Sarkoidose – Therapieoptionen

Die Sarkoidose ist eine akut oder chronisch verlaufende entzündliche Multisystemerkrankung unklarer Ätiologie. Bei über 80% der Patienten kommt es zu einer intrathorakalen Manifestation. Die Diagnosestellung basiert auf dem Nachweis von epitheloidzelligen Granulomen, dem Ausschluss anderer Granulomatosen und dem klinischen Erscheinungsbild – kann aber nicht selten herausfordernd sein. Nach einem Screening für einen möglichen Befall weiterer Organe empfiehlt sich eine inter­disziplinäre Festlegung der Therapie und des Nachsorgeschemas. Eine Systemtherapie ist bei symptomatischen Patienten mit relevanten Organmanifestationen bzw. -funktionsstörungen indiziert. Neben Kortikosteroiden stehen weitere immunsup­pressive Medikamente zur Verfügung. Unter anderen haben die TNF-α-Inhibitoren – insbesondere Infliximab oder Adalimumab – eine günstige Wirkung auf die Sardoidose-assoziierte Entzündung und Granulombildung; sie sind aber nicht für diese Indikation zugelassen. Der Krankheitsverlauf ist in den meisten Fällen günstig. Schwere Verläufe sind möglich, insbesondere bei Herz-/ZNS-Befall, pulmonaler Hypertonie, progredienter Fibrosierung der Lunge und/oder komplikativen Aspergillomen. Ein schwer zu beeinflussendes Problem kann auch ein – gelegentlich invalidisierendes – Sarkoidose-assoziiertes Chronic Fatigue Syndrome darstellen.

Sarcoidosis is an acute or chronic inflammatory multisystem disease with an unclear etiology. Intrathoracic manifestations occur in over 80% of patients. When a diagnosis of sarcoidosis is made, the therapy is focused on suppressing the overly inflammatory response. Therapy is indicated only for symptomatic patients with severe organ manifestations or dysfunction. Treatment and monitoring options are ideally discussed at a dedicated interdisciplinary decision board. In addition to corticosteroids, various immunosuppressive drugs are available. Among others, TNF-α inhibitors – especially infliximab or adalimumab – have a beneficial effect on inflammation, but consist of an off-label therapy. In most cases, the course of the disease is moderate to mild. A severe course of disease is possible in case of heart/CNS involvement, pulmonary hypertension, progressive pulmonary fibrosis and/or aspergilloma. A difficult to manage situation includes the occurrence of a sarcoidosis-associated chronic fatigue syndrome.
Key Words: Sarcoidosis, therapy options, corticosteroidc, TNF-α inhibitors, fatigue

Definition

Sarkoidose ist eine lokale oder systemisch-entzündliche Erkrankung mit bisher unbekannter Ätiologie, die sich durch das Auftreten charakteristischer Gewebeveränderungen in Form von epitheloid-zelligen Granulomen in Lymphknoten, Lunge, Augen, Leber, Herz und Haut manifestiert.

Epidemiologie

Sarkoidose hat eine Inzidenz und Prävalenz, die weltweit je nach geografischer Region, Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit variiert. Die höchste Inzidenz findet sich in skandinavischen Ländern (11–24 Fälle pro 100’000 Personen pro Jahr) und bei Afroamerikanern (18–71 Fälle pro 100’000 Personen pro Jahr). Die niedrigste Inzidenz wurde in asiatischen Ländern festgestellt (1 Fall pro 100’000 Personen pro Jahr) (1). Die Inzidenz in der Schweiz wurde mit 7 pro 100’000 Personen pro Jahr angegeben (2). Meist tritt die Erkrankung im jüngeren Erwachsenenalter auf. Die Erst­manifestation einer Sarkoidose tritt selten bei Kindern und älteren Menschen auf.

Klinik

Die Sarkoidose als Multisystemerkrankung kann sich je nach Muster des Organbefalls mit diversen Symptomen manifestieren. Sie wird je nach Krankheitsbeginn (akut oder schleichend), Krankheitsverlauf (selbstlimitierend, chronisch-stabil oder chronisch-progressiv) und grössere Organbeteiligung charakterisiert (1). Zu den schwersten und potenziell lebensbedrohlichen Organmanifestationen zählen die pulmonale, kardiale und CNS-Sarkoidose.

Eine typische Verlaufsform einer akuten Sarkoidose ist das Löfgren-Syndrom. Dieses zeichnet sich durch ein gleichzeitiges akutes Auftreten von Fieber, Erythema nodosum mit schmerzhaften, knotigen Schwellungen der Unterschenkel, einer meist die OSG-betreffenden Oligoarthritis und einer symmetrischen bihilären Lymphadenopathie aus. In den meisten Fällen liegt allerdings eine chronische Verlaufsform vor. Etwa 85% der Patienten haben einen intrathorakalen Befall – Lymphadenopathie mit oder ohne Befall des Lungenparenchyms. Die klinische Präsentation umfasst Husten, Dyspnoe und Thoraxschmerzen, die von Müdigkeit, Gewichtsverlust, Fieber und Unwohlsein begleitet sein können. Extrapulmonale Manifestationen treten bei der chronischen Form der Sarkoidose in bis zu 30% der Patienten auf (3). Grundsätzlich können alle Organe betroffen sein.

Diagnostik

Bei einer typischen Präsentation eines Löfgren-Syndromes kann auf eine bioptische Diagnosesicherung verzichtet werden. Im Normalfall wird die Diagnose durch den Nachweis von epitheloidzelligen Granulomen und Auschluss einer anderen granulomatösen Erkrankung gestellt. So muss im Ausschlussverfahren das Vorliegen einer infektiösen Erkankung (vor allem Tuberkulose, Pilzinfekte), einer «sarkoid-like» Reaktion assoziiert mit malignen Erkrankungen, sowie unter weiteren einer Berylliose ausgeschlossen werden. Da in den meisten Fällen die Lunge betroffen ist, kommt der Bronchoskopie als sicheres und minimal-invasives Verfahren eine wichtige Rolle zu. Bei der Bronchoskopie kann eine Gewebeprobe asserviert und eine broncho-alveoläre Lavage durchgeführt werden. Bei einem extrapulmonalen Befall entscheidet häufig die Zugänglichkeit einer Gewebeprobe über die Durchführung des geeigneten Diagnoseverfahrens. Zudem ist initial ein Organscreening indiziert, um eine subklinische Organbeteiligung erfassen zu können. Hierfür wird eine ophtalmologische Untersuchung, ein Abdomenultraschall und eine kardiologische Beurteilung mit EKG, transthorakaler Echokardiographie und 24 h-EKG empfohlen. Die Labordiagnostik umfasst Differential­blutbild, Leber- (AP, γGT) und Nieren- (Kreatinin, GFR) Tests, Serumkalzium sowie eine Bestimmung der angiotensin-converting enzyme (ACE) und löslichen IL-2-Rezeptor alpha (sIL-2Rα). Dazu folgt eine Urinanalyse mit Kalziumspiegel und Sediment sowie eine fraktionierte Kalzium-Ausscheidung. Die radiologische Klassifikation nach John Scadding ist immer noch in Gebrauch und hat einen prognostischen Wert. Eine funktionelle Untersuchung der Lunge (Spirometrie, Bodyplethysmographie und CO-Diffusion) und eine hochauflösende Computertomographie (HRCT) sind die bevorzugten Methoden zur Beurteilung der Lungenbeteiligung und ihres Schweregrads (1). Eine Lungensarkoidose kann sowohl zu restriktiver, wie auch obstruktiver oder gemischter Ventilations­störung führen.

Da die Sarkoidose eine Multisystemerkrankung ist und unterschiedliche Verläufe mit variabler Prognose zeigt, empfiehlt sich die Festlegung des Prozederes anhand einer Vorstellung an einem interdisziplinären Sarkoidose-Board.

Therapie

Nach der Diagnosestellung einer Sarkoidose kann es herausfordend sein zu entscheiden, wann, wie und ob eine Behandlung eingeleitet werden sollte, da der Krankheitsverlauf sehr variabel ist – von milden Verläufen mit spontaner Remission innerhalb weniger Wochen bis hin zu schweren Verläufen mit irreversibler Organschädigung bis hin zur Notwendigkeit einer Lungentransplantation. Bei leichten Formen ist der topischen Behandlung der Vorrang zu geben und auch ein abwartender Ansatz (watchful waiting) kann gerechtfertigt sein. Je nach Behandlungsziel, ob Symptomlinderung oder Remission, sollte die Entscheidung unter Berücksichtigung von therapeutischem Nutzen und Nebenwirkungen sowie in Abhängigkeit von Organmanifestationen getroffen werden. Bei anhaltender Krankheitsaktivität besteht in folgenden Situationen die Indikation zur immunosuppressiven Systemtherapie: relevante Einschränkung der Lungenfunktion bei parenchymatösem Lungenbefall, radiologische Progression des Lungenbefalls, pulmonal-arterielle Hypertonie, Herzbeteiligung, Manifestationen des zentralen Nervensystems, Hyperkalzämie, Nierenbeteiligung und ein Befall des hinteren Augenabschnittes. Es gibt keine spezifisch für die Sarkoidose zugelassene Medikamente. Die Wahl der immunsuppressiven Medikamente richtet sich nach den Erfahrungen aus meist nicht randomisierten Studien. Sollte eine systemische Therapie eingeleitet werden, sind orale Glukokortikoide die Therapie der ersten Wahl. Ein typisches Dosierungsschema besteht aus einer Initialdosis von 0.5 – 0.75 mg Prednison pro kg Körpergewicht pro Tag über vier Wochen. Danach kann die Prednison-Dosis langsam über 6 – 12 Monate ausgeschlichen werden. Bei einer voraussehbaren Immunsuppression mit Glukokortikoiden in einer Äquivalenzdosis von > 20 mg/d für länger als einen Monat ist eine Prophylaxe gegen Pneumocystis jiroveci mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol 160/800 mg dreimal wöchentlich empfohlen (4). In refraktären oder chronisch aktiven Fällen sollte das Prednison nach Möglichkeit in einer Dosis unterhalb der Cushing-Schwelle in Kombination mit einem Steroid-sparenden Medikament fortgesetzt werden. Für die Zweitlinienbehandlung bei schwerem Organbefall, bei Steroid-refraktären, chronisch aktiven oder rezidivierenden Fällen oder als steroidsparendes Regime kommen mehrere alternative Immunsuppressiva in Betracht. Obwohl Medikamente wie Methotrexat, Azathioprin, oder Mycophenolatmofetil nur in kleinen randomisierten Studien untersucht wurden, wurden positive Wirkungen berichtet. TNF-α-Inhibitoren, insbesondere Infliximab oder Adalimumab, können als weitere Off-Label-Optionen dienen. Das Hydroxychloroquin kann zur Immunmodulation unterhalb der Steroid-Bedürftigkeit zum Einsatz kommen. Hydroxychloroquin wird zudem als Erstlinienbehandlung bei Hautbeteiligung eingesetzt und zeigt positive Wirkungen bei Hyperkalzämie, bei einigen Patienten mit Polymyalgie bzw. Arthralgie und Fatigue (5, 6). Selten kommt bei Sarkoidose eine Allotransplantation der Lunge, des Herzens, der Niere oder der Leber als ultima ratio in Betracht. Die umfassende, individualisierte Betreuung von Patienten mit Sarkoidose beinhaltet auch nicht-pharmakologische Massnahmen wie Physiotherapie und Ergotherapie, körperliches Training, Lungenrehabilitation, kognitive Verhaltenstherapie, psychosoziale Beratung usw. (1).

