Die lumbale Spinalkanalstenose

Eine Gehstreckenverminderung im hohen Alter mit Einbusse der Lebensqualität ist oft durch eine lumbale Spinalkanalstenose bedingt. Eine solche frühzeitig oder überhaupt zu diagnostizieren ist deshalb essenziell. Dieser Übersichtsartikel soll aufzeigen, welche Schritte bis zur Diagnose einzuleiten sind und wie eine zielgerichtete (chirurgische) Behandlung erfolgen kann.

Die Spinalkanalstenose ist eine vorwiegend degenerative Erkrankung der Wirbelsäule, deren Erstbeschreibung auf Verbiest im Jahre 1950 (1) zurück geht. Ursächlich ist vor allem die auf Belastung reaktive Hypertrophie der Facettengelenke, welche zur Einengung des Spinalkanals führt. Durch die typische Claudicatio spinalis entsteht eine deutliche Minderung der Gehstrecke und Einschränkung der Lebensqualität. Die Spinalkanalstenose ist schleichend progredient und meist erst spät symptomatisch, d.h. betrifft meist Patienten im höheren Alter. Durch die demographische Entwicklung ist somit ein relativ grosser Anteil der Bevölkerung betroffen, weshalb die Identifizierung dieser gut behandelbaren Ursache für Bein- und Rückenschmerzen umso wichtiger ist. Die Diagnose ist, obwohl klare Kriterien fehlen, glücklicherweise durch die gezielte Anamnese und Untersuchung sowie zumindest einer MRT Untersuchung relativ einfach zu stellen. Bei Versagen der meist nur kurz wirksamen konservativen Therapie zeigt die mikrochirurgische Dekompression ausgezeichnete Resultate, auch im hohen Alter.

Epidemiologie

Gemäss Framingham Studie liegt die Prävalenz der radiologisch diagnostizierten, erworbenen lumbalen Spinalkanalstenose bei 22.5% für relative und bei 7.3% für absolute Stenosen. Die Daten zeigen, dass v.a. Menschen im höheren Alter betroffen sind: Bei unter 40-Jährigen ist die Prävalenz bei 20.0%, bzw. 4.0%. Demgegenüber ist die Prävalenz bei 60-69 Jährigen sogar bei 47.2%, respektive 19.4% (2).
Daten aus einer japanischen Kohorte ergeben eine noch höhere Prävalenz bei moderater oder schwerer Spinalkanalstenose von 76.5%. Wichtig anzufügen ist, dass symptomatische Stenosen deutlich weniger oft vorkommen, in dieser Kohorte war die Prävalenz bei 9.3% (3).
Andere Risikofaktoren neben dem Alter sind Adipositas, ein kongenital enger Spinalkanal, aber auch arbeitsbedingte repetitive mechanische Reizung der Wirbelsäule. Zudem neigen Männer öfter zu einer Spinalkanalstenose als Frauen (3, 4).

Ursache

Es kann zwischen kongenitaler und erworbener Spinalkanalstenose unterschieden werden, wobei letztere deutlich häufiger vorkommt (2). Diese entsteht durch die natürliche Abnutzung an der Wirbelsäule, welche durch oben beschriebene Faktoren beeinflusst wird. Die Dehydratation der Bandscheibe bedingt eine Höhenminderung dieser, was sich wiederum auf die Facettengelenke und Bänder auswirkt. Als im Pathomechanismus neben den subkapsulären Bändern wichtigstes Band, wird das Lig. flavum zunehmend schlaff und eingefaltet. Die Facettengelenke reagieren mit einer Hypertrophie. Zusammen mit der Vorwölbung der Bandscheibe führen diese Veränderungen zur Spinalkanalstenose (Abb. 1). Diese kann zentral, rezessal, foraminal oder gemischt auftreten (5).
Schmerzen, bzw. die typische Symptomatik, entstehen einerseits durch die direkte Kompression nervaler Strukturen, aber auch durch die Störung der Mikrozirkulation entweder auf dem arteriellen oder auch auf dem venösen Schenkel inkl. Anhäufung von Metaboliten. Der genaue Mechanismus ist allerdings noch ungeklärt (6).

Anamnese und Untersuchung

Die klassische Symptomatik besteht aus gehstreckenabhängigen Schmerzen in den Beinen oder auch dem Gesäss, welche sich durch Hinsetzen oder Flexion des Rumpfes lindern lassen. Dies wird auch als Claudicatio spinalis bezeichnet. Meist reicht das alleinige Stehenbleiben zu Schmerzlinderung im Gegensatz zur vaskulären Claudicatio intermittens nicht aus. Typischerweise werden die Symptome durch eine Inklination gelindert. So wird das Bergaufgehen präferenziert und Velofahren trotz eingeschränkter Gehstrecke toleriert; sich auf dem Einkaufswagen Abstützen wird als entlastend empfunden. Häufig beschreiben Betroffene beim Gehen eine Müdigkeit oder Schwäche in den Beinen, teilweise auch Taubheitsgefühle und Parästhesien. Lumbale Rückenschmerzen, welche durch die degenerativen Veränderungen an den Facetten und der Bandscheibe hervortreten, stehen meist im Hintergrund.
Zu neurologischen Defiziten wie Lähmungserscheinungen oder Mastdarm-/Blasenentleerungsstörungen kommt es glücklicherweise selten bzw. nur in einem sehr fortgeschrittenen Stadium. So ist auch die neurologische Untersuchung meist unauffällig. In der Ganganalyse findet sich oft eine vornübergebeugte Haltung und ein breitbasiges Gangbild bei deutlich verminderter Gehstrecke. Zum Ausschluss einer Hüftpathologie sollte die Untersuchung der Hüfte nicht fehlen.

Bildgebende Diagnostik

Neben einer gründlichen Anamnese und Untersuchung gehören eine MRT sowie ein Röntgen in zwei Ebenen zur Abklärung. Die MRT gibt Auskunft über die Verhältnisse im Spinalkanal und zeigt die Engstellen auf. Ein stehendes Röntgen verschafft eine Übersicht und zeigt das Alignement bei Belastung. Röntgenfunktionsaufnahmen helfen zudem eine dynamische Olisthese zu identifizieren. Der CT oder CT-Myelographie kommt nur eine untergeordnete Rolle zu, d.h. bei kontraindizierter MRT.
Radiologische Kriterien für eine Spinalkanalstenose gibt es leider keine einheitlichen. Einerseits gibt es quantitative Abmessungen des Spinalkanals, wie zum Beispiel die Einteilung in relative (Durchmesser 10-12 mm) oder absolute Stenosen (Durchschnitt ≤10 mm) (7), andererseits qualitative Einteilungen, mit zu Hilfenahme der Abgrenzbarkeit von Liquor (Einteilung nach Schizas (8)).
Wichtig bei der Diagnose der symptomatischen Spinalkanalstenose ist die Kombination aus typischer Klinik und passender Bildgebung.

Differentialdiagnose

Differentialdiagnosen lassen bei gegebener Konstellation oder atypischen Symptomen an eine Polyneuropathie oder PAVK denken. Aufschluss betreffend der PAVK geben der Gesamtgesundheitszustand, aber auch das Tasten der Fusspulse kann hilfreich sein. Typischerweise treten dabei die Schmerzen auch beim Radfahren auf oder lassen sich nicht durch die alleinige Inklination vermindern. Bei Zweifeln ist eine angiologische Untersuchung angebracht.
Eine Elektrophysiologie ist zwar für die Diagnose einer Spinalkanalstenose nicht zwingend oder gar wegweisend, hilft aber die eher distal betonten, (Ruhe)-Schmerzen einer Polyneuropathie abzugrenzen.

Therapie

Die Therapie der Spinalkanalstenose richtet sich nach dem Schweregrad der Symptomatik (Abb. 2).
Bei milden Symptomen hilft die konservative Therapie. Dazu gehören Analgetika nach dem WHO Stufenschema und eine Physio-
therapie zur Stärkung der Rumpfmuskulatur und Haltungsschulung. Klare wissenschaftliche Evidenz dafür gibt es jedoch nicht. Auch scheint die Langzeitanwendung von Analgetika wenig zielführend (9). Epidurale Infiltrationen mit oder ohne Steroide können eine deutliche Schmerzlinderung für Wochen bis Monate erzielen (10).


Die konservative Therapie vermag aber natürlich die zugrunde­liegende Kompression nicht zu beheben. Deshalb hilft bei moderaten bis schweren Symptomen längerfristig meist nur noch die operative Dekompression (11, 12). Ziel ist es, den Spinalkanal chirurgisch zu erweitern (Abb. 3). Als technische Verfahren gibt es einerseits die Laminektomie und andererseits minimalinvasivere mikrochirurgische Verfahren, welche die Muskulatur schonen und die hintere Zuggurtung nicht unterbrechen. Dabei scheint die genaue Technik jedoch wenig Einfluss auf die Resultate zu haben (13). Untersuchungen zeigen auch, dass bei multi-level Spinalkanalstenosen die Dekompression einer einzigen Höhe möglicherweise ausreichend ist (14).


Interspinöse Spacer, welche indirekt einer Einengung entgegenwirken, erbringen zwar gute kurzfristige Resultate, jedoch hohe Reoperationsraten, weshalb solche nur sehr selektiv eingesetzt werden sollten (15).
Bei schwerer Instabilität, z.B. einer dynamischen Spondylolisthese, mit relevanten Rückenschmerzen sollte eine zusätzliche Spondylodese erfolgen. Bei der stabilen Olisthese, v.a. der leichtgradigen, gibt es unterschiedliche Datenlagen. Eine Spondylodese scheint jedoch nicht primär notwendig zu sein (11, 13, 16, 17). Dies vereinfacht die postoperative Rehabilitationsphase deutlich, was bei älteren Patienten ins Gewicht fällt.
Die einfache mikrochirurgische Dekompression ist mit einer sehr kleinen Risikorate verbunden und die Resultate sind exzellent (11, 13, 14). Schweizer Daten aus der LSOS Studie, an welcher die Schulthess Klinik als Tätigkeitsort der Autoren massgeblich beteiligt ist, belegen, dass die Dekompression eine signifikante Verbesserung der Symptome bei ca. 70% der Patienten (Follow up nach 3 Jahren) erreicht (18). Diese Daten werden unterstützt durch die Studie von Weinstein et al. mit einer Zufriedenheitsrate von 69.3% nach einem Jahr und noch 63.1% nach 4 Jahren gegenüber 28.3%, resp. 32.2%, bei der konservativen Therapie (11). Zudem ist auch auf der Kosten-
ebene die Effektivität belegt (19).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Mario D. Ropelato

Wirbelsäulenchirurgie/Neurochirurgie
Schulthess Klinik
Lengghalde 2
8008 Zürich

mario.ropelato@kws.ch

PD Dr. med. François Porchet

Wirbelsäulenchirurgie/Neurochirurgie
Schulthess Klinik
Lengghalde 2
8008 Zürich

francois.porchet@kws.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die degenerative Spinalkanalstenose ist eine zunehmend häufige Erkrankung v.a. des höheren Alters, welche zu einer Gehstreckenverminderung und deutlichen Einschränkung der Lebensqualität führen kann.
  • Die Diagnose wird durch die typische Symptomatik einer Claudicatio spinalis sowie MR-graphischem Nachweis gestellt.
  • Bei mittel- bis schwergradigen Stenosen und Symptomen führt meist nur die chirurgische Therapie zu einem langfristigen Erfolg.
  • Die mikrochirurgische Dekompression ist ein relativ kleiner Eingriff mit überschaubaren Risiken und sehr gutem Outcome für die meisten Patienten, auch im hohen Alter.

