Es sind schwierige Zeiten! Wer hätte das vor vier oder fünf Jahren gedacht!
Wir leiden unter COVID, dem unsäglichen Krieg in der Ukraine, zunehmenden Regulierungen und Kapazitätseinschränkungen. Bei uns spricht die Verwaltung von «Kapaproblemen» – das Wort wird nicht einmal mehr ausgeschrieben – ähnlich wie man einen zu langen Namen abkürzt. Kapa tönt doch ein wenig wie man liebevoll einen etwas übermütigen Junghund ruft. Die Regulationsdichte seitens der Behörden nimmt unvermindert zu, was unsere tägliche Arbeit erschwert und wahrscheinlich auch nicht dazu führt, dass unser Nachwuchs motiviert ins medizinische Tagesgeschäft reindrängt. Viele ältere Kolleg:innen geben frustriert ihre Praxen auf. Die Politiker fordern mehr Qualität zu niedrigeren Kosten – sagen Sie das einmal ihrem Autoverkäufer beim nächsten Autokauf – und die Versicherungen verlangen immer ausführlichere Berichte über Bagatellfälle. So, das musste ich doch wieder mal loswerden.
Alles Klagen und Jammern nützt nichts! Wir müssen da durch und unsern Patient:innen zuliebe möglichst gute Arbeit abliefern. Und, was auch gesagt werden muss, wir Aerzt:innen haben uns in den letzten Jahren durch interne Grabenkämpfe stark geschadet und dadurch allen andern Playern im Gesundheitswesen Gelegenheit gegeben sich ungebührlich und leider oft kontraproduktiv breitzumachen.
Ich bin sicher, dass früher oder später, nach einer Durststrecke, die Pflegenden hinter ihren Telefonen bei den Hotlines oder aus den Foodtrucks, wo sie nach dem Burnout im Spital arbeiteten, wieder hervorkommen und zusammen mit uns im Spital unserer eigentlich sehr dankbaren und interessanten Arbeit nachgehen. Ich hoffe, die CEO’s, Politiker und Bürger:innen sehen ein, dass man die Pflegenden besser entschädigen muss – und dass die langen Versicherungsfomulare plötzlich auf wundersame Art und Weise irgendwie im Hades vom Zerberus gefressen werden.
Gerne informieren wir Sie, dass Prof. Dr. med. Reto Krapf ab Januar 2023 seine medizin-publizistische Expertise als Medizinischer Leiter in unsere Redaktion einbringen wird. In dieser nebenberuflichen Funktion wird er auch sein ihm ans Herz gewachsene Hobby der Literaturinterpretation in angepasster und neuer Form weiter pflegen. Prof. Krapf freut sich auf seine Tätigkeit beim Aerzteverlag medinfo und das «innovative und dynamische Umfeld», wie er sagt. Wir freuen uns ebenso, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, von dieser renommierten und bestbekannten Feder künftig in unseren Fortbildungszeitschriften profitieren können – und weiterhin Monat für Monat mit der neuen Rubrik «Reto Krapf`s Medical Voice» informiert bleiben.
Ärzte schreiben für Ärzte
Unser Hausärzte-Board und die Editoren begrüssen die namhafte Bereicherung sehr, die eine der Innovationen war, die auf unserer Jahressitzung diskutiert wurde – natürlich neben der «Basisarbeit», wieder ein ganzes Jahr praxisrelevanter Fortbildung aufzustellen.
Sie wissen es ja längst: Die Beiträge der medinfo-Zeitschriften werden nicht von der Verlagsredaktion verfasst, sondern von Ihren Kolleginnen und Kollegen vom Hausärzte-Board bestimmt und von Fachspezialisten des Advisory-Boards ausgearbeitet. Deren Manuskripte, wie auch die Berichte von Fachkongressen und Symposien, werden vor Druck von unseren Chefredaktoren geprüft. Das nennen wir: Qualitätsfortbildung aus erster Hand.
Wir möchten uns, liebe Leserinnen und Leser, herzlich für Ihre Treue und Ihr Vertrauen in unsere Fortbildung bedanken – und wollten Ihnen kurz aufzeigen, dass wir hierbei, auch
weiterhin, nicht stehen bleiben. Welcome Reto Krapf!
Nach der negativ verlaufenen Studie SYMPLICITY HTN-3 gab es beim Thema «renale Denervation» zunächst eine mehrjährige Pause, bevor der Stellenwert des Verfahrens schrittweise durch besser designte Studien mit umfassenderen, solideren und strengeren Protokollen neu untersucht wurde mit dem Ziel, das Vertrauen in dieses Verfahren wiederherzustellen.
Trotz guter Medikamente ist die Hälfte aller Hypertoniker unzureichend eingestellt. Da lag es vor zwölf Jahren nahe, einen neuen interventionellen Lösungsansatz für die Hochdrucktherapie zu finden. Bei der renalen Denervierung werden mit einem spiralförmigen Katheter die überaktiven sympathischen Nervenfasern, die in der Adventitia der Nierenarterien und im perivaskulären Fettgewebe verlaufen, gezielt deaktiviert, genauer gesagt verödet, und zwar mittels thermischer (durch Applikation von Radiofrequenz- oder Ultraschallenergie) oder chemischer (durch Mikroinjektion neurotoxischer Substanzen) Applikation.
Die erste Studiengeneration (SYMPLICITY HTN 1 und HTN 2) zeigte dann auch bei therapierefraktären Hochrisiko-Patienten eine signifikante Blutdrucksenkung durch die renale Denervierung von durchschnittlich 22 mm Hg bzw. bzw. 33 mm Hg nach sechs Monaten. Die Ergebnisse der SYMPLICITY HTN 3-Studie, bei der erstmals die renale Denervierung mit einem Scheineingriff verglichen wurde, waren dann aber sehr enttäuschend. Im Vergleich mit einer Scheinbehandlung brachte die renale Denervierung keinen signifikanten Vorteil bei der Blutdrucksenkung.