Die Art der Nachsorge richtet sich nach dem Schweregrad und der Art der Organbeteiligung. Immunsupprimierte Patienten sollten etwa alle 4x pro Jahr untersucht werden. Patienten mit selbstlimitierendem Verlauf sollten 2 Jahre lang zweimal jährlich, dann 3 Jahre lang in jährlichen Abständen konsultiert werden, gefolgt von Bedarfskonsultationen bei Rezidivfreiheit (4).

Fatigue

Die an Sarkoidose erkrankten Patienten berichten häufig über eine lähmende Müdigkeit/Antriebslosigkeit sowie kognitive Beschwerden wie Gedächtnisverlust und Konzentrationsprobleme. Diese Symptome reduzieren die Lebensqualität und können bis zur Invalidisierung führen (7, 8). Die Ätiologie der Fatigue ist unbekannt und häufig multifaktoriell. Darüber hinaus können systemische Therapie zur Behandlung der Sarkoidose selbst Müdigkeit verursachen, einschliesslich Kortikosteroide, so dass das Management dieser Symptome eine Herausforderung darstellen kann. Bisher wurden diverse potenzielle Behandlungsstrategien für Sarkoidose-Fatigue bereits vorgeschlagen, einschliesslich sowohl pharmakologischer als auch nicht-pharmakologischer Interventionen (1, 11). Verschiedene, allerdings kleine Studien bestätigten in ausgewählten Fällen die Wirksamkeit von TNF-α-Blockern (Infliximab und Adalumab) und Neurostimulantien (Methylphenidat und Dexmethylphenidat) auf die Sarkoidose-assoziierte Fatigue (9). Die Wirksamkeit einer körperlichen Trainingstherapie wird beim ausgeprägten Chronic Fatigue-Syndrom kontrovers diskutiert. Eine umfassende Rehabilitation in einem spezialisierten Zentrum mit psychosozialem Akzent fokussiert auf Verhaltens-Therapie (CBT) und ein Dosieren «Pacing» der Alltagsanforderungen kann notwendig werden (10).

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Dr. med. Dragan Cvetković

Lungenzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Str. 95/Haus 02
9007 St. Gallen

Dr. med. Regulo Rodriguez

Institut für Pathologie, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Str. 95/Haus 11
9007 St. Gallen

Prof. Dr. Dr. Martin H. Brutsche

Lungenzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Str. 95/Haus 02
9007 St. Gallen

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Sarkoidose ist eine Multisystemerkrankung und kann jedes Organ­system betreffen, jedoch findet sich in 85% der Fälle eine Beteilung von Lunge und intrathorakalen Lymphknoten.
◆ Die Sarkoidosediagnose ist eine Ausschlussdiagnose, welche eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Klinik, Radiologie und Pathologie erfordert.
◆ Die Behandlungsoptionen reichen von «watchful waiting» bis hin zu einer Kombination von Immunsuppressiva, abhängig von der Schwere der Symptome und der Funktionseinschränkung.
◆ Patienten mit chronisch progredienter Erkrankung, trotz konventioneller Therapie, und Patienten mit schwerwiegenden Komplikationen sollten an ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden.
◆ Fatigue ist eine häufige Manifestation der Sarkoidose, die oft
unabhängig von entzündlicher Krankheitsaktivität besteht und ein
eingeschränktes Ansprechen auf die Firstline-Therapie hat.

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Hypomagnesiämie für den Praktiker

Eine Hypomagnesiämie ist bei ambulanten und stationären Patienten häufig anzutreffen. Bei bestimmten Risikopatienten führt sie zu erheblichen zerebralen, kardiovaskulären und biologischen Beeinträchtigungen. Durch eine ausführliche Anamnese, die durch einfache Laboruntersuchungen ergänzt wird, kann in den meisten Fällen eine Diagnose gestellt werden. In diesem Artikel wird ein Ansatz zur praktischen Vorgehensweise bei der Diagnose und Behandlung von Magnesiummangel vorgeschlagen.

Hypomagnesemia is common in ambulatory and hospitalized patients. In some at-risk patients, it leads to significant cerebral, cardiovascular and biological damage. A detailed history, together with simple laboratory tests, allows a diagnosis to be made in most cases. The aim of this article is to propose a practical approach to the diagnosis and management of magnesium deficiency.
Key Words: Hypomagnesemia, TRPM6 and TRPM7 transporters

Magnesium (Mg) ist nach Kalium (K) das zweithäufigste intrazelluläre Kation. Mg spielt eine zentrale Rolle bei zahlreichen intrazellulären und extrazellulären Signalwegen. Es ist an Enzymreaktionen, der Nervenleitung, der neuromuskulären Erregbarkeit und der Immunantwort beteiligt (1). Eine Hypomagnesiämie ist sehr häufig. Sie findet sich bei etwa 14% der Allgemeinbevölkerung und bis zu 8% der Krankenhauspatienten (2, 3).

Magnesium-Homöostase (Abb. 1)

Der Körper enthält etwa 25g Magnesium, das überwiegend in intra­zellulärer Form. Die Speicherung erfolgt zu 50-60% im Knochen­gewebe, zu 25-30% in Muskelzellen, zu 20-25 % in anderen Geweben und zu 1% im extrazellulären Umfeld (4). Das Serum­magnesium macht 0,3% des Gesamt-Mg aus, wobei ein winziger Teil des freien Mg an den Zellaktivitäten teilnimmt. Es existiert in drei Formen: Frei und ionisiert als aktive Form (55% bis 70%), als an Proteine gebundene Form (30 %) und ein kleiner Teil (5 % bis 15 %) als Komplex an Phosphat, Bicarbonat, Citrat oder Sulfat gebunden (5). Die Plasmakonzentration von Mg liegt zwischen 0,7 und 1,1 mmol/l (4). Ein Erwachsener nimmt täglich zwischen 360mg und 420mg Mg zu sich. Die Absorption von ca. 120mg Mg erfolgt hauptsächlich im distalen Dünndarm, entweder passiv durch die parazelluläre Passage oder aktiv durch die transzelluläre Passage über bestimmte Transporter wie TRPM6 und TRPM7 (4). Die Regulierung von Mg erfolgt auf renaler Ebene mit einer Magnesurie zwischen 4 und 5 mmol/24h. Jeden Tag filtert die Niere bis zu 2,4 g Mg aus dem Blut. mit einer Ausscheidung von 5% im Urin und einer Rückresorption durch die Nephrone von 95% der verbleibenden Mg-Menge. Auf der Ebene des proximalen Tubulus contortus werden 15 bis 20% des Mg rückresorbiert. Der Grossteil der Absorption, 65-75%, findet im aszendenten Ast der Henle-Schleife statt. Hier wird der parazelluläre Transport durch den transepithelialen, elektrischen Gradienten begünstigt. Die interzellulären Verbindungen, die aus den Proteinen der Claudin-Familie bestehen (16 und 19), spielen eine entscheidende Rolle beim Mg-Transfer. Auf dem Niveau des distalen Tubulus contortus ist die finale Ausscheidungsfraktion von Magnesium (FeMg) definiert. Die Rückresorption von 5% bis 10% des gesamten Mg erfolgt auf aktivem transzellulärem Weg (Transporter TRPM6) am apikalen Zellpol.

Der Transportmechanismus über die basolaterale Seite der Zelle scheint unklar zu sein. Er hängt von Cyclin M2 und einer Na-K-ATPase-Pumpe ab, die sensibel auf die Mg-Konzentration ist (4, 5).

Symptome und Komplikationen

Die Symptome einer Hypomagnesiämie sind aspezifisch und vielfältig (Tab. 1). Bei einer mässigen Hypomagnesiämie können beim Patient Müdigkeit, Reizbarkeit, Unruhe oder Depressionen auftreten. Bei schwerer Hypomagnesiämie kann es zu Herzrhythmusstörungen kommen, zu Krampfanfällen oder Persönlichkeitsstörungen.

