird als Limitatio die «Nachgewiesene, schwere exokrine Pankreasinsuffizienz» gefordert. Dies geschieht in der Praxis üblicherweise über den Nachweis einer pathologisch tiefen Stuhlelastase. Die Anfangsdosis sollte ca 50’000 Einheiten pro Hauptmahlzeit und die Hälfte zu kleineren Mahlzeiten betragen. Die erste Kapsel soll mit dem ersten Biss eingenommen werden, eine allfällige zweite Kapsel in der Hälfte der Mahlzeit. Der Erfolg und die Dosierung dieser Therapie wird überwacht anhand Gewichtsverlauf, Ernährungszustand, Steatorrhö, Maldigestion-bedingten Schmerzen und der Mikronährstoffe. Bei ungenügender Wirkung sollte die korrekte Einnahme sichergestellt werden und die Dosis verdoppelt werden, ggf. Protonenpumpenblocker hinzugefügt werden (3). Trotz Einsatz einer Enzymsubstitution sollte ein Defizit an Mikronährstoffen gezielt substituiert werden. Im Falle einer exokrinen Insuffizenz ist eine Osteodensitometrie grosszügig empfohlen.
  • Dieses komplexe Krankheitsbild rechtfertigt eine jährliche oder noch engere Kontrolle (2) mit:
    – Quantifzierung, Beratung und Therapie hinsichtlich Noxen
    – Symptome, Ernährungszustand, Ernährungsweise
    – je nach Klinik Laborkontrolle (Tab. 2)
    – exokrine und endokrine Insuffizienz

Falls eine neue Komplikation oder eine relevante Verschlechterung der Klinik auftreten, sollte grosszügig eine neue Bildgebung evaluiert werden.

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Dr. med. Reto Bertolini

Kantonsspital St. Gallen
Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie
9007 St. Gallen

Prof. Dr. med. Jan Borovicka

Klinik für Gastroenterologie/Hepatologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die chronische Pankreatitis ist hauptsächlich auf Alkohol- oder
Tabakabhängigkeit zurückzuführen.
◆ Chronische gürtelförmige postprandiale Oberbauchschmerzen, Mal­nutrition und Steatorrhö gehören zu den Kardinalsymptomen und
führen zu einer verminderten Lebensqualität und Prognose.
◆ Die Therapie besteht hauptsächlich aus der Abstinenz der Noxen, das weitere Management richtet sich nach den entsprechenden Komplikationen.
◆ Komplexe Komplikationen sollten an einem spezialisierten Zentrum interdisziplinär beurteilt werden.

1. Petrov MS. Global epidemiology and holistic prevention of pancreatitis. Nat Rev Gastroenterol Hepatol 2019;16(3):175–184
2. Beyer G. Chronic Pancreatitis. Lancet 2020;396(10249):499-512
3. Beyer G. S3-Leitlinie Pankreatitis. Z Gastroenterol 2022;60:419-521
4. Lowenfels AB. Pancreatitis and the risk of pancreatic cancer. International Pancreatitis Study Group. NEJM 1993, 328 (20):1433-1437
5. Kirkegard J. Chronic Pancreatitis and Pancreatic Cancer Risk: A Systematic Review and Meta-analysis. American Journal of Gastroenterology 2017;112 (9):1366-1372
6. Goggins. Management of patients with increased risk for familial pancreatic cancer: updated recommendations from the International Cancer of the Pancreas Screening (CAPS) Consortium. Gut. 2020; 69: 7–17
7. Issa Y. Effect of Early Surgery vs Endoscopy-First Approach on Pain in Patients With Chronic Pancreatitis: The ESCAPE Randomized Clinical Trial. JAMA 2020; 232 (3):237-247
8. Löhr M. United European Gastroenterology evidence-based guidelines for the diagnosis and therapy of chronic pancreatitis. United European Gastroenterol J. 2017; 5(2):153-199
9. https://www.spezialitätenliste.ch/ShowPreparations.aspx, abgerufen am 14.4.2023

Thalassämien: Ein Paradigma der integrativen Diagnostik

Thalassämien gehören zu den häufigsten monogenen Erbkrankheiten weltweit. Die Labordiagnostik der Thalassämien erfolgt in zwei Stufen, erstens mit dem spezifischen «Hämoglobin-Screening» und zweitens mit der Ergänzung und Bestätigung durch «Molekulardiagnostik» einschliesslich genetischer Beratung. Zielpopulation der Thalassämiediagnostik sind Patienten mit Mikrozytose (MCV<80 fL) oder Hypochromie (MCH<27pg) unklarer Ätiologie, Alters unabhängig und mit erhöhtem Risiko für Hemoglobinopathien im Hintergrund (familiäre Belastung mit chronischer Anämie oder Ethnie wegen der endemischen Gebiete oder abnorme Laborparameter). Die Abklärung ist besonders für Paare präkonzeptionell wichtig, wegen der Familienplanung. Eine spezialisierte genetische Beratung ist hier erforderlich.

Thalassemias are among the most common monogenic inherited diseases worldwide. Laboratory diagnosis of thalassemias is performed in two stages, first with the targeted „hemoglobin screening“ and second with supplementation and confirmation by „molecular diagnostics“ including genetic counseling. The candidate population for thalassemia diagnostics are patients of all ages with microcytosis (MCV<80 fL) or hypochromia (MCH<27pg) of unknown etiology with increased risk for thalassemia in the background (family history of chronic anemia or ethnicity due to the endemic areas for hemoglobinopathies or abnormal laboratory findings). Investigation is especially important for couples at preconception, because of the family planning. Specialized genetic counseling is required here.
Key Words: Thalassämieabklärung, Hämoglobinopathien, Mikrozytose, Hypochromie, Molekulargenetik

Thalassämien gehören zu den häufigsten Erbkrankheiten weltweit. Endemisch betroffen sind traditionellerweise Länder des Mittelmeers, Südostasien und Nordafrika. Die Vereinfachung und Globalisierung der Völker-Migration jedoch, hat dazu geführt, dass diese klinischen Entitäten zum Alltag der medizinischen Versorgung gehören auch in Ländern, wo dies früher eine Seltenheit war. Die Komplexität und Diversität der Diagnose und Therapie dieser Syndrome erfordern eine erhöhte Sensibilisierung der Gesundheitsanbieter. Die technologische Entwicklung der diagnostischen Möglichkeiten der Labordiagnostik erlaubt uns heute eine effiziente, zielgerichtete und ökonomische Diagnose. Im Folgenden werden wir diese Möglichkeiten erläutern.