Redesign bei Studien der zweiten Generation
Die kritische Prüfung dieser Studie führte zu einem Umdenken und Redesign bei Studien der zweiten Generation. Es wurden vor allem Patienten mit kombinierter und nicht mit isolierter systolischer Hypertonie eingeschlossen. Statt der Praxis-Messung wurde die 24-h-Langzeitmessung zur Therapiekontrolle eingeführt. Auch wurde das Prozedere optimiert und zwar durch eine verbesserte Kathetertechnik, mit der auch die distal liegenden peripheren Gefäße erfasst werden können. Ein Problem der ersten Studien war auch die fehlende medikamentöse Therapietreue. «Mittlerweile liegen eine Reihe von randomisierten, schein-kontrollierten Studie vor, die die Wirksamkeit mittels Radiofrequenz- bzw. Ultraschallenergie bei Patienten mit und ohne begleitende antihypertensive Therapie bestätigen», so Prof. Thilo Burkhard, Basel. Die erste Studie, in die diese methodischen Überlegungen Eingang gefunden hatten, war die SPYRAL HTN-OFF MED-Studie, in die 115 Patienten mit einem niedrigen Risiko ohne Begleitmedikation eingeschlossen wurden. Wiederum wurde in dieser Studie randomisiert eine renale Denervierung mit einer Scheinbehandlung verglichen.
Die renale Denervierung funktioniert
Nach drei Monaten zeigte sich ein signifikanter Vorteil für die echte Intervention. Der Blutdruck bei der 24-h-Messung sank nach 3 Monaten um 9,5 mm Hg während im Schein-Arm nur eine Abnahme von 3,5 mm Hg nachgewiesen werden konnte. Daraufhin wurde das Verfahren in der SPYRAL HTN-ON MED-Studie bei 80 Niedrig-Risiko-Patienten mit einem bis drei Begleitmedikamenten ebenfalls in einem randomisierten Design versus einer Scheinbehandlung untersucht. Nach sechs Monaten ergab sich bei der renalen Denervierung eine signifikante Blutdrucksenkung von 12,5 mm Hg, in der Scheingruppe dagegen nur von 1,1 mm Hg. Eine Post-hoc-Analyse ergab auch eine Abnahme der Plasma-Renin-Aktivität und der Aldosteronkonzentration durch die Radiofrequenz-Denervation.
In der scheinbasierten, randomisierten RADIANCE-TRIO-Studie wurde die renale Denervation mittels Ultraschall durchgeführt. Eingeschlossen wurden Patienten, deren Hypertonie durch eine Triple-Fixkombination nicht ausreichend eingestellt werden konnte. Innerhalb von 2 Monaten sank der systolische Blutdruck bei ambulanter Messung um 8 mm Hg im Vergleich zu 3 mm Hg in der Kontrollgruppe Der Unterschied war statistisch signifikant. Bei der ambulanten 24-h-Blutdruckmessung ergab sich ein Unterschied von 4,2 mm Hg zwischen Interventions- und Kontrollgruppe.
In der Regel nicht statt Medikamente
Zwischenzeitlich liegen die Ergebnisse von 1.000 Patienten mit einem Follow-up von zwei und sechs Monaten vor. Fazit: Bei der zweiten Studiengeneration zeigt sich durchweg eine signifikante Blutdrucksenkung, von der zwei Drittel der Patienten profitieren. Dabei erwies sich das Verfahren als sicher und nebenwirkungsarm. Die renale Denervierung gilt deshalb heute als vielversprechende ergänzende Methode bei einer therapierefraktären Hypertonie. Vorher sollte allerdings die medikamentöse Adhärenz geprüft sein, da auch in der SPYRAL HTN-ON MED-Studie trotz umfangreicher Aufklärung 40 % der Teilnehmer ihre Medikation unregelmäßig einnahmen.
Zum jetzigen Zeitpunkt sollte die renale Denervierung nicht als Alternative zur primären antihypertensiven Medikation propagiert werden. Aber im Einzelfall kann sie nach den Ergebnissen der SPYRAL HTN OFF-MED-Studie aber als Ausweichstrategie für Patienten mit mehrfacher Medikamentenunverträglichkeit, vor allem bei hohem Leidensdruck oder erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse in Frage kommen.
Die Analyse der SPYRAL HTN OFF-MED-Daten zeigte auch, dass die renale Denervierung die Herzfrequenz senkt und dass Patienten mit einer hohen Herzfrequenz in Ruhe besonders stark von dem Eingriff profitieren. Somit könnte eine hohe Herzfrequenz in Ruhe ein Surrogatparameter für hohe sympathische Aktivität und eine gute Response sein.
Im klinischen Alltag ist die Mikrohämaturie relativ häufig anzutreffen. Die zugrundeliegende Ätiologie ist vielfältig und die Folgen können harmlos wie lebensbedrohlich sein. Durch die Bestätigung der Mikrohämaturie mittels Urinsediment, einer gezielten Anamnese sowie der klinischen Untersuchung kann evaluiert werden, ob eine weiterführende nephrologische und/oder urologische Abklärung indiziert ist.
Microhematuria is relatively common in clinical practice. The underlying etiology is diverse and the consequences can be harmless as well as life-threatening. Confirmation of microhematuria with a urine sediment, a targeted history and clinical examination can be used to evaluate whether further nephrological and/or urological clarification is indicated. Key Words: urine sediment; glomerular vs. non-glomerular; transient vs. persistent
Die Mikrohämaturie ist – neben der gezielten Suche aufgrund einer vermuteten Erkrankung – nicht selten eine Zufallsdiagnose. Meist erfolgt die initiale Diagnose mittels Urinstreifentest, welcher eine hohe Sensitivität (äquivalent zu 1-2 Erythrozyten/Gesichtsfeld) (1), jedoch eine niedrige Spezifität aufweist. Entsprechend sind falsch negative Resultate selten. Bei der Einnahme hoher Dosen von Vitamin C wurde dies beschrieben (2). Falsch positive Resultate können unter anderem auftreten bei einem hohen Urin pH >9, Nachweis von Samenflüssigkeit, Oxidationsmittel (Reinigung Perineum) sowie bei Myoglobinurie (Rhabdomyolyse) und Hämoglobinurie (Hämolyse).