Die Komplikationen sind vor allem biologischer Art, mit einer Hypokalzämie infolge der Hemmung der Parathormonsekretion und einer Hypokaliämie, die auf eine Kaliumsupplementation nicht anspricht. Eine Chondrokalzinose kann sich durch Akkumulation von anorganischem Pyrophosphat entwickeln (6).

Ätiologie

Bei einer Hypomagnesiämie unterscheidet man in der Regel renale und extrarenale Ursachen. Die wichtigsten Ätiologien sind in Tabelle 2 aufgelistet.

Verringerung der Zufuhr: Die notwendige tägliche Mg-Zufuhr beträgt 360mg für die Frau und 420mg für den Mann. Laut dem Schweizerischen Ernährungsbericht 2021 erreicht die Mehrheit der Bevölkerung über 18 Jahren die empfohlenen Tagesdosen nicht. Bei Personen über 65 Jahren liegt die Zufuhr bei etwa 15% unter dem Referenzmittelwert (7). Die moderne Ernährung mit einem geringeren Verzehr von Ölsaaten und Vollkorngetreide trägt zu einer geringeren Zufuhr bei (8). Alkoholkonsum trägt zu einem Mg-Mangel durch Unterernährung bei.

Verluste im Verdauungstrakt: Erkrankungen, die eine Malabsorption oder erhöhte Verdauungsverluste induzieren, führen zu einem Magnesiummangel.

Iatrogene Ursachen: In einer 2019 veröffentlichten Metaanalyse mit 16 Beobachtungsstudien, an denen 130’000 ambulante und stationäre Patienten teilnahmen, wurde eine Hypomagnesiämie bei 19,4% der Verbraucher von Protonenpumpenhemmern (PPI) gefunden, verglichen mit 13,5% der Personen ohne PPI. Ein Zusammenhang zwischen der PPI-Dosis und dem Auftreten von Hypomagnesiämie wurde ebenfalls nachgewiesen (9). Andere Medikamente, die zu einer Hypomagnesiämie führen können, sind Diuretika, Calcineurininhibitoren, Platinderivate, Antibiotika und Cetuximab (10).

Zellulärer Shift und Sequestrierung: Ein intrazellulärer Mg-Transfer kann bei einem Fehlernährungs-Syndrom auftreten. Bei einer metabolischen Azidose kann es zu einem intrazellulären Transfer kommen. Eine akute Pankreatitis verursacht eine Hypomagnesiämie durch Verseifung in den nekrotischen Fettgeweben. Andere, seltenere Pathologien existieren wie das «Hungry bone syndrome», das nach einer Parathyreoidektomie durch eine erhöhte zelluläre Mg-Aufnahme in den Knochen sichtbar wird. Bei Schwangerschaften wird eine transplazentare Mg-Passage beobachtet (11).

Renale Verluste: Hyperglykämie, akute Tubulusnekrosen und intensive Rehydrierung führen zu einer renalen Hyperfiltration von Mg. Die renale Rückresorption von Mg ist bei direkter Schädigung der Tubuli beeinträchtigt, wie beim Fanconi-Syndrom oder bei Arzneimittel­toxizitäten (12). Erblich bedingte Anomalien, die zu Mg-Verlusten führen, sind zahlreich. Die wichtigsten sind die familiäre Hypomagnesiämie mit Hyperkalziurie und Nephrokalzinose, das Bartter-Syndrom (V-Typen) und das Gitelman-Syndrom (13). Eine Mutation des Gens, das für das TRPM6-Protein kodiert, das im Dickdarm und im distalen Tubulus contortus vorkommt, führt bereits im frühen Kindesalter zu einer schweren Hypomagnesiämie (Hypomagnesiämie mit sekundärer Hypokalzämie) (14).

Bestimmung einer Hypomagnesiämie

Die Messung von Serum-Mg ist einfach und kostengünstig. Eine Hypomagnesiämie ist definiert durch einen Serum-Mg-Spiegel von weniger als 0,65mmol/l. Sie ist ab einem Mg-Wert von weniger als 0,5mmol/l schwerwiegend. Serum-Mg spiegelt nur 1% des gesamten Mg-Speichers wider. Da die intrazellulären Mg-Speicher bei der Schätzung des Serum-Mg nicht berücksichtigt werden, kann es zu einer Verminderung des Mg-Speichers kommen, trotz Vorliegen einer normalen Magnesämie. Die Magnesämie schwankt auch in Abhängigkeit von den Albuminvorräten (15).

Die Bestimmung des intraerythrozytären Mg könnte einen genaueren Wert für den Mg-Status sein. Der klinische Nutzen wurde jedoch nie bewiesen. Die Studien, die zu diesem Thema durchgeführt wurden, haben nur sehr wenige intrazelluläre Mg-Werte, nach einer langfristigen Substitution oder Depletion über einen längeren Zeitraum, ausgewertet. Ausserdem wird durch die Bestimmung des intraerythrozytären Mg der intramuskuläre Mg-Speicher nicht erfasst, was die Idee eines genaueren Instruments in Frage stellt (16).
Im Zweifelsfall kann eine gleichzeitige Bestimmung von Mg im Urin und im Serum den Nierenverlust bestätigen oder ausschliessen. Die Analyse wird mit frischem Urin durchgeführt, indem die Ausscheidungsfraktion des Magnesiums nach folgenden Formel berechnet wird:

Formel für die Mg-Ausscheidungsfraktion

FeMg = Mg(U) x Cr (S) / (Mg (S) x 0.7 x Cr (U)) x 100
Aufgrund von seiner Konzentration in freier Form im Plasma (70%) wird die Mg-Konzentration mit 0,7 multipliziert.

FeMg: Fraktion der Ausscheidung von Magnesium.
U = Urin, Cr = Kreatinin, S = Serum

Laut einer Analyse von 74 Patienten mit Hypomagnesiämie durch Nierenverlust betrug die mediane Ausscheidungsfraktion von Mg 15% in einem Bereich zwischen 4-48 % (17). Die meisten Autoren definieren daher einen renalen Magnesiumverlust bei einem FeMg-Wert von mehr als 4% und einen extrarenalen Verlust bei einem FeMg von unter 2% mit einer Grauzone zwischen 2% und 4%. Eine 24-Stunden-Urinprobe ist ebenfalls möglich, wird aber selten verwendet. Eine Ausscheidung von mehr als 2mmol/24h weist auf einen Mg-Verlust in der renalen Mg-Ausscheidung hin.

Die genaueste Methode zur Beurteilung des Gesamt-Mg-Status ist ein Belastungstest, bei dem Mg infundiert wird und die Magnesiumkonzentration im 24-Stunden-Urin gemessen wird. Der vom Körper einbehaltene Mg-Spiegel steigt bei einer Depletion an (18). Diese Methode bleibt jedoch kostspielig, zeitaufwendig und der wissenschaftlichen Forschung vorbehalten.

Um besser zu erkennen, welcher Teil des Nierentubulus für den Mg-Verlust verantwortlich ist, kann das Calcium-Kreatinin-Verhältnis (mmol/mmol) erfragt werden. Dadurch kann z.B. zwischen dem Bartter-Syndrom (Verhältnis größer als 0,2) und dem Gitelman-Syndrom (Verhältnis kleiner als 0,2) unterschieden werden. (19) (Abb. 2).

Behandlung

Die Grundlage der Behandlung hängt vom Schweregrad der Symptome ab. Der erste Schritt besteht darin, die zugrunde liegenden Ursachen zu beheben. Bei sekundärem Hyperaldosteronismus wird durch die Zugabe eines Kaliumsparers die Rückresorption von Magnesium in den distalen Tubuli und des Sammelkanals begünstigt und das Risiko einer Torsade de pointes verringert (20).

Bei leichten bis mittelschweren Symptomen ist eine orale Substitution ausreichend. Es gibt verschiedene Präparate auf Mg-Basis mit einem Magnesiumgehalt, der zwischen 5% und 60% variieren kann, und einer Bioverfügbarkeit, die je nach Präparat zwischen 4% und 12% liegt (21). Im Handel sind organische Mg-Salze (Gluconat, Aspartat, Citrat, Carbonat), die besser verträglich und assimilierbar sind als die anorganischen Mg-Salze. (Sulfat, Chlorid) (21). Da es keine klaren Empfehlungen für eine orale Magnesiumsubstitution gibt, kann eine Behandlung mit 12-15 mmol/d in zwei- bis dreimal täglicher Dosierung vorgeschlagen werden (22).

Die klinischen Nebenwirkungen sind abdominelles Unbehagen mit Übelkeit und Erbrechen sowie Durchfall. Dies kann die Einnahme der oralen Medikation einschränken und eine intravenöse Substitution rechtfertigen. Die Indikationen für eine intravenöse Behandlung sind: Schwere symptomatische Hypomagnesiämie (Mg<0,5 mmol/l), anhaltende Diarrhöen, Unverträglichkeit einer oralen Behandlung oder Elektrolytstörungen, die gegen eine orale Substitution refraktär sind. Die am häufigsten verwendete Form ist Magnesiumsulfat (MgSO4). Eine Dosis von 1g MgSO4 enthält ca. 4mmol Mg, was zu einem Anstieg der Magnesämie um etwa 0,15mmol/l führt. Magnesiumsulfat gibt es in verschiedenen Konzentrationen von 10 %, 20 % oder 50 %, die mit 0,9 % NaCl oder 5 % Glukose verdünnt werden müssen (23).