Pathophysiologie

Bei gesunden Personen bildet das zirkulierende Hämoglobin keine einheitliche Fraktion; vielmehr lassen sich drei verschiedene Hämoglobin-Fraktionen feststellen, die sich nicht nur in der Konzentration, sondern auch in der Struktur der Globinkette unterscheiden (Tab. 1).

Thalassämien sind monogene Erbkrankheiten. Mehrere hunderte verschiedene Mutationen der Gene der Globinketten sind bisher als Ursache beschrieben (Tab. 2). Dieser genetische Hintergrund führt zu einem gestörten Gleichgewicht der Produktion der Globinketten, und nachfolgend zur intramedullären Apoptose der Vorläuferformen der erythroiden Zelllinie und zur ineffektiven Erythropoese. Klinisch resultiert dies in einem breiten Bild von der stummen Trägerform bis zur transfusionsbedürftigen Anämie. Die frühzeitige effiziente Diagnose und genetische Beratung tragen im Sinne der Prävention dazu bei, die mittelschweren und schweren klinischen Bildern zu ­vermeiden.

Diagnostische Möglichkeiten

Die Labordiagnostik von Thalassämien und Hämoglobinopathien generell, erfolgt in zwei verschiedene Ebenen: 1. In der ersten Stufe mit dem sogenannten «Hämoglobin-Screening». 2. In der zweiten Stufe mit der Ergänzung und Bestätigung durch «Molekulardiagnostik» (einschliesslich genetischer Beratung).

Zielpopulation für die Thalassämiediagnostik

A. Patienten mit Mikrozytose unklarer Ätiologie (MCV<80 fL) mit oder ohne Anämie (MCH<27pg) und Patienten mit erhöhtem Risiko für Thalassämie (Familiärer Belastung mit chronischer Anämie, Ethnie bezüglich endemischer Gebiete, abnorme Laborbefunde). Diese Abklärung ist besonders für Paare präkonzeptionell wichtig, wegen der Familienplanung. Eine spezialisierte genetische Beratung ist hier erforderlich. Als Möglichkeit bzw. als Teil dieser Beratung steht auch die genetische Präimplantationsdiagnostik zur Verfügung.

B. Schwangere mit erhöhtem Risiko für Thalassämie, basierend auf Anamnese, oder familiärer Belastung mit Anämie, oder Ethnie (endemische Gebiete für Thalassämie), oder Laborbefunde (MCV<80 fL oder MCH<27 pg). Oft hat man hier zeitlich gesehen keinen Spielraum für den konventionellen Ausschluss von Differentialdiagnosen, z.B. eines Eisenmangels, daher ist der Sprung in die effizientere Molekulardiagnostik unerlässlich.

C. Neugeborene mit erhöhtem Risiko für Thalassämie, je nach geographischer Lokalisation (endemische Gebiete) sind nationale, fokussierte Screening-Programme in Kraft. In der Schweiz ist das Neugeborenen-Screening für Hämoglobinopathien nicht obligatorisch.

1. Hämoglobin-Screening

Dieses beinhaltet ein komplettes alterskorreliertes Hämatogramm mit Ermittlung aller Erythrozyten-Indizes, sowie die spezifische Methode HPLC (Hochleistungs-Flüssigchromatographie, «High Performance Liquid Chromatography»), welche die verschiedenen normalen und/oder abnormen Hämoglobin-Varianten quantitativ abbildet. Die wichtigsten Hämoglobin-Fraktionen einer Probe werden im Chromatographieverfahren anhand ihrer spezifischen Retentionszeit-«Fenster» chemisch-analytisch identifiziert und quantifiziert.

In etwa 90 % der Fälle kann damit eine zutreffende, korrekte Diagnose gestellt werden, bei «klassischen» Beta-Thalassämie-Trägern und/oder Sichelzellanomalie (mit Einbindung des Sichelzelltests) sogar in 100 % der Fälle. Bei den beiden letztgenannten Erkrankungen handelt es sich um die bedeutendsten beta-Globin-Gendefekte – sowohl in Bezug auf die gesundheitlichen Auswirkungen im Einzelfall als auch im Hinblick auf die Bewertung des Risikos von Thalassämie- und/oder Sichelzell-Syndromen im Rahmen der Beratung von Paaren mit Kinderwunsch.

In einigen Fällen, z. B. milde und schwere Formen der Alpha-Thalassämie, kann die Diagnose nur genetisch gestellt werden, und soll daher gemäss den einschlägigen Leitlinien grundsätzlich durch molekulargenetische Untersuchungen bestätigt werden.

2. Molekulardiagnostik

Die Molekulardiagnostik umfasst definitionsgemäss die diagnostischen Abklärungen der zweiten Stufe, die im Wesentlichen der Vervollständigung und Bestätigung der Ergebnisse aus dem Hämoglobin-Screening dienen.

Zwei der wichtigsten Techniken sind die DNA-Sequenzierung (Bestimmung der Basenabfolge oder NGS «Next Generation Sequencing») zur Mutationsanalyse sowie die multiplexe ligationsabhängige Sondenamplifikation (MLPA) zur Erkennung grosser Deletionen in den Gendefekten.

Bei der Durchführung von molekulargenetischen Untersuchungen sind einige Empfehlungen zu beachten: Vor der DNA-Analyse ist eine hämatologische Bewertung des Falles wichtig für die Wahl der am besten geeigneten molekulargenetischen Methode, und nach der DNA-Analyse ist eine hämatologische Bewertung der genotypisch-phänotypischen Korrelation der Ergebnisse obligatorisch, um eine Fehldiagnose auszuschliessen (Tab. 3).

Die korrekte Charakterisierung der Träger-Genotypen bildet die Grundlage der adäquaten genetischen Beratung und ist eine zentrale Voraussetzung für die pränatale Diagnostik.

Auch bei grenzwertigen HPLC-Resultaten der ersten Stufe (z.B, grenzwertig normales HbA2), lohnt es sich gezielt molekulargenetisch die Diagnostik fortzusetzten. Dabei können stumme Formen der Alpha- oder Beta-Thalassämiesyndrome («silent carrier») aufgedeckt werden (in endemischen Gebieten 1%-8% der Verdachtsdiagnosen). Diese hätte man sonst verpasst, weil die Erythrozytenindizes dabei nicht auffällig werden. Zwar hätten diese «stummen» Formen phänotypisch für die betroffene Person keine relevanten klinischen Konsequenzen, wären aber von grosser Relevanz im Rahmen einer Familienplanung und Familienberatung.