1. Verbiest H. [Primary stenosis of the lumbar spinal canal in adults, a new syndrome]. Ned Tijdschr Geneeskd. 1950;94(33):2415-33.
2. Kalichman L, Cole R, Kim DH, Li L, Suri P, Guermazi A, et al. Spinal stenosis prevalence and association with symptoms: the Framingham Study. Spine J. 2009;9(7):545-50.
3. Ishimoto Y, Yoshimura N, Muraki S, Yamada H, Nagata K, Hashizume H, et al. Prevalence of symptomatic lumbar spinal stenosis and its association with physical performance in a population-based cohort in Japan: the Wakayama Spine Study. Osteoarthritis Cartilage. 2012;20(10):1103-8.
4. Rubin DI. Epidemiology and risk factors for spine pain. Neurol Clin. 2007;25(2):353-71.
5. Choi YS. Pathophysiology of degenerative disc disease. Asian Spine J. 2009;3(1):39-44.
6. Rydevik B, Brown MD, Lundborg G. Pathoanatomy and pathophysiology of nerve root compression. Spine. 1984;9(1):7-15.
7. Steurer J, Roner S, Gnannt R, Hodler J, Porchet F, LumbSten Research C. Quantitative radiologic criteria for the diagnosis of lumbar spinal stenosis: a systematic literature review. BMC Musculoskelet Disord. 2011;12:175.
8. Schizas C, Theumann N, Burn A, Tansey R, Wardlaw D, Smith FW, et al. Qualitative grading of severity of lumbar spinal stenosis based on the morphology of the dural sac on magnetic resonance images. Spine. 2010;35(21):1919-24.
9. Kreiner DS, Shaffer WO, Baisden JL, Gilbert TJ, Summers JT, Toton JF, et al. An evidence-based clinical guideline for the diagnosis and treatment of degenerative lumbar spinal stenosis (update). Spine J. 2013;13(7):734-43.
10. Manchikanti L, Cash KA, McManus CD, Damron KS, Pampati V, Falco FJ. A randomized, double-blind controlled trial of lumbar interlaminar epidural injections in central spinal stenosis: 2-year follow-up. Pain Physician. 2015;18(1):79-92.
11. Weinstein JN, Tosteson TD, Lurie JD, Tosteson A, Blood E, Herkowitz H, et al. Surgical versus nonoperative treatment for lumbar spinal stenosis four-year results of the Spine Patient Outcomes Research Trial. Spine. 2010;35(14):1329-38.
12. Weinstein JN, Tosteson TD, Lurie JD, Tosteson AN, Blood E, Hanscom B, et al. Surgical versus nonsurgical therapy for lumbar spinal stenosis. N Engl J Med. 2008;358(8):794-810.
13. Thome C, Zevgaridis D, Leheta O, Bazner H, Pockler-Schoniger C, Wohrle J, et al. Outcome after less-invasive decompression of lumbar spinal stenosis: a randomized comparison of unilateral laminotomy, bilateral laminotomy, and laminectomy. J Neurosurg Spine. 2005;3(2):129-41.
14. Ulrich NH, Burgstaller JM, Held U, Winklhofer S, Farshad M, Porchet F, et al. The Influence of Single-level Versus Multilevel Decompression on the Outcome in Multisegmental Lumbar Spinal Stenosis: Analysis of the Lumbar Spinal Outcome Study (LSOS) Data. Clin Spine Surg. 2017;30(10):E1367-E75.
15. Moojen WA, Arts MP, Jacobs WC, van Zwet EW, van den Akker-van Marle ME, Koes BW, et al. Interspinous process device versus standard conventional surgical decompression for lumbar spinal stenosis: randomized controlled trial. BMJ. 2013;347:f6415.
16. Forsth P, Olafsson G, Carlsson T, Frost A, Borgstrom F, Fritzell P, et al. A Randomized, Controlled Trial of Fusion Surgery for Lumbar Spinal Stenosis. N Engl J Med. 2016;374(15):1413-23.
17. Lonne G, Fritzell P, Hagg O, Nordvall D, Gerdhem P, Lagerback T, et al. Lumbar spinal stenosis: comparison of surgical practice variation and clinical outcome in three national spine registries. Spine J. 2019;19(1):41-9.
18. Ulrich NH, Burgstaller JM, Gravestock I, Pichierri G, Wertli MM, Porchet F, et al. Outcome of unilateral versus standard open midline approach for bilateral decompression in lumbar spinal stenosis: is “over the top” really better? A Swiss prospective multicenter cohort study. J Neurosurg Spine. 2019:1-10.
19. Aichmair A, Burgstaller JM, Schwenkglenks M, Steurer J, Porchet F, Brunner F, et al. Cost-effectiveness of conservative versus surgical treatment strategies of lumbar spinal stenosis in the Swiss setting: analysis of the prospective multicenter Lumbar Stenosis Outcome Study (LSOS). Eur Spine J. 2017;26(2):501-9.

Das geschwollene Gelenk

Arthralgien sind in der täglichen Praxis sehr häufig, und die Differentialdiagnose ist breit. Diese wird überschaubarer, wenn ein geschwollenes Gelenk vorliegt, und es eröffnet sich dann oft auch eine entscheidende weitere diagnostische
Möglichkeit: die Gelenkpunktion. Der folgende Artikel soll einen möglichen diagnostischen Ablauf veranschaulichen und als Hilfestellung für die tägliche Praxis dienen.

Ein geschwollenes Gelenk sollte, je nach Kontext, auch dringlicher abgeklärt werden als ein Gelenk, das «nur» schmerzhaft ist. Eine systematische Anamnese und klinische Untersuchung stellen die Grundpfeiler in der Abklärung dar. Im Grundsatz geht es um die Erkennung des Krankheitsmusters und dadurch der Diagnose. Dabei liefern oft extraartikuläre Phänomene, epidemiologische Überlegungen und auch mal die Familienanamnese entscheidende Hinweise.

Besteht objektiv eine Gelenkschwellung?

Präsentiert sich ein Patient mit einem vermeintlich geschwollenen Gelenk, stellt sich primär die Frage, ob wirklich eine Gelenkschwellung (also eine Arthritis oder entzündliche Aktivierung im weitesten Sinne) vorliegt, eine das Gelenk umgebende Struktur geschwollen ist oder der Patient nur subjektiv eine Schwellung wahrnimmt. Insbesondere bei der Fibromyalgie wird von Patientinnen fast regelmässig eine Schwellung empfunden, welche sich nicht objektivieren lässt. Zur Differenzierung dient primär die klinische Untersuchung, wobei sich dies bei gewissen Gelenken (z.B. Knie) einfacher darstellt als bei anderen (z.B. Hüftgelenk). Insbesondere in klinisch unklaren Fällen kann der hochauflösende Ultraschall unterstützend sein, wobei er auch hilft, eine Sehnenscheidenentzündung, Bursitis oder andere Ursache der Schwellung von einer Arthritis abzugrenzen.

Wie viele Gelenke sind geschwollen?

Die Anzahl betroffener Gelenke ist für die weitere Krankheitszuordnung entscheidend. Man Unterscheidet die Monarthritis (1 Gelenk betroffen) von der Oligoarthritis (1-4 Gelenke) und zuletzt der Polyarthritis (>4 Gelenke). Tabelle 1 zeigt bei verschiedenen Krankheitsbildern das typische Erscheinungsbild. Natürlich existieren aber Abweichungen. So kann eine rheumatoide Arthritis als Monarthritis beginnen und eine Gicht polyartikulär verlaufen.

Welche Gelenke sind in welcher Verteilung betroffen?

Nicht nur die Anzahl der betroffenen Gelenke, sondern auch deren Verteilung ist wichtig. Der Befall gewisser Gelenke gibt bereits eine differentialdiagnostische Richtung vor, was in Tabelle 2 ausgeführt wird. Bei der Verteilung sind die vorhandene oder fehlende Symmetrie, die vorwiegend axiale oder periphere Verteilung, sowie auch der Befall im Strahl (mehrere Gelenke eines Fingers oder Zehs) von grosser Relevanz. Abbildung 2 zeigt schematisch typische Verteilungsmuster auf. Speziell hervorzuheben ist der Befall im Strahl, der oft als Daktylitis (zusätzliche Entzündung der periartikulären Strukturen) auftritt und recht charakteristisch für die Psoriasisarthritis und andere Spondyloarthritiden ist, aber z.B. auch bei der Sarkoidose auftreten kann. Die aktivierte Arthrose ist eine wichtige Differentialdiagnose der Monarthritis. Insbesondere die Fingerpolyarthrose muss von anderen Polyarthritiden wie der Psoriasisarthritis (DIP-Gelenke) oder rheumatoiden Arthritis (PIP-Gelenke) abgegrenzt werden. Ausserdem gibt es einige Gelenke, welche selten bis nie von einer primären Arthrose betroffen sind. Hierbei sind insbesondere die Schulter-, Ellbogen-, Hand- und MCP-Gelenke sowie die OSG und MTP-Gelenke 2-5 zu erwähnen. Wenn in dieser Lokalisation eine Arthrose gefunden wird, soll eine ursächliche strukturelle Läsion oder systemische (auch metabolische) Grunderkrankung in Erwägung gezogen werden.

Was ist die Beschwerde Evolution und wie sind die epidemiologischen Eckdaten?

Dynamik und Umstände einer Arthritis geben oft gute Hinweise auf die Ätiologie. Als Beispiel: Eine über Nacht aufgetretene stark schmerzhafte und gerötete Schwellung des MTP-Gelenkes 1 bei einem übergewichtigen 50-jährigen Mann nach einem üppigen Mahl am Vorabend lässt wohl alle Leser an eine Gicht denken. Ändert man nun aber nur schon diesen Patienten in eine 20-jährige schlanke Frau, bestehen berechtigte Zweifel an einer Gicht. In Tabelle 3 ist die typische zeitliche Dynamik verschiedener Arthritiden aufgeführt. Tabelle 4 zeigt eine mögliche Einteilung der Arthritiden nach Altersgruppen, in denen diese typischerweise auftreten. Natürlich kann eine Erkrankung auch in einer dafür atypischen Altersgruppe auftreten. Insbesondere bei Kristallarthritiden, die «zu früh» auftreten, sollte an eine zugrundeliegende Ursache gedacht werden (z.B. Hämochromatose als Ursache einer CPPD).