In lebensbedrohlichen Notfällen (Torsade de Pointes, Präeklampsie) kann ein Bolus von 2g bis 4g, der mit NaCl oder G5 verdünnt werden muss, verabreicht werden, gefolgt von einer Erhaltungstherapie zwischen 1 bis 3g/h. In anderen Fällen Fällen, in denen eine intravenöse Substitution erforderlich ist, besteht ein Konsensus über die Verabreichung von 1g bis 2g MgSO4 als Bolus über 1 Stunde, gefolgt von einer Verabreichung von 4g bis 8g über 12-24 Stunden (24). Eine Überwachung je nach Schweregrad der Hypomagnesiämie erfolgt bis zur Normalisierung der Laborwerte.

Sollte man eine Hypomagnesiämie immer untersuchen und substituieren?

Seit einigen Jahren wird Mg für Energiekuren, bei Muskelkrämpfen und Stress eingesetzt. In der jungen und gesunden Bevölkerung wird sich die Niere anpassen und die Ausscheidung von Magnesium über den Urin verringern. Eine perorale Dosierung und Behandlung ist daher nicht sinnvoll. Bei Patienten, die an einer Krankheit leiden oder unter einer Behandlung stehen, die einen Mangel verursachen könnte, sollte die Bestimmung von Mg Teil der Untersuchung sein.

Eine ausführliche Anamnese in Verbindung mit einer einfachen biologischen Untersuchung ermöglicht es, die Ursache für einen Mg-Mangel zu finden. Patienten mit Hypomagnesiämie sollten vorsichtig supplementiert werden, um unerwünschte Nebenwirkungen, welche die Einhaltung der Therapie gefährden könnten, zu vermeiden.

Dr. med. Rizk Karen

Stellvertretende Klinikleiterin, Abteilung für Geriatrie
Freiburger Spital, Standort Riaz
Rue de l’Hôpital 9
1632 Riaz

karen.rizk@h-fr.ch

Dr. med. André Laszlo

Klinischer Lehrbeauftragter
Naturwissenschaftliche und medizinische Fakultät, Universität Freiburg
Leitender Arzt – Abteilung für Geriatrie, HFR Riaz

andre.laszlo@h-fr.ch

Dr. med. Hoa Phong Pham Huu Thien

FMH in Innerer Medizin, CAS in klinischer Forschung, MSc in EBHC,
Oxford, Standortleiter – Klinik für Innere Medizin, HFR Riaz

hoaphong.phamhuuthien@h-fr.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Der Verdacht auf Hypomagnesiämie sollte bei Patienten mit mangelnder Zufuhr, Verdauungs- und Nierenstörungen, einer Risikotherapie oder bei klinischen und biologischen Manifestationen erhoben werden.
◆ Eine ausführliche Anamnese in Verbindung mit einfachen Laboruntersuchungen ermöglicht es, die Ursache der Hypomagnesiämie zu finden. Im Zweifelsfall helfen Urintests, um zwischen einer renalen und einer extrarenalen Ursache zu unterscheiden.
◆ Die Mg-Substitution variiert je nach Schweregrad der Symptome. Vor jeder Substitution muss die zugrunde liegende Ätiologie korrigiert werden.

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Das Reizdarmsyndrom – ein häufig unerkanntes Leiden

Das Reizdarmsyndrom (irritable bowel syndrome, IBS) ist eine funktionelle Störung des Magen-Darm-Trakts, die durch chronische Bauchschmerzen und veränderte Darmgewohnheiten gekennzeichnet ist. Es ist für bis zu 50% der Konsultationen bei Gastroenterologen verantwortlich, wobei nur ein kleiner Teil der Betroffenen einen Arzt aufsucht. Bei etwa 40% der Personen, die die Diagnosekriterien für ein IBS erfüllen, wird die Diagnose nicht gestellt. In diesem Kurzüberblick werden diagnostische Kriterien und die wichtigsten Differentialdiagnosen erläutert.

Irritable bowel syndrome (IBS) is a functional disorder of the gastrointestinal tract characterized by chronic abdominal pain and altered bowel habits. It accounts for up to 50% of consultations with gastroenterologists, with only a small proportion of sufferers seeing a doctor. Approximately 40% of individuals who meet diagnostic criteria for IBS are not diagnosed. In this brief overview, diagnostic criteria and the most important differential diagnoses are explained.
Key Words: irritable bowel syndrome, IBS, abdominal pain, flatulence, belching, diarrhea, constipation

Unterleibsschmerzen beim Reizdarmsyndrom werden in der Regel als ein krampfartiges Gefühl unterschiedlicher Intensität beschrieben. Ort und Art der Schmerzen können sehr unterschiedlich sein und im Verlauf fluktuieren. Deren Schweregrad kann von leicht bis schwer reichen. Die Schmerzen stehen häufig im Zusammenhang mit der Defäkation. Während bei einigen Patienten die Bauchschmerzen nach dem Stuhlgang nachlassen, berichten andere über eine Verschlimmerung der Schmerzen beim Stuhlgang. Emotionaler Stress und Mahlzeiten können die Schmerzen akzentuieren.

Patienten mit Reizdarmsyndrom berichten auch häufig über Blähungen und eine erhöhte Gasproduktion in Form von Flatulenz oder Aufstossen. Zu den Symptomen des Reizdarmsyndroms gehören Durchfall, Verstopfung, abwechselnd Durchfall und Verstopfung oder normale Darmgewohnheiten im Wechsel mit Durchfall und/oder Verstopfung. Das Reizdarmsyndrom tritt gehäuft mit anderen Erkrankungen auf, darunter Fibromyalgie, chronisches Müdigkeitssyndrom, funktionelle Dyspepsie, nicht kardiale Brustschmerzen und psychiatrische Störungen wie Depression und Angstzustände.

Diagnosekriterien

Da es keinen biologischen Krankheitsmarker gibt, wurden mehrere symptombasierte Kriterien vorgeschlagen, um die Diagnose des Reizdarmsyndroms zu standardisieren. Die am häufigsten verwendeten Kriterien sind die Rom-IV-Kriterien (siehe auch Artikel «Chronische Bauchschmerzen» (1). Gemäss diesen ist das Reizdarmsyndrom definiert als wiederkehrende Bauchschmerzen, die im Durchschnitt mindestens an einem Tag pro Woche in den letzten drei Monaten aufgetreten sind und mit zwei oder mehr der folgenden Kriterien einhergehen:

  • im Zusammenhang mit der Defäkation
  • Verbunden mit einer Veränderung der Stuhlgangsfrequenz
  • Verbunden mit einer Veränderung der Stuhlform (Aussehen)

Erstuntersuchung

In Hinblick auf die spätere Betreuung der Patienten gilt es, eine gute Arzt-Patienten-Beziehung zu etablieren. Die Anamnese dient dazu, klinische Manifestationen des Reizdarmsyndroms zu erkennen und «red flags» für schwerwiegende Erkrankungen zu identifizieren (Krankheitsbeginn nach dem 50. Lebensjahr, rektale Blutungen oder Meläna, nächtliche Symptome/Diarrhoe, progrediente Symptomatik, unerklärliche Gewichtsabnahme, ungeklärte Eisenmangelanämie). Auch Medikamente, die ähnliche Symptome bewirken können, sind zu erfassen. Die Familienanamnese sollte das Vorhandensein von entzündlichen Darmerkrankungen, Darmkrebs und Zöliakie umfassen. Die körperliche Untersuchung ist bei Patienten mit Reizdarmsyndrom in der Regel normal. Labor: Vollständiges Blutbild, bei Durchfällen zusätzlich fäkales Calprotectin, Test auf Lamblien, Zöliakie-Serologie (tTG-Ak). Coloskopie: Im Rahmen eines altersgerechten Darmkrebs-Screenings. Dieser eingeschränkte diagnostische Ansatz schliesst bei über 95% der Patienten eine organische Erkrankung aus.

Differentialdiagnose

Sie ist bei IBS breit gefächert. Bei vorwiegend diarrhöischen Symptomen sind andere wichtige Ursachen für chronischen Durchfall in Betracht zu ziehen wie Zöliakie, mikroskopische Kolitis, bakterielle Überwucherung des Dünndarms und entzündliche Darmerkrankungen (IBD). Verstopfung kann auf eine organische Erkrankung, eine dyssynergische Defäkation oder einen langsamen Kolontransit zurückzuführen sein.

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Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die Abklärung und Betreuung von Patienten mit Verdacht auf IBS basieren auf einer guten Arzt-Patienten-Beziehung als Fundament.
◆ Darauf aufbauend soll versucht werden, die Diagnose positiv zu
stellen und organische Erkrankungen angemessen auszuschliessen, womit eine gute Chance besteht, eine solide Basis für die Behandlung zu erzielen.
◆ Bei fehlenden Alarmsymptomen und zunehmender Dauer von
abdominalen Schmerzzuständen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass funktionelle Schmerzzustände vorliegen.

1. der informierte arzt 2019; 9(2):16-18

Schizophrenie

Dieser Artikel dient als kurze Zusammenfassung und zur Auffrischung der Kenntnisse zur Schizophrenie, ihrer Diagnostik und Behandlung. Besonders soll der Leser dafür sensibilisiert werden, wie er im Gespräch Hinweise auf eine Erkrankung des schizophrenen Formenkreises findet und mit diesen umgeht.