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Prof. Dr. med. Dimitrios A. Tsakiris

 SYNLAB Suisse SA
Alpenquai 14
6002 Luzern

dimitrios.tsakiris@usb.ch

Dr. med. Massimo Garatti

SYNLAB Suisse SA
Via Pianon 7
6934 Bioggio

Dr. med. Mario Uhr

SYNLAB Suisse SA
Via Pianon 7
6934 Bioggio

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Thalassämien gehören zu den häufigsten monogenen Erbkrankheiten weltweit. Die Globalisierung der Völker-Migration hat dazu geführt, dass diese zum Alltag der medizinischen Versorgung gehören auch in Ländern, wo sie früher eine Seltenheit waren.
◆ Die Labordiagnostik der Thalassämien erfolgt in zwei Stufen, erstens mit dem «Hämoglobin-Screening» und zweitens mit der Ergänzung und Bestätigung durch «Molekulardiagnostik» (einschliesslich genetischer Beratung).
◆ Zielpopulation der Thalassämiediagnostik sind Patienten mit Mikrozytose (MCV<80 fL) oder Hypochromie (MCH<27pg) unklarer Ätiologie und Patienten mit erhöhtem Risiko für Thalassämie mit oder ohne Anämie (familiäre Belastung mit chronischer Anämie, Ethnie wegen der endemischen Gebiete, abnorme Laborbefunde).
◆ Die Abklärung ist besonders für Paare präkonzeptionell wichtig, wegen der Familienplanung. Eine spezialisierte genetische Beratung ist hier erforderlich. Als Möglichkeit bzw. als Teil dieser Beratung steht auch die genetische Präimplantationsdiagnostik zur Verfügung.

1. Traeger-Synodinos J, Harteveld CL, Old JM, et al. EMQN best practice guidelines for molecular and haematology methods for carrier identification and prenatal diagnosis of the haemoglobinopathies. Eur J Hum Genet 2015; 23 (4): 426-437 doi: 10.1038/ejhg.2014.131
2. Mettananda S, Gibbons RJ, HiggsDR.α-Globin as a molecular target in the treatment of β-thalassemia. Blood 2015; 125 (24): 3694-3701 doi: 10.1182/blood-2015-03-633594
3. Mensah C, Sheth S. Optimal strategies for carrier screening and prenatal diagnosis of α- and β-thalassemia. Hematology Am Soc Hematol Educ Program. 2021 Dec 10;2021(1):607-613 doi: 10.1182/hematology.2021000296
4. Ryan K, Bain BJ, Worthington D, et al. Significant haemoglobinopathies: guidelines for screening and diagnosis. Br J Haematol 2010; 149: 35-49 doi: 10.1111/j.1365-2141.2009.08054.x
5. Colaco S, Colah R, Nadkarni A. Significance of borderline HbA2 levels in β thalassemia carrier screening. Sci Rep. 2022; 12(1):5414. doi: 10.1038/s41598-022-09250-5

Chirurgische Behandlung der Adipositas

Die Bariatrische Chirurgie hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren weltweit sowie auch in der Schweiz als Standardtherapie der ausgeprägten Adipositas etabliert. Bei gegebener Indikation ist sie als Pflichtleistung in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KVL) verankert. Voraussetzung für eine Kostenübernahme ist, dass die Operation in einem durch die «Swiss Society for the Study of morbid obesity and metabolic disorders» (SMOB) anerkannten bariatrischen Zentrum durchgeführt wird. Zudem müssen die SMOB «Richtlinien zur operativen Behandlung von Übergewicht», welche mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) vereinbart wurden, eingehalten werden. In den Richtlinien werden unter anderem Kriterien zur Patientenauswahl und Indikationsstellung sowie zur Vorbereitung auf die Operation und Nachsorge von Patient:innen, welche sich einer bariatrischen Operation unterziehen möchten, definiert. Im vorliegenden Artikel geben wir einen Überblick über die regulatorischen Rahmenbedingungen der bariatrischen Chirurgie in der Schweiz. In den nachfolgenden Teilen der Artikelserie werden wir auf die einzelnen bariatrischen Operationsverfahren sowie auf Ergebnisse und Nebenwirkungen der Operationen vertieft eingehen.

In the last 20 to 30 years, bariatric surgery has established itself worldwide and also in Switzerland as the standard therapy for pronounced obesity. If indicated, it is anchored as a compulsory service in the Health Care Services Ordinance (KVL). A prerequisite for cost coverage is that the operation is performed in a bariatric center recognized by the «Swiss Society for the Study of morbid obesity and metabolic disorders» (SMOB). In addition, the SMOB «Guidelines for the Surgical Treatment of Obesity», which were agreed with the Federal Office of Public Health (FOPH), must be adhered to. The guidelines define, among other things, criteria for patient selection and indication as well as preparation for surgery and follow-up of patients who wish to undergo bariatric surgery. In our article, we provide an overview of the regulatory framework for bariatric surgery in Switzerland. In the following parts of the article series, we will discuss the individual bariatric surgical procedures as well as the results and side effects of the operations in more detail.
Key Words: obesity, bariatric surgery, SMOB, guidelines

Bariatrische Chirurgie als bislang effektivste Therapie der Adipositas

Obwohl das Wissen über die komplexen pathophysiologischen Grundlagen der Krankheit Adipositas in den letzten Jahren massiv gewachsen ist, sind konservative, d.h. nicht-chirurgische Behandlungsstrategien, bislang meist nur begrenzt wirksam. Zwar lässt sich eine Gewichts­reduktion von 5 bis 10% oft erreichen, jedoch kann das Körpergewicht in den seltensten Fällen langfristig auf dem reduzierten Niveau gehalten werden. Neue pharmakologische Therapieansätze wie insbesondere der Einsatz von GLP-1 Rezeptoragonisten sind sehr vielversprechend, jedoch muss ihr Nutzen/Risikoprofil noch in längerfristigen Studien genauer untersucht werden und sich ihr Einsatz in der Praxis bewähren. Zudem stellt die Finanzierung einer entsprechenden pharmakologischen Langzeittherapie ein bislang ungelöstes Problem dar (1).

