Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Entscheidungen in Gesundheitsbelangen werden in der heutigen Zeit weniger paternalistisch und vielmehr selbstbestimmt und autonom durch die Betroffenen selbst getroffen. Die Entscheidungen reduzieren sich nicht auf Therapien und Massnahmen zum Erhalt des Lebens, sondern umfassen auch die Wünsche über die Begleitung am Lebensende. Gesundheitsfachpersonen werden somit auch mit den Sterbewünschen von Betroffenen konfrontiert. In diesem Zusammenhang rückt die Möglichkeit durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) das Leben vorzeitig zu beenden zunehmend in den Fokus der Sterbebegleitung.

Les décisions en matière de santé sont aujourd’hui moins paternalistes et plus autodéterminées et autonomes, étant prises par les personnes concernées elles-mêmes. Les décisions ne se limitent pas aux thérapies et aux mesures visant à préserver la vie, mais incluent également les souhaits concernant le soutien en fin de vie. Les professionnels de la santé sont donc également confrontés aux souhaits de décès des personnes concernées. Dans ce contexte, la possibilité de mettre prématurément fin à la vie par le renoncement volontaire aux aliments et aux liquides (RVAL) devient de plus en plus le point central des soins en phase terminale.

Hintergrund

Neben der Sterbehilfe, die abhängig von gesetzlichen Bestimmungen eines Landes erlaubt oder verboten ist, ist in jüngster Zeit eine weitere Möglichkeit, das Leben vorzeitig zu beenden, in den Mittelpunkt der Sterbebegleitung gerückt – es geht um den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Der FVNF ist eine aktive Handlung einer urteilsfähigen Person, die bewusst das Essen und Trinken einstellt, in der Absicht das Leben vorzeitig zu beenden. Gesundheitsfachpersonen sind daher nicht damit beauftragt, der Person ein tödliches Medikament zur Verfügung zu stellen, sondern die Person vom Beginn des FVNF bis zu ihrem Tod zu begleiten.
Die Schweizerinnen und Schweizer reden offen über das Lebensende, den Umgang mit Sterbewünschen und mit zunehmendem Interesse auch über den FVNF, was sich in öffentlichen Diskussionen, Zeitungsberichten und Fernsehbeiträgen zeigt. Dies bedeutet auch, dass die Wahrscheinlichkeit als Gesundheitsfachperson mit dem Sterbewunsch durch FVNF konfrontiert zu werden, steigt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften reagierte darauf und nahm 2018 den FVNF als weitere Option am Lebensende in die Richtlinie «Umgang mit Sterben und Tod» auf. Diese Richtlinie stellt Gesundheitsfachpersonen eine Orientierungshilfe dar, um mit den Herausforderungen bei der Sterbebegleitung umzugehen. In Bezug auf FVNF werden weniger Anweisungen beschrieben, als vielmehr die kontroverse Diskussion um die Option beschrieben.
Aus nationalen und internationalen Studien geht hervor, dass bereits ein bis zwei Drittel der teilnehmenden Gesundheitsfachpersonen mindestens eine Person während des FVNF begleitet haben. Die geschätzte Häufigkeit der Todesfälle, welche auf den FVNF zurückzuführen sind, liegt in Europa zwischen 0.4%-2.1%, und es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Nach heutigem Kenntnisstand wird der FVNF typischerweise zu Hause (52%) oder in Pflegeheimen (42%) umgesetzt, womit in der Schweiz die medizinische Versorgung in der Regel durch Hausärztinnen und Hausärzten übernommen wird.

Die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte

Der FVNF ist die Entscheidung einer urteilsfähigen Person, welche in der Lage ist zu essen und zu trinken, freiwillig und bewusst darauf zu verzichten, in der Absicht ihr Leben vorzeitig zu beenden. Somit ist der FVNF klar zu unterscheiden vom Abbruch künstlicher Ernährung, von äusseren Einflüssen, die die Nahrungsaufnahme beeinträchtigen (z. B. Schmerzen, Unterernährung), oder psychischen Beeinträchtigungen (z. B. Demenz, Depressionen). Meist entscheiden sich Frauen (62%) und hochaltrige Personen für diesen Weg. Da viele Menschen eine innige Beziehung zu ihrer Hausärztin oder ihren Hausarzt pflegen, sind diese oft in den Entscheidungsprozess eingebunden und sind bereit, die Begleitung zu übernehmen. Dies ist besonders wichtig, da die Betroffenen im Verlauf des FVNF aufgrund zunehmender körperlicher Schwäche auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind, bis hin zur Pflegeabhängigkeit.
Während bislang noch keine schweizerische Leitlinie für den Umgang mit Personen während des FVNF existiert, können sich Hausärztinnen und Hausärzte derzeit an der niederländischen Leitlinie der KNMG Royal Dutch Medical Association und V&VN Dutch Nurses’ Association «Caring for people who consciously choose not to eat and drink so as to hasten the end of life» orientieren, um die notwendigen Schritte in der Vorbereitung und während der Begleitung (z. B. Auftreten eines Delirs) festzulegen. Insbesondere ist es wichtig, vorab die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person zu bestimmen. Hausärztinnen und Hausärzte übernehmen demnach eine entscheidende Rolle in der Begleitung einer sterbewilligen Person während des FVNF. Bislang gibt es keine empirischen Daten über die persönlichen Einstellungen und professionellen Haltungen von Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten unbekannt und Informationen über den FVNF in der Schweiz.

Ziele

Die Ziele dieser Studie waren es, die Häufigkeit des FVNF in der Schweiz zu berechnen und die Haltungen und Einstellungen über den FVNF von Hausärztinnen und Hausärzten zu erfassen.

Methodologie

Wir führten zwischen August 2017 und Juli 2018 eine dreisprachige, nationale Querschnittsstudie durch, in der 1 411 praktizierende Hausärztinnen und Hausärzte zu einer Online-Befragung (Questback) eingeladen wurden. Die Einladung zur Befragung wurde über den Berufsverband mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz an ihre Mitglieder versandt. Aufgrund der schlechten Rücklaufquote von 2.8% – fünf Monate nach Beginn der Studie – wurde die Rekrutierungsstrategie geändert und den Teilnehmenden wurde daraufhin eine Papierbefragung zugestellt (EVASYS). Ein zuvor entwickelter und validierter standardisierter Fragebogen wurde verwendet, um das Vorkommen des FVNF in der Schweiz und die Einstellungen und Haltungen über den FVNF zu erfassen. Um das Vorkommen zu berechnen, wurde alle Teilnehmenden, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben, befragt, wie viele Personen sie im vergangenen Jahr begleitet haben. Dieser Wert wurde anhand aller Todesfälle im Jahr 2017 (66 971 Todesfälle) und bezogen auf die Todesfälle in der Langzeitpflege (40%) und zu Hause (20%) berechnet (40 183 Todesfälle). Die Daten wurden deskriptiv analysiert, anschliessend wurde eine logistische Regression durchgeführt.

Ergebnisse

Beschreibung der Teilnehmenden

Von allen 1 411 eingeschlossenen Teilnehmenden, waren 1 013 für die Studienteilnahme geeignet. Ausgeschlossen wurden Teilnehmende, die kürzlich verstorben sind, bereits im Ruhestand waren oder sich ausschliesslich der Betreuung von Kindern und Jugendlichen widmeten. Insgesamt haben 751 Teilnehmende den Fragebogen beantwortet was zu einer Rücklaufquote von 74% führte.
Die überwiegend männlichen Teilnehmenden (71.7%) sind im Mittel 58 Jahre alt und üben ihre berufliche Tätigkeit durchschnittlich seit 29 Jahren aus.

Relevanz und Vorkommen des FVNF

Die Thematik ist 82% der Teilnehmenden bekannt und die Hälfte fühlt sich mit der Thematik vertraut. Bezogen auf den beruflichen Alltag, empfinden die meisten Teilnehmenden (64%), dass der FVNF eine geringe oder keine relevante Thematik darstellt und auch in Zukunft nicht oder nur wenig an Bedeutung gewinnen wird (58%).
Von allen Teilnehmenden haben insgesamt 320 (43%) bereits eine Person beim FVNF begleitet. Wir haben diese Subgruppe gebeten, weitere Informationen über die Anzahl begleiteter FVNF-Fälle zu geben, worauf 302 bereitwillig geantwortet haben. Es geht daraus hervor, dass im Jahr 2017 insgesamt 458 Personen durch die Teilnehmenden begleitet wurden. Das führt zu einem Vorkommen von 0.7% aller Todesfälle bezogen auf die Schweiz, bzw. 1.1% aller Todesfälle zu Hause oder im Pflegeheim.

Klassifizierung des FVNF aus Sicht der Hausärztinnen und Hausärzte

Der FVNF wird von mehr als der Hälfte als natürlicher Tod mit pflegerischer und medizinischer Begleitung klassifiziert, mit Suizid oder ärztlich assistiertem Suizid wird es nur von 5% der Teilnehmenden gleichgesetzt (Abb. 1).