This article is a short refresher and summary of the diagnosis and treatment of schizophrenia. The article is supposed to help the reader identify indicators of specific symptoms of schizophrenia in an interview with a potential patient as well as convey how to approach these indicators in a therapeutic setting.
Key Words: schizophrenia, ICD-11, mania, hallucination, treatment

Die Schizophrenie ist ein Störungssbild, welches primär durch eine Bewusstseinsspaltung definiert wird. Seit 1911 wird dieses Krankheitsbild nach Eugen Bleuler als solches bezeichnet und löste damit den Begriff der «Dementia Praecox» von Emil Kraepelin ab. Die Lebenszeitprävalenz der Schizophrenie liegt bei etwa 1%, wobei beide Geschlechter in etwa gleich häufig betroffen sind.
Männer erkranken in der Regel etwas früher als Frauen, das Haupterkrankungsalter liegt dabei zwischen der Pubertät und dem 30. Lebensjahr (1). Die Schizophrenie wird grob in drei Verlaufsformen aufgeteilt. Ein Drittel der Erkrankten remittieren nach der Ersterkrankung vollständig. Beim zweiten Drittel findet ein episodischer Verlauf statt, der zwischen Remission, Teilremission und psychotischer Exazerbation wechselt. Das letzte Drittel erfährt einen chronisch progredienten Verlauf. Prognostisch hat ein schizophrener Patient eine ca. 15 Jahre geringere Lebenserwartung.

Nach heutigem Wissenstand gehen wir weiterhin von einer multifaktoriellen Ätiopathogenese aus, bei der die genetisch bedingte Vulnerabilität einer der Risikofaktoren ist. So steigt das Risiko selbst an einer Schizophrenie zu erkranken um 10%, wenn man einen an Schizophrenie erkrankten Verwandten ersten Grades in der Familie hat. Umweltfaktoren wie Infektionen in der Schwangerschaft, Drogenkonsum, Traumata, Hypoxie bei der Geburt, Depressionen bei der Mutter während der Schwangerschaft, Leben in der Stadt etc. verdoppeln ausserdem das Risiko und stellen gesamthaft für die Vulnerabilität eine grosse Bedeutung dar. Schizophrene Patienten können zwar manchmal unheimlich oder gar bedrohlich wirken, allerdings ist das Risiko für eine Fremdgefährdung nicht höher als das der Allgemeinbevölkerung. Die Suizidrate unter schizophrenen Menschen hingegen liegt bei 10% und ist deutlich höher (1).

Allgemeine diagnostische Kriterien gem. ICD-10/ICD-11

Für die Diagnose einer Schizophrenie sind die diagnostischen Kriterien des ICD-10 (2) bzw. neuerdings des ICD-11 (3) grundlegend. Insgesamt lassen sich die Symptome einer Schizophrenie in eine Positiv- und eine Negativsymptomatik aufteilen. Positivsymptomatik geht häufig einher mit einer Überstimula­tion, die sich in Wahn oder Halluzinationen äussern kann (1). Die Negativ­symptomatik wird durch psychosoziale Unterstimula­tion wahrscheinlicher und ist durch die in Punkt E des ICD-11s beschriebenen 6As zusammengefasst (Tab. 1).

Änderungen im ICD-11

Die Schizophrenie wird nun im Abschnitt 6A2 unter anderem mit der schizoaffektiven-, der schizotypen- und der wahnhaften Störung sowie anderen primären Psychosen zusammengefasst. Der ICD-11 verabschiedet die klinischen Subtypen (paranoid, hebephren, kataton und simplex) der Schizophrenie (F20). Zudem wird der besondere Stellenwert der Schneiderschen Erstrangsymptome abgeschafft und diese stattdessen mit anderen psychotischen Symptomen gleichgestellt (4). Es kann kodiert werden, ob es sich um die erste Episode, multiple Episoden oder ein kontinuierliches Auftreten der Störung handelt. Zusätzlich kann mit einer zweiten Kodierung die vorherrschende Symptomatik beschrieben werden. So würde die Kodierung 6A20.10 eine Schizophrenie mit multiplen Episoden, gegenwärtig symptomatisch beschreiben. Um die Symp­tome zu spezifizieren, könnte man zusätzlich zum Beispiel eine 6A25.0 «positiv Symptomatik in einer primär psychotischen Störung» vergeben. Demnach ist es nach ICD-11 nun möglich, innerhalb der Schizophrenie genauere Angaben zur Symptomatik, dem Verlauf und der Prognose des Patienten anhand der Diagnose zu machen (2, 3).

Natürlich ist es zwingend notwendig, vor der Diagnosestellung eine organische oder substanzinduzierte Genese für die vorliegende Symptomatik auszuschliessen. Blutuntersuchungen (z.B. Neuro-Lues, Morbus Wilson) ein MRI und ein EEG sollten unauffällig sein (2, 5).

Symptome erkennen

Wie erkennt man nun ob die oben genannten Kriterien vorliegen? Zunächst werden Hinweise auf ein psychotisches Syndrom benötigt. Der Therapeut exploriert im Rahmen des psychopathologischen Befundes Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen, Ich-Störungen und den Affekt des Patienten. Dabei sind Wahn und Halluzinationen die Kernsymptome des psychotischen Syndroms (5).

Wahn

Wahn entsteht durch eine Veränderung im Erleben, einhergehend mit einer Fehlbeurteilung der Realität. An dieser Fehlbeurteilung wird mit subjektiver Gewissheit festgehalten, selbst wenn sie der Wirklichkeit und den Erfahrungen aller anderen Menschen widerspricht. Sie ist nicht objektivierbar und während der aktiven Psychose auch nicht korrigierbar. Ein Wahn kann zudem nicht als solcher vom Patienten kommuniziert werden, weshalb es besonders wichtig ist diesen gut zu explorieren (5, 6).

Der Patient wird seine persönliche Realität präsentieren. Es ist wichtig diese «Wahnrealität» anzunehmen und mit dem Patienten gemeinsam zu versuchen, aus seiner Realität heraus einen Lösungsansatz zu erarbeiten. Dem Patienten zu erklären, dass seine Wahrnehmung falsch sei, wird nur dazu führen, dass der Patient dem Therapeuten nicht vertraut. Es ist überaus wichtig, dass der Patient spürt, dass der Therapeut versucht, seine Problematik zu erkennen. Die Schwierigkeit besteht darin, den Wahn weder zu bestätigen noch dem Patienten seine Realität abzusprechen (6).

Als Beispiel kann ein Patient davon überzeugt sein, dass sein gesamtes wohnliches Umfeld Teil der Mafia sei. Auch wenn die Polizei dem Therapeuten bereits bestätigt hat, dass die Aussagen des Patienten keinen Realitätsbezug haben, sollte man den Patienten nicht damit konfrontieren. Stattdessen sollte man eher daran arbeiten, wie er mit der «allgegenwärtigen Kriminalität» umgehen kann, ohne seine Nachbarschaft, sein direktes Umfeld und sich selbst zu belasten. Das Ziel der Behandlung sollte folglich nicht die Korrektur des Wahns, sondern die Linderung des Leidensdrucks für den Patienten und sein Umfeld sein (6). Also kann zum Beispiel das Vorgehen gegen Schlafstörungen, um die Stressresilienz zu festigen, ein gemeinsamer Nenner sein, das dann durch ein Neuroleptikum anvisiert wird (und damit gleichzeitig den Wahn behandelt).

Es sei darauf hingewiesen, dass man sich besonders bei nicht bizarren Wahnideen bemühen sollte, diese zusätzlich fremdanamnestisch zu eruieren. Gerade die Idee verfolgt zu werden, kann sich zuweilen tatsächlich als real herausstellen.

Halluzinationen

Natürlich ist ein Wahn allein für eine Diagnose nicht ausreichend. Wie oben beschrieben, können auch Halluzinationen in allen Sinnesebenen vorkommen. Es handelt sich um eine Täuschung eines Sinnes ohne einen reellen Reiz. Sie sind von den Illusionen zu unterscheiden, bei denen ein reeller Reiz vom Patienten verkannt wird (5). Es können optische Halluzinationen, Akoasmen (Geräusche wie Schmatzen oder das Rauschen eines vorbeifliegenden Flugzeuges) oder Zönästhesien (Leibeshalluzinationen) vorkommen. Die häufigsten Sinnestäuschungen der Schizophrenie sind aber akustische Halluzinationen, in Form von dialogisierenden oder kommentierenden Stimmen. Hinweise dafür wären, dass der Patient im Gespräch innehält, sich mit jemand anderem unterhält, sich plötzlich abwendet oder abgelenkt erscheint. Im Gespräch kann an dieser Stelle sofort interveniert werden, zum Beispiel durch die Fragen: «Mit wem sprechen Sie?» oder «Ist ausser uns noch jemand im Raum?».

Hinweise auf akustische Halluzinationen müssen gut exploriert werden. Wenn ein Patient zum Beispiel behauptet, jemand spreche zu ihm während er Musik höre, kann dies eine Halluzination sein. Eine illusionäre Verkennung oder ein Beziehungserleben («die Musik spricht zu mir») seitens des Patienten sind aber ebenso möglich. Hier wäre es wichtig zu fragen, ob der Patient die Stimmen auch hört, wenn keine Musik spielt oder ob die Stimme zum Beispiel ganz konkret sein Handeln kommentiert.

Affekt

Der Affekt des Patienten zeichnet sich durch Gefühlsarmut, Parathymie und Ambivalenz aus. Der Patient wird auf äusserst gute so wie deutlich schlechte Nachrichten affektiv kaum reagieren. Es kann sogar sein, dass er selbst eine für ihn schlimme Erkenntnis oder eine Drohung völlig kalt oder gar mit einem Lächeln entgegennimmt. In der Gegenübertragung kann der Patient dem Gegenüber «unheimlich» und unnahbar vorkommen. Durch den reduzierten emotionalen Kontakt zu anderen kommt es beim Patienten häufig zu einem sozialen Rückzug, der mit einem Leistungsknick einhergehen kann.

Ich-Störungen und formale Denkstörungen

Wenn der Patient angespannt und formalgedanklich beschleunigt wirkt, ist dies eine gute Gelegenheit, Ich-Störungen zu explorieren. Formalgedankliche Beschleunigung äussert sich in einer übermässig schnellen (Logorrhö) sowie inkohärenten, sprunghaften Sprechweise. Diesen Patienten könnte man zum Beispiel fragen, ob er viele Gedanken gleichzeitig im Kopf habe (Gedankendrängen). Wird diese Frage bejaht, könnte man weiter fragen, ob es so viele Gedanken seien, dass diese den Kopf verlassen und für Aussenstehende wahrnehmbar würden (Gedankenausbreitung).

Umgekehrt kann man bei formalgedanklicher Blockade/Hemmung fragen, ob sich der Kopf leer oder die Gedanken blockiert anfühlen. Wird dies bejaht, könnte man dann damit folgen, ob die Gedanken von aussen entzogen würden (Gedankenentzug). Der Therapeut sollte versuchen die Fragen nach Ich-Störungen möglichst natürlich ins Gespräch einzubinden. Eine direkte Frage, wie zum Beispiel «Hatten Sie schon einmal ein Derealisationserleben?» könnte seitens des Patienten eher zu Verwirrung führen.

Medikation

Wird die Diagnose der Schizophrenie gestellt, sollte die Behandlung mit einem atypischen Neuroleptikum angeboten werden. Diese sind im Vergleich zu den Typika besser verträglich (7, 8). Empfohlen wird Risperidon 2-3 mg/d als Initialdosis oder Olanzapin 5-10 mg/d.
Die häufigste Nebenwirkung, welche alle Neuroleptika mit einander teilen, sind die extrapyramidalmotorischen Störungen (EPMS) (7,8). Erkennbar sind diese durch das besonders in den Arm- und Handgelenken hervorrufbare Zahnradphänomen. Werden diese Muskelgruppen passiv vom Therapeuten bewegt, zeigt sich ein erhöhter Widerstand, welcher abrupt nachgibt und die Bewegung zulässt, dann aber kurz darauf wieder besteht.

Besonders zu Beginn der antipsychotischen Therapie können Frühdyskinesien auftreten wie: Akathisie, Blickkrämpfe, Torticollis und Hyperkinesien der mimischen Muskulatur. Das Antidot für Neuroleptika, welches zur Behandlung der oben genannten Nebenwirkungen verwendet werden sollte, ist Biperiden. Die Nebenwirkungen sind nicht nur dosisabhängig, sondern auch abhängig davon wie schnell die Dosis erhöht wird (7,8).

Bei Schwangerschaft und Stillzeit ist Vorsicht geboten. Fast alle Neuroleptika sind Teil der «Pregnancy Risk Category»– und sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Das beste Sicherheitsprofil, sowohl in der Schwangerschaft als auch beim Stillen, haben Olanzapin und Quetiapin. Es wird lediglich ein leicht erhöhtes Risiko für Gestationsdiabetes diskutiert (9).

Die gravierendste Nebenwirkung, die bei der neuroleptischen Behandlung mit einer Häufigkeit von 0,01-3% auftreten kann, ist das Maligne Neuroleptische Syndrom (MNS) (10). Um ein MNS zu erkennen, hilft das Acronym «FALTER»:

  • Fieber
  • Autonome Instabilität (Tachykardie, Hyperhidrose)
  • Leukozytose
  • Tremor
  • Erhöhte Enzyme (Transaminasen und Kreatinkinase)
  • Rigor

Wird ein MNS vermutet, sollte als erstes das Antipsychotikum abgesetzt werden. Dann kann dem Patienten Biperiden (initial 2-4 mg, Erhaltung 4-12 mg über den Tag verteilt) gegeben werden. Tritt keine Besserung ein, ist der nächste Schritt eine Therapie mit Lorazepam (in max. 7,5 mg/d) samt engmaschiger Kontrolle der Vitalparameter (cave: Atemdepression) (10). Zusätzlich hilft es, Flüssigkeit zu substituieren und den Patienten kühl zu halten. An diesem Punkt sollte man den Patienten zudem auf eine somatische Notfall­station verlegen, damit er dort unter engmaschiger Überwachung mit Bromocriptin, Amantadin oder Dantrolen behandelt werden kann. Bei weiterhin bestehendem Bedarf sollte ein erneutes Aufdosieren eines neuen Neuroleptikums auf eine minimal effektive Zieldosis langsam und kontrolliert ablaufen.

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dipl. Arzt Alexander Gehrmann

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel und Universität Basel
Wilhelm Klein Strasse 27
4002 Basel

alexander.gehrmann@upk.ch

Prof. Dr. med. Undine E. Lang

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel und Universität Basel
Wilhelm Klein Strasse 27
4002 Basel

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Durch die Veränderungen im ICD-11 ist es nun möglich sich ein besseres Bild der Symptome eines Patienten anhand der Codierung zu schaffen. Die richtige therapeutische Haltung und der Beziehungsaufbau während der Gesprächsführung sind ein ebenso wichtiger Teil der Therapie wie die psychopharmakologische Behandlung.

1. Möller, Hans-Jürgen, Laux, Gerd, Deister, Arno. Duale Reihe Psychiatrie und
Psychotherapie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2005.
2 Dilling, Horst, Freyberger, Harald, ed. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation
psychischer Störungen. 9th ed. Bern: World Health Organisation und Hogrefe Verlag, 2019.
3 World Health Organization. ICD-11: International classification of diseases.
11th ed. 2019. Verfügbar unter: https://icd.who.int/
4 Schultze-Lutter, Meisenzahl, & Michel. Psychotische Störungen in der ICD-11: Die Revisionen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 2021; 49:453–462. doi: 10.1024/1422-4917/a000777
5 Rolf-Dieter, Stieglitz, Achim, Haug, Bernhard, Kis, Silke, Kleinschmidt, Andreas, Thiel. Praxisbuch AMDP: Psychopathologische Befunderhebung – Grundlagen und Anwendungsbeispiele. Göttingen: Hogrefe Verlag, 2016.
6 Walter, Lang. Psychiatrische Notfälle. Erstmaßnahmen – Einweisungsrichtlinien – Fallbeispiele. Ecomed Storck Verlag 2022, 3. Auflage 2022
7 Benkert, Otto, Hippius, Hanns. Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. Wiesbaden: Springer Berlin Heidelberg, 2020.
8 Gaebel, Wolfgang, Hasan, Alkomiet, Falkai, Peter. S3-Leitlinie Schizophrenie.
Berlin Heidelberg New York: Springer-Verlag, 2019.
9 Boden R et al.: Antipsychotics during pregnancy: relation to fetal and maternal metabolic effects. Arch Gen Psychiatry. 2012;69(7):715-721.
10 Pajonk, Frank-Gerald, Messer, Thomas, Berzewski, Horst. S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. Wiesbaden: Springer Berlin Heidelberg, 2020.

Delir und Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz

Demenz und Delir sind häufige Krankheitsbilder, welche mit Desorientierung, «Verwirrtheit» und Verhaltensauffälligkeiten einhergehen können. Nicht selten ist es schwer beide Krankheitsbilder zu differenzieren, insbesondere dann, wenn im Vorfeld noch keine Demenzerkrankung diagnostiziert wurde. Dieser Artikel behandelt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Krankheitsbilder Delir und Demenz sowie die Behandlungsmöglichkeiten von Verhaltensauffälligkeiten, welche bei diesen Erkrankungen auftreten können.

Dementia and delirium are common diseases which can be associated with symptoms of desorientation and behavioural occurances. The differentiation of delirum and dementia might cause some difficulties especially if a neurocognitive disorder has not been diagnosed beforehand. This article tries to enlighten the similarities as well as the differences of these disorders as well as treatment options of behavioural symptoms which often occur in patients with delirium and/or dementia.
Key Words: delirium, dementia, neurocognitive disorder, behavioural and psychological symptoms of dementia

In der Schweiz litten im Jahr 2021 zirka 146’500 Menschen an einer Demenz, von diesen wurden 2019 rund 30’000 in Spitälern behandelt. Je älter ein Mensch ist, desto häufiger liegt eine Demenz­erkrankung vor. Bei über 90jährigen Schweizern/Schweizerinnen liegt die Prävalenzrate bei ca. 40%. Man geht davon aus, dass in der Schweiz jährlich 31’375 Menschen neu an einer Demenz erkranken (1, 2). Die Demenz egal welcher Ätiologie ist somit eine häufige Erkrankung insbesondere der älteren Menschen.

Psychische und Verhaltenssymptome der Demenz

Psychische und Verhaltenssymptome der Demenz (engl. Behavioral and psychological Symptoms of Dementia – BPSD) treten im Verlauf einer Demenzerkrankung bei einer Mehrheit der Patienten/Patientinnen auf. Oft können sie auch Frühsymptome einer Demenzerkrankung sein. Unter psychischen und Verhaltens­symptomen einer Demenz versteht man zum Beispiel Apathie, Unruhe, Aggression, Halluzinationen, Depression oder Angst. Diese Symptome können individuell und im Krankheitsverlauf stark variieren und sich verändern. Die Ursache dieser Symptome ist multifaktoriell. Es wird davon ausgegangen, dass die Demenzerkrankung die Neurotransmittersysteme verändert, was zu einer erhöhten Vulnerabilität des Gehirns in Bezug auf Stressoren wie zum Beispiel geänderte Umgebungsbedingungen, eine nicht adäquate Kommunikation oder Schmerzen führt (3, 4, 5). BPSD führen häufig zur Überforderung pflegender Angehöriger und infolgedessen zu einer Hospitalisierung und/oder Institutionalisierung von Menschen mit Demenz.