Bestehen extraartikuläre Symptome?

Viele rheumatologische Erkrankungen sind nicht nur auf die Gelenke limitiert. Die Ausprägung der extraartikulären Symptome kann sehr unterschiedlich sein. Diese können für die Betroffenen im Vordergrund stehen oder aber auch gar nicht erst als eigentliche Beschwerden wahrgenommen werden. Nicht selten stellen die Betroffenen auch bei störenden extraartikulären Beschwerden keine Verbindung zum artikulären Geschehen her und berichten entsprechend auch nicht spontan davon. Eine gut strukturierte Systemanamnese hilft die wichtigsten Organsysteme abzudecken. Tabellen 5-7 fassen häufige und diagnostisch hilfreiche Befunde zusammen. Bei gewissen Erkrankungen wie der Psoriasis lohnt sich auch eine Familienanamnese. Zuweilen kann bei Verwandten eine sogenannte «Arthritis psoriatica sine psoriase», also Arthritis ohne eigentliche Hautmanifestationen auftreten.

Was soll ich klinisch untersuchen?

Ein kurzer Augenschein aller Gelenke bietet sich insbesondere bei der Erstvorstellung an. Daneben soll ein kurzer Hautstatus erhoben werden, was bedeutet, dass sich der Patient bis auf die Unterwäsche entkleiden soll. Bei einer Psoriasis kann so innert weniger Minuten bereits eine sehr wahrscheinliche Verdachtsdiagnose gestellt werden, ohne dass Zusatzuntersuchungen nötig sind. Sind kutane Befunde nicht eindeutig, lohnt es sich, einen Facharzt zuzuziehen. Bestehen flüchtige Manifestationen, kann eine Fotodokumentation durch den Patienten (Smartphone) wertvoll sein. Nicht vergessen werden sollten die Nägel und Haare, sowie ein kurzer Blick in die Augen (Skleritis, Konjunktivitis, etc.) und den Mund (Aphten, Trockenheit etc.). Die restlichen Untersuchungen orientieren sich an Anamnese und Kontext.

Was hilft für den Entscheid, welche weiteren Abklärungen nötig sind?

Anhand der erhobenen Anamnese und Klinik besteht oft bereits ein klareres Krankheitsmuster. Also z.B. eine schleichend aufgetretene, symmetrische Polyarthritis der Hände einer 30-jährigen Frau mit begleitender Sicca-Symptomatik der Augen. Diese explizite Beschreibung der essenziellen Punkte des Krankheitsmusters ist hilfreich und kann bei weiterabklärungsbedürftigen Fällen auch als Zuweisungsdiagnose dienen.

Welche Weiterabklärungen sind wichtig?

Weniger ist hier klar mehr. Insbesondere die ungezielte Bestimmung von Antikörpern stiftet oft mehr Verwirrung als Klarheit (und unnötige Kosten).
Bei einem geschwollenen Gelenk stellt die Punktatanalyse die wichtigste Zusatzuntersuchung dar. Nur damit kann zuverlässig zwischen einer Arthritis und einer aktivierten Arthrose unterschieden werden! Die Analyse des Gelenkpunktats beschränkt sich in aller Regel auf drei Bestimmungen: Zellzahl, Kristallanalyse und Mikrobiologie (Kultur).
Für die Zellzahl genügt in der Regel 1ml Flüssigkeit, die idealerweise möglichst rasch in einem EDTA-Röhrchen ins Labor gesandt und dort ebenfalls zeitnah analysiert wird (die Zellzahl nimmt über die Zeit wegen Zellzerfalls ab). Mit der Zeitungsprobe (siehe auch Abb. 3) kann bereits eine erste Abschätzung der Zellzahl erfolgen. Wenn durch das Punktat hindurch ein Text klar gelesen werden kann, liegt die Zellzahl unter 1000/µl. Je höher die Zellzahl, desto trüber das Punktat. Tab. 8 zeigt eine mögliche Einteilung nach Zellzahl mit differentialdiagnostischen Zuordnungen.


Für die Kristallanalyse reicht eigentlich ein einzelner Tropfen Punktat (z.B. aus einer Nadelspitze), sofern dies vom Labor angenommen wird. Ansonsten reicht hier bereits weniger als 1ml Punktat, das in einem Heparin-Röhrchen ins Labor gesandt wird.
Bei Infektverdacht ist die Bakterien-Kultur viel wichtiger als das Grampräparat, da letzteres eine hohe Rate falsch-negativer Resultate liefert. Für die Kultur kann das Punktat in einem Nativröhrchen eingesandt werden. Für den seltenen Fall, wo molekularbiologische Untersuchungen (v.a. PCR) nötig werden, können diese ebenfalls aus dem Nativröhrchen bestimmt werden.
Ist keine Gelenkpunktion möglich oder erlauben Anamnese, Klinik und Gelenkpunktat keine abschliessende Diagnose, macht ein zielgerichtetes Labor Sinn. Blutbild, CRP und BSR sind hierbei entscheidend. Transaminasen, Kreatinin und Ferritin können weitere Hinweise auf eine systemische Erkrankung liefern und erstere für die Wahl der Medikation relevant sein. Bei gesicherter Arthritis können Rheumafaktor und Anti-CCP-Antikörper ergänzt werden. Weiterführende Abklärungen wie ANA, ANCA und Infektions-Serologien sollten nur bei begründetem Verdacht erfolgen.
Eine Bildgebung macht v.a. bei Verdacht auf strukturelle Läsionen Sinn, bei entzündlichen Veränderungen sind sie oft unspezifisch und tragen (sofern bereits klar ist, dass eine Arthritis in diesem Gelenk besteht) wenig zur Diagnostik bei.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Marco Etter

Schulthess Klinik
Rheumatologie und Rehabilitation
Lengghalde 2
8008 Zürich

marco.etter@kws.ch

Dr. med. Adrian Forster

Rheumatologie und Rehabilitation
Schulthess Klinik
Lengghalde 2
8008 Zürich

adrian.forster@kws.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Bei geschwollenen Gelenken sind die Anamnese, die klinische Untersuchung, das Gelenkpunktat (Zellzahl, Kristallanalyse, allenfalls Mikrobiologie) und ein kleines Labor (Blutbild, CRP, BSR) die Eckpfeiler der Diagnostik.
  • Ziel ist es, ein Krankheitsmuster zu finden, um dieses einer Diagnose zuzuordnen. Abb. 4 fasst den im Text diskutierten Ablauf als Übersicht zusammen.

Auf Anfrage bei den Verfassern.

Das Fibromyalgie-Syndrom

Beim Fibromyalgie-Syndrom handelt es sich um einen klinischen Beschwerdekomplex, bei dem multilokuläre Schmerzen in unterschiedlichen Körperbereichen im Vordergrund stehen und gleichzeitig keine ursächlich erklärende strukturelle Schädigungen oder biochemische Abweichungen von rheumatologischer, orthopädischer oder neurologischer Seite festgestellt werden können. In einem ersten Teil des Beitrags, in der November-Ausgabe von «der informierte arzt» erschienen, wurden die Grundlagen des Krankheitsbildes, die Epidemiologie sowie die Pathogenese unter besonderer Berücksichtigung der zentralen Sensitivierung besprochen, während dieser zweite Teil den prädisponierenden Faktoren, der Diagnostik und Therapie gewidmet ist.

Prädisponierende Faktoren

Neben einer psychosozial belasteten Kindheit erhöhen körperlicher und emotionaler Stress, sowie Übergewicht und Bewegungsmangel im Erwachsenenalter (1 - 4) die Vulnerabilität für ein Fibromyalgie-Syndrom. Einige prospektive Studien zeigen, dass ein Fibromyalgie-Syndrom durch psychosoziale Stressoren am Arbeitsplatz ausgelöst werden kann (5 - 8).
Bereits vor Auftreten des FMS bestehen eine erhöhte Neigung zur Somatisierung (7), zu erhöhter körperbezogener Selbstbeobachtung sowie eine Störung der Selbstwertregulierung (9). Aufgrund eines oftmals eingeschränkten Selbstwerterlebens kommt es zu dem permanenten Bemühen, das Selbstwertgefühl über ein ausgeprägtes Kompetenzverhalten und daraus resultierende Anerkennung durch andere zu stabilisieren. Dies führt zu Überaktivität («action proneness») und zu hohen Anforderungen an die eigene Person (10) bei gleichzeitig geringer Fähigkeit zur Selbstbehauptung. In einer grossen norwegischen Gesundheitsstudie (N=19 000) erhöhten in einem 11-Jahres-Beobachtungszeitraum hohe Angst- und/oder Depressionswerte sowie Rauchen, Übergewicht und Schlafprobleme das Risiko signifikant, an einem FMS zu erkranken (11). In einer ebenfalls prospektiven britischen Studie stieg in einem 15-Monats-Beobachtungszeitraum das Risiko für ein FMS um das 12-Fache, wenn erhöhte Werte für Somatisierung, eine gesundheitsbezogen erhöhte Selbstbeobachtung sowie schlechter Schlaf bestanden (7). In einer weiteren prospektiven britischen Bevölkerungsstudie (12) waren ebenfalls Schlafstörungen (aOR 2,1 - 3,9) und erhöhte Angstwerte (aOR 2,3) – nicht jedoch erhöhte Depressionsscores (!) – die wesentlichen Prädiktoren für die Erstmanifestation eines FMS in einem 3-jährigen Beobachtungszeitraum.
Die Komorbiditätsrate affektiver Störungen liegt beim FMS zwischen 30% und 80% (13). Eine bestehende Angsterkrankung erhöht die Vulnerabilität, die Anzahl der Schmerzpunkte ebenso wie die Stärke des Schmerzerlebens. Sie führt zu mehr funktionellen Einschränkungen und einer signifikant höheren Erschöpfbarkeit (14 - 17). Damit verbunden ist auch ein grösseres Ausmass an Katastrophisieren als vorherrschende Copingstrategie (18 - 23) sowie autoaggressiver Konfliktbewältigungsstrategien, welche das Stress­erleben verstärken (24).
All diese Befunde, insbesondere die Ergebnisse prospektiver Studien an Gesunden, sprechen eindeutig dafür, dass die grosse Mehrheit von FMS-Patienten unter einer Störung der Stressverarbeitung (oft in Verbindung mit einer Angstproblematik) leidet, bei der zentralen Prozessen in den dafür zuständigen Bereichen des Gehirns eine wesentliche Bedeutung zukommt. Biologischen ebenso wie psychosozialen Stressoren kommt dabei eine Auslöserfunktion zu. Das Einwirken ungünstiger Umweltbedingungen in der Kindheit bedingt eine Vulnerabilitätserhöhung für ein FMS. Ob auch genetische Faktoren prädisponierend wirken können, ist bisher noch nicht abschliessend geklärt. Nach Einsetzen der Beschwerde­symptomatik wirken iatrogene, familiäre und intraindividuelle Einflussfaktoren chronifizierend.