Im Gegensatz hierzu sind bariatrisch-metabolische Operationen mittlerweile aufgrund wissenschaftlich gut abgesicherter, positiver Langzeitergebnisse (2) als effiziente und nachhaltige Therapie nicht nur der ausgeprägten Adipositas, sondern auch der Adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen wie beispielsweise des Typ 2 Diabetes mellitus (T2DM) weltweit anerkannt. Bei gegebener Indikation werden die Kosten für entsprechende Operationen daher mittlerweile auch in der Schweiz regelhaft übernommen. Dabei gilt es jedoch die Richtlinien in der SMOB zu beachten.

Was ist die SMOB?

Da es sich bei der bariatrisch-metabolischen Chirurgie nicht allein um ein chirurgisches Fachgebiet handelt, sondern um ein multidisziplinäres respektive multiprofessionelles Behandlungskonzept der chronischen Krankheit Adipositas, war die SMOB bereits bei ihrer Gründung interdisziplinär ausgerichtet. Sie wurde im Jahr 1996 gemeinsam von Internisten und Chirurgen, damals noch unter dem Namen «Swiss Study Group of Morbid Obesity», gegründet und wurde im weiteren Verlauf zur «Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders» umbenannt. Gemäss ihrer bereits damals etablierten Statuten (3) bezweckt die SMOB «die umfassende Information der Bevölkerung und der Ärzteschaft über Wesen und Bedeutung der Krankheit ‹Adipositas› , die Etablierung ganzheitlicher Therapieverfahren und Qualitätskontrollen aller Stufen der Adipositas-Therapien; Wahrung und Förderung der Interessen und der Lebensqualität der von Übergewicht Betroffenen und ihrer Angehörigen.» Durch die kontinuierliche und beharrliche Arbeit ihrer Mitglieder gelang es der SMOB über die Jahre hinweg in der Schweiz ein international viel beachtetes System der Qualitätssicherung im Bereich der bariatrischen Chirurgie zu etablieren. Auch heute noch ist die Qualitätssicherung sowie die Weiterentwicklung der zugrundeliegenden Richtlinien eine wesentliche Aufgabe der SMOB.

Regulatorische Grundlagen

Im Rahmen des Bewilligungsverfahrens für die definitive Aufnahme der bariatrischen Chirurgie als Pflichtleistung zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen wurde die SMOB vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) beauftragt, verbindliche Richtlinien zur operativen Behandlung der morbiden Adipositas in der Schweiz zu formulieren. Der Originaltext aus dem Anhang 1 der KVL ist im Tab. 1 wiedergegeben. Seit dem 1. Januar 2011 bilden die vom BAG redigierten und vom Eidgenössischen Departement des Innern anerkannten SMOB-Richtlinien (4) das Referenzdokument für die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenversicherung (OKP).

Auf der Grundlage ihrer Richtlinien erkennt die SMOB auf Antragstellung hin Spitäler als bariatrische Zentren an. Personelle Voraussetzung für die Anerkennung als Zentrum ist das Vorhandensein eines interdisziplinären Teams bestehend aus bariatrisch kompetenter Chirurg:in, bariatrisch kompetenter Internist:in/Endokrinolog:in, Psychiater:in, Psychosomatiker:in oder Psycholog:in mit bariatrischer Erfahrung sowie Ernährungsberater:in HF mit bariatrischer Erfahrung. Dabei kann das pluridisziplinäre Team sowohl aus klinikinternen Spezialist:innen sowie aus externen, niedergelassenen Spezialist:innen zusammengesetzt sein. Als infrastrukturelle Voraussetzung wird gefordert, dass das bariatrische Zentrum über geeignete Räume und Einrichtungen zur Behandlung von Menschen mit Adipositas (z.B. angepasste Operationstische, Betten, Stühle, Toiletten sowie geeignete apparative Ausrüstung der bildgebenden Diagnostik) verfügt. Bezüglich Prozesse wird unter anderem gefordert, dass ein 24-stündiger bariatrischer Notfalldienst mit Erreichbarkeit einer bariatrischen Chirurg:in (mind. 50 selbstständig durchgeführte Eingriffe), inklusive permanenter Zugänglichkeit eines Operationssaales etabliert ist. Der Notfalldienst kann dabei auch zentrumsübergreifend organisiert werden. Letztlich sind alle anerkannten Zentren dazu verpflichtet, ihre bariatrischen Eingriffe in anonymisierter Form in ein zentrales Register zu erfassen.

Aktuell sind seitens SMOB insgesamt 53 bariatrische Zentren in der Schweiz gelistet. Dabei wird zwischen Primärzentren (18) und Referenzzentren (35) unterschieden (Stand 01.05.23). Neben einigen anderen Kriterien ist insbesondere die Anzahl der pro Jahr durchgeführten bariatrischen Operationen das entscheidende Differenzierungskriterium. So wird für ein Primärzentrum ein Operationsvolumen von mindestens 25 Eingriffen pro Jahr gefordert, für ein Referenzzentrum mindestens 50 Eingriffe. Diese Zahlen sind im internationalen Vergleich als sehr niedrig zu bewerten. Eine Liste sämtlicher Primär- und Referenzzentren in der Schweiz ist auf der SMOB-Homepage publiziert (5).

Indikationskriterien, Vorbereitung und Nachsorge

Die wesentlichen Indikationskriterien zur Durchführung einer bariatrischen Operation sind in Tab. 2 zusammengefasst. Besonders herausgestellt werden sollte, dass seit dem 1.1.2021 bariatrisch-metabolische Operationen auch für Patient:innen mit schwer kontrollierbarem Typ 2 Diabetes mellitus sowie einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m2 unter dem Begriff «Metabolische Chirurgie» als Pflichtleistung in die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) aufgenommen wurden (6).

Prinzipiell soll bei allen Patient:innen die Indikation zur operativen Therapie nach einem standardisierten, multidisziplinären Assessment im Rahmen einer interdisziplinären Absprache gestellt werden. Zudem wird die Einhaltung einer mindestens 3-monatigen strukturierten Vorbereitungszeit vom ersten Kontakt zum Zentrum bzw. Zentrumsmitglied bis zum Eingriff gefordert. Diese Zeit soll genutzt werden, um einerseits die notwendigen Vorabklärung durchzuführen sowie andererseits die Patient:innen strukturiert auf die Operation sowie die danach notwendige Ernährungsumstellung und Einnahme von Supplementen vorzubereiten.