Im Allgemeinen ist die Mikrohämaturie definiert als das Vorhandensein von drei oder mehr Erythrozyten pro Gesichtsfeld (Mikroskop, 400fache Vergrösserung), in einem zentrifugierten Urinsediment.
Im Gegensatz dazu ist die Makrohämaturie mit blossem Auge sichtbar (ca. 1 ml Blut/l Urin).
Prävalenz
Die tatsächliche Prävalenz der Mikrohämaturie ist schwierig abzuschätzen, in Studien zeigt sich eine grosse Schwankung zwischen 2-31%. Das Vorkommen ist stark abhängig von der gewählten Population, Dauer der Studie und Testhäufigkeit (3, 4).
Wann macht ein Urinsediment Sinn?
Das Urinsediment ist für die Diagnose einer Mikrohämaturie der Goldstandard. Zur Bestätigung einer tatsächlichen Mikrohämaturie (Abb. 1a) sowie Differenzierung zwischen glomerulärer versus nicht glomerulärer Mikrohämaturie ist die Kontrolle mittels Urinsedimentes entscheidend. Weiter ist die Durchführung eines Urinsedimentes bei fast allen Patienten mit einer akuten Nierenschädigung (AKI) empfohlen, meist bei der Abklärung einer chronischen Nierenerkrankung (CKD) sowie bei einer unklaren Proteinurie oder Albuminurie. Ausnahmen können beispielsweise eine symptomatische Harnwegsinfektion/Pyelonephritis oder eine bestätigte Nephro/-Urolithiasis sein.
Glomeruläre versus nicht glomeruläre Mikrohämaturie
Bei einer nicht glomerulären Mikrohämaturie finden sich isomorphe (einheitliche, bikonkave Form) Erythrozyten. Sie können bei jeglichen Ursachen einer Hämaturie auftreten. Bei der glomerulären Mikrohämaturie zeigen sich Erythrozyten mit geänderter Morphologie. Es handelt sich um dysmorphe Erythrozyten und Akanthozyten. Akanthozyten sind ringförmige Erythrozyten mit bläschenförmigen Ausstülpungen («Micky-Maus-Ohren»). Die Deformierung entsteht wahrscheinlich mechanisch bei der Passage durch die Basalmembran sowie durch osmotischen «Stress» im Nephron (5). Erythrozytenzylinder können ebenfalls auftreten.
Im Urin haben die Akanthozyten, insbesondere bei Nachweis von ≥5%, eine hohe Spezifität für ein glomeruläres Geschehen (6). Im klinischen Alltag ist der Nachweis von Akanthozyten auch in niedrigerer Prozentzahl suspekt für eine glomeruläre Mikrohämaturie. Der geforderte prozentuale Anteil von dysmorphen Erythrozyten im Urinsediment zur Diagnose einer glomerulären Mikrohämaturie ist nicht einheitlich. Meist wird ein Anteil von >30% dysmorpher Erythrozyten gefordert. Im Vergleich zur Akanthozyturie ist die Sensitivität deutlich kleiner.
Eine isolierte glomeruläre Mikrohämaturie besteht bei normaler Nierenfunktion ohne Nachweis einer Proteinurie, ohne arterielle Hypertonie oder Hinweise für eine systemische Erkrankung.
Transiente versus persistierende Mikrohämaturie
Die Mikrohämaturie kann persistierend oder transient vorhanden sein (Abb. 1b)
Eine persistierende, asymptomatische, isolierte Mikrohämaturie sollte abgeklärt werden, da auch diese insgesamt mit einem höheren Risiko für eine dialysepflichtige Nierenerkrankung einhergeht (7). Als Ätiologie für eine transiente/vorübergehende Mikrohämaturie können sportliche Betätigung (exercise-induced hematuria), Geschlechtsverkehr, Harnwegsinfektionen/Prostatitis, Endometriose, Trauma, Nephrolithiasis oder Fieber vorliegen. Weibliche Patienten sollten zusätzlich bezüglich möglicher gynäkologischer Ursachen (Menstruation, Schwangerschaft, Genitalatrophie etc.) befragt werden. Eine sofortige ergänzende Diagnostik ist bei Fehlen weiterer Symptome/Auffälligkeiten nicht gefordert. Die Urinanalyse ist innerhalb weniger Wochen zu wiederholen, um festzustellen, ob es sich um eine transiente oder persistierende Mikrohämaturie handelt. Die Ätiologie der transienten Mikrohämaturie ist teilweise nicht klar eruierbar.
Bei Risikofaktoren für ein Malignom (Abb. 1b) sollte auch eine transiente Mikrohämaturie abgeklärt werden.
Diagnostik/Abklärungspfad
Ein allgemeines Mikrohämaturie-Screening ist nicht empfohlen. Findet sich im Urinstreifentest eine Mikrohämaturie (Abb. 1a), sollte nach Ausschluss einer Harnwegsinfektion die Untersuchung innerhalb ca. 4-6 Wochen wiederholt werden (transiente Mikrohämaturie?). Bei erneutem Nachweis einer (asymptomatischen) Mikrohämaturie ist als nächster Schritt die Durchführung eines Urinsedimentes, sowie ergänzend die Bestimmung der Proteinurie (physiologisch bis 150mg/Tag) und Albuminurie empfohlen.
Weiter kann eine gezielte Anamnese zur Ursachendifferenzierung helfen:
Klinik: (Neu) arterielle Hypertonie? Schäumender Urin (Proteinurie)? Flankenschmerzen (Nephrolithiasis)?
Je nach vermuteter Ursache, respektive entsprechend der klinischen Präsentation / Risikofaktoren ist ein unterschiedlicher Abklärungspfad indiziert (Abb. 1b).
Besteht eine nicht glomeruläre Mikrohämaturie ohne Hinweise für eine nephrologische Grunderkrankung (eingeschränkte Nierenfunktion, art. Hypertonie, Ödeme, Proteinurie), Nephrolithiasis oder Infekt, ist nach Ausschluss einer transienten, ätiologisch bekannten Mikrohämaturie, eine urologische Abklärung indiziert. Insbesondere bei vorhandenen Risikofaktoren wie Nikotinkonsum, Alter >35 Jahre, Makrohämaturie-Episoden, Kontakt mit Chemikalien (z.B. aromatische Amine), stattgehabte Radiatio im Beckenbereich, oder Behandlung mit Alkylantien (Cyclophosphamid) muss eine maligne Ursache ausgeschlossen werden. Neben der Computertomographie erfolgt eine weiterführende Diagnostik mittels Urinzytologie und Zystoskopie. Bleiben diese Untersuchungen ohne Nachweis einer Pathologie, ist in einem weiteren Schritt eine nephrologische Kontrolle zu evaluieren.
Bei Nachweis einer persistierenden glomerulären Mikrohämaturie ist eine weiterführende nephrologische Abklärung sinnvoll. Ergibt sich die Diagnose einer asymptomatischen, isolierten glomerulären Mikrohämaturie, kommen differentialdiagnostisch – insbesondere bei jungen Patienten – vor allem eine IgA Nephritis (teils begleitet von Makrohämaturie-Episoden v.a. auftretend im Zusammenhang mit respiratorischen oder gastrointestinalen Infekten) oder eine Kollagen Typ IV-assoziierte Erkrankung in Frage (8). Bei Letzterem handelt es sich um eine genetische Mutation im Kollagen Typ IV, welche zu einem Spektrum verschiedener Nephropathien führt. Dieses reicht von einer oft isolierten Mikrohämaturie (früher Syndrom der dünnen Basalmembran) bis hin zu einer dialysepflichtigen Nierenerkrankung im Rahmen eines Alport-Syndromes (begleitet von extrarenalen Manifestationen wie Taubheit/Sehstörungen) (9).
Bei der isolierten glomerulären Mikrohämaturie sind regelmässige Verlaufskontrollen alle 6-12 Monate empfohlen. Dazu gehört die Bestimmung der Proteinurie/Albuminurie, Serumkreatinin und Blutdruckkontrolle. Bei stabilen Befunden ist die Langzeitprognose sehr gut und eine Nierenbiopsie nicht notwendig (8). Die Evaluation respektive Indikation einer Nierenbiopsie ist gegeben, falls sich einer oder mehrere dieser Parameter ändern sollten (8).
Eine dringliche Kontaktaufnahme mit der Nephrologie ist bei einer raschen Nierenfunktionsverschlechterung, insbesondere bei einer zusätzlich vorhandenen glomerulären Mikrohämaturie und/oder dem Auftreten weiterer klinischer Auffälligkeiten (z.B. neu diagnostizierte arterielle Hypertonie), indiziert.
Differentialdiagnosen
Die Differentialdiagnose der Mikrohämaturie ist breit und reicht von harmlos bis hin zu lebensbedrohlichen Erkrankungen. Als häufige Ursachen sind Harnwegsinfektionen, Nephro-/Urolithiasis und – bei zunehmendem Alter – Malignome des Urogenitaltraktes zu nennen. Weiter kann jede Form der Glomerulonephritis eine Mikrohämaturie hervorrufen. Untenstehend (Abb. 2) sind die Differentialdiagnosen der Mikrohämaturie aufgelistet (inkomplett, gewisse Ätiologien können an verschiedenen Lokalisationen auftreten).
Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Eine Mikrohämaturie ist definiert ≥ 3 Erythrozyten/Gesichtsfeld.
◆ Ein generelles Screening für die Mikrohämaturie ist nicht indiziert.
◆ Das Urinsediment ist entscheidend für die Unterscheidung zwischen glomerulärer vs. nicht glomerulärer Mikrohämaturie sowie für die weitere Diagnostik.
◆ Eine persistierende Mikrohämaturie soll weiter abgeklärt werden:
Anamnese (Risikofaktoren für Malignom? familiäre Nephropathologie? Hinweise für Systemerkrankung?), Labordiagnostik (inkl. Proteinurie, Albuminurie), Klinik (art. Hypertonie? Ödeme? Makrohämaturie?).
Ggfs. ist eine nephrologische und/oder urologische Abklärung notwendig.
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5. U. Kuhlmann Nephrologie Pathophysiologie-Klinik-Nierenersatzverfahren,
6. Auflage
6. Köhler H et al. Acanthocyturia-a characteristic marker for glomerular bleeding. Kidney Int. 1991;40(1):115.
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Israeli adolescents and young adults and risk for end-stage renal disease. JAMA. 2011;306(7):729.
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microscopic hematuria with and without low-grade proteinuria. Clin Nephrol. 2004;62(4):267.
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Die orthostatische Hypotonie (OH) wird mit zunehmendem Alter immer häufiger, ist meist asymptomatisch, kann aber auch zu Synkopen führen. Ursächlich werden primäre und sekundäre neurogene Ursachen sowie Medikamente und eine Hypovolämie unterschieden. Diagnostisch ist ein Orthostase-Test (10 Min.) und allenfalls ein 24h-Blutdruck-Profil zu empfehlen. Nach Reduktion/Eliminierung von auslösenden Faktoren gibt es nicht medikamentöse und pharmakologische Behandlungsmöglichkeiten, wobei die nicht medikamentösen Massnahmen (grosszügige Salz- und Flüssigkeitszufuhr, physikalische Gegenmanöver) den wichtigsten Eckpfeiler darstellen.
Orthostatic hypotension (OH) becomes more common with age, is usually asymptomatic, but can also lead to syncope. A distinction is made between primary and secondary neurogenic causes, as well as medication and hypovolemia. An orthostasis test (10 minutes) and possibly a 24-hour blood pressure profile are recommended for diagnosis. After the reduction/elimination of triggering factors, there are non-drug and pharmacological treatment options, with non-drug measures (a generous intake of salt and fluids, physical measures) being the most important cornerstones. Key Words: Syncope, orthostatic hypotension, autonomic, baroreflex, orthostasis test
Einführung/Definition
Die Synkope ist definiert als ein plötzlicher, kurzer (höchstens wenige Minuten dauernder) Verlust von Bewusstsein und Muskeltonus durch eine globale, zerebrale Hypoperfusion mit spontaner, vollständiger Erholung. Es ist wichtig, dieses eng definierte Syndrom von anderen transienten Bewusstseinsstörungen (TLOC = transient loss of consciousness) wie z.B. epileptischen Anfällen, Hypoglykämie, TIA und Intoxikationen abzugrenzen, da bei diesen andere diagnostische und therapeutische Massnahmen angezeigt sind.