Delir

Ein Delir tritt bei ca 25% (6, 7) der hospitalisierten Patienten/Patientinnen auf. Eine vorbestehende Demenzerkrankung und ein fortgeschrittenes Alter sind dabei wesentliche Risikofaktoren. Die Diagnosekriterien nach DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) für ein Delir bedingen neben einer Aufmerksamkeitsstörung als Hauptmerkmal einen raschen Beginn mit fluktuierenden Symptomen im Tagesverlauf sowie eine somatische Ursache bzw. einen Substanzgebrauch oder Subtanzentzug als Ursache. Zudem können kognitive Funktionen wie Gedächtnis oder Sprache beeinträchtigt sein (8). Häufig kommt es im Delir zu Veränderungen der Emotionalität wie zum Beispiel Angst und Aggression. Auch eine Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus mit nächtlicher Unruhe und Tag-Nacht-Umkehr ist ein häufiges Symptom bei Patienten/Patientinnen mit Delir.

Klinisch sind somit BPSD und ein Delir schwer zu differenzieren.

Unterscheidung der beiden Krankheitsbilder

Möglichkeiten zur Unterscheidung der beiden Krankheitsbilder ergeben sich aus der Anamnese, den klinischen und laboranalytischen Untersuchungen wie auch aus dem Verlauf zum Beispiel im Rahmen einer Hospitalisation oder auch einer Eingewöhnung in ein Alters- und Pflegeheim.

In der Anamnese liegt ein Hauptfokus darauf herauszufinden, wie lange die Veränderungen schon bestehen und ob sie sich schnell oder schleichend entwickelt haben. So entwickeln sich die Symptome eines Delirs typsicherweise akut über wenige Stunden bis perakut in bis zu zwei Wochen bis zum klinischen Vollbild. Psychische Symptome und Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz dagegen entwickeln sich häufig schleichend. So wird beispielsweise der Verwirrtheits­zustand mit Agitation und Aggression bei Delir von den Angehörigen als völlig neues und beunruhigendes Krankheits­bild erlebt und der Patient/die Patientin als ganz anders als sonst beschrieben. Bei Agitation und Aggression im Rahmen von BPSD dagegen berichten die Angehörigen, dass dies schon immer mal wieder vorgekommen sei, im langfristigen Verlauf zugenommen habe und nun durch die pflegenden Personen nicht mehr tragbar sei.

In der klinischen Untersuchung und ggf. auch in der Beobachtung der Patienten/Patientinnen achten wir auf Zeichen von Schmerzen, Verletzungen zum Beispiel als Folge von Stürzen und Hinweise auf eine Infektion. Insbesondere schliessen wir einen Harnverhalt aus und achten auf regelmässigen Stuhlgang. Harnverhalt und Obstipation sind – besonders bei Patienten/Patientinnen mit Demenz, die ihre Beschwerden nicht mehr klar äussern können – häufig Auslöser eines einfach zu behandelnden Delirs. Nicht selten ist ein Delir das einzige Symptom eines Infektes bei betagten Menschen.

Menschen mit Demenz können sowohl an einem Delir als auch an Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Symptomen der Demenz leiden. So kann zum Beispiel ein Harnwegsinfekt bei einem Patienten/einer Patientin mit Demenz und vorbestehenden leichten Verhaltensauffälligkeiten zu einer Zunahme der Auffälligkeiten führen – jedoch auch zu einem Delir mit zusätzlich vorher nicht bestehender Aufmerksamkeitsstörung sowie Fluktuationen im Tagesverlauf und neuer Störung des Tag-Nacht-Rhythmus. Hier gilt es bei einer Verschlechterung von BPSD an ein mögliches Delir zu denken und die Auslöser mittels klinischer Untersuchung und ggf. Laboruntersuchung zu finden. Nach Behandlung des Auslösers – also zum Beispiel des Harnwegsinfektes – bilden sich die Symptome des Delirs wieder zurück. Die vorbestehenden Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz können wie vor dem Delir aber auch aggraviert weiterbestehen.

Ein Delir führt häufig zu einer Verschlechterung einer vorbestehenden Demenz (9). Es können als Folge eines Delirs nicht nur eine Verschlechterung des kognitiven Zustandes, sondern auch neue Verhaltensauffälligkeiten oder eine Zunahme vorbestehender Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz auftreten.

Behandlungsmöglichkeiten

Die Behandlung von Verwirrtheitszuständen im Rahmen von BPSD und Delir ist sehr ähnlich. Zunächst müssen auslösende Faktoren identifiziert und behandelt werden – zum Beispiel ein Harnwegs­infekt mit Antibiotika, eine kardiale Dekompensation mit Diuretika, eine Obstipation mit abführenden Massnahmen. Zudem stehen pflegerische Massnahmen wie Mobilisation, Verbesserung der Kommunikation und ein empathischer Umgang im Vordergrund (10). Insbesondere hat sich das TADA-Prinzip bewährt: Tolerate, anticipate, don’t agitate (11).

Neuroleptika und andere sedierende Medikamente sollten nur bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung eingesetzt werden. Bei BPSD kann Risperdal als einzig zugelassenes Medikament in niedriger Dosierung bei starker Belastung des Umfeldes eingesetzt werden.
Das häufig verwendete Medikament Quetiapin ist in der Behandlung des Delirs und bei BPSD off label und sollte daher nur mit sehr strenger Indikationsstellung angewendet werden.

Haldol ist für die Behandlung eines Delirs sowie psychomotorischer Unruhezustände im Rahmen einer Alzheimer-Krankheit zugelassen, jedoch nur dann, wenn nicht-pharmakologische Therapien erfolglos waren und bei einem Risiko für Selbst- oder Fremd­gefährdung.

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Dr. med. Isabella Glaser

Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER
Burgfelderstrasse 101
4055 Basel

Dr. phil. Wolfgang Hasemann

Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER
Burgfelderstrasse 101
4055 Basel

Deborah L. Leuenberger

Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER
Burgfelderstrasse 101
4055 Basel

Im Zusammenhang mit diesem Artikel wurden keine Interessenskonflikte deklariert.

◆ BPSD und Delir sind häufige Krankheitsbilder bei alten Menschen, insbesondere mit Demenzerkrankungen.
◆ Beide Krankheitsbilder können ähnliche Symptome aufweisen
(z.B. Unruhe, Aggression, Störung des Tag-Nacht-Rhythmus).
◆ Die Ursachen eines Delirs sind multifaktoriell.
◆ Eine gute Anamnese kann helfen zwischen BPSD und Delir zu
unterscheiden.
◆ Bei der Behandlung von BPSD und Delir stehen nicht-pharma-­
kolo­gische Therapien im Vordergrund­.

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3. S3-Leitlinie (Deutschland) Demenzen 2016
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8. Maier, W. Neurokognitive Störungen (NCD). In P. Falkai & American Psychiatric Association (Eds.), Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen: DSM-5 (pp. 811-827). Hogrefe. 2015
9. Davis, D. H. Association of Delirium With Cognitive Decline in Late Life: A Neuropathologic Study of 3 Population-Based Cohort Studies. JAMA Psychiatry, 74(3), 244-251 2017.
10. Flaherty, J. H. The Delirium Room: A Restraint-Free Model of Care for Older Hospitalized Patients with Delirium. J Am Geriatric Soc 59 Suppl 2:S295-300. 2011
11. Malone, E. A. Capezuti, & R. M. Palmer (Eds.), Geriatrics Models of Care: Bringing ‘Best Practice’ to an Aging America (pp. 281-285). Springer International Publishing.

Update zur Behandlung von Angststörungen und Depression

Das 13th Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) vermittelte den Teilnehmer ein Update bezüglich verschiedenen innovativen Therapiekonzepten bei Angststörungen und Depression.

Welche neurologischen Effekte und welchen Nutzen haben Psychedelika in der Psychotherapie? Prof. Dr. med. Franz X. Vollenweider von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ging in seinem Vortag dieser Frage nach. Zu Beginn stellte er klassische Psychedelika wie LSD, Psilocybin und Ayahuasca vor und erläuterte deren Wirkmechanismus als serotonerge Agonisten basierend auf ihrer Serotonin-ähnlichen chemischen Struktur. Zusätzlich zur Anregung des serotonergen Systems können die Psychedelika auch die Plastizität im Gehirn erweitern. Sie führen dosisabhängig zu einer positiven Entgrenzung der Selbst-Umweltwahrnehmung (Oeceanic self-boundlessness). Die damit verbundene Lockerung der kognitiven Kontrolle und Aktivierung schwer zugänglicher Emotionen kann in der Psychotherapie genutzt werden. In klinischen Studien mit Krebspatienten hat die Anwendung von Psilocybin oder LSD eine rasche Reduktion von Depressions- und Angst-Symptomen bewirkt. Welche Komponenten der Selbst/Ich-Entgrenzung zu diesem Effekt beitragen, gilt es zu erforschen. Mittels Neuroimaging wird beispielsweise versucht, die Entgrenzung oder die veränderte Kognition zu objektivieren.

So geht eine starke Depression einher mit einem negativen Bias in der Emotionsverarbeitung; die Patienten zeigen eine erhöhte emotionale Antwort in der Amygdala. Psilocybin schwächt die Reaktion auf beispielsweise negative Gesichtsausdrücke ab und die Abschwächung der Amydala-Antwort korreliere damit. «Die Leute fühlen sich weniger bedroht von den eigenen angstvollen Gedanken», sagt Vollenweider.

Die vorläufigen Ergebnisse einer randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Phase-II Studie aus Zürich scheinen den therapeutischen Nutzen von Psilocybin zu bestätigen. Patienten mit mittelschwerer Depression erhielten eine Psilocybin-Therapie kombiniert mit Mindfullness-Training und zeigten eine der Interim-Analyse eine Ansprechrate von 69% gegenüber 16% in der Placebo-Gruppe. Abschliessend sagte Prof. Vollenweider, dass eine mittlere Dosis von Psychedelika bei therapeutischen Sitzungen die Emotionsverarbeitung, die Selbst-Prozessierung, die Kognition und die soziale Kognition verbessern und so eine therapeutische Wirkung entfalten kann. Wie die durch Psilocybin bewirkte Neuroplastizität und die Lernprozesse mit der Therapie zusammenwirken, bleibt derzeit noch offen.

Die sogenannte behandlungsresistente Depression: von der Forschung zur Klinik

Prof. Dr. hcmult. Dr. med. Siegfried Kaspar von der Medizinischen Universität Wien sprach in seinem Vortrag über behandlungsresistente Depression (TRD), die eine unterdiagnostizierte Subgruppe der Depression ist und oftmals fälschlich auf psychosoziale Variablen zurückgeführt wird. Die TRD wird charakterisiert durch ein Nichtansprechen auf mindestens zwei genügend lange Behand-lungen mit Antidepressiva der gleichen Wirkstoffklasse bei ausreichender Do-sierung und guter Adhärenz. Prof. Kaspar zeigte auf, dass die TRD biologischen Faktoren unterliegt und dass eine verminderte Neuroplastizität sowie eine reduzierte serotonerge Aktivität eine zentrale Rolle spielen. Unbehandelt zeige eine TDR vielschichtige Konsequenzen. Es treten mehr Komorbiditäten, eine höhere Hospitalisierungsrate und -dauer sowie eine ca. 7-fach erhöhte Mortali-tät bzw. Suizidrate auf als bei behandelten Patienten mit TDR.

Weiter präsentierte Prof. Kasper Studienergebnisse, die darlegen, dass eine Add-on Behandlung mit verschiedenen pharmakologischen Strategien in der Drittlinie Erfolge erzielen und die Neuroplastizität wiederherstellen kann. Vor-nehmlich werden hierbei NMDA- und GABA-Rezeptoragonisten oder -modulatoren eingesetzt, mit Esketamin-Nasalspray als vielversprechender neu-zugelassener Therapieform. Unterdessen erfreuten sich auch Psychedelika zunehmender Beliebtheit. Eine gesteigerte Aktivität der 5-HT2A Rezeptoren führt bei dieser Behandlungsform zu erhöhter Konnektivität im Gehirn und Verbesserung der TRD. Hier gäbe es allerdings noch Bedarf an weiterführenden Studien, so Prof. Kasper.

Abschliessend bemerkte Prof. Kaspar, dass diese neuen pharmakologischen Optionen sehr nützlich seien, aber die bestehenden Behandlungsstrategien nicht ersetzen würden.

Pharmakotherapie bei Angst und Depression – Welche Pflichten ergeben sich aus dem «Label»?

Prof. Dr. med. Dr. iur. Thomas D. Szucs, Hirslanden Klinik Zürich, Direktor des Instituts für Pharmazeutische Medizin an der Universität Basel und Verwaltungsratspräsident der Helsana, widmete sich den Pflichten, die das Label eines Medikaments, das in der Schweiz der Fachinformation entspricht, aufwirft.

Wie der Referent aufzeigte, sind die Implikationen des Labels in der heutigen Zeit weitaus komplexer als in der Vergangenheit und werfen eine Reihe medizinischer, juristischer und ethischer Fragen auf. Besonders der «Off-Label-Use» (OLU) ist in vielerlei Hinsicht komplex, allerdings in einigen Fällen, beispielsweise in der Onkologie oder in der Pädiatrie, auch unvermeidbar. Dass OLU besonders bei den psychiatrischen Therapien weit verbreitet ist, zeigen verschiedene Studienergebnisse, u.a. aus der Schweiz. Um dies noch zu verdeutlichen, forderte Prof. Szucs die Teilnehmer auf, an einer digitalen Live-Umfrage teilzunehmen. Das Ergebnis zeigt eindeutig: Die überwältigende Mehrheit hat bereits Off-Label-Medikamente verschrieben, die meisten davon zur Behandlung von Patienten mit Depression. Zudem sind sich fast alle einig, dass Psychiatern erlaubt sein sollte, mehr Off-Label-Verschreibungen vorzunehmen, sofern sie erstattet werden.

Anschliessend klärte Prof. Szucs über die rechtlichen Hintergründe des OLU in der Schweiz auf. Dieser ist grundsätzlich erlaubt, wenn der Arzt die volle Verantwortung trägt und der OLU dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht. Zudem ist eine sorgfältige Risikoabwägung essenziell. Die Haftung liegt bei der entsprechenden Firma, wenn ein Produktionsfehler vorliegt, oder sie sich nicht ausreichend vom OLU distanziert. Dass in einzelnen Szenarien sogar eine Pflicht zum OLU besteht, zeigte Prof. Szucs anhand eines Rechtsfalls aus Deutschland, in dem einem Kind mit Herpes-Enzephalitis die Off-Label-Behandlung mit Aciclovir zu lange verwehrt wurde. Auch das KVV ermöglicht mittlerweile OLU in bestimmten Situationen, wenn es beispielsweise keine
Behandlungsalternativen gibt.

Besonders hob der Referent die Wichtigkeit genetisch bedingter unerwünschter Wirkungen hervor, die in den entsprechenden Fachinformationen vermerkt sind und bei der Verschreibung von Medikamenten unbedingt beachtet werden müssen. Es liegt in der Sorgfaltspflicht der Ärzte, die Patienten auch hinsichtlich zukünftiger Behandlungen zu informieren, falls ein bestimmter Biomarker für unerwünschte Wirkungen vorliegt. Unterstrichen wird dies durch Bundes-gerichtsurteile, die sich mit der Nicht-Beachtung des Labels bei der Verschreibung befassten.

Letztendlich ist Prof. Szucs überzeugt: OLU kann und sollte nicht verboten werden und ist oft die einzige und beste Wahl für die Patienten. Allerdings muss die Beachtung des Labels als Akt der Sorgfalt und die Nichtbeachtung des Labels als Sorgfaltspflichtverletzung verstanden werden. Denn, wie ein Zitat von Giacomo Girolamo Casanova aus dem 18. Jahrhundert auf den Punkt bringt: «Gift in den Händen eines Weisen ist ein Heilmittel, ein Heilmittel in den Händen des Toren ist Gift.» Dabei gewinnen genetische Biomarker immer mehr an Bedeutung.

Interventionelle Verfahren bei Angst und Depression

«Uns allen geht es darum, einen krankhaften Zustand, der im Gehirn entsteht, positiv zu verändern», startete Prof. Dr. med. Daniela Hubl, Universitäre Psychiatrische Dienste, Bern, ihren Vortrag über interventionelle Verfahren bei Angst und Depression. Dabei folgt der Einsatz interventioneller Psychiatrie keinen strengen Regeln und wird oft als Alternative erwogen, wenn Patienten auf klassische Therapieansätze nicht ansprechen oder wenn Standardtherapien nicht angewandt werden können. Unterdessen gibt es vermehrte Hinweise darauf, dass auch ein frühzeitiger Einsatz hilft.

Prof. Hubl beleuchtete zunächst die Geschichte der elektrischen Hirnstimulation und gab einen Überblick über die am häufigsten angewandten Methoden. Der Einsatz neurostimulatorischer Verfahren beruht zumindest teilweise auf pathophysiologischen Kenntnissen psychiatrischer Erkrankungen und zielt unter anderem auf die Normalisierung von Dysregulationen im Bereich des präfrontalen Kortex ab. Die Identifikation neurobiologischer Prozesse dient dabei der Lokalisation der Zielregionen für eine nichtinvasive Hirnstimulation (NIBS).

Die häufigsten Methoden in der interventionellen Psychiatrie sind Elektrokon-vulsionstherapie (EKT) mit Muskelrelaxation in Kurznarkose, Transkranielle Magnetstimulation (TMS) und transkraniale Gleichstrombehandlung (tDCS). Insbesondere die TMS sowie die EKT werden zur Akutbehandlung von insbesondere behandlungsresistenter Depression eingesetzt. Die verschiedenen TMS-Stimulationsprotokolle, die üblicherweise in Form einer Behandlungsserie inzwischen bis zu mehrmals täglich über längere Zeit angewandt werden, wurden im Vergleich zur Anfangszeit der Methode deutlich optimiert. Erforderten die konventionellen niedrig frequenten Stimulationen eine Behandlungsdauer von bis zu 50 Minuten, führt die moderne Theta-Burst-Stimulation (TBS) den je nach Stimulationsmuster gewünschten inhibierenden oder aktivierenden Effekt bereits nach etwa drei Minuten herbei. Dank solcher Fortschritte wird die TMS-Behandlung zunehmend in Empfehlungen zur Depressionsbehandlung berücksichtigt, so auch in den entstehenden Deutschen Nationalen Versorgungsleitlinien bei therapieresistenter Depression und schwer zu behandelnder Depression.

tDCS kommt eher bei leichter Depression zum Einsatz, wobei die Evidenz für die Wirksamkeit bisher nicht unumstritten ist. So konnte zum Beispiel bisher kein Vorteil der tCDS zusätzlich zur kognitiven Verhaltenstherapie gezeigt werden.

Obgleich die klinische Resonanz zur interventionellen Psychiatrie gemäss Prof. Hubl insgesamt zumeist positiv ausfällt, sind in der Schweiz einige Herausforderungen bezüglich Finanzierung zu meistern. Einige Methoden werden aktuell noch nicht ausreichend von den Krankenkassen unterstützt. Trotzdem werden vor allem EKT und TMS in einigen Schweizer Zentren und spezialisierten Praxen angeboten. Abschliessend wies die Referentin auf das wichtige Engagement der Schweizerischen Gesellschaft für Interven­tionelle Psychiatrie (SGIP) hin, über die Fähigkeitsausweise erlangt werden können. So kann das Angebot der verschiedenen Methoden in Zukunft weiter ausgebaut werden.

red.