Alle Patient:innen verpflichten sich zu einer lebenslang qualifizierten Nachsorge. Die Nachsorge wird in der Regel durch das bariatrische Zentrum sowie gegebenenfalls von Kooperationspartnern organisiert. Es wird gefordert, dass die Nachsorge im ersten Jahr nach der Operation mindestens viermal, im zweiten Jahr halbjährlich und danach mindestens einmal jährlich stattfindet. Dabei ist eine qualifizierte Ernährungsberatung wesentlicher Bestandteil der Nachsorge. Eine ausführliche Labordiagnostik zur frühzeitigen Detektion von Mikro­nährstoffmängeln gehört ebenfalls standardmässig zur Nachsorge. Als Qualitätskriterium wird von jedem Zentrum gefordert, dass die follow-up Rate über 5 Jahre mindestens 75% beträgt.

Wie viele und welche Operationen werden in der Schweiz durchgeführt?

Gemäss SMOB-Datenregister wurden in der Schweiz über die letzten Jahre hinweg relativ konstant knapp 5000 bariatrische Eingriffe pro Jahr an mehr als 50 bariatrischen Zentren durchgeführt (Abb. 1). Dabei stellt der proximale Standard Roux-en-Y Gastric Bypass (Magenbypass, RYGB) mit etwa 75% das am häufigsten durchgeführte bariatrische Verfahren dar, während die Sleeve-Gastrektomie (Schlauchmagen, SG) in etwa 23% der Fälle vorgenommen wird. Die restlichen 2% setzen sich aus sehr selten eingesetzten Verfahren wie die biliopankreatische Diversion (BPD) oder die Implantation eines adjustierbaren Magenbandes (Laparoscopic Adjustable Gastric Banding, LAGB) zusammen. Damit stellt die Schweiz im internationalen Vergleich einen Sonderfall dar, da der Schlauchmagen mittlerweile die weltweit am häufigsten durchgeführte bariatrisch-metabolische Operation darstellt.
Grundsätzlich ist eine eindeutige, evidenzbasierte Allokation eines individuellen Patienten zu einem bestimmten Operationsverfahren vor dem Hintergrund der zurzeit bestehenden wissenschaftlichen Evidenz kaum möglich. Bislang liegt die Wahl des Operationsverfahrens daher letztlich in Absprache mit einer gut informierten Patient:in bei der ausführenden Chirurg:in, wobei die Ergebnisse der präoperativen Evaluation und die daraus resultierenden Empfehlungen des multidisziplinären Behandlungsteams berücksichtigt werden sollten. Faktoren, die bei der Wahl für oder gegen ein bestimmtes Operationsverfahren berücksichtigt werden müssen, sind z.B. Body-Mass-Index (BMI), Alter, Geschlecht, Körperfettverteilungsmuster, Vorliegen eines T2DM oder einer Fettstoffwechselstörung, Essstörungen (wie z.B. Binge Eating Disorder), Zwerchfellhernie, gastro­ösophageale Refluxkrankheit, Intelligenzminderung beziehungsweise Imbezillität, Erwartungen/Präferenzen des Patienten sowie abdominelle Voroperationen.

Welche Operationen, wo und unter welchen Voraussetzungen?

Relevant zu wissen ist, dass gemäss SMOB-Richtlinien folgende Eingriffskategorien grundsätzlich voneinander unterschieden werden:
1. Basiseingriffe (etablierte Primäreingriffe)
2. komplexe Eingriffe
3. Eingriffe in Evaluation

Der klassische proximale Roux-en-Y Magenbypass, der Schlauch­magen sowie das Magenband werden aktuell der ersten Eingriffskategorie «Basiseingriffe» zugeordnet. Diese Eingriffe dürfen gemäss Richtlinien bei Patienten mit einem BMI von bis zu 50 kg/m2 an bariatrischen Primärzentren vorgenommen werden. Die biliopankreatische Diversion (BPD) hingegen gilt als komplexer Eingriff und ist somit der zweiten Kategorie «komplexe Eingriffe» zuzuordnen. Dieser Eingriff kann daher nur in bariatrischen Referenzzentren durchgeführt werden. Letzteres gilt ebenso für alle bariatrischen Re-Operationen, zum Beispiel im Rahmen eines Verfahrenswechsels (Magenband zu RYGB) oder bei einem im Vorfeld geplanten zweizeitigen Vorgehen (1. SG, 2. RYGB/BPD).
Weitere Verfahren wie z.B. der Omega-Loop oder One-Anastomosis Gastric Bypass (OAGB) oder der Single Anastomosis Duodeno-Ileale Bypass mit Sleeve (Sadi-S) werden der dritten Eingriffskategorie «Eingriffe in Evaluation» zugeordnet und dürfen ausschliesslich im Rahmen einer von der lokalen Ethikkommission genehmigten, prospektiven Studie an einem Referenzzentrum durchgeführt werden (gemäss Humanforschungsverordnung [HFV1] vom 20. September 2013). Konkret bedeutet dies, dass entsprechende Verfahren nur durchgeführt werden dürfen, wenn die zu operierende Person adäquat über den experimentellen Charakter des Verfahrens informiert wurde und eine entsprechende Einwilligungserklärung unterzeichnet hat. Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass auch sämtliche interventionellen endoskopischen Verfahren zur Gewichtsreduktion (z.B. Endobarrier oder Endosleeve) ebenfalls nur unter diesen Voraussetzungen im Einklang mit der HFV1 durchgeführt werden dürfen.

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Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Dr. med. Guillaume Aeby

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

Prof. Dr. med. Dr. phil. Marco Bueter

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

m.bueter@spitalmaennedorf.ch

Dr. med. Guillaume Aeby: keinen Interessenkonflikt. Prof. Dr. med. Bernd Schultes ist Vize-Präsident der SMOB.
Prof. Dr. med. Marco Bueter ist Präsident der SMOB. Er gibt an Vortragstätigkeiten für die Firmen Johnson & Johnson und Medtronic durchzuführen.

◆ In der Schweiz gehören bariatrische Operationen zur
Leistungspflicht der Krankenkassen, wenn die Indikationskriterien (z.B. BMI > 35 kg/m2) erfüllt sind.
◆ Die präoperative Abklärung und Indikationsstellung erfolgt
interdisziplinär gemäss den SMOB-Richtlinien.
◆ Die SMOB führt eine Liste anerkannter Primär- und Referenzzentren, welche auf Ihrer Homepage (SMOB.ch) publiziert ist.
◆ Als etablierte Verfahren gelten insbesondere der Roux-en-Y Magen­bypass oder der Schlauchmagen.
◆ «Eingriffe in Evaluation» (z.B. Omega-Loop Magenbypass) dürfen nur im Rahmen von Studien erfolgen.
◆ Patient:innen sind zu einer lebenslangen Nachsorge verpflichtet.