Diagnostik

Im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses des Fibromyalgie-Syndroms ist vom betreuenden Hausarzt zunächst Ausmass und Art der Schmerzsymptomatik zu explorieren. Hilfreich ist, wenn die Schmerzanamnese durch das Führen eines Schmerztagebuchs (über ein bis maximal zwei Wochen) erweitert wird. Die meisten Patienten berichten dabei, dass die Schmerzen sowohl nach körperlichen wie psychosozialen Belastungen verstärkt werden.
Anamnestisch vertieft zu explorieren ist das von vielen FMS-­Patienten nicht spontan berichtete Vorliegen weiterer funktioneller Beschwerden: chronische Unterbauchschmerzen, dyspeptische Beschwerden und Stuhlunregelmässigkeiten, Globusgefühl, Reizblase, Spannungskopfschmerz, Bruxismus und craniomandibuläre Dysfunktion, Lärm- bzw. Geruchsüberempfindlichkeit, verstärktes Schwitzen oder Frieren sowie Schwindelgefühle. Ergänzt werden sollte dies um eine sorgfältige Medikamentenanamnese, um ggf. deren Nebenwirkungen als ursächlichen Faktor auszuschliessen.

Ergänzend zur Anamnese ist es hilfreich, den Patienten anhand eines Körperschemas, seine verschiedenen Schmerzlokalisationen einzeichnen zu lassen. Typischerweise zeichnen Patienten mit FMS ihre Schmerzen paarweise axial-symmetrisch zur Wirbelsäule auf beiden Körperhälften gleich ein. Typisch für das FMS ist auch, dass die eingezeichneten Schmerzmarken vor allem die Weichteile und weniger die Gelenke betreffen (25).
Die klinische Untersuchung fokussiert auf rheumatologische, neurologische und vegetative Auffälligkeiten. Myofazial-myogelotische Befunde gehören additiv regelhaft zum Beschwerdebild des FMS. Axial-symmetrische Drucküberempfindlichkeiten (über die bekannten Tender Point-Lokalisationen hinaus) sind klassische klinische Befunde im Rahmen einer generalisierten Hyperalgesie. In algometrischen Untersuchungen zeigen die Patienten regelhaft herabgesenkte Schmerzschwellen, respektive erhöhte Schmerzangaben bei standardisierten Schmerzprovokationstests (26).
Als basale Laboruntersuchungen sollten neben einem kleinen Blutbild und der Blutsenkungsgeschwindigkeit das C-reaktive Protein (zum Ausschluss einer Polymyalgia rheumatica und einer rheumatoiden Arthritis), die Kreatininkinase (Ausschluss von Muskel­erkrankungen), basales TSH (z. B. Hypothyreose) und Kalzium (z.B. Hyperkalzämie) durchgeführt werden.
Eine tragfähige Arzt-Patienten-Beziehung ermöglicht in einem nächsten Schritt eine sorgfältige Vertiefung der biographischen Anam­nese. Die Kontextualisierung dieses Gesprächsteils ergibt sich vielfach dadurch, dass Patienten von sich aus berichten, dass ihr Schmerz stressmoduliert ist und dass zusätzlich Schlafstörungen ein weiteres Problem darstellen. In einem «Stress-Assessment» geht es darum, die aktuelle Lebenssituation der Patienten in Erfahrung zu bringen und ggf. Belastungen im beruflichen oder privaten Bereich herauszuarbeiten, die dem Auftreten der Symptomatik zeitlich vorausgingen oder mitunterhaltend sind. Dabei sind umschriebene situative Belastungen weniger bedeutsam als länger anhaltende, den Alltag wesentlich prägende Dauerbelastungen (daily hassles).
Aufgrund der hohen Komorbidität von Angsterkrankungen ist deren sorgfältige Exploration ebenfalls routinemässig erforderlich; dies gilt für die aktuelle Situation ebenso wie für die Vorgeschichte. Neben Agora- und Klaustrophobie ist die Abklärung einer sozialen Phobie, einer generalisierten Angsterkrankung sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit den typischen Flashbacks wichtig. Hierbei sollte auch geklärt werden, inwieweit diese dem Auftreten der multilokulären Schmerzsymptomatik vorausgingen, was bei den genannten Angsterkrankungen oftmals der Fall ist (27). Im Hinblick auf Persönlichkeitsstile bzw. -störungen ist die Neigung zu Perfektionismus, ausgeprägtem Kontrollverhalten, Überaktivität und Altruismus sowie Affektabspaltung (anankastische Persönlichkeitsmerkmale bzw. -störung) bedeutsam, weil die damit einhergehende Selbstüberforderung zu anhaltender Erschöpfung und vegetativer Anspannung führen kann (28, 29).
Die genannten psychischen Störungen und Persönlichkeitsstile können Folge ungünstiger Umweltbedingungen in der Primärfamilie sein. Insofern sollte im Rahmen einer biographischen Anamnese eine systematische Eruierung jener Belastungsfaktoren stehen, deren Einwirkung in Kindheit und Jugend für eine erhöhte spätere Stressvulnerabilität heute wissenschaftlich als gesichert angesehen werden kann. Besonders bedeutsam sind hier physische Gewalt­erfahrungen (30 - 32), durch die es früh zur Verknüpfung von Schmerz- und Hilflosigkeitserleben kam.

Therapie

Im Hinblick auf eine Schmerzreduktion wissenschaftlich am besten belegt ist ein sorgfältig dosiertes aerobes Ausdauertraining sowie Aqua-Jogging (33 – 35). Auch für EMG-Biofeedback wurde als Entspannungstraining bei FMS in einer Metaanalyse eine relativ hohe Wirksamkeit nachgewiesen (36). Eine wesentliche Bedeutung für eine deutliche Besserung der Schmerzsymptomatik kommt einer gezielten Behandlung des Schlafproblems zu (37). Nach den Empfehlungen der Europäischen Schlafgesellschaft sollte dies primär mit Schlafhygiene Massnahmen und einer speziellen Form von Verhaltenstherapie (CBT-I) geschehen (38). Wichtig ist auch darauf zu achten, dass die meisten Schmerzmedikamente über eine Beeinträchtigung des Melatonin-Stoffwechsels (NSAR) bzw. eine Atemdepression (Opiate) Schlafstörungen induzieren können.
Die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) zeigte bei FMS im Follow-up keine wesentlichen Therapieeffekte hinsichtlich Schmerzreduktion sowie Verbesserung von Erschöpfung, Schlaf und Lebensqualität (39). Schon in den 1990er Jahren wurde in Psychotherapiestudien festgestellt, dass bei Patienten mit interpersonellen Belastungs- oder Konfliktsituationen im famili­ären oder beruflichen Bereich ein unspezifisches Schmerzbewältigungstraining nicht hinreichend wirksam ist (40, 41). Wesentlich erscheint vielmehr die Differenzierung pathogenetischer Subgruppen nach zugrundeliegenden Mechanismen. Liegt eine stressinduzierte Hyperalgesie vor, so sollten sich psychotherapeutische Massnahmen auf die ursächlichen neurobiologischen (Stress-)Mechanismen beziehen. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung einer besseren Selbstfürsorge sowie mehr Vertrauen in der Beziehung zu anderen Menschen (42, 43). Auch der Abbau einer Reihe von Vermeidungsstrategien (z.B. Angst vor Kontrollverlust, vor Enttäuschung und vor Konfliktsituationen) ist für das Verschwinden der Schmerzsymptomatik von grosser Bedeutung (44). Entsprechend der psychischen Begleitsymptomatik sind additiv störungsspezifische Psychotherapieansätze gefordert. So sind beispielsweise bei FMS-Patienten, deren multilokuläre Schmerzsymptomatik Leitsymptom einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist, traumaspezifische Therapiestrategien anzuwenden. Liegt eine Angsterkrankung vor, so ist die Psychotherapie zunächst auf deren möglichst spezifische Behandlung auszurichten. Am ungünstigsten ist die Prognose bei Patienten mit ausgeprägter Fixierung auf eine periphere Gewebeschädigung als Ursache ihrer multilokulären Schmerzsymptomatik. Dies kann das Ergebnis entsprechender ärztlicher Information (im Rahmen der Chronifizierung oder im Sinne eines Nocebo) oder der Mitgliedschaft bei entsprechenden Selbsthilfegruppen, jedoch auch Symptom einer körperbezogenen Angststörung sein. Letzteres ist gegenwärtig oft mit einer umwelttoxischen Ursachenattribuierung verknüpft.
Die Behandlung mit Analgetika ist bei FMS-Patienten wenig wirksam! Sie sollte – wenn überhaupt – zeitlich nur sehr limitiert geschehen (< 12 Wochen). Für stark wirksame Opiate (z.B. Oxycodon) gibt es bisher keinen validen Wirksamkeitsnachweis (45). Bei einer längeren Applikation von Opiaten ist bei nicht-tumorbedingten Schmerzen grundsätzlich mit peripheren und zentralen Sensitivierungsprozessen, d. h. einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit (opiatinduzierte Hyperalgesie) zu rechnen (46). Für Pregabalin und Duloxetin wurde in Metaanalysen (47) eine Number-Needed-to-Treat (NNT) zwischen 7 und 14 gefunden. Eine neuere Metaanalyse (48) erbrachte für Pregabalin (Tagesdosis 300 bis 600 mg) bei etwa 11% mehr Probanden eine signifikante Schmerzreduktion im Vergleich zur Placebo-Gruppe (39% vs. 28%). Für Cannabinoide gibt es schmerzbezogen bisher keinen hinreichenden Wirksamkeitsnachweis (49). Für Akupunktur erbrachte eine Metaanalyse über die zum FMS vorliegenden kontrollierten und randomisierten Studien keinen Wirksamkeitsnachweis (50).
Eine wesentliche Aufgabe des Hausarztes bzw. des niedergelassenen Facharztes in der Primärversorgung ist eine umfassende Information des Patienten über die dargestellten bio-psycho-sozialen Zusammenhänge beim FMS. Dies beginnt bereits mit der Erklärung des irreführenden Begriffs «Fibromyalgie». Information und Edukation bieten den betroffenen Patienten die Möglichkeit einer kognitiven Neubewertung, wirken gegen katastrophisierendes Coping und fördern eine aktive Mitarbeit bei der Therapie. Bereits dies kann zu einer signifikanten Schmerzreduktion beitragen (51). Eine sorgfältige Information und damit Entstigmatisierung von psychosomatischen Ansätzen kann helfen, dass der Patient bei zugrundeliegenden psychischen Belastungen sich für eine spezifische ambulante oder stationäre psychosomatische Schmerztherapie öffnet. Die wesentliche Botschaft lautet: Fibromyalgie ist gut behandelbar – allerdings ist ein multimodaler und gleichzeitig individualisierter Ansatz notwendig, der auf die individuelle Stressbelastung und -bewältigung fokussiert.

Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle 1
PD Dr. med. Niklaus Egloff 2
Dr. med. Christian Seeher 1
Prof. Dr. med. Katja Cattapan 1,3
1 Psychiatrische Klinik Sanatorium Kilchberg/ZH
2 Kompetenzbereich Psychosomatische Medizin, Inselspital Bern
3 Psychiatrische Univ.-Klinik Bern

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle

Senior Consultant Schmerz und Psychosomatik
Psychiatrische Klinik Sanatorium Kilchberg
Alte Landstrasse 70
8802 Kilchberg

UlrichT.Egle@sanatorium-kilchberg.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Eine Behandlung beim Fibromyalgie-Syndrom mit Schmerzmitteln (NSAR und Opiate) ist in der Regel nicht wirksam, mit Pregabalin und Duloxetin nur in Einzelfällen; auch für Cannabinoide gibt es bisher keinen schmerzbezogenen Wirksamkeitsnachweis.
  • Wirksam ist eine multimodale Therapie mit richtig dosiertem Sport- und Bewegungstraining, einem Entspannungsverfahren sowie einer Kombination von Einzelpsychotherapie und interaktioneller Gruppenpsychotherapie zur Erkennung und Veränderung stressbezogener Verhaltensmuster.

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Der Check-up

Während der COVID-19 Pandemie werden Check-ups immer beliebter. Aber sind sie wirklich sinnvoll? Einige Studien lassen daran zweifeln, denn sie können keine Evidenz für die Wirksamkeit aufzeigen. Die Praxis zeigt jedoch, dass diese Vorsorgeuntersuchungen oft sinnvoll sind, da viele Menschen nicht nur im Sinne einer Primärprävention einen Check-up machen wollen. Viel mehr gehen die Leute zum Arzt, weil sie im Frühstadium einer Krankheit die Progredienz der Erkrankung und daraus entstehende Komplikationen vermeiden möchten. Zudem gehen immer mehr Leute zum Check-up, weil sie damit eine Resilienz aufbauen wollen, und weil sie ihren Gesundheitszustand insgesamt verbessern möchten.

In der Bevölkerung wird aktuell viel darüber gesprochen, wie eine Infektion mit dem SARS-CoV-2 verhindert werden kann. Vorsorge, Check-ups und Präventionsmedizin sind inzwischen fast Modewörter geworden. Die Menschen wollen ihr Immunsystem aufbauen und Risikofaktoren für eine ungünstige Prognose bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 reduzieren. So sind auch Check-ups während der COVID-19 Pandemie immer beliebter geworden.
Oft versteht man unter Check-up eine periodische Allgemeinuntersuchung bei Menschen, die sich gesund fühlen. Somit ist ein Check-up für subjektiv Gesunde eine Vorsorgeuntersuchung im Rahmen der Primärprävention, bei der es vor allem um die Früherkennung bislang symptomloser Krankheiten geht (1).
Argumente gegen Check-ups basieren stark auf der bekannten Cochrane Metaanalyse aus dem Jahr 2019. Anhand von 17 Studien behaupten die Autoren, dass diese Vorsorgeuntersuchungen die Morbidität und Mortalität insgesamt nicht reduzieren würden (2).
Um diese Punkte zu adressieren, müssen die folgenden Fragen zwingend gestellt werden:
1) WARUM gehen Leute zum Check-up? Was sind die motivierenden Faktoren und Gründe? Gehen Menschen zum Arzt nur um Krankheiten zu vermeiden bzw. früh zu erkennen, oder wollen sie durch den Arztbesuch das Wohlbefinden und den Gesundheitszustand sowie ihre Leistung verbessern?
2) WIE wird ein Check-up durchgeführt und welche Diagnostik wird eingesetzt? Sind alle Check-up Angebote in der Schweiz gleichwertig?
3) WANN und zu welchem Zeitpunkt werden Check-ups durchgeführt?
Nach Beantwortung dieser Fragen, wird es klar, dass viele Menschen nicht nur im Sinne einer Primärprävention einen Check-up machen wollen. Viel mehr gehen die Leute zum Arzt, weil sie im Frühstadium einer Krankheit die Progredienz der Erkrankung sowie Komplikationen vermeiden möchten. Zudem gehen immer mehr Leute zum Check-up, weil sie sportlich ambitioniert sind, weil der Leistungsdruck bei der Arbeit hoch ist und sie Resilienz aufbauen wollen, und weil sie ihren Gesundheitszustand insgesamt verbessern wollen. Damit müssen die Studien zur Präventionsmedizin kritisch interpretiert werden, da sie oft nur die primärpräventiven Interventionen analysieren.

Ausgangslage

Warum wollen Leute zum Check-up?
Immer mehr Personen gehen zum Arzt, um Ihre Gesundheit zu optimieren. Auch Unternehmen interessieren sich vermehrt für die Gesundheit der Mitarbeiter, denn sie wissen, dass deren Gesundheit und Wohlbefinden die Produktivität steigert und Krankheitsausfälle reduziert (3). Damit die Firmen produktiv und erfolgreich bleiben, bieten sie daher Check-ups für Mitarbeiter an.
Aber auch Menschen mit chronischen Krankheiten wie z.B. arterielle Hypertonie, KHK, Diabetes und weitere metabolische Krankheiten wollen einen Check-up, um Komplikationen zu vermeiden und um ihr Wohlbefinden zu optimieren. Gerade multimorbide Patienten können von einem holistischen Ansatz eines Check-ups profitieren und sie bevorzugen oft Vorsorgeuntersuchungen beim Hausarzt, statt nur organspezifische Untersuchungen bei Spezialisten durchzuführen. Schliesslich muss der Mensch und die Organsysteme bei Multimorbidität und Polypharmazie als Ganzes betrachtet werden. Studien zeigen zudem, dass langjährige, regelmässige und vertrauliche Arzt-Patientenbeziehungen die besten Ergebnisse ermöglichen (4).
Schliesslich gibt es auch Leute bei denen die eigentlichen Motive, wie zum Beispiel Angststörungen und Geschlechtserkrankungen («Hidden Agenda») unausgesprochen bleiben, solange nicht danach gefragt wird. Im Rahmen der Anamneseerhebung ist es somit wichtig, eine «Hidden Agenda» aktiv herauszufinden oder auszuschliessen.

Wie wird ein Check-up gestaltet und durchgeführt
Grundsätzlich gehören zum Check-up die Anamnese, klinische Untersuchungen, Laboruntersuchungen und apparative Untersuchungen. Welche Untersuchungen vorgenommen und wie das Grundprogramm ergänzt wird, sind von Anamnese, Symptomen, Lebensstil und dem Untersucher abhängig (Tab. 1). Check-ups werden daher sehr unterschiedlich durchgeführt. Ähnlich wie z.B. in der Orthopädie, wo der Outcome einer Hüft-TP vom Operateur und dem chirurgischen Zentrum abhängig ist, wird die Qualität und das Nutzen eines Check-ups stark vom Arzt beeinflusst.
Entscheidet sich ein Arzt zum Beispiel ein Thorax-Röntgen als Screen­ing für Lungenkrebs bei Rauchern einzusetzen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Tumor verpasst erheblich grösser als bei einem Low-Dose-CT. Studien zeigen eine relative Reduktion von sogar 20% in der Lungenkrebsmortalität für die Niedrigdosis-CT-Gruppe im Vergleich zum konventionellen Thorax-Röntgen (5).
Zudem ist es an der Zeit, die Gestaltung der Prävention umzudenken. Auf Populationsebene sind auch Coaching Programme sowie Digital- und Tele-Medizin nötig, gerade auch während eines Lock-Downs. Das traditionelle Modell, in welchem alles in der Arztpraxis gemacht werden soll, ist Vergangenheit (4).

Wann findet ein Check-up statt – «Timing is all»
Zum einen spielt die Frequenz von Check-ups eine Rolle. Die kritischen Meta-Analysen, messen die Kosten-Wirksamkeit von jährlichen Check-ups und schliessen Personen über 65 Jahren von den Studien aus. Aus rein ökonomischer Sicht kann die Frequenz von Check-ups eine signifikante Rolle in der Kosten-Wirksamkeit der Analyse spielen. Zum anderen sind Nutzen und Wirksamkeit vom Timing abhängig. Eine Koloskopie, Augendruckmessung oder PSA Bestimmung bei einem 35-Jährigen ohne Risikofaktoren ist sinnlos oder sogar schädlich. PAP ist jedoch bei sexuell aktiven Frauen bereits mit 21 Jahren indiziert (Tab 1).

Sollen Menschen, die sich kerngesund fühlen, eine Vorsorge Untersuchung angeboten bekommen?