Hausärztliche Einstellungen über den FVNF in der Schweiz

Im Allgemeinen gaben knapp drei Viertel der Teilnehmenden an, dass der FVNF mit ihrer persönlichen Weltanschauung und Religion vereinbar ist. Die Vereinbarkeit des FVNF mit der eigenen Weltanschauung erhöht sich bei Teilnehmenden mit FVNF-Erfahrung und wenn sie den FVNF als Suizid klassifizieren. Auch übertragen auf die professionelle Haltung geben über die Hälfte der Teilnehmenden an, dass der FVNF mit ihrer beruflichen Ethik im Einklang ist. 18% positionierten sich neutral während knapp ein Viertel der Teilnehmenden empfinden, dass der FVNF ihrer beruflichen Ethik widerspricht. Fast alle Hausärztinnen und Hausärzte können die Entscheidung der sterbewilligen Person in der Regel akzeptieren, also die Entscheidung annehmen und respektieren im Sinne von Rücksichtnahme, also jeder Person das Recht zugestehen, so zu sein wie sie es möchte und worüber einem selbst kein Urteil zusteht. Die meisten Hausärztinnen und Hausärzte sind dazu bereit, eine Person beim FVNF zu begleiten, und etwas mehr als die Hälfte würde Personen mit Sterbewunsch die Option des FVNF als eine unter anderen Möglichkeiten empfehlen. Drei Viertel der Teilnehmenden empfinden, dass durch den FVNF ein würdevolles Sterben ermöglicht wird. Die Begleitung einer Person beim FVNF wird von der Hälfte der Hausärztinnen und Hausärzte als belastend empfunden und knapp ein Viertel äussern moralische Bedenken.

Diskussion

Der FVNF ist unter Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten kein Alltagsthema, jedoch hat knapp die Hälfte bereits eine Person beim FVNF begleitet, womit es als eine relevante Thematik in der Sterbebegleitung bezeichnet werden kann. Das Vorkommen des FVNF in der Schweiz anhand der Teilnehmenden dieser Studie ist vergleichbar mit den Ergebnissen der ein Jahr zuvor befragten Leitungen von Schweizer Langzeitpflegeeinrichtungen (0.7%) und zwei Studien aus den Niederlanden (0.4-2.1%).
Die meisten Teilnehmenden klassifizieren den FVNF – vergleichbar zu Studien aus den USA – als natürlichen Tod, was vermutlich auf die Erfahrungen der Teilnehmenden zurückzuführen ist, die den Sterbeprozess als würdevoll beschreiben. Hausärztinnen und Hausärzte interpretieren im Allgemeinen ein gutes Sterben auch damit, dass das eigene Handeln mit den Wünschen der sterbewilligen Person übereinstimmt, was beim FVNF gegeben ist, da dem FVNF eine ausführliche Beratung vorausgeht, gefolgt von einer engen Begleitung. Knapp ein Drittel klassifiziert den FVNF als Sterben­lassen, welches auch die Haltung in Deutschland präsentiert, und nur ein geringer Anteil als Suizid, wie es in den Niederlanden definiert wird. Diese sehr unterschiedlichen Klassifizierungen sind vielfach in internationaler Literatur diskutiert worden und stets eng mit den juristischen Voraussetzungen des jeweiligen Landes verknüpft. Auch die Teilnehmenden dieser Studie, welche den FVNF als Suizid klassifizierten, sind dem FVNF sehr zugewandt und wären bereit, eine Person auf diesem Weg zu begleiten, wie aus der Regressionsanalyse hervorgeht .
Die Einstellungen der Hausärztinnen und Hausärzten sind bezüglich des FVNF sehr offen und zugewandt. Fast alle würden eine sterbewillige Person beim FVNF begleiten, selbst wenn moralische Bedenken während der Begleitung aufkommen. Bei Teilnehmenden, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben, wird die zugewandte Einstellung zum FVNF nochmals verstärkt.

Prof. Dr. Wilfried Schnepp†
Dr. med. Daniel Büche, MSc
Dr. med. Christian Häuptle
Kantonsspital St.Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen
†Wilfried Schnepp ist am 14.02.2020 verstorben

Einhaltung ethischer Anforderungen: Diese Studie wurde von der zuständigen Ethikkommission geprüft und genehmigt (EKOS 17/083). Die Teilnahme an der Studie war freiwillig und die irreversible Anonymität der Teilnehmenden war jederzeit gewährleistet.
Finanzierung: Die Studie wurde durch das Förderprogramm «Forschung in Palliative Care» durch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die Gottfried und Julia Bangerter-Rhyner-Stiftung und die Stanley Thomas Johnson Stiftung unterstützt. Die Förderer haben keinen Einfluss auf das Studiendesign, Datenerhebung und -analyse sowie der Publikation der Ergebnisse.
Originalstudie und Literatur: Die Literatur ist der Originalstudie zu entnehmen, welche im Journal of International Medical Research veröffentlicht wurde. Stängle, S., Schnepp, W., Büche, D., Häuptle, C., & Fringer, A. (2020). Family physicians’ perspective on voluntary stopping of eating and drinking: a cross-sectional study. Journal of International Medical Research, 48(8), 1–15. https://doi.org/10.1177/0300060520936069

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in «info@onkologie» 05-2020 erschienen Originalartikels.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Sabrina Stängle, MSc, RN

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Department Gesundheit, Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Universität Witten/Herdecke
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Stockumerstr. 12
58453 Witten, Deutschland

sabrina.staengle@zhaw.ch

Prof. Dr. rer. medicAndré Fringer, MScN, RN

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Department Gesundheit, Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Universität Witten/Herdecke
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Stockumerstr. 12
58453 Witten, Deutschland

Die Autorin und Autoren erklären, dass keine potentiellen Interessenskonflikte in Bezug auf die Forschung, Autorenschaft und/oder Veröffentlichung des Artikels bestehen.

  • Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) stellt für Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte zwar kein Alltagsthema, jedoch eine relevante Thematik in der Sterbebegleitung dar.
  • Der FVNF ist auch in der Schweiz kein Einzelfall, welcher in jeder der sieben Grossregionen vorkommt.
  • Meist wird der FVNF als natürlicher Tod oder Sterbenlassen klassifiziert, kaum als suizidaler Akt.
  • Die meisten Hausärztinnen und Hausärzte würden sich dazu bereit erklären, eine sterbewillige Person beim FVNF zu begleiten.

Messages à retenir

  • Le renoncement volontaire aux aliments et aux liquides (RVAL) n’est pas un sujet quotidien pour les médecins généralistes suisses, mais c’est une question pertinente dans les soins en phase terminale.
  • Le RVAL n’est pas non plus un cas isolé en Suisse, qui se produit dans chacune des sept grandes régions.
  • Dans la plupart des cas, le RVAL est classé comme une mort naturelle ou comme le fait de laisser mourir, à peine comme un acte suicidaire.
  • La plupart des médecins généralistes accepteraient d’accompagner une personne prête à mourir par le RVAL

Update Refresher Endokrinologie

Am Update Refresher Innere Medizin in Lausanne vom 12.2. 2021 stand die Endokrinologie, Diabetologie im Mittelpunkt. Spezialisten des Departements für Endokrinologie und Diabetologie des CHUV referierten über Diagnose und Therapie von Schilddrüsenkrankheiten, Erkrankungen der Hypophyse und der Nebennieren, Behandlung des Diabetes Typ 2 und Dia-
gnose und Behandlung diabetischer Komplikationen. Dieser Bericht befasst sich mit den Schilddrüsenerkrankungen.

Erkrankungen der Schilddrüse – Differentialdiagnose und Therapie

Erarbeiten aller Ursachen der Hyper- und Hypothyreose und deren Behandlung, Verdichtung der Informationen aus Nachschlagewerken, Entwicklung einer eigenen Argumentation angesichts eines Verdachts auf Dysthyreose, Kenntnis der üblichen Fallstricke und Umgang mit ihnen, bessere Beurteilung des Patienten, bevor/statt den Rat eines Endokrinologen einzuholen, Überprüfung der neuesten Nachrichten über Behandlungsmöglichkeiten, Untersuchung der Zusammenhänge zwischen COVID-19 und der Schilddrüse − dies waren die Ziele des Referats von Prof. Dr. med. Gerasimos Sykiotis, Service d’ endocrinologie et diabétologie, CHUV.
Der Referent beleuchtete zunächst die Frage des TSH Screenings. Soll bei einem asympto­matischen Erwachsenen ein Screening des TSH gemacht werden?
Die Empfehlungen der United States Prevention Services Task Force sagen nein. Die American Thyroid Association sagt ja, ab 35 Jahren alle 5 Jahre, die American Association of Clinical Endocrinologists sagt ebenfalls ja, bei betagten Personen (ohne definierte Altersschwelle).

Fazit

Das Screening der Schilddrüsenfunktion erfolgt durch TSH.
Die Bestimmung der freien Schilddrüsenhormone sollte bei normalem TSH vermieden werden, denn diese Bestimmungen sind auf gewissen Automaten weniger vertrauenswürdig. Sie sind durch multiple Faktoren beeinflusst und die Referenzwerte sind zweifelhaft.

Einfluss von COVID-19 auf die Schilddrüse: ein Update

Es ist bekannt, dass die Schilddrüse und die Virusinfektion mit den damit verbundenen entzündlich-immunen Reaktionen in einem komplexen Wechselspiel stehen. SARS-CoV-2 nutzt ACE2 in Kombination mit der Transmembranprotease Serin 2 (TMPRSS2) als molekularen Schlüsselkomplex zur Infektion der Wirtszellen. Interessanterweise sind die ACE2- und TMPRSS2-Expressionsniveaus in der Schilddrüse hoch und höher als in der Lunge, was darauf hinweist, dass die Schilddrüse und die gesamte Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse relevante Ziele der Schädigung durch SARS-CoV-2 sein könnten. Konkret gehören zu den COVID-19-bedingten Schilddrüsenstörungen Thyreotoxikose, Hypothyreose sowie das nicht-thyreoidale Krankheitssyndrom (Scappaticcio L et al. Impact of COVID-19 on the thyroid gland: an update Endocr Metab Disord 2020; 25;1-13).
Die persönlichen Schlussfolgerungen zu COVID-19 und Schilddrüsenerkrankungen des Referenten waren: SARS-CoV-2 kann eine virale/postvirale Thyreoiditis verursachen, wie andere Viren auch, möglicherweise mit weniger oder ohne Schmerzen aufgrund einer Lymphopenie. Die Störung der Schilddrüsenfunktion kann unbemerkt bleiben, wenn das Halsweh auf eine COVID-19-Infektion zurückgeführt wird. Es gibt keine weiteren gut etablierten Assoziationen zwischen COVID-19 und Schilddrüsenerkrankungen. Mehrere Studien sind von unzureichender Qualität. Die Patienten sind Mehrfachbelastungen ausgesetzt (Kortikosteroide, Heparine, jodhaltige Kontrastmittel, akute Erkrankungen usw.) Es gibt keine Epidemien von Hyper- oder Hypothyreose im Zusammenhang mit SARS CoV-2 in der Westschweiz, weder stationär noch ambulant.

Die Überlegungen des Spezialisten bei gestörten Schilddrüsentests

Hat der Patient Symptome und/oder Zeichen eine Dysthyreose? Hat der Patient einen Kropf? Sind Hypothalamus und Hypophyse intakt? Kann man dem Labor vertrauen? Hat der Patient eine akute Erkrankung? Erholt sich der Patient gerade von einer akuten Erkrankung? Welches sind die Medikamente, die der Patient einnimmt? War der Patient einer pharmakologischen Dosis von Jod ausgesetzt?

Klinische Manifestationen – Pathogenese

Einerseits gibt es kardiometabolische Manifestationen, deren Hauptmechanismus eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Katecholaminen ist. Dies führt zur Stimulation des autonomen sympathischen Systems und einem katabolen Zustand.
Andrerseits führen hormonelle Manifestationen zu erhöhter Produktion von hepatischen Vektorproteinen, was zu einer Verminderung der freien (bioaktiven) Hormone führt.
Zudem kommt es zu einer Erhöhung von SHBG (Sexhormon bindendes Globulin), was mit einer Abnahme des freien Estradiols und einem verminderten Peak des LH und infolgedessen einer Anovulation einhergeht.
Ursachenspezifische Manifestationen sind das TSH sezernierende hypophysäre Adenom mit Folgen wie Kopfschmerzen, Hyperprolaktinämie, hormonelle Mängel der anderen Hypophysennebenachsen, Morbus Basedow, Orbitopathie (exophthalmische Inflammation, Ophthalmoplegie, usw.) und Dermatopathie.
Teprotumumab, ein monoklonarer Antikörper, der an den IGF-1 Rezeptor bindet, führt bei Graves’ Disease und aktiver Augenerkrankung zu einer Reduktion des Exophthalmus um ≥2mm.

Subakute Thyeroiditis nach De Quervain: Inflammation der Drüse mit Zerstörung der Follikel, Freisetzung von Hormonen, initiale Hyperthyreose. Hauptsymptome sind Apathie, Depression, Lethargie, Kälteintoleranz, Appetitverminderung, Konstipation, Muskelschwäche, Muskelschmerzen, Haarausfall, spröde Nägel und Karpaltunnelsyndrom, bei Frauen Oligo-Amenorrhoe oder Menorrhagie und verminderte Fruchtbarkeit.
Bei Dysthyreose sollten die Fragen bezüglich Krankheitsurlaub, Fahrgenehmigung, Schwangerschaft / Wunsch nach Schwangerschaft und Depression nicht vergessen werden.

Probleme der Symptomatologie

Die Probleme mit der Symptomatologie sind Mangel an Sensibilität bei subklinischer Hyper-und Hypothyreose, TSH ausserhalb der Norm mit normalen T4 und T3, keine oder wenig Symptome.
Apathische Hyperthyreose: Mangel an Symptomen trotz einer offenen Hyperthyreose, häufig bei betagten Personen. Die Symptomatologie ist wenig spezifisch. Die Manifestationen sind Depression, Angstzustände, Übergewicht. Es existiert eine positive Korrelation zwischen TSH und BMI, Leptin →↑TRH→↑TSH, Gewichtsverlust kann diskret erhöhtes TSH normalisieren.

Wozu dient dann die Klinik?

Die Symptomatologie und die klinische Untersuchung werden verwendet zur Bestätigung oder zum Ausschluss eines Verdachts, was durch eine Hormonuntersuchung bestätigt wird.
Bei Unstimmigkeiten zwischen Klinik und Labor sind eine Reihe von Fällen zu beachten. Es gibt zwei Typen von Schilddrüsenproblemen: Funktionsstörungen: Euthyreose, Hyperthyreose. Hypothyreose und Störungen der Anatomie: normale (oder nicht palpable) Schilddrüsengrösse, diffuse Struma, knotige Struma.
Funktionsstörungen sind nicht gleich Störungen der Anatomie. Beispiele sind: ein M. Basedow kann sich als Hyperthyreose präsentieren mit diffuser Struma, mit knotiger Struma oder ohne Struma. Ein Schilddrüsenknoten kann sich mit einer Hyperthyreose (toxischer Knoten), einer Euthyreose (nicht funktioneller Knoten) oder einer Hypothyreose (koexistierende Hashimoto Thyreoiditis) präsentieren.

Was bringt es denn, die Schilddrüse zu untersuchen?

Erkennen von Knoten, die eine Zytopunktur erfordern. Zur Orientierung über die wahrscheinliche Ursache der Dysthyreose, sofern das Labor eine Dysthyreose bestätigt. Kenntnis wie man die Schilddrüse palpiert unter (https//www.youtube.com/watch?v=Ed2WE7heOdU). Es muss dabei aufgepasst werden, dass man keine Palpationsthyreose verursacht.
Es gibt zwei Kategorien von Ursachen für Schilddrüsenfunktionsstörungen, abhängig von der Aktivität der Schilddrüse. Die hormonelle Hyperproduktion, die zu einer Steigerung der Schilddrüsenaktivität führt und die Abnahme von Schilddrüsenhormonen, die zu einer verminderten Aktivität führt.

Ursachen einer Hypothyreose

Mögliche Ursachen sind Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, (Hashimoto Krankheit), Nach Schilddrüsenablation, (totale Thyreoidektomie, Lobektomie (20% Hypothyreoserisiko, radiometabolische Ablation wegen M. Basedow), ungenügende Schilddrüsenhormon-Substitution oder abgebrochene Substitution (nach Thyreoiditis, medikamentös, kongenitaler, post-operativer Mangel an TSH/TRH, nach Hypophysenapoplex, Schilddrüsenhormonresistenzsyndrom, TSH-Resistenzsyndrom, kongenitale Hypothyreose, Jodmangel).

Sind der Hypothalamus und die Hypophyse intakt?

Die Hypophysen-Schilddrüsen-Achse ist ein mehrgliedriger Regelkreis zwischen dem Hypothalamus, der Hypophyse und der Schilddrüse, der auch als Thyreoidea-Achse bezeichnet wird. Er reguliert die Konzentration der Schilddrüsenhormone im Blutplasma. Wenn das freie T4 um einen Faktor 2 ändert, ändert TSH um einen Faktor 100!

Übliche Überlegungen zur Diagnose

Vorausgesetzt, dass das Steuerungssystem intakt ist.
Offene Hyperthyreose: TSH erniedrigt, T4 und/oder T3↑
Subklinische Hyperthyreose: TSH erniedrigt, T4 und T3 normal.
Offene Hypothyreose: TSH↑, T4 erniedrigt.

Amiodaron und Schilddrüse

Mehrere pathogene Mechanismen sind möglich. Dazu gehören die Inhibition der Umwandlung von T4 in T3, die Inhibition der Schilddrüsenhormonrezeptoren, direkte toxische Wirkung auf die Schilddrüse, Jodüberlastung (eine 200mg Tablette enthält 3mg Jod. Der tägliche Bedarf ist 150µg).
Dysthyreose unter Amiodaron: Die Empfehlungen sind Messung von TSH alle 3-4 Monate, nach Absetzen Status während mindestens 12 Monaten verfolgen.
Hypothyreose bei weniger als 20% der Patienten, leicht behandelbar (Substitution, mit Amiodaron weiterfahren).
Hyperthyreose (medizinischer Notfall!) bei weniger als 10-12% der Patienten, diagnostische und therapeutische Herausforderung. Diese Situation ist mit erhöhter Mortalität assoziiert.
Bei allen Hyperthyreosen unter Amiodaron sollte die Endokrinologie schnell konsultiert werden!

Symptomatische Behandlung der Hyperthyreose

Betabocker: Propanolol mehrmals pro Tag, nicht kardioselektiv Atenolol, Metoprolol: 1x/Tag, kardioselektiv.
Ziel: Normalisierung der Herzfrequenz (<90/min). Diese Medikamente sind auch wirksam gegen Zittern, Angst und Hitzeintoleranz. Der Einsatz empfiehlt sich, weil synthetische Anti-Schilddrüsen-Medikamente nicht sofort wirksam sind. Sie inhibieren die Jodinierung des Thyreoglobulins, aber nicht die Sezernierung der bereits produzierten Hormone.

Behandlung der De Quervain Thyreoiditis

Keine synthetischen Anti-Schilddrüsen-Medikamente (Freisetzung vorgefertigter Hormone ohne aktive Hypersekretion), Symptomatische Behandlung der Hyperthyreose mit Betablockern, symptomatische Behandlung der Inflammation mit NSAR oder Kortikosteroiden.

Therapeutische Optionen bei M. Basedow

Thyreostatika: seit über 50 Jahren angewandt, Wirkung nach einigen Wochen, verschwindet einige Tage nach Absetzen des Medikaments. Iod-131: wird seit über 70 Jahren angewandt. Progressive Wirkung im Allgemeinen nach 3-10 Wochen.
Chirurgie: seit über 100 Jahren angewandt. Die Wirkung entsteht unmittelbar (nach wenigen Tagen).

Adenome und toxische Struma – therapeutische Strategien

Synthetische Antithyreostatika werden initial angewandt zur Normalisierung der Funktion. Die lebenslängliche Behandlung sollte vermieden werden, ausser bei betagten Menschen. Die prinzipiellen Risiken sind Agranulozytose, Teratogenese.
Schilddrüsenablation: radioaktives Jod, Chirurgie (Adenom → Lobektomie, multinoduläre Struma → Lobektomie oder totale Thyreoidektomie.
Radiofrequenz: ambulante Behandlung (interventionelle Radiologie).

Behandlung der Hypothyreose

In der Schweiz existieren 3 Produkte für Levothyroxin (T4):
Euthyrox® (Tabletten), Eltroxin® (Tabletten), Tirosint®- Sol (flüssige Form von Levothyroxin für folgende Zustände: Hypothyreose und TSH-Unterdrückung bei der Behandlung von Schilddrüsenkrebs.
Welche Dosierung? Dosis für komplette oder partielle Substitution je nach Fall. Komplette Substitution (1.6mg/kg, z.B. nach Thyreoidektomie, partielle Dosis bei subklinischer Hypothyreose, nach Thyreoiditis, etc.
Welcher Zielwert? Bei primärer Hypothyreose: TSH normalisieren.
Zentrale Hypothyreose: Freies T4 normalisieren. Wann Neudosierung? 6-8 Wochen nach Dosisanpassung.
Labor nüchtern oder nicht? Keine Notwenigkeit für Nüchternheit. Bei Bestimmung von freiem T4 Substitution nicht am Morgen vor der Blutentnahme.
Was machen im Falle von Vergessen? Doppelte Dosis am nächsten Tag.

Quelle: FOMF Update Refresher Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetes, Lausanne 12.02. 2021.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Impfung gegen Zeckenenzephalitis

Die durch Zecken übertragene Enzephalitis (FSME) nimmt in Europa jährlich zu. Ziel einer kürzlich erschienenen Arbeit war es, die Immunogenität und Sicherheit der FSME-Impfung auf der Basis von Daten aus den Jahren 2009-2019 zu untersuchen.

Die in 27 europäischen Ländern endemische Zeckenenzephalitis (FSME, Frühsommermeningoenzephalitis) mit jährlich etwa 5 000 -10 000 gemeldeten Fällen ist eine der wichtigsten Ursachen für virale Enzephalitis und die häufigste Ursache für virale Meningitis in Europa. Der geographische Schwerpunkt der FSME liegt in Mittel- und Osteuropa, den baltischen Staaten, Russland und Japan, wobei sowohl eine Ausweitung der Risikogebiete als auch eine Zunahme der Inzidenz zu beobachten ist. In der Schweiz hat die Inzidenz von FSME in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Im Jahr 2018 wurden mehr als 350 Fälle registriert (1).
FSME wird durch das humanpathogene FSME-Virus verursacht, das zur Familie der Flaviviridae gehört. Drei Subtypen, basierend auf der geographischen Herkunft und den antigenen Eigenschaften, sind für den Menschen von Bedeutung: Fernöstlich, sibirisch und europäisch (2, 3). Die meisten europäischen FSME-Fälle werden durch die Zecke Ixodes ricinus übertragen, wobei mehr als 100 Arten von Wild- und Haustieren als Wirtsreservoir wirken (4, 5, 6). Zusätzlich treten in bestimmten Gebieten FSME-Fälle der sogenannten alimentären Zeckenenzephalitis, übertragen durch das Einnehmen von nicht pasteurisierter Milch oder Milchprodukten von infizierten Tieren, sowie FSME-Infektionen, die durch die Dermacentor-reticulatus-Zecken übertragen wurden.
In einer systematischen bei PROSPERO registrierten Übersichtsarbeit wurden von insgesamt 2464 Datensätzen aus CINAHI, Cochrane, Embase, PubMed und Scopus Original-Forschungspublikationen auf Immunogenität und Sicherheit ausgewertet (7).

Immunogenität

Siebenunddreissig untersuchte Originalartikel berichteten über Daten zur Immunogenität. Bei vollständig geimpften Personen wurde unabhängig von der Art der Impfung oder von verzögerten Auffrischungsintervallen eine ausreichende Immunantwort festgestellt (8-11). Darüber hinaus zeigte der in Europa zugelassene Impfstoff FSME-Immun® auch eine Kreuzimmunität gegen fernöstliche und sibirische FSMEV-Stamm-Subtypen (2). Bei Erwachsenen mit Allergien wurden im Vergleich zu Geimpften ohne Allergien höhere Antikörperspiegel nach erfolgter FSME-Impfung gefunden (12). Hohe Spiegel an schützenden Antikörpern garantieren allerdings keine FSME-Prävention (13). Die Zahl der Impfversager war gering und ging mit einer schwereren Erkrankung einher, die häufiger bei älteren Menschen auftrat (14-16).
Die älteren Menschen haben niedrigere Antikörperspiegel mit einer abnehmenden Immunantwort, eine Entwicklung, die bei Personen im Alter von über 60 Jahren und sogar bei Personen im Alter von über 50 Jahren beginnt (4, 12, 14). Die meisten untersuchten Impfstoffversagen traten bei Personen im Alter von 50 oder mehr Jahren auf, aber auch bei jüngeren Personen können Versager auftreten (15, 17). Darüber hinaus wurde bei Personen ab 60 Jahren, die eine zusätzliche Priming-Dosis erhalten hatten, kein FSME-Impfversagen berichtet (16).
Bei Kindern im Alter von 1-15 Jahren führen die Impfstoffformeln von Encepur® und FSME-Immun® zu einer hohen Immunogenität von 95,6 % bis zu 100 % und einer hohen Langzeitseropositivität bis zu 5 Jahren nach der Erstimpfung (16, 20, 21). Es scheint keine altersbedingten Unterschiede in der Avidität und funktionellen Aktivität der durch die Impfung induzierten Antikörper zu geben (2, 22).

Booster-Intervall

Bei Kindern wurde eine Langzeit-Seropositivität für die Impfstoffe Encepur® und FSME-Immun® Junior bis zu 5 Jahren bzw. 10 Jahren nach der Primärimpfung berichtet (19, 22). Bei Erwachsenen führten sowohl die Primärimpfung mit Encepur® als auch diejenige mit FSME-Immun® zu einer hohen Langzeit-Seropositivität (77,3%-94%) bei zehnjährigem Follow-up und 91,8% bei einem Median von 15 Jahren Follow-up (8, 12, 25). Altersgruppen über 60 Jahre zeigten jedoch einen schnelleren Rückgang der Seropositivitätswerte (18, 22, 25).

Austauschbarkeit von FSME-Impfstoffen

Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern können die FSME-Impfstoffe für die Erst- und Auffrischungsimpfung weitgehend ausgetauscht werden (22, 23, 26, 29). Eine Studie zeigte jedoch eine schnellere Abnahme der Seropositivität bei Kindern, die ein gemischtes Primärimpfschema erhielten (zwei Dosen FSME-Immun® Junior gefolgt von einer Dosis Encepur® Kinder) (19).

Sicherheit

Siebzehn Originalartikel berichteten über Sicherheitsdaten. Lokale Reaktionen/leichte unerwünschte Ereignisse wie Schmerzen an der Injektionsstelle, Empfindlichkeit oder lokale Schwellungen wurden bei 24,8% (4.3-54%) der Studienteilnehmer beschrieben (10, 22, 23, 25-31). Systemische Reaktionen wurden bei etwa 30% (0,6-45,9%) der Impflinge berichtet. Fieber traten bei 3,4% (0-9,7%) der Geimpften auf. Systemische Reaktionen waren nach der 2. Dosis im Vergleich zur Verabreichung der ersten Dosis geringer, wie berichtet wurde (28). Höhere Raten von lokalen und systemischen Reaktionen traten bei 7- bis 11-jährigen Kindern im Vergleich zu den Altersgruppen 1-2 und 3-6 Jahre auf (26). Bei Erwachsenen wurde kein Altersmuster der unerwünschten Ereignisse gefunden. Weiterhin führte der Applikationsweg zu Unterschieden in der Nebenwirkungsmeldung: In der Gruppe mit intramuskulär verabreichter Impfung wurde eine signifikant niedrigere Rate an lokalen Nebenwirkungen wie Rötung, Schwellung und lokale Schmerzen berichtet als in der Gruppe mit subkutaner Injektion. Systemische Reaktionen traten in der Gruppe mit intra-muskulärer Verabreichung vermehrt auf, dies war jedoch statistisch nicht signifikant (27).
Anhand der Daten war es nicht möglich, geschlechtsspezifische Muster von unerwünschten Ereignissen zu identifizieren. Allerdings zeigte eine Arbeit, dass die Rate unerwünschter Ereignisse bei gesunden Frauen und bei Frauen mit Allergien ohne spezifische Immuntherapie im Vergleich zu gesunden Männern und Männern mit Allergien ohne spezifische Immuntherapie höher war (30).
Die Durchimpfungsrate der FSME-Impfung wird in der Schweiz nicht aktiv überwacht und daher ist es nicht möglich, die tatsächliche Durchimpfungsrate, die Menge der verwendeten Impfstoffe oder die Feldwirksamkeit der FSME-Impfstoffe in der Schweizer Bevölkerung zu beschreiben. Um die Durchimpfungsrate zu erhöhen, wurden in der Schweiz 2015 die Regeln für die Verfügbarkeit von Impfungen angepasst: Bestimmte Kantone erlaubten Gemeindeapothekern mit Impfzertifikat die rezeptfreie Verabreichung bestimmter Impfstoffe, wie z. B. FSME-Impfstoff (32). Um die Durchimpfung mit FSME-Impfstoffen auszuweiten, empfiehlt die Schweizer Armee seit 2007 eine freiwillige FSME-Impfung bei jungen Rekruten (33). Da der Dienst nur für Schweizer Männer obligatorisch ist, muss ein anderer Weg gefunden werden, um auch Schweizerinnen und Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft zu erreichen.

Schlussfolgerungen

Die FSME-Impfung ist generell sicher mit seltenen schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen. Die Impfpläne sollten, wenn möglich, die gleiche Impfstoffmarke (nicht gemischt) verwenden. FSME-Impfstoffe sind immunogen in Bezug auf die Antikörperantwort, jedoch weniger, wenn die Erstimpfung nach dem 50. Altersjahr erfolgt.

Quelle: Rampa JE et al. Immunogenicity and safety of the tick-borne encephalitis vaccination (2009–2019): A systematic review. Travel Medicine and Infectious Disease2020 ; 37 : 101876.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

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Pfizer Forschungspreis 2021

Auch dieses Jahr wurden wiederum hervorragende Arbeiten von jungen Schweizer Forschern auf den Gebieten Kardiovaskuläre Medizin, Urologie und Nephrologie, Infektionskrankheiten, Rheumatologie und Immunologie, Neurologische Wissenschaften und Erkrankungen des Nervensystemes, Onkologie und Pädiatrie vergeben.
Die Eröffnungsansprache hielt Frau Sabine Bruckner, Country Manager Pfizer. Durch den Abend führte Dr. med. Rahel Troxler, Präsidentin der Stiftung Pfizer Forschungspreis und Country Medical Director Switzerland.

Infektionskrankheiten, Rheumatologie und Immunologie

Darmbakterien können Myokarditis begünstigen

Myokarditis ist eine Herzerkrankung, die bei einem Teil der Betroffenen eine schwere Kardiomyopathie mit Herzinsuffizienz verursachen kann. Das Immunsystem wird während der Myokarditis aktiviert und ein spezifisches Protein wird hauptsächlich von zwei Typen von T-Helferzellen, TH1 und TH17, angegriffen. Über die Mechanismen, die die schädigende Wirkung der herzspezifischen T-Zellen regulieren, gibt es jedoch noch keine ausreichenden Informationen.


Cristina Gil-Cruz, Christian Perez-Shibayama und Veronika Nindl wollten diesen Mechanismen auf den Grund gehen. Gibt es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen dem Mikrobiom und dem Auftreten von entzündlichen Herzerkrankungen?
Zu diesem Zweck untersuchte die St. Galler Arbeitsgruppe Mäuse, die eine spontane Autoimmun-Myokarditis entwickeln, und brachte sie entweder in einer normalen oder einer keimfreien Umgebung unter. Durch die genetische Sequenzierung des Maus-Mikrobioms und weitere Untersuchungen mit bioinformatischen Methoden wurde deutlich, dass die Bakterienspezies Bacterioides vor allem für Eiweissmoleküle verantwortlich ist, die eine Herzerkrankung fördern können. Umgekehrt reduzierte eine Antibiotikabehandlung gegen Bacterioides die Aktivität der kardiotoxischen T-Zellen in diesen genetisch anfälligen Mäusen und verhinderte so den entzündlichen Herztod. Anschliessend untersuchten die Wissenschaftler die T-Zell-Antworten gegen diese mikrobiellen und herzspezifischen Peptide bei Myokarditis-Patienten: Dabei zeigte sich, dass Patienten mit bestimmten Genvarianten besonders stark auf solche bakteriellen Proteine reagieren und damit potenziell anfälliger für die Entwicklung einer Myokarditis sind.
Diese von Cristina Gil-Cruz, Christian Perez-Shibayama und Veronika Nindl gewonnenen Erkenntnisse zur Hemmung kardio-toxischer T-Zellen durch Veränderung des Mikrobioms könnten helfen, einen therapeutischen Ansatz zur Behandlung der entzündlichen Kardiomyopathie zu finden.

Microbiota-derived peptide mimics drive lethal inflammatory cardiomyopathy. Cristina Gil-Cruz, Christian Perez-Shibayama, Angelina De Martin, Francesca Ronchi, Katrien van der Borght, Rebekka Niederer, Lucas Onder, Mechthild Lütge, Mario Novkovic, Veronika Nindl, Gustavo Ramos, Markus Arnoldini, Emma M. C. Slack, Valérie Boivin-Jahns, Roland Jahns, Madeleine Wyss, Catherine Mooser, Bart N. Lambrecht, Micha T. Maeder, Hans Rickli, Lukas Flatz, Urs Eriksson, Markus B. Geuking, Kathy D. McCoy, Burkhard Ludewig. Science 2019; 366 (6467):881-886.

Neurologische Wissenschaften und Erkrankungen des Nervensystems

Einblick in die dunklen Bereiche der Netzhaut mit Nahinfrarotlicht

Die Degeneration der Photorezeptoren im Auge, zum Beispiel bei der altersbedingten Makuladegeneration, ist die häufigste Ursache für Erblindung in den Industrieländern.

Das menschliche Auge kann ein Wellenlängenspektrum zwischen 390 und 700 nm wahrnehmen. Im Gegensatz dazu stimuliert nahes Infrarotlicht mit einem Spektrum von über 900 nm die menschlichen Photorezeptoren normalerweise nicht.
Die Forschergruppe um Dasha Nelidova wollte untersuchen, ob die Erkennung von Nahinfrarotlicht durch die Photorezeptoren die Sehfunktion ergänzen oder sogar wiederherstellen könnte. Bislang gab es jedoch keine Technologie, die eine solche Empfindlichkeit in einer blinden Netzhaut ermöglicht. Daher entwickelten sie entsprechende hochempfindliche gentechnische Verfahren. Mit diesen Techniken gelang es den Basler Wissenschaftlern, bestimmte Ionenkanäle, TRP-Kanäle genannt, mit Infrarotsensoren auszustatten, um in den Photorezeptoren von blinden Mäusen eine Nahinfrarot-Lichtempfindlichkeit zu induzieren.
Die Stimulation mit Nahinfrarotlicht führte zu Messungen der erhöhten Aktivität in den Photorezeptoren und ihren nachgeschalteten Nervenbahnen: Das Verhalten der Mäuse, die zuvor aufgrund einer genetisch bedingten Netzhautdegeneration erblindet waren, konnte durch Nahinfrarotlicht beeinflusst werden. Auch durch unterschiedliche Wellenlängen und Temperaturen, unterschiedlich lange Nanostäbchen und winzige, von den Forschern entwickelte Kanülen konnten die neuronalen Antworten verändert werden. Schliesslich gelang es der Forschergruppe auch, verschiedene Zelltypen in der blinden Netzhaut von Verstorbenen durch TRP-Kanal-Stimulation mit Nahinfrarotlicht zu aktivieren.
Diese völlig neuartige Technik lieferte nicht nur die grundsätzliche Bestätigung, dass die Sehfunktion durch Nahinfrarotlicht bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt werden kann, sondern dient auch als Modell für zahlreiche weitere Ansätze zur Untersuchung der menschlichen Netzhaut.

Restoring light sensitivity using tunable near-infrared sensors. Dasha Nelidova, Rei K. Morikawa, Cameron S. Cowan, Zoltan Raics, David Goldblum, Hendrik Scholl, Tamas Szikra, Arnold Szabo, Daniel Hillier, Botond Roska. Science 2020; 368 (6495):1108-1113.

Zerebrale Aneurysmen: Haptoglobin verhindert Hämoglobin-induzierte Vasokonstriktion

Zerebrale Aneurysmen: Haptoglobin verhindert Hämoglobin-induzierte Vasokonstriktion Aneurysmen sind krankhafte Ausbuchtungen in den Wänden von Blutgefässen. Wenn ein solches Aneurysma in einer Hirnarterie platzt, tritt das Blut in den Subarachnoidalraum ein, der mit Liquor gefüllt ist. Mehrere Tage nach der Blutung kommt es zu gefährlichen Verengungen in den Hirnarterien, die zu schweren Folgeschäden im Gehirn führen können. Bislang gibt es keine Möglichkeiten, solche Spätschäden zu verhindern.
Grundlage für die Forschung der Gruppe um Michael Hugelshofer und Raphael Buzzi war die Beobachtung, dass die Erythrozyten, die roten Blutkörperchen, in den Tagen nach einer Blutung abgebaut werden und langsam Hämoglobin, den roten Blutfarbstoff, in den Subarachnoidalraum abgeben. Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen diesem zellfreien Hämoglobin im Liquorraum und dem Auftreten der neurologischen Folgeschäden? Welche Auswirkungen hat das Hämoglobin und gibt es hier eine Möglichkeit zur therapeutischen Intervention?
Um diesen Fragen systematisch nachzugehen, analysierten die Zürcher Wissenschaftler die Zusammensetzung von Liquorproben von Patienten, die eine Hirnblutung erlitten hatten und untersuchten im Tiermodell die Mechanismen der Hämoglobin-Toxizität und mögliche Therapieansätze.
Michael Hugelshofer und Raphael Buzzi konnten zeigen, dass das freie Hämoglobin im Liquor unter anderem die Verengung der Hirnblutgefässe bewirkt. Als besonders kritisch erwies sich das schnelle Eindringen des Blutfarbstoffs aus dem Liquor in die Gefässwände und tief ins Gehirn. Freies Hämoglobin nach einer Blutung könnte also viel weitreichendere schädliche Auswirkungen haben als bisher angenommen. Wurde Hämoglobin jedoch im Liquor zu einem Komplex mit dem Blutprotein Haptoglobin gebunden, verhinderte dies das Eindringen in die Gefässwände und in das Hirngewebe, so dass im Tiermodell keine Gefässverengungen auftraten.
Die beiden Preisträger identifizierten freies Hämoglobin im Liquor als treibenden Faktor für die verzögerte Schädigung des Gehirns. Die Entdeckung der zugrunde liegenden Mechanismen wird die weitere Erforschung möglicher Behandlungsoptionen erleichtern. Die Bildung des Hämoglobin-Haptoglobin-Komplexes könnte dabei eine wichtige Rolle spielen.

Haptoglobin administration into the subarachnoid space prevents hemoglobin-induced cerebral vasospasm. Michael Hugelshofer*, Raphael M. Buzzi*, Christian A. Schaer, Henning Richter, Kevin Akeret, Vania Anagnostakou, Leila Mahmoudi, Raphael Vaccani, Florence Vallelian, Jeremy W. Deuel, Peter W. Kronen, Zsolt Kulcsar, Luca Regli, Jin Hyen Baek, Ivan S. Pires, Andre F. Palmer, Matthias Dennler, Rok Humar, Paul W. Buehler, Patrick R. Kircher, Emanuela Keller, and Dominik J. Schaer. J Clin Invest 2019 Dec 2;129(12):5219-5235.

* Diese Autoren haben gleichermassen zu dieser Arbeit beigetragen.

Pädiatrie

Einfluss des Immunsystems auf die Produktion von roten Blutkörperchen

Seltene Krankheiten, die bereits im Kindesalter auftreten, haben oft genetische Ursachen. Auch die STAT3 GOF-Krankheit ist eine seltene angeborene Immunschwäche. STAT3 stellt das mutierte Gen dar und GOF, oder «gain of function», die Überaktivität des Gens. Dies hat Folgen: Durch eine überschiessende Immunreaktion kommt es zu einer starken Verminderung der Blutzellen, zu Schwellungen des Lymphgewebes, einschliesslich der Milz, oder zu entzündlichen Magen-Darm-Erkrankungen. Erhöhte Infektanfälligkeit und Veränderungen des Lungengewebes, der Schilddrüse oder der Haut sind ebenso möglich wie ein Diabetes mellitus Typ 1 oder eine Wachstumsstörung bei diesen Kindern.
Ein Kernmerkmal der Erkrankung ist der Mangel an roten Blutkörperchen. Deshalb wollte das Forscherteam um Andrea Mauracher untersuchen, was bei der Reifung und Entwicklung der roten Blutkörperchen im Blut und Knochenmark der betroffenen Kinder schief läuft. Mit Zellkulturexperimenten und molekularbiologischen Analysen sollten die Ursachen der gestörten Reifung aufgedeckt werden.
Durch ihre Forschung konnte die Zürcher Immunologin zum einen bestätigen, dass die Überaktivierung von STAT3 bei den kleinen Patienten Signalwege hemmt, die für die Reifung der roten Blutkörperchen zentral sind. Andererseits werden Entzündungsprozesse gefördert, die die Reifung dieser Zellen zusätzlich verhindern. Darüber hinaus bindet und aktiviert das mutierte STAT3 auch andere Proteine, die entzündliche Wirkungen haben. Auf Basis dieser Erkenntnisse konnte in der Folge die Behandlung einer Patientin mit erhöhter STAT3-Aktivität durch eine gezielte Therapie verbessert werden.
Diese Ergebnisse zeigen einen neuen Mechanismus für die Entstehung der Anämie auf. Sie können nicht nur die Behandlung von Patienten beeinflussen, sondern möglicherweise auch die Entstehung von Anämie bei anderen chronischen Krankheiten besser erklären.

Erythropoiesis defect observed in STAT3 GOF patients with severe anemia. Andrea A. Mauracher, Julia J. M. Eekels, Janine Woytschak, Audrey van Drogen, Alessandra Bosch, Seraina Prader, Matthias Felber, Maximillian Heeg, Lennart Opitz, Johannes Trück, Silke Schroeder, Eva Adank, Adam Klocperk, Eugenia Haralambieva, Dieter Zimmermann, Sofia Tantou, Kosmas Kotsonis, Aikaterini Stergiou, Maria G. Kanariou, Stephan Ehl, Onur Boyman, Anna Sediva, Raffaele Renella, Markus Schmugge, Stefano Vavassori, Jana Pachlopnik Schmid. J Allergy Clin Immunol. 2020 Apr;145(4):1297-1301.

39.0 °C als neue Fiebergrenze für Kinder mit einer Krebserkrankung

Während einer Chemotherapie entwickeln Krebspatienten nicht selten die Komplikation von Fieber in Kombination mit einer Verminderung der weissen Blutkörperchen. Diese «febrile Neutropenie» (FN) muss behandelt werden, wenn sie zu hoch wird. Auch krebskranke Kinder und Jugendliche sind während einer Chemotherapie häufig von einer febrilen Neutropenie betroffen. Glücklicherweise sterben dank der Notfallbehandlung inzwischen weniger als ein Prozent von ihnen. Eine Schwierigkeit besteht darin, eine Fiebergrenze festzulegen, um zu bestimmen, wann eine antibiotische Therapie und ein Krankenhausaufenthalt dringend erforderlich sind. Das Forscherteam um Christa Koenig und Cécile Adam wollte untersuchen, ob eine höhere Fiebergrenze von 39,0°C weniger sicher ist als die untere Grenze von 38,5°C oder ob mehr ge-sundheitliche Probleme zu erwarten sind. In die praxisorientierte, randomisierte und kontrollierte Studie wurden 269 Kinder und Jugendliche an 6 Schweizer pädiatrischen Onkologiezentren eingeschlossen und 360 Fälle von febriler Neutropenie untersucht. Die Fiebergrenze, die bei den Patienten galt, wurde monatlich zufällig geändert.
Die Ergebnisse zeigten, dass für die meisten Kinder und Jugendlichen mit Krebs eine höhere Fiebergrenze von 39,0 °C nicht weniger sicher ist als eine niedrigere Fiebergrenze von 38,5 °C. Ausserdem wurden bei der höheren Grenze etwa ein Viertel weniger Fälle von febriler Neutropenie diagnostiziert, was weniger Krankenhausaufenthalte und weniger Behandlungen zur Folge hatte.
Die Ergebnisse führten zu der Empfehlung von 39,0 °C als Standard-Fiebergrenze für die meisten krebskranken Kinder, die sich einer Chemotherapie unterziehen, in der Schweiz und vergleichbaren Ländern. Dies wird sich nicht nur auf das individuelle Patientenmanagement auswirken, sondern auch weitere wichtige gesundheitsökonomische Konsequenzen haben.

39.0 °C versus 38.5 °C ear temperature as fever limit in children with neutropenia undergoing chemotherapy for cancer: a multicentre, cluster-randomised, multiple-crossover, non-inferiority trial. Christa Koenig, Nicole Bodmer, Philipp K A Agyeman, Felix Niggli, Cécile Adam, Marc Ansari, Bernhard Eisenreich, Nanette Keller, Kurt Leibundgut, David Nadal, Jochen Roessler, Katrin Scheinemann, Arne Simon, Oliver Teuffel, Nicolas X von der Weid, Michael Zeller, Karin Zimmermann, Roland A Ammann. Lancet Child Adolesc Health. 2020 Jul; 4(7):495-502.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Neuer Therapieansatz bei bakterieller Besiedelung des Dünndarms ?

Die bakterielle Besiedelung des Dünndarms (SIBO) betrifft in Folge von Motilitätsstörungen bis zu 60% der Patienten mit einer systemischen Sklerose (SSc). Die Standardtherapie erfolgt mit Antibiotika, jedoch steht die Frage im Raum, ob ein Zusatz von Probiotika zu besseren Ergebnissen führen könnte.

Die Behandlung der pathologischen Dünndarmbesiedelung ist notorisch schwierig, weniger in Bezug auf den Akuterfolg, sondern in Bezug auf häufige Rückfälle. Neben motilitätsbeeinflussenden Massnahmen, welche bei der systemischen Sklerose kaum wirksam sind, wurden in letzter Zeit die Möglichkeiten einer antibiotischen Therapie mit nicht-resorbierbaren Antibiotika und der Einsatz von Probiotika als Erweiterung des therapeutischen Arsenals diskutiert. In einer aktuellen mexikanischen Studie wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Saccharomyces boulardii (SB) versus Metronidazol (M) versus M + SB in der Behandlung von SIBO bei SSc für 2 Monate evaluiert.
Die offene klinische Pilotstudie wurde an vierzig Patienten mit SIBO und SSc (ACR-EULAR 2013) durchgeführt. Drei Gruppen wurden über 2 Monate mit M, SB oder M + SB behandelt. Das Durchschnittsalter betrug 53,2  ±  9,3 Jahre, und die Dauer der SSc betrug 13,5 (1-34) Jahre. Zur objektiven Bewertung der SIBO wurde Wasserstoff in der Ausatemluft mit einem Atemtest gemessen, die subjektiven Symptome wurden mit dem Fragebogen des National Institutes of Health Patient-Reported Outcomes Measurement Information System (NIH-PROMIS) erfasst.
Bei ähnlichen Ausgangswerten wurde die SIBO nach der 2-monatigen Behandlung bei 55% der M + SB-Gruppe, bei 33% der SB- und bei 25% der M-Gruppe eliminiert. Die SB- und M + SB-Gruppen hatten weniger Durchfall, Bauchschmerzen und Gas/Blähungen, die Symptome blieben unter M unverändert. Der Wasserstoffgehalt der Ausatemluft sank nach 45 resp. 60 Minuten um: M + SB 48% und 44%, M 18% und 20%, und SB 53% und 60% im ersten bzw. zweiten Monat (p < 0,01). An unerwünschten Wirkungen wurden epigastrisches Brennen und Obstipation bei M (53%) und M + SB (36%) sowie Blähungen/Durchfall bei SB (22%) angegeben.
Die Autoren kommen zum Schluss, dass die Behandlung mit Metronidazol bei SIBO teilweise wirksam ist, dass aber S. boulardii in Monotherapie oder in Kombination die gastrointestinalen Ergebnisse bei SSc verbessert. Es ist zu hoffen, dass diese erfolgversprechenden Resultate an grösseren Populationen überprüft werden, wobei der Grundversorger, der nur selten
Patienten mit schweren Formen von SSc sieht, vor allem interessiert wäre, ob das Therapieprinzip auch bei den in der Praxis nicht seltenen und oft nicht diagnostizierten Fällen von SIBO ohne SSc wirksam wäre.

Quelle: Effectiveness of Saccharomyces boulardii and Metronidazole for Small Intestinal Bacterial Overgrowth in Systemic Sclerosis. García-Collinot G. et al: Dig Dis Sci. 2020;65:1134-1143

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

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Einfluss des Vitamin-D-Status auf das Immunsystem

Der Zusammenhang zwischen Vitamin D und dem Schweregrad von COVID-19 ist Gegenstand zahlreicher Publikationen und wird derzeit intensiv diskutiert. Ein Symposium zu diesem Thema wurde von OM Pharma Schweiz auf dem FOMF Update Refresher in Lausanne mit Dr. Pierre Olivier Lang (MPH, PhD) als Experte und Referent organisiert.

Es ist bekannt, dass die Pathogenese von COVID-19 aus einem systemischen akuten Entzündungssyndrom, dem Auftreten einer Pneumonie und einer möglichen Organdekompensation mit Sepsis und einem akuten Atemnotsyndrom resultiert, das durch mögliche Komorbiditäten wie Herzinsuffizienz, Diabetes, Hypertonie oder Adipositas und insbesondere mit zunehmendem Alter verschlimmert wird, sagte Dr. med. Pierre Olivier Lang, Clinique de Genolier, Lausanne, in seiner Einleitung. Die SARS-CoV2-Infektion führt zu einer Störung des Immunsystems in Verbindung mit einer erhöhten Produktion von proinflammatorischen Zytokinen (Zytokin-Burst). Es wird vermutet, dass diese Kaskadendekompensation zu einem Multiorganversagen mit hoher Letalität führen kann. Die Überaktivierung von Effektorzellen des angeborenen und des adaptiven Immunsystems könnte eine COVID-Pneumonie durch die Bildung von alveolären Läsionen oder Alveolitis verursachen, die durch die anfänglichen lokalen Entzündungsreaktionen erklärt werden.

Vitamin D und Immunität

Bereits im letzten Jahrhundert seien zwei Nobelpreise im Zusammenhang mit Vitamin D vergeben worden, so der Referent, nämlich an Thomas Mann für sein Werk «Der Zauberberg» und an Adolf Otto Windaus für die Entdeckung von Vitamin D, seiner Synthese und dem Einfluss von UV-Strahlung auf seine Produktion. Die heilende Kraft des Davoser Sanatoriums auf die Gesundheit der Tuberkulosepatienten bei Thomas Mann ist nach heutigem Stand der Wissenschaft weniger auf die gute Luft der Schweizer Alpen zurückzuführen als auf die mit der Höhe zunehmende ultraviolette Strahlung und deren Wirkung auf die Vitamin-D-Produktion.
Neben der bekannten Wirkung von Vitamin D auf die Skelettgesundheit gibt es Hinweise für pleiotrope Wirkungen von Vitamin D ausserhalb der Knochengesundheit. Es hat sich gezeigt, dass der Vitamin-D-Rezeptor (VDR) und das Vitamin-D-aktivierende Enzym 1-α-Hydroxylase (CYP27B1) in mehreren Zellen ausserhalb von Knochen und Niere exprimiert werden (1). Mehrere Zellen, die an der Immunfunktion beteiligt sind, exprimieren VDR und CYP27B1. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass die aktive Form von Vitamin D, 1,25(OH)2D3, die Immunfunktion auf verschiedenen Ebenen steuern kann. Entsprechende Übersichtsarbeiten über die Rolle von Vitamin D bei der Regulierung des Immunsystems wurden in den letzten Jahren veröffentlicht (2, 3).
Die Fähigkeit von Vitamin D, die Immunantwort zu beeinflussen, scheint in hohem Masse vom 25(OH)D-Status des Individuums abhängig zu sein und kann im Falle eines Mangels zu einer abnormalen Reaktion auf Infektionen oder sogar zu Autoimmunität führen (4).
Die meisten Immunzellen exprimieren nukleäre Calcitriol-Rezeptoren, aber auch 25(OH)D-Rezeptoren und besitzen 1-α-Hydroxylase zur Bildung der aktiven Form von Vitamin D (4).
In jüngster Zeit hat man erkannt, dass bei der Produktion von Vitamin D in der Haut und der Hydroxylierung in der Niere auch andere Metaboliten entstehen, deren Rolle noch wenig verstanden ist. Sie besitzen auch spezifische Rezeptoren. Dies deutet darauf hin, dass es noch andere Wege gibt, auf denen Vitamin D in unserem Körper wirkt (5).
Insgesamt trägt Vitamin D dazu bei, überschüssige Immunreaktionen, sowohl angeborene als auch adaptive, zu reduzieren. Es reduziert die Produktion von pro-inflammatorischen Zytokinen, indem es die Produktion von anti-inflammatorischen Zytokinen und die Produktion von antimikrobiellen Peptiden (Cathelicidin und β-Defensine) begünstigt. Es fördert also eine koordinierte, kontrollierte und effiziente Immunantwort, die das Gegenteil von dem ist, was bei COVID-19 beobachtet wird.

Vitamin D und Infektionskrankheiten

Es besteht ein kurvenförmiger Zusammenhang zwischen dem Vitamin-D-Spiegel im Blut und dem Risiko von Infektionskrankheiten. Vitamin-D-Mangel ist mit einer erhöhten Vulnerabilität verbunden (6). Vitamin D hat antiinfektiöse Eigenschaften aufgrund seiner Fähigkeit, die Produktion von antimikrobiellen Proteinen wie Cathelicidin und Defensinen zu favorisieren und durch Hemmung der Produktion von Zytokinen (7, 8). Ebenso hemmt es die Reaktion von Helfer-T-Lymphozyten (TH1) und fördert die Produktion von Suppressor-Lymphozyten (TH2) (9).
Es ist bekannt, dass die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten umso mehr zunimmt, je niedriger der Vitamin-D-Spiegel ist, und dass diese Anfälligkeit umso mehr reduziert wird, je mehr der Vitamin-D-Spiegel korrigiert wird. Es scheint einen Plateaueffekt ab einem bestimmten Serumspiegel zu geben (optimale Werte für die Immunität sind wahrscheinlich höher als der für Osteoporose definierte), ohne jedoch den Effekt auf die Immunität zu kennen, z.B. Blutspiegel > 200 nmol/L. Hat dies eine schützende Wirkung oder wirkt es sich nachteilig aus?
Diese Rolle von Vitamin D in der antiinfektiösen Abwehr ist für bakterielle Infektionen wie Tuberkulose, H. pylori-Infektion, bakterielle Lungenentzündung, aber auch für parasitäre und auch virale Infektionen einschliesslich Atemwegsinfektionen nachgewiesen (10). Ein optimaler Vitamin-D-Status würde sich auch günstig auf die Reaktion auf eine Impfung auswirken. Vitamin D sollte jedoch nicht als Behandlung von Infektionen betrachtet werden, sondern als Ergänzung zur Aufrechterhaltung eines normal funktionierenden Immunsystems.

Vitamin D und COVID-19

Vitamin D scheint über immunmodulatorische Effekte hinaus auch eine direktere Rolle in der Pathogenese zu spielen. Vitamin  D hat antivirale Aktivität durch die Induktion der Synthese von CXCL10 und INF γ im respiratorischen Epithel und unterstützt die Bildung von CD8+ T-Lymphozyten. Dies fördert die Rekrutierung von Immunzellen am Infektionsort und begünstigt die Zerstörung der Lipidhülle des Virus durch LL-35 und die Proliferation von CD4+ T-Lymphozyten.
Darüber hinaus beinhaltet die Pathogenese der akuten Lungenverletzung während COVID-19 die Produktion von Renin, ACE, Angiotensin II und Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptor (AT1R) und umgekehrt die Hemmung der Synthese von ACE2, einem weiteren membranumwandelnden Enzym mit starker Ähnlichkeit zu ACE. Sars-CoV2 gelangt über ACE2 in unsere Zellen (11). ACE2 ist eine Exopeptidase, die Angiotensin I in Angiotensin 1-9, ein inaktives Nonapeptid, umwandelt. ACE2 wird im Epithel der Atemwege, den Pneumozyten und der Mundschleimhaut exprimiert, die die bevorzugten Eintrittsstellen für das Virus sind. Es wird angenommen, dass Vitamin D dazu beiträgt, die akute Lungenverletzung zu lindern, indem es die Expression von ACE2 und Angiotensin 1-7 induziert und gleichzeitig die Reninsekretion und die ACE/Angiotensin II/AT1R-Kaskade hemmt. Während die Bindung von Angiotensin II an AT1R arterielle Vasokonstriktion, akute Entzündung und Apoptose induziert, ist Angiotensin 1-7 antagonistisch zu diesen Effekten. Es übt entzündungshemmende und gefässerweiternde Effekte aus und wirkt dem vaskulären Remodeling entgegen. Das Verhältnis von Angiotensin II zu Angiotensin 1-7 wird durch das Gleichgewicht zwischen den Spiegeln von ACE und ACE2 bestimmt. Eine Überexpression von ACE2 und des Vitamin-D-Rezeptors wäre schützend gegen Alveolitis. Mit anderen Worten: Vitamin D hemmt die Reninsekretion und überexprimiert ACE2, was zu einer Unterdrückung der Aktivität des Renin-Angiotensin-Systems und damit zu einer Normalisierung des Blutdrucks und zu einer Abnahme des systemischen Gefässwiderstands führt, um einer Vasokonstriktion entgegenzuwirken.

Vitamin D und Supplementierung

Ein Vitamin-D-Mangel sollte immer vermieden werden. Dies gilt insbesondere für Menschen mit einem hohen Risiko für einen Vitamin-D-Mangel (12).
Nur wenige Lebensmittel enthalten nennenswerte Mengen an Vitamin D. Fetter Fisch (Hering, Aal oder Lachs), Milchprodukte und Eier sind die wichtigsten. Die Zufuhr von Vitamin D über die Nahrung ist aber meist unzureichend, weshalb es in den meisten Fällen ergänzt werden muss. Zur Aufrechterhaltung optimaler Serumspiegel für die Immunmodulation sind je nach Alter und Gesundheitszustand zwischen 400 und 2000 IU/Tag erforderlich (11). Diese Dosen können mit der gleichen Wirksamkeit täglich oder als kumulative Dosis 1x/Woche oder sogar 1x/Monat gegeben werden (12). Ein längerer Abstand zwischen den Dosen wird nicht empfohlen.

Fazit

Die Gewissheiten

  • Die Beweislage bestätigt die immunmodulatorische Rolle von Vitamin D und seine Rolle bei der Antiinfektionsabwehr.
  • Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen einem Mangel an Vitamin D und der Anfälligkeit für verschiedene Krankheitserreger, einschliesslich COVID-19.
  • Die Aufrechterhaltung eines Serumspiegels von ≥75nmol/L ist erforderlich, um ein starkes und funktionierendes Immunsystem zu fördern und die individuelle Anfälligkeit für Infektionen zu begrenzen. Hierfür hat man die Wahl der Ergänzung: Tägliche, wöchentliche oder monatliche Einnahme.
  • Vitamin D ist keine präventive oder kurative Behandlung von COVID-19.

Die Unwägbarkeiten

  • Die Nützlichkeit von Vitamin D als Mittel zur Infektionskontrolle erfordert noch das Verständnis der alternativen Aktivierungspfade sowie das Verständnis der möglichen Wechselwirkungen zwischen Vitamin D und Nicht-Vitamin-D-Rezeptoren.
  • Die individuelle Reaktion auf die Supplementierung ist dynamischer als die Kontrolle des Serumspiegels allein. Die epigenetische Reaktion auf Umweltveränderungen und Lebens- oder Gesundheitsbedingungen induziert eine grössere Variation in der Reaktion als der genetische Polymorphismus des Vitamin-D-Rezeptors.

Quelle: FOMF Update Refresher Allgemeine Innere Medizin, Lausanne, 12.02.2021.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

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12. Bericht einer Expertengruppe im Auftrag der Eidg. Ernährungskommission und des Bundesamts für Gesundheit 2012. Vitamin D deficiency: Evidence, safety, and recommendations for the Swiss population.