1. Bernd Schultes, Ernst B, Rudofsky G. Medikamentöse Adipositastherapie – endlich Licht, jedoch auch Schatten – Aerzteverlag medinfo AG. Der informierte Arzt 2023. 2023 Mar;13(3):10–5.
2. Syn NL, Cummings DE, Wang LZ, Lin DJ, Zhao JJ, Loh M, et al. Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174 772 participants. Lancet. 2021 May 15;397(10287):1830–41.
3. Statuten – Swiss Society for the Study of morbid Obesity [Internet]. [cited 2023 May 8]. Available from: https://www.smob.ch/de/component/jdownloads/?task=download.send&id=31&catid=3&m=0&Itemid=101
4. Richtlinien zu operativen Behandlung von Übergewicht – Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders [Internet]. [cited 2023 May 8]. Available from: https://www.smob.ch/de/component/jdownloads/?task=download.send&id=116&catid=2&m=0&Itemid=101
5. Liste der anerkannten bariatrischen Zentren in der Schweiz – Swiss Society for the Study of morbid Obesity [Internet]. [cited 2023 May 8]. Available from: https://www.smob.ch/de/component/jdownloads/?task=download.send&id=112&catid=2&m=0&Itemid=101
6. Peterli R, Bueter M, Schultes B, Donath MY, Laederach K, Laimer M, et al. Metabolische Chirurgie als Pflichtleistung in die KLV aufgenommen. SMF. 2021 Jul 21;21(2930):514–6.

Prädiabetes mellitus

Ein aktueller sehr guter Review Artikel im JAMA (1) zeigt die Bedeutung eines Prädiabetes mit seinen Komplikationen und den therapeutischen Massnahmen umfassend auf. Die Prävalenz in der Bevölkerung der USA beträgt ca. 10% – einer von drei Erwachsenen ist betroffen und etwa 720 Millionen Menschen weltweit.

Übergewicht resp. eine Adipositas (BMI >25/≥30), eine Insulin­resistenz und eine Beta-Zell-Dysfunktion führen zu einem Prädiabetes mellitus. Die Definition nach WHO lautet: Nüchtern-Blutzucker (nBz) 6,1-6,9mmol/l, 2-Stunden Blutzucker postprandial: 7,8-11,0 mmol/l (75g Glucose Belastung), HbA1c: 6,0-6,4%. Nach der amerikanischen Diabetes Gesellschaft (ADA) sind die Werte etwas strenger mit: nBz: 5,6-6,9 mmol/l, HbA1c: 5,7-6,4%. Risikofaktoren für einen Prädiabetes sind: eine positive FA für DM, Alter, Übergewicht/Adipositas, körperliche Inaktivität und ein Schwangerschafts-Diabetes.

Ca. 10% der Patienten mit einem Prädiabetes in den USA ent­wickeln mit der Zeit einen Diabetes mellitus Typ 2. Bei einem Prädiabetes besteht bereits ein deutlich erhöhtes Mortalitätsrisiko und eine erhöhte kardiovaskuläre Ereignisrate. Die makrovaskulären Komplikationen sind: nicht tödlicher Myokardinfarkt und Schlaganfall. Es kommt auch zu mikrovaskulären Komplikationen wie: Retinopathie, Neuropathie und Nephropathie. Patienten mit einem chronischen Koronarsyndrom haben nach ADA-Kriterien in 67% einen Prädiabetes, nach WHO-Kriterien in 34%. Pathophysiologisch besteht eine hepatische Insulinresistenz mit erhöhter endogener Glucose Produktion, eine verminderte hepatische Blutzucker Clearance, eine Beta-Zell-Dysfunktion mit Abnahme des Betazellvolumens im Pankreas und ein verminderter Blutzuckerübertritt in die Muskulatur. Der HbA1c-Wert eignet sich sehr gut zur Diagnose des Prädiabetes mellitus. Cave: eine hämolytische Anämie, ein Eisenmangel, eine Hämopathie, eine Urämie, eine Schwangerschaft (SS) und die Schwarze Bevölkerung – hier kann man sich nicht auf obige HbA1c-Werte stützen.
Die Therapie besteht aus einer deutlichen Veränderung des Lebensstils mit Einschränkung der Kalorien und einer Gewichts-reduktion, einer regelmässigen körperlichen Betätigung (≥150 Min/Woche) und eventuell einer Metformin-Therapie. Letztere wird empfohlen bei einem Alter <60 Jahren mit einem BMI ≥35, einem nBz >5,7mmol/l oder einem HbA1c >6,0%. Ebenso bei einem anamnestischen SS-Diabetes. Cave B-12 Mangel bei langer Therapie. Lifestyle Modifikationen sind deutlich besser als die Verordnung von Metformin. Empfohlen werden auch eine Selbstkontrolle und eine Motivationshilfe. Diese Massnahmen führen zu einer Remission des Prädiabetes. Bei Risikopatienten sollte mindestens alle 2-3 Jahre ein Prädiabetes im Labor ausgeschlossen werden. Auch die restlichen kardiovaskulären Risikofaktoren müssen behandelt werden.

In einem zweiten lesenswerten Fortbildungsartikel aus Tübingen (2) wird Prädiabetes mellitus als ernst zu nehmende Erkrankung dargestellt. Es ist wichtig, Prädiabetes frühzeitig zu diagnostizieren, da man damit nicht nur Menschen mit einem hohen kardiovaskulären Risiko und einer NAFLD («non-alcoholic fatty liver disease») rechtzeitig identifizieren kann, sondern auch in dieser Phase der Hyperglykämie oft noch rechtzeitig präventive Massnahmen erfolgreich einleiten kann. Sie reduzieren das Risiko für die Entstehung eines DM um 50-60%; auch wird die kardiovaskuläre Mortalität gesenkt.

Quelle: 1) Echouffo-Tcheugui J.B. et al; Diagnosis and Management of Prediabetes – A Review ; JAMA 2023; 329 (14): 1206-1216
2) Stefan N.; CME: Prädiabetes – eine Krankheit? Diabetologie 2023;19:215-222

Dr. med. Urs N. Dürst

Zelglistrasse 17
8127 Forch

u.n.duerst@ggaweb.ch

Klare Vorteile einer Single Pill in der kardiovaskulären Therapie

Seit bald zwanzig Jahren wird über den Einsatz von Single Pills (SP/Polypills) diskutiert. Im Jahre 2022 sind weitere bedeutende Studien zu diesem Thema erschienen. Zusammenfassend verbessert eine Einzeltablette mit verschiedenen Wirkstoffen (u.a. BD-Senker, Statin, Aspirin) die Adhärenz resp. die Compliance (Therapietreue), dadurch kommt es u.a. zu einer Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren Blutdruck und LDL. Diese und zusätzliche pleiotrope und vaskuläre Effekte führen zu einer deutlichen Verbesserung des Outcomes mit Senkung der kardiovaskulären (cv) Ereignisse und der Mortalität. Auch die Folgekosten werden durch diese Therapie-Strategie deutlich gesenkt. Der Einsatz von SP ist daher wirtschaftlich und zweckmässig.