Basierend vor allem auf der Cochrane Studie argumentieren einige Ärzte, dass keine sicheren Hinweise auf eine Senkung von Morbidität oder Mortalität durch Check-ups bei asymptomatischen Menschen gegeben seien (6). Bei vielen gesunden Personen geht es jedoch nicht primär um Mortalität und Morbidität, sondern vielmehr um Verbesserung der Leistung und Gesundheit, sowie von Förderung eines gesunden Lebensstils und somit auch um die Reduktion von Risikofaktoren.
Zum Beispiel bei Spitzensportlern und einigen Hobby Sportlern (je nach Disziplin) sind beispielsweise jährliche sportärztliche Screenings indiziert. Auch wenn z.B. EKG-Screening-Untersuchungen im Rahmen von Check-ups nicht bei allen Personen nötig sind, wird ein EKG bei Sportlern empfohlen (7).
Gemäss einer Studie vom National Research Council and Institute of Medicine in den Vereinigten Staaten sind bis zur Hälfte aller frühzeitigen Todesfälle durch Risikoverhalten und ungesunden Lebensstil verursacht. Durch motivierende Gespräche im Rahmen eines Check-ups, Beratung und Aufklärung, kann ein gesunder Lebensstil durch Sport, Ernährung, Schlaf, Health Litteracy, Rauchstopp und Gewichtsreduktion verbessert werden. Zudem können die Ärzte wichtige Themen zu psychosozialen Aspekten der Gesundheit und Depression gerade während der Zeit von Home-Office und Lock-down angehen. Schliesslich können auch Impfungen während eines Check-ups aufgefrischt werden.
Selbstverständlich ist die Früherkennung von Krankheiten für die Prognose sehr wichtig. Leider gehen Personen jedoch oft zum Check-Up erst wenn sie Symptome haben und sind bei dem Arzttermin gar nicht asymptomatisch (8). Zum Beispiel bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen – die nach den Krebserkrankungen in der Schweiz die zweithäufigste Todesursache sind – ist die Früherkennung von familiären Hypercholesterinämien wichtig aber die Diagnosestellung findet oft mit Verzögerung statt. Das Motto «je früher die Diagnose, desto besser» ist hier von grosser Bedeutung, da einer ihrer wichtigsten Risikofaktoren das Cholesterin ist, besonders das LDL-Cholesterin (LDL-C) (AGLA 1). In einer Studie in Circulation konnte 2015 gezeigt werden, dass 4,4% der Patienten, bei denen die Hypercholesterinämie gerade erst entdeckt worden war, eine KHK entwickelten. Lag die Hypercholesterinämie schon ein bis zehn Jahre vor, waren es 8,1%. Bei 11 bis 20 Jahren waren es 16,5% (9). Daher messen die aktuellen Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) dem Screening von kardiovaskulären Risikofaktoren und der konsequenten Senkung des LDL-C eine grosse Bedeutung bei.
Bluthochdruck ist bekannterweise einer der wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren mit einer hohen Prävalenz in der Schweiz und weltweit (Abb. 1). 60% der über 60-Jährigen und 80% der über 75-Jährigen sind hyperton. Die frühzeitige Diagnose und Behandlung der Hypertonie und deren Risikofaktoren wie Adipositas und Dyslipidämie kann das Auftreten von Folgekrankheiten wie Koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall oder Nephropathien deutlich verringern. Leider sind jedoch bis 80% der Patienten mit einer arteriellen Hypertonie suboptimal eingestellt und profitierten so indirekt vom Check-up (10). Weitere Risikofaktoren, die während eines Check-ups anamnestisch erhoben werden, sind familiäre Belastungen, erhöhter Alkoholkonsum, Nikotinkonsum und Bewegungsmangel.
Ähnlich auch bei Lungenkrebs. Lungenkrebs ist die häufigste krebsbezogene Todesursache in der Schweiz – 85% der Fälle verlaufen tödlich. In der Schweiz stirbt jede 20. Person an Lungenkrebs. Machen sich Symptome wie Husten, Hämoptoe, Dyspnoe oder Schmerzen bemerkbar, ist es häufig schon zu spät. Auch bei Blutdruck und Diabetes ist die Früherkennung wichtig, um sekundäre Folgen zu vermeiden.

Die Prävention zahlt sich aus wenn die Qualität der Check-ups stimmt

Nach der Cochrane Studie von 2012 belasten Check-ups nach Ansicht der Autoren die Patienten durch unnötige Diagnosen. Die Diagnosen werden jedoch aufgrund objektiver Daten und Richtlinien oder nach systematischem Ausschlussverfahren erstellt und sind nicht «unnötig.» Die Diagnostik, die Interpretationen und die Therapien können jedoch sehr unnötig, unsinnig und auch schädigend sein.
Genauso wie eine verpasste Diagnose zu einer erheblichen Morbidität und Mortalität führen kann, kann auch eine Übertherapie höchst negative Auswirkungen haben. Daher geht es hier viel mehr darum, dass die Check-ups durch kompetente Fachleute durchgeführt werden mit individuellem Screening und richtigem Timing.
Zudem dienen die Check-ups nicht nur der Reduktion von Morbidität oder Mortalität. Viel mehr können Risikoverhalten und Risikofaktoren durch Beratung und Aufklärung angegangen werden und Check-ups können zu einem gesünderen und produktiveren Lebensstil führen.
Damit müssen die Studien zur Präventionsmedizin kritisch interpretiert werden, da sie oft nur die primärpräventiven Interventionen analysieren. Die Qualität der Check-ups müssen überprüft werden und neue Modelle der Präventionsmedizin sind gefragt.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Dr. phil. Anna Erat

Check-up Zentrum Hirslanden
Forchstrasse 420
8702 Zollikon

anna.erat@hirslanden.ch

Die Autorin ist Chefärztin am Hirslanden Check-up Zentrum. Ansonsten hat sie in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die Früherkennung von Krankheiten hat einen signifikanten Einfluss auf die Prognose, Morbidität und Mortalität. Damit ein Check-up hoch qualitativ und sinnvoll ist, müssen zuerst die Fragen «warum, wie und wann» beantwortet werden.
  • Bei einem Check-up geht es jedoch nicht nur um die Primärprävention. Auch Patienten mit chronischen Krankheiten gehen zum Arzt, weil sie die Progredienz der Erkrankung und Komplikationen vermeiden möchten. Zudem gehen immer mehr Leute zum Check-up, weil sie sportlich ambitioniert sind und weil sie ihren Gesundheitszustand insgesamt verbessern wollen.
  • Daher sollten Studien zur Präventionsmedizin kritisch interpretiert werden, da sie oft nur die primärpräventiven Interventionen analysieren. Neue Studiendesigns sind hier gefragt. Wir brauchen mehr Daten und Studien, die weitere Aspekte der Prävention und Check-ups berücksichtigen.
  • Zudem ist es Zeit, die Gestaltung der Prävention umzudenken. Auf Populationsebene, sind auch Coaching Programme sowie Digital- und Tele-Medizin nötig. Das traditionelle Modell, in dem alles in der Arztpraxis gemacht werden soll, ist vorbei.

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10. Grätzel von Grätz P. Check-up mit 35 – Sinn oder Unsinn? Aerztezeitung 2015, May 05.

Monoklonale Gammopathien

Der Einsatz von monoklonalen Antikörpern (mAbs – aus dem englischen «monoclonal antibodies») in der Medizin hat eine lange und faszinierende Geschichte, welche mit der Entwicklung der Hybridom-Technik nach Köhler und Milstein in den 70er-Jahre ihren Ursprung hat (1). Seitdem haben sich mAbs in mehreren Bereichen der Medizin, insbesondere auch als Arzneimittel, etabliert. Trotz nunmehr langjähriger Anwendung im klinischen Alltag wurden Interferenzen durch therapeutische mAbs bei labormedizinischen Abklärungen erst im letzten Jahrzehnt erkannt. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick des heutigen Kenntnisstands präsentiert.

Die ursprünglichen therapeutischen mAbs wurden aus Maus- und Ratten-Hybridomen erstellt (–momab). 1986 wurde Muromomab-CD3 als erster mAb zur Behandlung akuter Abstossungsreaktionen nach allogener Nieren-, Herz- oder Lebertransplantation zugelassen. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit und der ausgeprägten Immunogenität, fand die erste Generation limitierten Eingang in den klinischen Alltag. Durch moderne biotechnologische Verfahren konnte die mAb-Struktur humanisiert werden. Es entstanden zunächst chimäre (-ximab), später humanisierte (-zumab) und humane (-umab) Antikörper mit verbesserter Pharmakokinetik, Antigen-Spezifität und reduzierter Immunogenität. Infolgedessen wurden therapeutische Antikörper zur prädominanten Klasse neuentwickelter Arzneimittel und Bestsellern der Pharmaindustrie mit einem geschätzten jährlichen Umsatz von ca. 115 Milliarden US$ im Jahr 2019 und erwarteten 300 Milliarden US$ bis 2025(2, 3) (Fig. 1).


Interferenzen durch therapeutische mAbs bei labormedizinischen Abklärungen wurden erst in jüngerer Zeit erkannt. Störungen unterschiedlicher analytischer Methoden können bei Laborabklärungen in der Transfusions- und Transplantationsmedizin sowie Hämato-Onkologie auftreten (4), wie in den folgenden Abschnitten dargestellt wird:

Interferenz bei Histokompatibilitätsprüfung (Crossmatch Testing):

Bei Transplantatempfängern vorkommende Antikörper gegen HLA-Antigene (HLA-Allele) des Spenders können zu einer Transplantatabstossung führen. Vor einer Transplantation erfolgt daher ein sogenannter HLA-Crossmatch, bei dem das Serum des Empfängers gegen B- und T-Lymphozyten des Spenders im lymphozyto­toxischen Test untersucht wird, um zu überprüfen, ob beim Empfänger zyto­toxische HLA-Antikörper vorhanden sind. Für eine erfolgreiche Transplantation wird ein negativer Crossmatch vorausgesetzt (5). Die Anwesenheit von bestimmten therapeutischen mAbs (z.B. Rituximab; anti-CD20) im Empfängerserum kann durch Bindung an CD20-Antigene auf B-Lymphozyten zu einem falsch-positiven Crossmatch und demzufolge zur Ablehnung des Transplantatspenders führen. Dank einer rechtzeitigen Mitteilung der aktuellen Medikation, kann das HLA-Labor durch Vorbehandlung des Patientenserums die Interferenz beseitigen und eine fehlerhafte Interpretation der Resultate vermeiden. Weitere therapeutische mAbs, die im Crossmatch interferieren, sind Daclizumab (anti-CD25) und Alemtuzumab (anti-CD52). Beide Arzneimittel werden für die Reduktion des Risikos einer Graft-versus-Host-Reaktion eingesetzt.

Interferenz beim Antikörpersuchtest und der Verträglichkeitsuntersuchung:

Störungen von Laboruntersuchungen in der Transfusionsmedizin durch Daratumumab-Behandlung wurden schon während Phase-I/II-Studien erkannt. Daratumumab und das neu zugelassene Isatuximab sind humane monoklonale IgG-Kappa-Antikörper mit einer hohen Affinität zum Oberflächenantigen CD38, welche immer häufiger für die Therapie des Multiplen Myeloms (MM) eingesetzt werden. Da CD38 auch auf der Erythrozytenoberfläche exprimiert wird, kann die Behandlung mit anti-CD38 mAbs bis zu sechs Monate nach der letzten therapeutischen Gabe zu Interferenzen bei Antikörpersuchtests, Antikörperdifferenzierungen und Kreuzproben führen. Daher sollte bei diesen Patienten vor Beginn der Behandlung eine umfassende Bestimmung transfusionsrelevanter Blutgruppen erfolgen, um eine möglichst rasche Freigabe kompatibler Erythrozytenkonzentrate zu ermöglichen.

Interferenz in der Serum-Elektrophorese und Immunfixation:

Seit 2016 sind Daratumumab (anti-CD38) und Elotuzumab (anti-SLAMF-7) sowie seit 2020 Isatuximab (anti-CD38) für die Behandlung des MM in der Schweiz zugelassen. Als neue Option wurde kürzlich Belantamab (anti-BCMA) Mafodotin zur Monotherapie bei rezidiviertem, refraktärem MM für die EU bestätigt – die Schweiz könnte nachziehen (6). Als humane monoklonale IgG-Kappa-Antikörper können diese mAbs sowohl mittels Serum-Protein Elektrophorese (SPE) als auch durch Immunfixations-Elektrophorese (IFE) nachgewiesen werden (Fig. 2). Beide Methoden werden routinemässig für das Screening (Gammopathie-Abklärung) und die Überwachung eines endogenen monoklonalen Proteins (M-Protein) angewendet (7). Diese Interferenz ist stark von der Pharmakokinetik der einzelnen mAbs abhängig. Bei Patienten mit einem endogenen IgG-Kappa-Myelomprotein unter Behandlung mit Daratumumab kann die Überwachung des Therapieansprechens erschwert und eine komplette Remission maskiert werden. Umgekehrt kann bei Myelom-Patienten in Remission ein Rezidiv oder sogar eine Progression der Erkrankung vorgetäuscht werden. Spezielle Analysenansätze erlauben heute die Unterscheidung zwischen endogenem und thera­peutischem monoklonalen M-Protein bei Daratumumab-Behandlung (8). Ob ein solch aufwändiger Ansatz erforderlich ist, kann nur durch das durchführende Labor aufgrund der elektrophoretischen Migrationseigenschaften des endogenen M-Proteins beurteilt werden.


Darüber hinaus können weitere therapeutische mAbs, hauptsächlich Rituximab und Bevacizumab (9), als niedrig-konzentriertes monoklonales IgG-Kappa-M-Protein bei einer Gammopathie-Abklärung nachgewiesen werden. Bei fehlenden Angaben zu einer mAb-Behandlung werden solche Fälle in der Regel als MGUS (monoklonale Gammopathie unbekannter Signifikanz) diagnostiziert, eine klinisch asymptomatische klonale Plasmazellproliferation ohne Malignitätskriterien und ohne Therapiebedarf. Nichtdestotrotz stellt eine MGUS die Vorstufe einer malignen lymphoproliferativen Erkrankung (MM, lymphoplasmozytisches Lymphom, Non-Hodgkin-Lymphom) dar und hat klinische Folgen. Weiterführende Abklärungsuntersuchungen, jährliche serologische Verlaufskontrollen und eine unnötige psychische Belastung der Patienten müssten in Kauf genommen werden. Um das Risiko einer Interferenz bei der Abklärung einer Gammopathie zu minimieren, sollte die entsprechende Blutentnahme frühestens zwei Tage nach der Gabe monoklonaler mAbs durchgeführt werden.
Durch die rasante Zunahme an neuen therapeutischen mAbs und deren potenziellem kombinierten Einsatz wird in näherer Zukunft der Umgang mit Interferenzen bei Laboruntersuchungen komplexer werden. Neue Labormethoden, die nicht durch therapeutische mAbs gestört werden, sind schon in Entwicklung (10). Ob diese Einsatz im Routinelabor finden werden, ist noch unklar. In der Zwischenzeit können die Kenntnis potenzieller Risiken und der systematische Informationsaustausch zwischen Klinikern und Labor die beschriebenen Interferenzen grossteils vermeiden.

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Dr. sc. nat. Luca Bernasconi

Institut für Labormedizin
Kantonsspital Aarau AG
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5000 Aarau

luca.bernasconi@ksa.ch

Cand. FAMHPeter Neyer

Institut für Labormedizin
Kantonsspital Aarau AG
Tellstrasse 25
5000 Aarau

Dr. sc. ETH Gregoire Biollaz

Freiguterstr. 12
8022 Zürich

LB gibt an, von der Firma Sebia GmBH innerhalb der letzten 5 Jahre einmalig ein Vortrags-Honorar bekommen zu haben.
Die beiden anderen Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die Behandlung mit therapeutischen mAbs führt zur Störung verschiedener Laboruntersuchungen.
  • Interferenzen können durch eine sorgfältige Planung der Blutentnahmezeit vermieden oder anhand geeigneter Labormethoden beseitigt werden.
  • Der Informationsaustausch zwischen Klinikern und Labor (und vice versa) erlaubt den meisten Interferenzen aus dem Weg zu gehen.

1. Kohler, G. and C. Milstein, Continuous cultures of fused cells secreting antibody of predefined specificity. Nature, 1975. 256(5517): p. 495-7.
2. Kaplon, H., et al., Antibodies to watch in 2020. MAbs, 2020. 12(1): p. 1703531.
3. Lu, R.-M., et al., Development of therapeutic antibodies for the treatment of diseases. Journal of Biomedical Science, 2020. 27(1): p. 1.
4. Lazar-Molnar, E. and J.C. Delgado, Implications of Monoclonal Antibody Therapeutics Use for Clinical Laboratory Testing. Clin Chem, 2019. 65(3): p. 393-405.
5. Kleesiek, K., et al., HLA-Crossmatch, in Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik, A.M. Gressner and T. Arndt, Editors. 2019, Springer Berlin Heidelberg: Berlin, Heidelberg. p. 1129-1129.
6. Holtick, U. and C. Scheid, Aktuelle immuntherapeutische Ansätze beim multiplen Myelom. best practice onkologie, 2019. 14(10): p. 412-422.
7. Bernasconi, L., Monoklonale Gammopathien – Klinische Assoziation und Labordiagnostik. Der informierte Arzt, 2015. 12.
8. Thoren, K.L., et al., Distinguishing Drug from Disease by Use of the Hydrashift 2/4 Daratumumab Assay. J Appl Lab Med, 2019. 3(5): p. 857-863.
9. Ruinemans-Koerts, J., et al., Interference of therapeutic monoclonal immunoglobulins in the investigation of M-proteins. Clin Chem Lab Med, 2014. 52(11): p. e235-7.
10. Mills, J.R., et al., A universal solution for eliminating false positives in myeloma due to therapeutic monoclonal antibody interference. Blood, 2018. 132(6): p. 670-672.

Amyloidose und Herz

Die kardiale Amyloidose ist durch Ablagerungen von Amyloid bedingt, die häufigsten Formen sind monoklonale Leichtketten (AL) oder Transthyretin (TTR). Beide Formen können das Herz befallen und sind mit einer ungünstigen Prognose vergesellschaftet. Die kardiale TTR Amyloidose wird aufgrund der modernen diagnostischen Möglichkeiten immer häufiger diagnostiziert und ist viel häufiger als ursprünglich angenommen. Dies ist wichtig, da seit kurzem eine Therapie verfügbar ist, welche die Prognose verbessert.

An eine kardiale Amyloidose sollte immer dann gedacht werden, wenn sich ein Patient mit Symptomen einer Herzinsuffizienz präsentiert und einen Echokardiographie- oder MRI-Befund aufweist der typisch für eine Amyloidose ist (Abb. 1 und Tab. 1) (1).
Bei der AL Amyloidose liegt die Ursache bei einer hämatologischen Erkrankung (monoklonale Gammopathie, meist Plasmazelldyskrasie, seltener lymphoplasmozytische Erkrankung) – hierbei bilden monoklonale Plasmazellen Leichtketten, welche sich im Herz und anderen Organen ablagern. Bei der TTR Amyloidose unterscheidet man die «wild-type (wt)» von der «variant» (genetische) Form. Bei der familiären Form liegt ein Gendefekt im TTR-Gen zugrunde, es kommt zu einer Fehlfaltung von TTR, das sich als Amyloid im Herzen, aber auch im Nervensystem ablagern kann (2). Der Pathomechanismus bei der wt-Form ist nicht abschliessend geklärt, wobei sich auch dort TTR als Amyloid in den Organen ablagert. Neben der kardialen Manifestation und insbesondere bei der wt-Form kann es typischerweise ein paar Jahre vor dem Herzbefall zum Karpaltunnel Syndrom, einer Bizeps-Sehnen-Ruptur oder einer Spinalkanalstenose kommen (3).


Die AL-Amyloidose ist eine seltene Erkrankung und hat immer noch eine schlechte Prognose, insbesondere wenn das Herz betroffen ist – neue Therapien haben aber hier deutliche Fortschritte erzielt. Auch die vATTR Amyloidose ist sehr selten, in gewissen Gebieten aber endemisch (z.B. Teilen von Portugal, Schweden oder Japan). Die wtATTR Amyloidose wurde bisher ebenfalls als seltene Erkrankung angesehen, in den letzten Jahren hat sich jedoch dank verbesserter Diagnostik gezeigt, dass diese Form viel häufiger ist und meist eine bessere Prognose aufweist als bisher angenommen. Für diese Form ist seit kurzem erstmals eine spezifische Therapie zugelassen.

Diagnostik

Bei Verdacht auf eine kardiale Amyloidose (Herzinsuffizienz-Beschwerden, typisches Echo oder MRI) sollten zuerst ausführliche Laboruntersuchungen inkl. kardiale Biomarker NT-pro BNP und Troponin (zur Abschätzung der Prognose) und eine Protein-Elektrophorese mit Immunfixation im Serum und Urin sowie Bestimmung der freien Leichtketten im Serum veranlasst werden. Letzteres ist entscheidend für die Unterscheidung zwischen AL und ATTR Amyloidose. Ein EKG sollte geschrieben werden, um die Frage nach Vorhofflimmern und Blockierungen zu beantworten. Die typischerweise beschriebene «low-voltage» findet sich eher bei der AL-Amyloidose, bei der ATTR ist dies jedoch nicht so häufig (ca. 22%), typischer ist dort ein Pseudoinfarktmuster (63%).
Bei unauffälliger Immunfixation ist eine AL-Amyloidose praktisch ausgeschlossen (Abb. 2). In diesem Fall sollte eine Technetium Szintigraphie durchgeführt werden. Fällt diese positiv aus, gilt die Diagnose einer ATTR-Amyloidose als gesichert (4), jedoch kann nicht zwischen wtATTR und vATTR unterschieden werden, weswegen eine genetische Testung sinnvoll ist. Diese kann nach Einholen einer Kostengutsprache durch die Krankenkasse durchgeführt werden kann. An eine hereditäre Form sollte insbesondere dann gedacht werden, wenn neurologische Symptome wie Polyneuropathie vorhanden sind. Bei negativer Szintigraphie und persistierend hohem Verdacht auf eine kardiale Amyloidose, sollte eine Endmyokardbiopsie durchgeführt werden (5).
Bei pathologischer Immunfixation und Verdacht auf eine kardiale Amyloidose ist die Situation etwas komplizierter, da die Diagnose mittels Biopsie und Nachweis von Amyloid gestellt werden muss. Normalerweise erfolgt bei pathologischer Immunfixation eine hämatologische Abklärung, gelegentlich gelingt der Nachweis von Amyloid schon in der Knochenmarksbiopsie (ca. 50%), ansonsten muss Amyloid an anderen Stellen (typischerweise Bauchfett, Speicheldrüsen, Endomyokard) gesucht und immunhistochemisch bestätigt werden, was gelegentlich herausfordernd sein kann (Abb. 2). Ein wichtiges Problem stellt die hohe Koinzidenz eines MGUS mit der wtATTR Amyloidose im fortgeschrittenen Alter dar.