Die Ursachen von Synkopen sind vielfältig und in der Abbildung 1 (adaptiert nach (1)) entsprechend der Pathophysiologie in Reflex-Synkopen, kardiale Synkopen und Synkopen durch orthostatische Hypotonie (OH) unterteilt. Die OH ist ein häufiger Befund bei der Abklärung von Synkopen, schlussendlich jedoch nicht immer deren Ursache (2).
Definition orthostatische Hypotonie (4)
Abfall systolischer BD um ≥ 20 mmHg oder auf < 90 mmHg und/oder Abfall des diastolischen BD um ≥ 10 mmHg innert 3 Minuten nach dem Aufstehen.
Für Ausgangswerte von ≥ 160 mmHg im Liegen wird ein BD-Abfall von ≥ 30 mmHg vorgeschlagen.
Epidemiologie und Prognose
Synkopen sind häufig, denn sie machen bis zu 9% der Praxiskonsultationen und bis zu 2% der Notfalleintritte aus. Gesamthaft werden 4 bis 15% der Synkopen ätiologisch der OH zugeordnet, wobei Anteile bis zu 30% bei Älteren beschrieben werden. Die OH ist ein sehr häufiger Befund. Sie nimmt mit Alter und Komorbiditäten (neurodegenerativ, kardiovaskulär, metabolisch, renal) zu. Ihre Prävalenz liegt bei unter 50-Jährigen unter 5%, bei über 70-Jährigen bei ca. 20%. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass um die 90% dieser Menschen asymptomatisch sind. Aufgrund von populationsbasierten, prospektiven, epidemiologischen Daten wird die OH mit einer erhöhten Mortalität assoziiert. Myokardinfarkte, Schlaganfälle, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern und chronische Nierenerkrankungen scheinen mit der OH häufiger vergesellschaftet zu sein (4). Inwieweit bei asymptomatischen Menschen ein kausaler Zusammenhang besteht, ist unklar.
Pathophysiologie
Beim Aufstehen kommt es zu einer unmittelbaren Volumenverschiebung von 500 – 1000 ml in die Kapazitätsgefässe unterhalb des Zwerchfells. Dadurch wird der venöse Rückfluss in den rechten Vorhof, das thorakale Blutvolumen und das kardiale Schlagvolumen reduziert. Eine Zunahme des Sympathikotonus und die Verminderung der vagalen Aktivität sorgen für die Erhaltung des Blutdrucks. Bei längerem Stehen führt die transkapilläre Filtration im infradiaphragmalen Raum zu einer weiteren Reduktion des zentralen Blutvolumens um ca. 15 %, während der kardiale Auswurf um ca. 20% sinkt. Beim gesunden Menschen wird der mittlere Blutdruck durch eine Erhöhung des vaskulären Tonus im splanchnischen, muskuloskelettalen und renalen Gefässbett stabil gehalten. Die raschen Reaktionen des Kreislaufs werden auf autonom neuralem Weg geregelt. Die späteren Änderungen beinhalten neurohumorale Reaktionen, wie die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus. Ein Ausfall von jedem dieser adaptiven Reflexe kann zu einem temporären oder persistierenden BD-Abfall in der frühen oder späten Phase der orthostatischen Belastung führen (5).
Beeinträchtigungen dieser orthostatischen Reaktionen/Reflexe können direkt durch einen abrupten (initiale OH) oder allmählichen BD-Abfall (klassische oder verzögerte OH) zu einer Synkope führen. Indirekt kann die OH auch den vasovagalen Reflex triggern und so zu einer Reflexsynkope führen. Bei jungen, gesunden Menschen dominiert eher eine Störung des neurokardiogenen Regelkreises, also die Reflexsynkope (= vasovagale, neurokardiogene Synkope, «neurally mediated syncope»).
Bei Älteren und Menschen mit (u.a. neurologischen) Erkrankungen und /oder begünstigender Medikation steht die orthostatische Hypotonie im Vordergrund.
Klinik
Symptome der OH können fehlen oder unspezifisch und nicht richtungsweisend sein. Müdigkeit, verschwommenes Sehen, Schwindel, Schwarzwerden vor den Augen, Schmerzen in Nacken und Schultern («Kleiderbügel-Kopfschmerz») oder eben ein Bewusstseinsverlust, also eine Synkope, können Ausdruck einer OH sein (5).
Ätiologie
Bei den Ursachen der OH werden einerseits eine primäre (neurodegenerative) und eine sekundäre (Polyneuropathie bei internistischen Grunderkrankungen) Schädigung des autonomen Nervensystems unterschieden (Tab. 1). Andererseits können Medikamente (Tab. 2) und ein inadäquater venöser Rückfluss (Tab. 3) auch bei intaktem autonomem Nervensystem zu einer OH führen.
Diagnostik
Die Diagnostik bei einer Synkope basiert nach wie vor auf den drei Säulen Anamnese, klinische Untersuchung und EKG. Prioritär ist dabei, kardiale Synkopen (Kardiale Ischämie, Rhythmusstörung, Lungenembolie, Aortenstenose, usw.) nicht zu verpassen, da diese unmittelbar therapeutische Konsequenzen haben könnten (6).
Obligate Basisuntersuchungen bei einer Synkope:
Eigen- und Fremdanamnese
klinische Untersuchung
– mit besonderem Augenmerk auf kardiovaskuläre und neurologische Auffälligkeiten
– inkl. Blutdruck liegend und stehend
EKG
Um eine verzögerte Orthostasereaktion nicht zu verpassen, wird statt des 3-minütigen ein 10-minütiger Orthostase-Test (Schellong-Test) empfohlen. Ein 24h-Blutdruck-Profil (mit Angabe der Körperposition bei jeder Messung) kann bei der Diagnose der OH hilfreich sein.
Zu allfälligen weiteren Abklärungen bezüglich OH in einem spezialisierten Zentrum gehört die Kipptischuntersuchung. Diese wird, wegen des grossen Aufwands, der nicht überzeugenden Spezifität und Sensitivität sowie der meist fehlenden therapeutischen Konsequenzen, nicht häufig durchgeführt. Für die Unterscheidung zwischen neurogener und nicht neurogener OH können die nicht invasive beat-to-beat Blutdruckmessung beim Valsalva-Manöver und allenfalls eine Bestimmung der Katecholamine im Plasma im Liegen und Stehen herangezogen werden.
Therapie
Sollte sich bei der Abklärung eine reversible Ursache der OH ergeben, so wird diese selbstverständlich beseitigt (z.B. Flüssigkeitsgabe bei Hypovolämie durch Diarrhoe; Absetzen/Reduktion von Medikamenten, die eine OH auslösen bzw. begünstigen können).
In allen anderen Fällen steht an erster Stelle eine gründliche Information des Patienten über Auslöser und Risikosituationen für seine Synkopen und deren Vermeidung. Die nicht medikamentösen Massnahmen (Tab. 4) bilden die Grundlage der Behandlung. Ihre Durchführung ist jedoch oft schwierig, da diese einerseits unbequem sind (z.B. Kompressionstrumpfhosen) und andererseits von betagten und multimorbiden Patienten nur schwer durchgeführt werden können (Stehtraining, Stehen mit überkreuzten Beinen).
Auch die medikamentöse Therapie (Tab. 5) der orthostatischen Synkopen gestaltet sich bei älteren Menschen mit Begleiterkrankungen schwierig. In erster Linie wird das Mineralokortikoid Fludrocortison allein oder in Kombination mit dem Sympathomimetikum Midodrin eingesetzt, wobei die Evidenz für letzteres besser ist (8, 9).
Als Beispiel für die Komplexität und Schwierigkeit der Therapie möge ein Patient mit M. Parkinson, OH und arterieller Hypertonie (im Liegen) dienen. Auch hier sind natürlich in erster Linie die weitgehend nebenwirkungsfreien, nicht medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten (insbesondere das Liegen und Schlafen mit erhöhtem Oberkörper) auszuschöpfen. Während zwar die Grundkrankheiten aber die dagegen eingesetzten Medikamente eher nicht (10) für die OH (mit-) verantwortlich sind respektive diese verstärken, so haben die pharmakologischen Therapien der OH als unerwünschte Wirkung auch eine weitere Erhöhung des im Liegen schon bestehenden arteriellen Hypertonus zur Folge. Als möglicher Ausweg in dieser Situation sind Fludrocortison und/oder Midodrin so tief wie möglich (aber natürlich so hoch wie nötig) zu dosieren. Midodrin sollte spätestens vier Stunden vor der Bettruhe letztmals eingenommen werden. Für die Nacht ist ein kürzer wirksames Antihypertensivum (z.B. Captopril, Nitrat-Patch) zu erwägen, das nicht zu einer Natriurese und damit zu vermehrten nächtlichen Toilettengängen und einer leichten morgendlichen Hypovolämie führt (11). Dieses Vorgehen stellt allerdings trotzdem ein erhöhtes Risiko für Stürze bei allfällig notwendigen, nächtlichen Toilettengängen dar. In solchen Fällen ist sehr sorgfältig abzuwägen zwischen Lebensqualität und Reduktion des kardiovaskulären Risikos durch die antihypertensive Therapie. Bei höherem Alter und Multimorbidität des Patienten scheint eine höhere Gewichtung der Lebensqualität durchaus vertretbar und sinnvoll.
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. Markus Diethelm
Klinik für Innere Medizin/Hausarztmedizin
Kantonsspital St. Gallen
9007 St.Gallen
Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Zur Basisdiagnostik bei Synkopen gehören Eigen- und Fremdanamnese, klinische Untersuchung, Orthostase-Test, EKG.
◆ Grundpfeiler der Behandlung der orthostatischen Hypotonie bilden die nicht medikamentösen Massnahmen (Reduktion / Absetzen von OH auslösender / verstärkender Medikation, grosszügige Kochsalz- und Wasserzufuhr, Schlafen mit erhöhtem Oberkörper, Kompressionsstrumpfhosen, Muskelanspannung, usw.)
◆ Zur medikamentösen Therapie der OH gehören Fludrocortison und Midodrin.
1. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (2019) ESC Pocket Guidelines. Diagnose und Management von Synkopen,
Version 2018. Börm Bruckmeier Verlag GmbH, Grünwald
2. van Wijnen VK, et al. Orthostatic blood pressure recovery patterns in suspected syncope in the emergency department. Emerg Med J 2018;35:226–230.
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11. Cubotha S. et al. The Pressor Response to the Drinking of Cold Water and Cold Carbonated Water in Healthy Younger and Older Adults. Front Neurol 2022;12:788954.
12. Rezzonico S, Previsomini M. Orthostatische Hypotonie – eine Herausforderung für den behandelnden Hausarzt. Schweiz Med Forum 2014;14(21):418–421
Junge Krebspatient:innen sind nicht nur mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert, sondern möglicherweise auch mit einer aus der Behandlung resultierenden Beeinträchtigung ihrer Fertilität. Heutzutage stehen diverse Methoden zur Fruchtbarkeitserhaltung zur Verfügung. Diese Möglichkeiten sind den Betroffenen zwar willkommen, verlangen ihnen aber zusätzliche anspruchsvolle Entscheidungen ab. Die Patient:innen brauchen spezifische Aufklärung zu den vorhandenen Angeboten. Darüber hinaus wünschen sich vor allem weibliche Krebsbetroffene Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. Die von uns entwickelte Online Entscheidungshilfe www.fertionco.ch hat sich als hilfreiche Ergänzung zur fachärztlichen Beratung erwiesen. FertiOnco beinhaltet Informationsvermittlung und unterstützt die werte-basierte Entscheidungsfindung. Das frei zugängliche und interaktive online Tool soll dazu beitragen, dass Betroffene eine für sie längerfristig zufriedenstellende Wahl in Bezug auf fertilitätserhaltende Massnahmen treffen können.
Young cancer patients are not only confronted with a life-threatening diagnosis, but also with the potential loss of fertility due to their cancer treatment. Nowadays, various options to preserve fertility are available. Having these options at disposition may be positive for patients on one hand, but the decision regarding fertility preservation is perceived as very challenging on the other hand. Patients need specific information about the available offers. In addition, female cancer patients in particular, would like to receive more support in decision-making. The online decision aid www.fertionco.ch developed by us has proven to be a helpful supplement to specialist counselling. FertiOnco provides information and supports value-based decision-making. The freely accessible and interactive online tool, which is available in German and French, is intended to help patients concerned to make a choice regarding fertility-preserving measures that is satisfactory for them in the long term. Key Words: Fertility, Decision-making, Decision Aid, Psychooncology
Krebs und Fertilität
Dank Fortschritten bei der Behandlung sind die Überlebenschancen nach einer Krebsdiagnose heutzutage hoch und das Thema Lebensqualität nach Krebs wird immer wichtiger. Ganz zentral ist diesbezüglich die Fertilität. Die Familienplanung ist bei jungen Krebspatient:innen meist noch nicht abgeschlossen und der potentielle Verlust der Fruchtbarkeit durch die bevorstehende Krebstherapie kann eine zusätzliche Belastung für die Patient:innen sein.
Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Fertilität einen hohen Stellenwert bei jungen Krebspatientinnen hat (1, 2). Nebst den Fortschritten in der Krebstherapie, verzeichnet man gleichzeitig auch grosse Fortschritte in der Entwicklung und Etablierung von fertilitätserhaltenden Massnahmen. So stehen Patientinnen mittlerweile verschiedene Optionen, wie das Einfrieren von befruchteten und unbefruchteten Eizellen oder von Eierstockgewebe, zur Verfügung (3). Allerdings muss die Entscheidung, für oder gegen eine dieser fertilitätserhaltenden Massnahmen, unter enormem Zeitdruck und in einer psychologisch höchst belastenden Situation getroffen werden. Gleichzeitig ist die Tatsache, dass das Leben nach dem Krebs und die Möglichkeit, die Familienplanung dann gleichwohl angehen zu können, thematisiert wird, auch eine Hoffnung, die Patient:innen durch diese belastende Zeit tragen kann.
Für eine zufriedenstellende Entscheidung für oder gegen eine der zur Verfügung stehenden Methoden bedarf es der notwendigen Informationen und Aufklärung aber auch einer Klärung und Bewusstmachung der persönlichen Werte und Einstellungen diesbezüglich. Bisherige Studien zeigten, dass die deutliche Mehrheit der Patientinnen eine positive Einstellung gegenüber fertilitätserhaltenden Massnahmen hat, ihre Kenntnisse darüber aber beschränkt sind. Dies erhöht das Risiko, dass ein signifikanter Entscheidungskonflikt entsteht. Patientinnen berichten, dass sie sich Unterstützung bei der Entscheidungsfindung wünschen.
FertiOnco: Online Entscheidungstool
Die Entscheidungshilfe FertiOnco (www.fertionco.ch) wurde im Rahmen eines langfristig angelegten Forschungsprojekt, welches sich für die spezifischen Bedürfnisse und Wünsche von Patientinnen rund um Fertilität und Krebs interessiert, entwickelt. FertiOnco hat zum Ziel betroffene Krebspatientinnen umfassend zu informieren und ihnen eine wertvolle Unterstützung in ihrem Entscheidungsprozess zu bieten. Die Forschung zu und Entwicklung von www.fertionco.ch wurde durch die Krebsforschung Schweiz finanziert. Das Online Tool umfasst einen Informationsteil mit Erläuterungen zur Behandlung und zu den Auswirkungen auf die Fertilität bei verschiedenen Krebsarten sowie zu den zur Verfügung stehenden fertilitätserhaltenden Massnahmen vor der Therapie oder Alternativen dazu, wenn solche nicht möglich oder nicht erwünscht waren. Alle Texte wurden von Fachpersonen des jeweiligen Gebiets verfasst und sollen den Frauen einen umfassenden und fachlich korrekten Überblick geben. Im interaktiv gestalteten Entscheidungsteil des Online Tools haben die Frauen die Möglichkeit, zu den von ihnen ausgewählten Massnahmen sogenannte Balance Sheets auszufüllen. Dies bedeutet, dass sie für jede Massnahme vorgegebene Pro- und Contra-Argumente nach ihrer persönlichen Wichtigkeit einschätzen. Sie können zudem auch eigene Argumente für oder gegen die einzelnen Optionen hinzufügen und zum Schluss ihr Bauchgefühl auf einer Skala einordnen. Daraus ergibt sich abschliessend eine individuelle Auswertung über alle von der Patientin ausgesuchten Optionen, was als Wegweiser für die Entscheidungsfindung genutzt werden kann. Die Zusammenfassung hilft der Patientin zu erkennen, ob sie der entspre-chenden Massnahme eher positiv oder negativ gegenübersteht. Die ausgefüllten Balance Sheets inklusive individueller Auswertung können abgespeichert / ausgedruckt und beispielsweise zum nächsten Arztgespräch mitgenommen oder mit dem Partner
besprochen werden.
FertiOnco ist mittlerweile in den zwei Sprachen Deutsch und Französisch verfügbar und die Informationen sind länderspezifisch für die Schweiz, Deutschland und Österreich formuliert, so dass das Tool für Patientinnen aus allen drei Ländern nutzbar ist.
Der Nutzen von FertiOnco wurde im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie mit Patientinnen aus der Schweiz und Deutschland evaluiert, wobei die Interventionsgruppe (Nutzung von FertiOnco im Anschluss an das Beratungsgespräch mit einem Reproduktions-Mediziner) mit einer Kontrollgruppe (nur Beratungsgespräch) verglichen wurde (4). Es zeigte sich ein signifikant geringerer Entscheidungskonflikt über den Untersuchungszeitraum bis ein Jahr nach Diagnose in der Interventionsgruppe (5), ebenso eine geringere Entscheidungsreue (6). Eine grosse Mehrheit der Studienteilnehmerinnen (>85%) würde FertiOnco anderen Patientinnen weiterempfehlen. Demzufolge kann FertiOnco als eine hilfreiche und wertvolle zusätzliche Unterstützung zum Beratungsgespräch mit einem/r Reproduktionsmediziner:in angesehen werden.
Anwendung in der Praxis
Die Entscheidungsfindung wird von den Patientinnen als belastend und herausfordernd erlebt. FertiOnco hat sich als hilfreiche Ressource erwiesen, um diesen Prozess begleitend zu unterstützen. Das Entscheidungstool kann vor oder nach dem Beratungsgespräch zur Anwendung kommen, in dem es einerseits zur Vorbereitung auf das Gespräch dienen und andererseits auch zur Nachbereitung genutzt werden kann, um zum Beispiel mit den Angehörigen oder z.B. der mitinvolvierten Psychoonkolog:in die wichtigsten Punkte nochmals durchzugehen und nachzulesen. Sowohl Onkolog:innen wie auch Reproduktionsmediziner:innen, aber auch Psychoonkolog:innen können das Tool den Patientinnen empfehlen oder in der Sprechstunde anwenden.
… und die Männer?
FertiOnco wurde spezifisch für Frauen mit Krebs entwickelt. Bei den Frauen sind die Optionen zur Fertilitätserhaltung vielfältiger aber auch aufwändiger als bei den Männern. Die auf den ersten Blick einfachere Ausgangslage bei den Männern, macht die Situation aber nicht weniger belastend und auch diese wünschen sich gemäss den wenigen vorhandenen Studien gebührend Unterstützung. Allerdings steht dabei weniger eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung im Vordergrund, sondern vielmehr validierte Informationen generell zum Thema Fertilität und Krebs, wie eine von uns durchgeführte Studie mit männlichen Krebspatienten zeigte (Ehrbar et al, 2022 (7)). Zudem bekundeten sie den Wunsch nach Vernetzung mit anderen Patienten und / oder Fachpersonen.
Fazit
Über Möglichkeiten des Fertilitätserhalts trotz Krebs nachzudenken, kann sowohl eine zusätzliche Belastung wie auch eine neue Hoffnung für Patient:innen darstellen. Studien haben gezeigt, dass Fertilität sowohl bei weiblichen wie auch männlichen jungen Krebsbetroffenen einen hohen Stellenwert hat und eine fachspezifische Begleitung dazu explizit gewünscht wird. Während von Krebs betroffene Männer sich mehr Informationen und Austauschmöglichkeiten wünschen, bekunden Krebspatientinnen Unterstützungsbedarf bei der Entscheidungsfindung. Im Vordergrund steht immer eine individuelle Beratung beim Spezialisten, allerdings hat sich FertiOnco als wertvolle zusätzliche Unterstützung bei der Entscheidungsfindung erwiesen. FertiOnco ist für alle frei zugänglich und aktuell das einzige deutschsprachige und schweiz-spezifische online Unterstützungsangebot.
Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
◆ Fertilität ist für junge Krebspatient:innen ein wichtiges Thema, da die Familienplanung oft noch nicht abgeschlossen ist.
◆ Die Entscheidung für oder gegen fertilitätserhaltende Massnahmen muss unmittelbar nach Diagnosestellung der Krebserkrankung erfolgen, was für die Betroffenen eine Herausforderung darstellt.
◆ Mit FertiOnco steht Patientinnen eine online Entscheidungshilfe zur Verfügung, die sie ergänzend zum Beratungsgespräch mit einer Fachperson nutzen können.
◆ FertiOnco setzt sich zusammen aus einem Informationsteil sowie einem interaktiven Teil, der eine wertebasierte Entscheidung unterstützt.
◆ FertiOnco ist für alle betroffenen Patientinnen frei verfügbar und hat sich für die Entscheidungsfindung als hilfreich erwiesen.
1. Tschudin S, Bunting L, Abraham J, Gallop-Evans E, Fiander A, Boivin J. Correlates of fertility issues in an internet survey of cancer survivors. J Psychosom Obstet Gynaecol. 2010;31(3):150-7.
2. Klosky JL, Simmons JL, Russell KM, Foster RH, Sabbatini GM, Canavera KE, et al. Fertility as a priority among at-risk adolescent males newly diagnosed with
cancer and their parents. Support Care Cancer. 2015;23(2):333-41.
3. Anderson RA, Amant F, Braat D, D’Angelo A, Chuva de Sousa Lopes SM,
Demeestere I, et al. ESHRE guideline: female fertility preservation. Hum Reprod Open. 2020;2020(4):hoaa052.
4. Ehrbar V, Urech C, Rochlitz C, Dallenbach RZ, Moffat R, Stiller R, et al. Fertility Preservation in Young Female Cancer Patients: Development and Pilot Testing of an Online Decision Aid. J Adolesc Young Adult Oncol. 2018;7(1):30-6.
5. Ehrbar V, Urech C, Rochlitz C, Zanetti Dallenbach R, Moffat R, Stiller R, et al. Randomized controlled trial on the effect of an online decision aid for young
female cancer patients regarding fertility preservation. Hum Reprod. 2019.
6. Ehrbar V, Germeyer A, Nawroth F, Dangel A, Findeklee S, Urech C, et al. Long-term effectiveness of an online decision aid for female cancer patients regarding fertility preservation: Knowledge, attitude, and decisional regret. Acta Obstet Gynecol Scand. 2021;100(6):1132-9.
7. Ehrbar V, Scherzinger L, Urech C, Rochlitz C, Tschudin S, Sartorius G. Fertility preservation in male cancer patients: A mixed methods assessment of experiences and needs. Urol Oncol. 2022 Aug;40(8):385.e19-385.e25.
doi: 10.1016/j.urolonc.2022.05.027. Epub 2022 Jun 25. PMID: 35764444.