Aktuell gibt es bei uns im Alltag verschiedene Kombinations­tabletten bei der Behandlung der Hypertonie. Diese werden auch gemäss Leitlinien primär empfohlen. Nur 50% aller Hypertoniker erreichen den geforderten Ziel-BD. Dabei erhalten leider nur ca. 1/3 eine Kombinationstherapie als SP. Es gibt in der Schweiz nur wenige Antihypertensiva z.B. in Kombination mit Atorvastatin als SP. Bekannt ist auch die Kombination eines Statins mit Ezetimib. Da diese Substanzen als Generika zur Verfügung stehen, ist eine SP nicht wesentlich teurer. Die Adhärenz der Patienten wird leider deutlich überschätzt. Nach einem Myokardinfarkt nehmen weniger als 50% das für die sekundäre cv-Prävention verschriebene Multimedikamentenregime konsequent ein. Daher sollte eine oder mehrere SP in Zukunft der Normalfall sein.

Neuere Studien belegen klar den Nutzen mit obigen Resultaten (1-8). In der START- und START 2.0-Studie (1, 2) wurden Krankenversicherungsdaten bei 29’668 Herzkreislauf-Patienten (Hypertoniker) in Deutschland retrospektiv analysiert. Die Real Life Daten ergeben, dass die Gesamtmortalität, verschiedene cv-Ereignisse und die Hospitalisationsrate durch sieben Kombinationen von SP mit Antihypertensivas, Lipidsenkenden Medikamenten und auch Aspirin signifikant reduziert wurde, verglichen mit der Gabe von losen Einzelsubstanzen. Die Zeit bis zum ersten Ereignis wurde verlängert. Die Therapietreue war signifikant besser und die Gesamtkosten waren deutlich tiefer.

In der spanischen Studie NEPTUNO (3) wurden Daten elektronischer Krankengeschichten, ebenfalls retrospektiv, in der Sekundärprävention wegen atherosklerotischen, kardiovaskulären Erkrankungen analysiert. Durch eine Kombinationstablette von Aspirin 100mg, Atorvastatin 20 oder 40mg und Ramipril 2,5/5/10mg wurden die cv-Ereignisse über zwei Jahre um 15% vermindert verglichen mit der Gabe von Monosubstanzen. Auch traten diese später auf. Die Risikofaktoren BD und LDL waren bei guter Therapietreue besser eingestellt.

In der SECURE Study (4), der ersten prospektiven europäischen Interventions-Studie, ergaben sich eindrucksvolle Resultate in der Sekundärprävention nach einem Myokardinfarkt vor max. 6 Monaten und einem weiteren cv-Risikofaktor. Diese wurde am ESC 2022 in Barcelona vorgestellt. Verglichen wurde eine Single Pill mit drei Wirkstoffen vs. der Einnahme dieser drei Wirkstoffe als Einzelsubstanzen: Aspirin 100mg, Atorvastatin 20 oder 40mg und Ramipril in aufsteigender Dosierung 2,5-10mg bei insgesamt 2499 Patienten (Durschnitt 76 Jahre, 31% Frauen). Der primäre Endpunkt (nicht tödlicher Myokardinfarkt, nicht tödlicher Schlaganfall, cv-Tod und Notfallrevaskularisationen) wurde um 24% über 3 Jahre gesenkt. Der härteste Endpunkt: der cv-Tod um 33%. Es werden bei gleichem BD und LDL in beiden Gruppen zusätzliche pleiotrope Effekte der Statine und vaskuläre Effekte von Aspirin und Ramipril vermutet. Bei einer längeren Nachbeobachtung wäre der Unterschied wahrscheinlich noch grösser.
In einer Arbeit aus Italien (5) bei arterieller Hypertonie konnten die kardiovaskulären Ereignisse und die Gesamtmortalität in fünf verschiedenen Ländern auf drei Kontinenten über 10 Jahre deutlich gesenkt werden.

In der PolyIran Studie (6) konnte mit einer niedrig dosierten Fixkombination von 4 Wirkstoffen bei Menschen älter als 50 Jahre meist ohne bekannte Herzkreislauferkrankungen über 5 Jahre im ländlichen Iran die Ereignisrate um 1/3 gesenkt werden. Lebensstilintervention vs. Lebensstilintervention und Polypill. In der Primärprävention und bei hoher Compliance relative Risikoreduktion sogar um 40%.

Die TIPS-3 Studie von S. Yusuf et al. zeigte in der Primärprävention, dass eine kombinierte Behandlung mit einer SP plus Aspirin zu einer geringeren Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse führte als Placebo bei Teilnehmern ohne Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die ein mittleres kardiovaskuläres Risiko hatten (7). Die primärpräventive Wirkung hatte gemäss HOPE-3 Studie bei intermediärem cv Risiko und einem Alter >55 Jahren vor allem die Lipidsenkung (8).

Somit zeigen uns diese Publikationen, dass eine Single Pill im Praxisalltag ein sehr hilfreiches und einfaches Instrument ist, um die Adhärenz des Patienten/der Patientin deutlich zu verbessern und dadurch Outcome und Folgekosten positiv zu beeinflussen. Es ist zu hoffen, dass weitere Wirkstoff-Kombinationen in verschiedenen Dosierungen als Single Pill, neben den bereits vorhandenen Kombinationen in der Hypertoniebehandlung, in der Primär- und Sekundär-Prävention zum Wohle unserer Patienten auch in der Schweiz auf den Markt kommen und von uns Ärzten vermehrt gezielt und richtig eingesetzt werden. Es bedarf einem Konzeptwechsel von vielen Einzeltabletten auf eine oder mehrere SP. Durch verschiedene Dosierungen und Kombinationen ist auch eine individualisierte Medizin möglich. Eine Medibox kann für die Therapietreue und damit ein besseres Outcome ebenfalls behilflich sein.