Amyloidose mit Herzbefall

Während die AL-Amyloidose meist verschiedene Organe befällt (insb. Herz, Niere, Nervensystem und Magen-Darmtrakt), ist bei der wtATTR Amyloidose meist das Herz im Zentrum (bei der vATTR zusätzlich das Nervensystem). Was muss man besonders beachten bei einem Herzbefall? Im Zentrum steht die Herzinsuffizienz, mit den klinischen Zeichen einer restriktiven Kardiomyopathie (links- und rechtsseitige Volumenretention). Sehr wichtig ist die Neigung zu Vorhofflimmern und Hirninfarkten – ca. 90% der Patienten haben oder entwickeln im Verlauf ein VHF. Weitere Probleme sind Reizleitungsstörungen, welche insbesondere bei der ATTR-Amyloidose auftreten, sowie Synkopen und plötzlicher Herztod. Synkopen bei Anstrengung sind meist dadurch bedingt, dass das Herzminutenvolumen fixiert ist – die Hypotonie beziehungsweise die Orthostase aufgrund einer autonomen Dysfunktion. Auch Thoraxschmerzen aufgrund einer Beteiligung der Mikrozirkulation sind nicht selten.

Behandlung der kardialen Amyloidose

Für den Patienten steht initial die symptomatische Therapie im Vordergrund. Am wichtigsten ist die Behandlung mit Diuretika, um den Patienten von den Symptomen der Volumenretention zu entlasten. Hierbei gibt es aber zu bedenken, dass die Druck-Volumen-Kurven sehr steil sind und zu viel Diuretika auch einen übermässigen Blutdruck-Abfall bewirken können. Trotzdem müssen die Diuretika genügend hoch dosiert werden um den Patienten wirklich zu entlasten. Im Verlaufe der Erkrankung sind meist immer höhere Dosen notwendig. Die Erkrankung hat einen HFpEF Charakter und die Auswurffraktion ist meist «normal.» Das bedeutet, dass trotz Herzinsuffizienz-Symptomen keine Beta-Blocker, ACE-Hemmer (ACHI), Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) oder gar Sacubitril/Valsartan verabreicht werden sollten. Beta-Blocker werden meist schlecht vertragen da das Herzminutenvolumen kaum mehr gesteigert werden kann (das Schlagvolumen ist fixiert und der kardiale Output kann nur noch mit der Herzfrequenz gesteigert werden). Vor allem bei der AL-Amyloidose, aber auch bei der fortgeschrittenen TTR-Amyloidose werden ACEI und ARB aufgrund ihrer peripher vasodilatierenden Wirkung sehr schlecht vertragen und können Orthostase und Synkopen verursachen.
Von grösster Wichtigkeit ist das Erkennen von Vorhofflimmern und eine rechtzeitige orale Antikoagulation, um den Patienten vor einem Schlaganfall zu bewahren (häufige Erstmanifestationen einer Amyloidose). Wir empfehlen deshalb ein Holter-EKG alle 6 Monate durchzuführen. Bei einem dokumentieren VHF sollte unabhängig vom CHA2DS2-VASc Score eine orale Antikoagulation (OAK) begonnen werden. Einige Zentren beginnen damit schon, wenn der Patient noch im Sinus-Rhythmus ist, jedoch in der Echokardiographie ein restriktives Füllungsmuster aufweist. Die Rationale dahinter ist, dass in solchen Fällen die intraatrialen Druckwerte so hoch sind, dass kaum mehr Fluss erzeugt wird und der Patient zu Thromben neigt. Daten für Vorhofflimmern-Ablationen in der Amyloidose sind kaum vorhanden, wir sind hier zurückhaltend.
Die Indikationen für einen Herzschrittmacher unterscheiden sich nicht wesentlich von Patienten ohne Amyloidose, eine relevante Blockierung ist jedoch häufiger. Eine der grössten Schwierigkeiten ist die Prävention des plötzlichen Herztods. ICD-Implantation müssen im Team und mit dem Patienten gut besprochen werden und der Nutzen und die Risiken gegeneinander abgewogen werden. Es gilt zu bedenken, dass Fälle von elektromechanischer Entkoppelung und nicht Kammerflimmern die häufigsten Ursachen für einen rhythmogenen Tod bei Amyloidose darstellen – ein ICD hilft hier nicht. Auch sind inadäquate (und adäquate) Schocks häufiger als bei Nicht-Amyloidose und die Wirksamkeit eines Schocks kann aufgrund der Amyloid-Ablagerungen auch eingeschränkt sein.
Eine ATTR-Amyloidose wird immer häufiger bei Patienten mit Aortenstenose, welche für eine TAVI abgeklärt werden, festgestellt. Hier stellt sich die Frage ob man besser die Amyloidose oder die Aortenstenose behandelt. Es konnte gezeigt werden, dass eine TAVI bei diesen Patienten sicher ist und den Patienten nicht aufgrund der kardialen Amyloidose vorenthalten werden sollte (6).
In seltenen Fällen kommt auch die Herztransplantation in Frage. Hier ist es jedoch so, dass insbesondere bei der AL-Amyloidose die Patienten häufig bereits einen Multiorganbefall aufweisen, was eine relative Kontraindikation für eine Transplantation darstellt. Das Ausmass der systemischen Beteiligung ist hierbei entscheidend. Selten kann man bei einem isolierten Herzbefall eine Transplantation durchführen um anschliessend eine intensive Chemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation zu ermöglichen. Bei der ATTR Amyloidose mit rein kardialem Befall ist eine Transplantation in einigen Fällen gut möglich, meist haben die Patienten das TPL-Alter jedoch bereits überschritten.

Behandlung der zugrundeliegenden Erkrankung

Bei der AL-Amyloidose richtet sich die Therapie gegen die zugrundeliegende Erkrankung. Hier hat es in den letzten Jahren grosse Fortschritte gegeben, welche hier nicht im Detail besprochen werden. Wichtig ist die Zusammenarbeit mit einem für die Amyloidose spezialisierten Zentrum, um den Patienten in einem interdisziplinären Umfeld optimal zu betreuen und auch die neusten Therapien im Rahmen von Studien zugänglich zu machen.
Auch bei der ATTR-Amyloidose gab es in den letzten Jahren mehrere entscheidende Durchbrüche in der Behandlung. Mit Patisiran (RNA-Interferenz) und Inotersen (RNA antisense Oligonukleotid) kann die Bildung von Transthyretin in der Leber fast ganz blockiert werden (7). Zwei Studien bei Patienten mit einer familiären Amyloid-Polyneuropathie (familiär bedingte ATTR-Amyloidose welche das periphere Nervensystem befällt) zeigen eindrücklich, wie die Polyneuropathie in vielen Fällen aufgehalten oder gar verbessert wurden – auch bezüglich kardialer Symptome gibt es erste Hinweise für einen Nutzen. Entsprechende Studien bei der kardialen Amyloidose (vATTR und wtATTR) werden aktuell durchgeführt.
Ein weiterer Meilenstein ist die Zulassung von Tafamidis, einem TTR Stabilisator, für die Behandlung der kardialen ATTR-Amyloidose. Die ATTR-ACT Studie (mittleres Alter ca. 74 Jahre, 90% Männer, 75% wtATTR) zeigte, dass die Mortalität und die kardiovaskulär bedingten Hospitalisierungen über die Studiendauer von 30 Monaten signifikant gesenkt werden konnte (8). Bis dieser Effekt eintrat, dauerte es jedoch einige Monate. Interessant ist auch, dass die Lebensqualität und die Gehstrecke unter Tafamidis bei einem günstigen Nebenwirkungsprofil (kaum Therapieabbrüche in der Studie) weniger schnell abnehmen. Die Medikation ist zwar jetzt in der Schweiz zugelassen, jedoch nicht auf der Spezialitätenliste zu finden. Ein Kostengutsprache-Gesuch muss deshalb zwingend gestellt werden, die Verfügbarkeit ist zur Zeit limitiert.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dipl. Ärztin Natallia Laptseva

LA Klinik für Kardiologie
Amyloidose-Netzwerk Zürich
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Dr. med. Rahel Schwotzer

LA Klinik für Kardiologie
Amyloidose-Netzwerk Zürich
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

PD Dr. med. Andreas J. Flammer

LA Klinik für Kardiologie
Amyloidose-Netzwerk Zürich
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

andreas.flammer@usz.ch

NL: In Verbindung mit dem Manuskript: Honorare von Pfizer und Kongressbeiträge von Alnylam
RS: In Verbindung mit dem Manuskript: Honorare von Alnylam und Pfizer und einen ‘unrestricted research grant’ von Pfizer
Nicht in Verbindung mit dem Manuskript: Honorare oder Kongressbeiträge von Janssen, Mundipharma und Takeda
AFL: In Verbindung mit dem Manuskript: Honorare von Alnylam und Pfizer
Nicht in Verbindung mit dem Manuskript: Honorare oder Kongressbeiträge von AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, Bristol Myers Squibb, Fresenius, Imedos Systems, Medtronic, Mepha, Mundipharma, Novartis, Roche, Schwabe Pharma, Vifor und Zoll

  • An eine Amyloidose sollte bei Patienten mit Herzinsuffizienz und einer typischen Echokardiographie oder MRI gedacht werden
  • Die Diagnose einer kardialen ATTR-Amyloidose kann bei fehlender monoklonalen Gammopathie (normale Immunfixation) mittels Technetium Szintigraphie gestellt werden. Die Diagnose einer AL-Amyloidose erfolgt immer mit dem Nachweis von AL-Amyloid im Gewebe
  • Die kardiale Amyloidose ist gekennzeichnet durch Symptome der Herzinsuffizienz, orthostatische Hypotonie, Synkopen und plötzlicher Herztod, Vorhofflimmern mit Hirninfarkten und mikrovaskulärer Angina
  • Die Therapie besteht aus der Behandlung der Herzinsuffizienz-Symptome und der zugrundeliegenden Erkrankung.
  • Mit Tafamidis steht für die ATTR-Amyloidose erstmals eine Therapie zur Verfügung, welche die Prognose signifikant verbessert

1. Brouwers S, et al.: Cardiac Amyloidosis
Cardiovasc Med. 2018;21(11):282-289
2. Rauch PJ et al.: Systemische Amyloidosen
Schweiz Med Forum 2014 14;943-048
3. Maurer MS et al: Expert Consensus Recommendation for the Suspicion and Diagnosis of Transthyretin Cardiac Amyloidosis
Circulation: Heart Failure 2019; 12
4. Gillmore JD et al.: Nonbiopsy Diagnosis of Cardiac Transthyretin Amyloidosis
Circulation 2016: j133(24):2404-12
5. Laptseva N et al.: Cardiac amyloidosis: still challenging
Eur Heart J 2017, 38(22):122
6 Scully PR et al: Prevalence and outcome of dual aortic stenosis and cardiac amyloid pathology in patients referred for transcatheter aortic valve implantation
EHJ, 2020; 41; 759-2767
7. Maurer MS et al.: Tafamidis Tratment for Patients with Transthyretin Amyloid Cardiomyopathy, N Engl J Med 2018; 379(11):1007-1016
8. Adams D et al.: Patisiran, an RNAi Therapeutic, for Hereditary Transthyretin Amyloidosis
N Engl J Med 2018; 379(1):11-21