Dr. med. Urs N. Dürst

Zelglistrasse 17
8127 Forch

u.n.duerst@ggaweb.ch

1. Wilke T. et al.: Effects of Single Pill Combinations compared to identical Multi Pill Therapy on Outcomes in Hypertension, Dyslipidemia and Secondary Cardiovascular Prevention: The Start-Study; Integrated Blood Pressure Control 2022:15-21
2. Weisser B. et al.: Single pill treatment in daily practice is associated with improved clinical outcomes and all-cause mortality in cardiovascular diseases: results from the START project. Poster presented at the ESC Congress 2022, 26. August 2022, Barcelona
3. González-Juanatey JR. et al.: The CNIC-Polypill reduces recurrent major cardiovascular events in real-life secondary prevention patients in Spain: The NEPTUNO study; Int J Cardiol 2022; 361:116-123
4. Castellano J.M. et al.: Polypill Strategy in Secondary Cardiovascular Prevention; NEJM 2022;387:967-977
5. Borghi C. et al.: International Journal of Cardiology Cardiovascular Risk and Prevention 2021; 10:200102
6. Roshandel G et al.: Effectiveness of polypill for primary and secondary prevention of cardiovascular diseases (PolyIran): a pragmatic, cluster-randomised trial. Lancet 2019; 394:672-83
7. Yusuf S. et al.: Polypill with or without Aspirin in Persons without Cardiovascular Disease NEJM 2021;384: 216-228
8. Yusuf S. et al.: Cholesterol Lowering in Intermediate-Risk Persons without Cardiovascular Disease. NEJM 2016; 374: 2021-2031.

Hannigalp – Gletschergrotte

Die Lage von Saas-Fee inmitten der Viertausender ist einmalig. Im Westen überragen die Lenzspitze, der Dom und das Täschhorn das Dorf, im Süden der Alphubel und das Allalinhorn. In Saas-Fee lernte ich Skifahren und als Stadtkind aus dem Unterland den Winter mit all seinen Gefahren im Gebirge erst so richtig kennen.

Vor der Alpenblickhütte baute ich Stunden lang Schneehütten und grub Höhlen in den Schnee, während meine Mutter ungestört lesen konnte. Zu den Erinnerungen an Saas-Fee gehört für mich auch ein Stier, der Reissaus genommen und einen Jungen aus Belgien sowie mich angegriffen hatte, die wir vor dem Ferienhaus im Schnee spielten. Mein Spielkamerad rettete sich gerade noch rechtzeitig ins Haus, während ich auf einen der damals noch vorhandenen Heustadel floh. Unsere Mütter waren währenddessen beim Einkaufen und wollten danach unsere Geschichte nicht glauben, wäre da nicht Frau Brantschen, unsere Vermieterin gewesen, die das Vorgefallene bestätigte. Der Schrecken sass mir danach noch lange im Nacken. Noch über Jahre wollte ich genau wissen, ob unter bekannterweise grimmig dreinschauenden Eringer Kühen, die wir auf Bergtouren antrafen, ein Stier war, bevor ich weiterging.

Zu Beginn unseres Aufstiegs zur Hannigalp hinauf kommen wir am Ort des Geschehens vorbei. Wir starten auf dem Dorfplatz und gelangen durch die Kirchstrasse links der Kirche in die Obere Gasse. Dort stehen linker Hand noch immer die Ställe, allerdings zu Ferienhäusern umgebaut, und rechts das Haus mit dem Zuweg, auf dem wir zwei Buben spielten, als der Stier uns angriff. Über die obere Gasse gelangen wir heute unbedroht zum Stafelwald, dessen östlichem Rand wir bis zur Lawinenschutzmauer folgen. Dieser entlang führt ein Weg gegen Nordwesten durch eine Wiese, auf der sich Murmeltiere leider durch Menschen füttern lassen. Am bergseitigen Ende des am Triftbach liegenden Erdwalls biegt der Pfad gegen Osten um und führt in den Haldenwald, den er in mehreren Kehren Richtung Hannigalp hinauf quert. Nach Verlassen des Waldes wenden wir uns den Alphütten und dem vom Alpenblick her kommenden Bergweg zu, über den wir nochmals über mehrere Kehren die Bergstation und das Bergrestaurant Hannig erreichen, auf dessen Terrasse man eine herrliche Rundsicht geniesst.

Der Höhenweg Richtung Gletschergrotte verlässt die Hannigalp fast eben aus gegen Westen. Wir queren zuerst den vom Gemshorn herunterfliessenden Torrenbach und wenig später den Triftbach, der durch das Schmelzwasser des Hohbalmgletschers gespiesen wird. Bedrohlich hängt der Gletscherabbruch über dem Tal (Abb. 1). Am Fuss der Distelhörner queren wir zum Triftwald hinüber (Abb. 2). Wer sich hier gegen Westen wendet und den Kopf weit in den Nacken legt, der kann die Mischabelhütte auf dem Grat zwischen Oberem Distelhorn und Schwarzhorn erkennen.

Etwas mehr als 100 Höhenmeter absteigend erreichen wir die Fortsetzung des Weges, der uns zur Moräne des Feegletschers hinüberführt (Abb. 3). Dieser folgen wir bis zum Geländepunkt 1930 Meter, wo wir zur Schwemmebene der Feeru Vispa abzweigen. Am gegenüberliegenden Ufer bleibt noch ein kurzer Gegenanstieg zur Gletschergrotte zu überwinden, bevor sich uns eine weitere gemütliche Einkehrmöglichkeit bietet.

Für die Rückkehr nach Saas-Fee wählen wir den südlich des Restaurants abzweigenden Waldweg zur Feeru Vispa hinunter. Nach der Brücke führen uns der mittlere Weg um den Geländepunkt 1924 Meter herum oder der untere entlang des Flusses nach Saas-Fee zurück (Abb. 4).

Der Blick hinauf zum Feegletscher stimmt nachdenklich. In meiner Bubenzeit reichte dieser vor allem westlich, aber auch östlich der Längflue noch wesentlich weiter ins Tal hinunter. Die Fahrt mit der Luftseilbahn über Spielboden zur Längflue hinauf bot einen herrlichen Ausblick auf den Gletscher und war für mich jedes Mal ein beeindruckendes Erlebnis. Heute dominieren mehr und mehr die glattgeschliffenen Felspartien in den sich weitenden Gletschervorfeldern das Landschaftsbild. Die zahlreich zu Tal schiessenden Bäche erinnern daran, dass auch der heutige Anblick der Gletscher nur noch von kurzer Dauer sein wird.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch