Die PGG-Studie

Die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen haben zusammen mit der Erwachsenenpsychiatrie des Kantons St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden im Jahr 2019 eine Studie mit 100 psychisch kranken Müttern und Vätern durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Eltern einer erheblichen Belastung ausgesetzt sind und bei ihnen ein grosser Unterstützungsbedarf besteht. Insbesondere brauchen sie Angebote, die nicht mit zusätzlichem Zeit- und Energieaufwand verbunden sind und die möglichst an ihren Behandlungsorten integriert werden. Die Ergebnisse der Studie sind die Basis für die Entwicklung von passenden Angeboten in der Region.

In unserer Gesellschaft ist Elternschaft trotz des Wandels bezüglich Familienformen (1) und der damit einhergehenden Herausforderungen nach wie vor ein für Identität bedeutsamer Aspekt. Insbesondere Frauen nehmen ihre Mutterschaft als eine Bereicherung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und den eigenen Lebensentwurf wahr. Für psychisch kranke Elternteile kann Elternschaft einen Resilienzfaktor darstellen, der massgeblich zu ihrer Rehabilitation beizutragen vermag (2). Gleichzeitig stellt die Elternschaft für die betroffenen Personen auch eine grosse Herausforderung dar und kann zusammen mit der psychischen Erkrankung zu einer doppelten Belastung werden (3). Psychisch kranke Eltern und ihre Familien brauchen Angebote, die zu ihrem Bedarf und ihren Ressourcen gut passen, da Untersuchungen zeigen, dass die Inanspruchnahme bestehender Angebote durch psychisch kranke Eltern häufig gering ist (4).
Behandlungen und Angebote im Zusammenhang mit Elternschaft und elterlicher psychischer Erkrankung sowie mit deren Auswirkungen auf die Kinder bedürfen unbedingt einer multidimensionalen und generationenübergreifenden Betrachtung, um wirksam und nachhaltig zu sein (5). Dafür sind auch Forschungsansätze nötig, die Menschen in ihren Lebenswelten zu ihrem subjektiven Erleben und ihren Bedürfnissen befragen.

Psychische Gesundheit aus der Generationen-perspektive: Die wichtigsten Daten zum Design der PGG-Studie

Der Hauptzweck der PGG-Studie (PGG für: Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive) (6) bestand, neben dem Erkenntnisgewinn, darin, in der Region eine gute Grundlage für die Implementierung konkreter, möglichst passgenauer Angebote für Familien mit psychisch kranken Elternteilen zu schaffen.
Die untersuchte Gruppe setzte sich aus psychisch kranken Müttern und Vätern zusammen, die zum Zeitpunkt der Erhebungen (Mai bis September 2019) ambulant oder (teil-)stationär in psychiatrischen Institutionen der Kantone St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden in Behandlung waren. Für die umfassende Beantwortung der Fragestellungen wurden die Querschnittdaten mittels Fragebögen wie auch halbstrukturierten Interviews erhoben. Es wurden zum einen Basisdaten (Alter, Familiensituation, Beruf, Anzahl Kinder, Betreuungssituation der Kinder) und Informationen zur psychischen Erkrankung (Diagnose, Dauer der Erkrankung, Anzahl Hospitalisationen, aktuelles Befinden) erhoben. Zum Zweiten wurden verschiedene standardisierte Fragebögen verwendet, die die elterliche Belastung messen (7) und die Einschätzung der Stärken und Schwächen aus elterlicher Sicht erheben (8, 9). Zum Dritten füllten die Eltern einen Fragebogen zu ihren Erfahrungen mit verschiedenen Angeboten sowie ihren Erwartungen und ihrem Bedarf bezüglich Unterstützung aus (6).
Für die Interviews wurde ein Interviewleitfaden eingesetzt, der Fragen zur Rolle der Elternschaft in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung der Eltern, zur Lebenssituation und Charakterisierung der Kinder, zum Einfluss der elterlichen Erkrankung auf die Kinder sowie zu Erfahrungen mit bestehenden Angeboten und zum individuellen Hilfebedarf beinhaltete.
Voraussetzung zur Studienteilnahme waren ausreichende Deutschkenntnisse und dass die Kinder noch minderjährig waren. Die Teilnehmenden wurden von ihren Bezugspersonen und vom wissenschaftlichen Team sowohl schriftlich wie mündlich zu verschiedenen Zeitpunkten über den Datenschutz, Anonymität und den Forschungshintergrund aufgeklärt. Die Studie wurde von der Ethikkommission des Kantons St. Gallen unter der Projektnummer 2019-00180 bewilligt. Insgesamt dauerte die Erhebungsphase vier Monate, wobei in den teilnehmenden Institutionen an einzelnen Stichtagen Daten erhoben wurden.

Ergebnisse der Studie

Es wurden 100 Personen1 (68% weiblich) in psychiatrischer Behandlung befragt, die Eltern von 189 Kindern im Alter zwischen einem Monat und 18 Jahren waren (Durchschnittsalter: 9.7 Jahre). Die an der Studie Teilnehmenden hatten im Schnitt zwei Kinder. Eine Mehrheit (62%) war zum Zeitpunkt der Befragung in einer festen Partnerschaft, mehr als die Hälfte war berufstätig und über ein Drittel (davon 89% weiblich) primär mit Familienarbeit beschäftigt. Knapp die Hälfte (45%) der Stichprobe wies als höchsten Ausbildungsabschluss eine Berufslehre auf. Als Erstsprache wurde in 70% der Fälle Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch angegeben. 40% der Elternteile nahmen nach dem Ausfüllen der Fragebogen an einem Einzelinterview teil. Diese Gruppe unterschied sich nicht signifikant von der Gesamtgruppe.

Diagnosen und Behandlungssetting

Die 100 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer litten mehrheitlich (60%) unter einer depressiven Erkrankung. Zusammen mit Angst- und Zwangsstörungen sowie Posttraumatischen Belastungsstörungen machten diese Erkrankungen drei Viertel der Hauptdiagnosen der Stichprobe aus. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer litten im Durchschnitt seit 5.8 Jahren an der psychischen Erkrankung und waren im Schnitt 1.51-mal psychiatrisch hospitalisiert gewesen (Tab. 1). Rund drei Viertel (73%) der an der Studie Teilnehmenden waren zum Zeitpunkt der Studie entweder in ambulanter (54%) oder in tagesklinischer (19%) Behandlung, die übrigen waren in stationärer Behandlung.

Zusätzliche Belastungen und Einschätzung der Befindlichkeit der Kinder

Die befragten Eltern gaben neben ihrer psychischen Erkrankung durchschnittlich noch zwei weitere Belastungen an: Häufig wurden finanzielle Probleme, Konflikte mit dem anderen Elternteil und zusätzliche körperliche Erkrankungen genannt. Die Daten aus dem elterlichen Belastungsinventar zeigen, dass Items, welche die elterliche Kompetenz betreffen («Es fällt mir manchmal schwer herauszufinden, was mein Kind braucht», oder: «Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob ich den Anforderungen als Mutter/Vater gewachsen bin»), besonders häufig als «sehr zutreffend» angekreuzt wurden. Aufgrund der Daten aus den Fragebogen, die Stärken und Schwächen der Kinder abfragten, müssen über zwei Drittel der Kinder in ihrem Verhalten als «grenzwertig» oder «auffällig» betrachtet werden.

Wichtige Ergebnisse aus den Einzelinterviews

In den 40 durchgeführten Einzelinterviews berichteten die Eltern häufig über verschiedene Sorgen im Zusammenhang mit ihren Kindern, beispielsweise von der Befürchtung, diese könnten selbst psychisch erkranken. Genannt wurden auch Insuffizienzgefühle in der Elternrolle sowie konkrete Einschränkungen in der Alltagsbetreuung der Kinder sowie die Sorge um eine adäquate Kinderbetreuung während möglicher Klinikaufenthalte. Einige Elternteile sprachen von einem belastenden Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Kindern, welches teilweise ihren eigenen Heilungsprozess beeinträchtige, weil sie gedanklich zu sehr auf die Kinder fokussiert seien. Die beschriebenen Belastungen und Sorgen wurden vorwiegend von den Müttern genannt, da sie mehrheitlich für die Betreuung der Kinder zuständig waren. Die Väter machten sich hingegen gehäuft Gedanken zu genetischen Komponenten einer möglichen psychischen Erkrankung ihrer Kinder oder waren mit Besuchsregelungen beschäftigt, die sie als ungerecht und belastend beschrieben.
Die meisten Eltern haben aber auch betont, wie wichtig ihnen die Beziehung zu ihren Kindern sei und wie viel Kraft (v.a. Mütter) sie daraus schöpfen würden. Viele haben einige positive Eigenschaften ihrer Kinder genannt und stimmige Episoden mit ihnen geschildert. Der grossen Mehrheit der interviewten Eltern war bewusst, dass ihre Kinder wegen ihrer psychischen Erkrankung immer wieder mit schwierigen Situationen würden umgehen müssen und dass sie sich als Eltern mehr Unterstützung wünschten, um den Bedürfnissen der Kinder besser gerecht werden zu können.

Unterstützungsbedarf

Die befragten Eltern gaben sowohl im Fragebogen als auch in den Einzelinterviews einen deutlichen Unterstützungsbedarf an: Sie möchten in den psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen als Eltern gesehen und angesprochen werden. Des Weiteren möchten sich bei der Entwicklung und Gestaltung passender familiärer Lösungen und Hilfestellungen von ihren Betreuerinnen begleitet werden, um nicht verschiedene Fachstellen aufsuchen und mit unterschiedlichen Fachpersonen interagieren zu müssen. Niederschwellige, aufsuchende Angebote würden die Bedürfnisse vieler psychisch kranker Mütter und Väter – laut eigener Einschätzung – am besten decken. An der Entwicklung ihrer elterlichen Kompetenzen würden sie gerne in der gleichen Institution, in der sie psychiatrisch und/oder psychotherapeutisch behandelt werden, arbeiten. Dafür wären Elterngruppen oder «Kinderspezialistinnen» vor Ort aus ihrer Sicht hilfreich.

Geplante Angebote aufgrund der PGG-Studie im Kanton St. Gallen

Die durchgeführte Studie sollte auf empirischer Grundlage Daten generieren, die für die Implementierung von Angeboten für psychisch kranke Eltern und ihre Kinder nutzbar sind. Aufgrund der Informationen aus dem Fragebogen zum familiären Unterstützungsbedarf sowie insbesondere auch auf der Basis der differenzierten Angaben aus den Einzelinterviews mit psychisch kranken Müttern und Vätern konnten erste mögliche Angebote konzeptualisiert werden. Leitend bei der Entwicklung und Entscheidung waren der Wunsch nach Niederschwelligkeit sowie nach Integrierung im Rahmen der von den Eltern genutzten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsangebote. Die Studie hat gezeigt, dass psychisch kranke Mütter und Väter, die stationär betreut werden, einen anderen Bedarf aufweisen als diejenigen, die ambulant oder in einem tagesklinischen Setting behandelt werden. Für die erste Gruppe bietet sich eine Weiterentwicklung an, die die Elternschaft in den Mittelpunkt stellt, in Form der bereits seit 2018 in der Klinik St. Pirminsberg durchgeführten «Recovery Wege»-Kurse. In diesen Kursen sollen Eltern, die stationär oder teilstationär behandelt werden, sich austauschen können und Informationen erhalten, die sie in ihrem Elternsein stärken. Der Kurs wird von einer Fachperson zusammen mit einer Peer-Mitarbeiterin durchgeführt, die über geeignete berufliche Kompetenzen verfügt. Der Kurs findet innerhalb von 3 Monaten in Form von 6 Modulen à 2 Tage statt. Des Weiteren möchten die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen und die Psychiatrie St. Gallen Nord gemeinsam am Standort Wil 2021 im Rahmen eines Pilotprojekts in den Räumen der Erwachsenenpsychiatrie zwei Angebote für psychisch kranke Eltern, die in ambulanter oder teilstationärer Behandlung sind, umsetzen. Zum einen soll 14-täglich an einem Nachmittag eine kinderzentrierte Beratung vor Ort angeboten werden, die durch die Eltern nach vorgängiger Anmeldung oder auch ad hoc wahrgenommen werden kann. Zum anderen sollen Elterngruppen für psychisch kranke Eltern stattfinden, in welchen während 6 Monaten in 10 Sitzungen unter der Leitung zweier Fachpersonen (Tandem Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie) am Thema der Elternschaft, der elterlichen Reflexionsfähigkeit und der elterlichen Kompetenzen gearbeitet werden soll. Die drei Angebote werden wissenschaftlich begleitet und evaluiert. In Abhängigkeit von den Ergebnissen ist eine Überführung in das Regelangebot sowie eine regionale Ausweitung angedacht.

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Dr. phil. Maria Teresa Diez Grieser

Forschungsleitung
Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste St. Gallen
Brühlgasse 35 / 37
9004 St. Gallen

mariateresa.diez@kjpd-sg.ch

Die Autorin hat keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Die Mehrheit der psychisch kranken Eltern, die in dieser Studie befragt werden konnten, sind durch ihre Elternschaft zusätzlich belastet.
  • Die psychisch kranken Elternteile beschreiben ihre Kinder ebenfalls
    als belastet und sie geben verschiedene Verhaltens- und emotionale Probleme an, die zusammen mit den anderen Risikofaktoren (u. a. finanzielle Probleme, elterliche Konflikte) die Entwicklung negativ
    beeinflussen können.
  • Psychisch kranke Eltern möchten, dass ihre Elternschaft in der psy­chiatrischen/psychotherapeutischen Behandlung eine stärkere Rolle spielt.
  • Psychisch kranke Eltern möchten innerhalb der Erwachsenenpsy­chiatrie mit verschiedenen Angeboten in ihren Elternkompetenzen unterstützt werden.

1. Fustenberg FF, Harris LE, Pesando LM, Reed MN. Kinship Practices Among Alternative Family Forms in Western Industrialized Societies. Journal of Marriage and Family 2020; 82(5): 1403–1430
2. Bonfils KA, Adams EL, Firmin RL, White LM. Parenthood and Severe Mental Illness: Relationships With Recovery. Psychiatric Rehabilitation Journal. 2014; 37(3): 186–193
3. Grube M, Dorn A. Elternschaft bei psychisch Kranken. Psychiatrische Praxis 2007; 34: 66–71
4. Kühnis R, Müller-Luzi S, Schröder M, Schmid M. Zwischen Stuhl und Bank – Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Hilfsangeboten für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 2016; 65(4): 249–265
5. Lenz A, Wiegand-Grefe S. Kinder psychisch kranker Eltern. (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie) 2017; Göttingen: Hogrefe
6. Diez Grieser, MT, Flükiger D, Schenkel S, Schmid TB, Simonetta F, Tylla S. Psychische Gesundheit aus der Generationenperspektive (PGG). Bericht zu den Ergebnissen der explorativen Studie zu Belastungserleben und Unterstützungsbedarf psychisch belasteter Eltern. Unveröffentlichter Bericht. 2020; (https://www.kjpd-sg.ch/2020/06/24/studie-psychische-gesundheit-aus-der-generationenperspektive-pgg/; Zugriff: 7.12.2020)
7. Abidin R.R. Parenting Stress Index. Professional Manual (3. Aufl.) 1995; Odessa, Fla.: Psychological Assessment Resources. Dt. Version: Tröster H. Eltern-Belastungs-Inventar. EBI. Deutsche Version des Parenting Stress Index (PSI) von R. R. Abidin. 2011; Göttingen u. a.: Hogrefe
8. Briggs-Gowan MJ, Carter AS. BITSEA. Brief Infant Toddler Social and Emotional Assessment 2006; San Antonio, Texas: Pearson. (Deutsche Übersetzung: Hänggi, Y., Bindernagel, D. & Mögel, M. (2011), unveröffentlicht.)
9. Woerner W, Becker A, Friedrich C, Klasen H, Goodman R, Rothenberger, A. Normierung und Evaluation der deutschen Elternversion des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ): Ergebnisse einer repräsentativen Felderhebung (Normative Data and Evaluation of the German Parent-rated Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ): Results of a Representative Field Study). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 2002; 30, 105–112

Update Migräne

Die Möglichkeiten der Behandlung der Migränekrankheit mit ihrem verheerenden Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen hat in den letzten Jahren eine klinisch bedeutende Entwicklung durchgemacht. Nach einem letzten Überblick über die Behandlung der Migräne in der Dezemberausgabe von «der informierte arzt» 2019 folgt hier ein Update über die aktuelle Weiterentwicklung.

Die Migränebehandlung beginnt mit der korrekten Diagnose. Diese wird aufgrund einer sorgfältigen Anamnese und einer unauffälligen neurologischen Untersuchung gestellt. Die betroffenen Patienten berichten über wiederkehrende, oft halbseitige Kopfschmerzen begleitet von einer Reizüberempfindlichkeit auf Licht und Geräusche, aber auch Gerüche, Bewegung oder Berührung (Allodynie). Neben der Migräne sind um 300 weitere primäre und sekundäre Kopfschmerzen in der ICHD-3 definiert (1). Ein wichtiges Hilfsmittel zum Erkennen von Mustern kann ein Kopfschmerztagebuch sein. Idealerwiese führen die Patienten dieses bereits 3-4 Wochen vor der Konsultation beim Spezialisten, aber auch zur Verlaufsbeobachtung unter Therapie. Bei der Migräne werden eine episodische und eine chronische Form unterschieden, je nachdem ob weniger oder mehr als die Hälfte der Tage im Monat betroffen sind. Bei der chronischen Form müssen zudem mindestens die Hälfte der Kopfschmerztage ‒ also 8 Tage pro Monat ‒ Migränekriterien erfüllen. Die wichtigste Differentialdiagnose ist hier sicherlich der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (2). Andere Kopfschmerzarten müssen erwogen werden, wenn sich die Kopfschmerzen nicht migränetypisch zeigen und v.a. wenn sogenannte «Red Flags» vorliegen (Tab. 1. (3)).
Die Abgrenzung zu den streng einseitigen Cluster-Kopfschmerzen kann dann schwierig werden, wenn es Überlappungen von migränösen oder autonomen (Augentränen, Nasenlaufen etc.) Symptomen gibt, oder wenn beide Kopfschmerztypen gemischt auftreten. Die deutlich kürzere Attackendauer bei höherer Frequenz, aber auch die nächtlichen Attacken oder die begleitende motorische Unruhe, sprechen dann für Letzteren.
Auch wenn die Pathophysiologie nach wie vor nicht vollständig verstanden ist, kam die Migräneforschung des Rätsels Lösung in den letzten Jahren deutlich näher. Insbesondere CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) kann eine pivotale Rolle in der Schmerzentstehung zugeordnet werden (4-7), was direkte therapeutische Ansatzpunkte generiert.

Die Bausteine der Migränebehandlung

Vor Therapiebeginn sollten eine korrekte Diagnose gestellt und dazugehörende Information über die Erkrankung und deren Konsequenzen an den Patienten gegeben worden sein. Die Migränebehandlung basiert auf 3 Säulen.

Erste Säule – Akutbehandlung

Die Attackenbehandlung soll stratifiziert erfolgen (8, 9) d.h. die Medikation richtet sich nach Stärke und Begleitsymptomen. Triptane haben die beste Wirksamkeit, aber auch einfache und nicht-steroidale Analgetika (NSAR) können effizient sein (10, 11). Im Notfall oder später während der Attacke bieten sich parenterale Applikationsformen an, z.B. intranasal, subkutan oder intravenös (12). Eine regelmässige Einnahme von Akutschmerzmitteln an 10 oder mehr Tagen pro Monat birgt die Gefahr einer Chronifizierung. Opiate haben in der Migränebehandlung keinen Stellenwert (13).
Als weitere Wirkstoffklassen stehen die «Ditane» (Serotonin-Rezeptoragonisten, 5-HT1F), welche keine potentiell vasokonstriktiven Effekte haben, und auch die «Gepants» («small molecule CGRP antagonists») kurz vor der Marktzulassung in Europa und der Schweiz (14, 15).

Zweite Säule – Medikamentöse Prophylaxe

Der Zeitpunkt für den Beginn einer Basisprophylaxe hängt von der Dauer und Häufigkeit der Attacken, aber vor allem vom individuellen Leidensdruck und der Belastung im Alltag ab. Von den meisten Richtlinien wird der Beginn ab 3-5 Migränetage pro Monat empfohlen (16). Die positive Wirkung zahlreicher Medikamente auf die Migräne wurde in den letzten Jahrzehnten meist zufällig entdeckt und dann wissenschaftlich untersucht. In der Schweiz haben Amitriptylin, Propranolol, Metoprolol, Flunarizin, Topiramat und die neuen monoklonalen Antikörper eine Zulassung zur Migräneprophylaxe (16). In den letzten Jahren wurden nun spezifische Migräneprophylaktika auf Basis des CGRP-Mechanismus entwickelt (17). Durch eine medikamentöse Migräneprophylaxe darf jedoch kein «Heilung» erwartet werden. Ziel der Behandlung ist eine Reduktion der Anfallshäufigkeit um 50%.

Dritte Säule – Nicht-medikamentöse Optionen

Die nicht-medikamentösen Optionen bilden die dritte Säule. Wie in der Altersvorsorge ist diese variabel, aber nicht weniger effektiv. Die Verträglichkeit dieser Optionen ist durchwegs sehr gut, sie sind beliebig kombinierbar und haben als Nachteil vor allem den Zeitaufwand. Generell kann ein regelmässiger, ausgeglichener Lebensstil empfohlen werden. Als psychologisch-therapeutischer Ansatz wurde die positive Wirkung kognitiver Verhaltenstherapie in verschiedenen Studien belegt (18). Biofeedback-Therapie, Entspannungstechniken (z.B. progressive Muskelrelaxation) und aerobes Ausdauertraining können ebenfalls empfohlen werden (19-21). Auch die externe Neuromodulation passt in diese Säule. Schliesslich konnte durch Modulation des trigeminalen Systems sowohl akute wie prophylaktische Effekte erzielt werden (22, 23). Weitere Verfahren befinden sich in der Prüfung, so die Stimulation des Nervus vagus und die transkranielle Gleichstromstimulation (24-26).

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Prof. Dr. med. Andreas R. Gantenbein

Facharzt Neurologie
Neurologie am Untertor
Erachfeldstrasse 2
8180 Bülach
www.neurologie-untertor.ch

andreas.gantenbein@zurzachcare.ch

Dr. med. Heiko Pohl

Heiko Pohl
Klinik für Neurologie
Universitätsspital Zürich
Schweiz

AG hatte in den letzten 3 Jahren finanzielle Verbindungen (Beratungstätigkeiten, Honorare für Vorträge, Reisekostenübernahmen, Studienunterstützungen) mit folgenden Firmen: Allergan, Almirall, Eli Lilly, Novartis, TEVA/Mepha.
HP hatte in den letzten 3 Jahren finanzielle Verbindungen (Beratungstätigkeiten, Honorare für Vorträge, Reisekostenübernahmen, Studienunterstützungen) mit folgenden Firmen: Eli Lilly, Novartis, TEVA/Mepha. HP ist Forschungsstipendiat des Werner Dessauer Clusterstipendium.

  • Die Migränebehandlung beruht auf der korrekten Diagnose und dem Management aus Akutbehandlung, Prophylaxe und nicht-medikamentösen Optionen.
  • Eine stratifizierte Attackenbehandlung ist empfohlen an maximal 10 Tagen pro Monat.
  • Die Migräneprophylaxe hat das Ziel einer Reduktion der Anfallshäufigkeit um 50%.
  • Nicht-medikamentöse Optionen sind ein wichtiger Bestandteil eines multimodalen Migränemanagements.

1. Olesen, J., International Classification of Headache Disorders. The Lancet Neurology, 2018. 17(5): p. 396-397.
2. Diener, H.-C. and Z. Katsarava, Medication Overuse Headache*. Current Medical Research and Opinion, 2008. 17(sup1): p. s17-21.
3. Do, T.P., et al., Red and orange flags for secondary headaches in clinical practice: SNNOOP10 list. Neurology, 2019. 92(3): p. 134-144.
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5. Gross, E.C., et al., The metabolic face of migraine – from pathophysiology to treatment. Nat Rev Neurol, 2019. 15(11): p. 627-643.
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8. Pohl, H., et al., A Survey on Probable and Improbable Decisions About Headache Treatment. SN Comprehensive Clinical Medicine, 2020.
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11. Andrée, C., et al., The EUROLIGHT cluster headache project: Description of methods and the study population – An Internet-based cross-sectional study of people with cluster headache. Cephalalgia Reports, 2019. 2.
12. Linde, M., A. Mellberg, and C. Dahlof, Subcutaneous sumatriptan provides symptomatic relief at any pain intensity or time during the migraine attack. Cephalalgia, 2006. 26(2): p. 113-21.
13. Tepper, S.J., Opioids should not be used in migraine. Headache, 2012. 52 Suppl 1: p. 30-4.
14. Kuca, B., et al., Lasmiditan is an effective acute treatment for migraine: A phase 3 randomized study. Neurology, 2018. 91(24): p. e2222-e2232.
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16. Andrée, C., et al., Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen. 2019, Schweizerische Kopfwehgesellschaft SKG.
17. Edvinsson, L. and P.J. Goadsby, Discovery of CGRP in relation to migraine. Cephalalgia, 2019. 39(3): p. 331-332.
18. Harris, P., et al., Systematic review of cognitive behavioural therapy for the management of headaches and migraines in adults. Br J Pain, 2015. 9(4): p. 213-24.
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22. Danno, D., et al., The safety and preventive effects of a supraorbital transcutaneous stimulator in Japanese migraine patients. Sci Rep, 2019. 9(1): p. 9900.
23. Przeklasa-Muszynska, A., et al., Non-invasive transcutaneous Supraorbital Neurostimulation (tSNS) using Cefaly((R)) device in prevention of primary headaches. Neurol Neurochir Pol, 2017. 51(2): p. 127-134.
24. Dimitri, D., et al., The Efficacy of tDCS In The Treatment Of Migraine: A Review. Journal of Neurology and Neurorehabilitation Research, 2018. 03(01).
25. Silberstein, S.D., et al., Chronic migraine headache prevention with noninvasive vagus nerve stimulation: The EVENT study. Neurology, 2016. 87(5): p. 529-38.
26. Pohl, H., et al., Long-Term Effects of Self-Administered Transcranial Direct Current Stimulation in Episodic Migraine Prevention: Results of a Randomized Controlled Trial. Neuromodulation: Technology at the Neural Interface, 2020.

CPAP-Urlaub

Die obstruktive Schlafapnoe (OSA) ist aufgrund der zunehmenden Adipositas-Epidemie in der westlichen Welt auf dem Vormarsch. Die nächtliche CPAP  (Continuous Positive Airway Pressure) -Therapie gilt als Goldstandard bei der moderaten bis schweren symptomatischen OSA. In diesem Artikel werden Argumente für und gegen eine Unterbrechng dieser Therapie, z.B. während Ferien kritisch diskutiert.

Bei der OSA handelt es sich um eine Schlaf-assoziierte Atmungsstörung mit wiederholtem Kollaps des Pharynx, welcher zu Apnoen (Unterbruch des Atemflusses) oder Hypopnoen (relevante Verminderung des Atemflusses) und damit verbunden zu intermittierenden Sauerstoff-Desaturationen und kortikalen Arousals führt. Dabei spielen die Enge und Kollapsneigung der oberen Atemwege, der Muskeltonus und deren autonome Kontrolle sowie Mechanismen der Atemregulation und die Lungenvolumina in individuell unterschiedlichem Ausmass eine Rolle. Das Ausmass von Symptomen und kardiovaskulären Folgen sind dabei unabhängig von Schweregrad gemäss gemessenem Apnoe-Hypopnoe-Index sehr unterschiedlich und die primäre Indikation für eine Behandlung der OSA sind assoziierte Symptome und eine reduzierte Lebensqualität. Aus Populationsstudien weiss man, dass die Prävalenz von mindestens mittelschwerer OSA (mehr als 15 Apnoen/Hypopnoen pro Stunde) bei Erwachsenen mittleren Alters bei 10-17% liegt (1). Eine neuere Populationsstudie aus der Schweiz schätzt diese bei Männern gar auf 50% und bei Frauen auf 23% (2). Aber nur ein Teil der Betroffenen leidet an Tagesmüdigkeit oder Tagesschläfrigkeit. Allerdings können auch Symptome wie Konzentrationsstörungen, Durchschlafstörungen und Nykturie als Folge einer OSA auftreten. Bei Patienten mit kardio- und zerberovaskulären Erkrankungen wird die Prävalenz der OSA deutlich höher geschätzt als in der Allgemeinbevölkerung, insbesondere bei Patienten mit therapieresistenter arterieller Hypertonie. Bei diesen Patienten kann eine Therapieindikation auch im Hinblick auf die Blutdruckkontrolle gegeben sein.

CPAP als Goldstandard der Therapie

Als Goldstandard der Therapie der moderaten bis schweren sym­ptomatischen OSA gilt weiterhin die nächtliche CPAP (Continuous Positive Airway Pressure) -Therapie. Diese Therapieform verhindert den Kollaps der oberen Atemwege und reduziert so Apnoen und Hypopnoen, die ansonsten zu Weckreaktionen, sympathischer Aktivierung und intermittierender Hypoxie führen würden. Neben dem positiven Einfluss auf den arteriellen Blutdruck und die Endothel­funktion soll die CPAP Therapie vor allem die Lebensqualität, die neurokognitiven Funktionen und die subjektive Tagesschläfrigkeit der OSA-Patienten verbessern (3). Ob und in welchem Ausmass dies geschieht, hängt unter anderem von der Therapieadhärenz der Patienten ab. Während allgemein angenommen wird, dass mindestens 4 Stunden während mindestens 70% der Nächte nötig sind, um den vollen Benefit der CPAP-Therapie z.B. auf die Tagesmüdigkeit zu erfahren, deuten neuere Studienergebnisse eher darauf hin, dass es keinen harten Cut-off der Nutzungszeit gibt (4).

CPAP-Urlaub – sinnvoll?

Doch auch optimal Therapie-adhärente Patienten kommen in Situa­tionen, in denen sie gerne zumindest für kurze Zeit auf ein CPAP Gerät verzichten wollen. Eine solche klassische Situation ist der Urlaub. So werden Hausärzte, Pneumologen und Schlafmediziner häufig mit der Frage konfrontiert, ob das kurzzeitige Aussetzen der CPAP-Therapie einen negativen Einfluss auf die Gesundheit haben kann. Eine Vielzahl von randomisiert kontrollierten Studien hat zur Erforschung der Folgen der OSA ein Studienmodel angewendet, welches einen CPAP-Therapieunterbruch von zwei Wochen beinhaltet, um anhand der Reaktivierung der OSA deren pathophysiologische Folgen zu studieren. Diese Studien erlauben es gleichzeitig, Fragen zu negativen Folgen eines vorübergehenden CPAP-Unterbuches zu beantworten. Die OSA kehrt bei der Mehrheit der Patienten rasch nach dem Stopp der CPAP-Therapie zurück. So war bereits ein kurzer CPAP-Stopp von zwei Wochen mit einer Verschlechterung der psychomotorischen Funktionen, Erhöhung des Blutdrucks und Herzfrequenz und auch mit einer Verschlechterung der peripheren Endothelfunktion verbunden. Hingegen konnte keine Verschlechterung der myokardialen Perfusion festgestellt werden, was auf eine erhaltende koronare Endothelfunktion hinweist (5). Obwohl bei Patienten mit schwerer Schlafapnoe mit starken Sauerstoff-Desaturationen während des CPAP-Unterbruchs eine klinisch relevante zerebrale Hypoxämie nachgewiesen wurde (6), wurde in einer grösseren Gruppe von OSA-Patienten kein negativer Effekt eines kurzzeitigen CPAP-Entzugs auf die cerebrovaskuläre Reaktivität nachgewiesen (7). Somit hat sich gezeigt, dass die Mikrozirkulation der kritischen Organe wie Herz und Gehirn aufgrund des CPAP-Unterbruches keinen negativen Effekt erlitten haben.
Neben den gesundheitlichen Risiken eines kurzen CPAP-Stopps, fürchten die Patienten vor allem die Rückkehr der Tagesmüdigkeit. Young et al. konnte an 42 OSA Patienten zeigen, dass die Tagesmüdigkeit bereits am zweiten Tag nach CPAP-Pause auf das Ausgangsniveau vor CPAP Therapie zurückkehren kann (8). Neben der resultierenden kognitiven Einschränkung und der reduzierten Lebensqualität, die einem erholsamen Urlaub entgegenstehen, ist erhöhte Tagesmüdigkeit ebenfalls mit einem erhöhten Risiko für Autounfälle vergesellschaftet. Aber kehrt die Müdigkeit wirklich bei jedem OSA Patienten zurück, der ein paar Tage auf sein CPAP Gerät verzichtet? Eine Post-hoc Analyse von 132 OSA Patienten, die 2 Wochen auf ihr CPAP Gerät verzichtet haben, konnte zeigen, dass vor allem jüngere Patienten mit hoher subjektiver Tagesschläfrigkeit (gemessen mit Epworth Sleepiness Scale) und schwerer Form des OSA Gefahr laufen, auch in kurzen CPAP-Ferien müde zu werden (9). Es bleibt zu bedenken, dass die meisten randomisiert kontrollierten Studien zu dem Thema einem fest etablierten «CPAP-Withdrawal»-Protokoll gefolgt sind, welches einen genau zwei wöchigen CPAP-Entzug vorsieht. Demnach sind z.B. Fragen, ab welchem Zeitpunkt, die pathophysiologischen Veränderungen des OSA wiederkehren, ob nach einem Tag oder erst nach zwei Wochen, schwer zu beantworten.
Eine abschliessende, generelle Antwort, ob ein kurzer Verzicht auf die CPAP-Therapie eine klinisch relevante Verschlechterung der Gesundheit mit sich bringe, kann nicht gegeben werden. Eine individuelle Beurteilung der OSA-Symptomatik vor Therapiebeginn, des Schweregrades der OSA anhand von Apnoe-Hypopnoe-Index und dem Ausmass der nächtlichen Hypoxämie sowie der Komorbiditäten und psychosozialen Situation des Patienten muss der Risikoeinschätzung sicherlich vorausgehen. Vor dem Hintergrund einer potentiellen Rückkehr der subjektiven Tagesmüdigkeit inklusive erhöhtem Risiko für Verkehrsunfälle sollten die CPAP-Unterbrechungen bei symptomatischen Patienten, die davon profitiert haben, allerdings so kurz wie möglich gehalten werden. Hierbei können auch kleinere CPAP-Geräte hilfreich sein, die speziell für Reisen angeboten werden und im Reisegepäck weniger Platz einnehmen. Auch gibt es einen Wandel zu individuell angepassten Therapiekonzepten, die neben der CPAP-Therapie auch z.B. eine Unterkieferprotrusionsschiene als Alternative beim Reisen einbeziehen können.
Grundsätzlich bleibt zu sagen, dass es verschiedene Phänotypen von OSA mit unterschiedlicher Symptomatik gibt. Es ist jedoch anzunehmen, dass je schwerer die Tagesmüdigkeit und -schläfrigkeit vor Therapiebeginn und je höher der Nutzen der Therapie auf diese Symptome war, umso grösser die Wahrscheinlichkeit für eine rasche Rückkehr der Symptome im Falle eines Therapieunter­bruches umso grösser ist.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Maurice Roeder

Oberarzt
Klinik für Pneumologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich

maurice.roeder@usz.ch

PD Dr. med. Esther Schwarz

Klinik für Pneumologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

MR hat im Zusammengang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert. ES gibt an, von der Firma Novartis
innerhalb der letzten 5 Jahren Honorare für Vorträge bekommen zu haben.

  • Die obstruktive Schlafapnoe kehrt bei einem Grossteil der Patienten
    im Falle eines CPAP-Therapieunterbruches innert Tagen zurück.
  • Dies wird begleitet von einer graduellen Zunahme der vor Therapie-beginn allfällig bestehenden Symptomatik (Tagesmüdigkeit, erhöhte Einschlafneigung, Konzentrationsstörungen oder auch Durchschlaf-störung).
  • Bei einigen Patienten kommt es zudem zu einem klinisch relevanten Anstieg des systemischen Blutdruckes.
  • Ein Phänotyp-orientiertes und individuell angepasstes Therapiekonzept sollte zur Vermeidung von längeren Therapieunterbüchen bei symptomatischer, klinisch relevanter obstruktiver Schlafapnoe führen.

1. Peppard PE, Young T, Barnet JH, Palta M, Hagen EW, Hla KM. Increased prevalence of sleep-disordered breathing in adults. Am J Epidemiol 2013; 177(9): 1006-14.
2. Heinzer R, Vat S, Marques-Vidal P, et al. Prevalence of sleep-disordered breathing in the general population: the HypnoLaus study. Lancet Respir Med 2015; 3(4): 310-8.
3. Bakker JP, Weaver TE, Parthasarathy S, Aloia MS. Adherence to CPAP: What Should We Be Aiming For, and How Can We Get There? Chest 2019; 155(6): 1272-87.
4. Gaisl T, Rejmer P, Thiel S, et al. Effects of suboptimal adherence of CPAP-therapy on symptoms of obstructive sleep apnea: a randomised, double-blind, controlled trial. European Respiratory Journal 2019: 1901526.
5. Schwarz EI, Stradling JR, Kohler M. Physiological consequences of CPAP therapy withdrawal in patients with obstructive sleep apnoea-an opportunity for an efficient experimental model. J Thorac Dis 2018; 10(Suppl 1): S24-s32.
6. Schwarz EI, Furian M, Schlatzer C, Stradling JR, Kohler M, Bloch KE. Nocturnal cerebral hypoxia in obstructive sleep apnoea: a randomised controlled trial. Eur Respir J 2018; 51(5).
7. Thiel S, Lettau F, Rejmer P, et al. Effects of short-term CPAP withdrawal on cerebral vascular reactivity measured by BOLD MRI in OSA: a randomised controlled trial. European Respiratory Journal 2018: 1801854.
8. Young LR, Taxin ZH, Norman RG, Walsleben JA, Rapoport DM, Ayappa I. Response to CPAP withdrawal in patients with mild versus severe obstructive sleep apnea/hypopnea syndrome. Sleep 2013; 36(3): 405-12.
9. Roeder M, Sievi NA, Kohler M, Schwarz EI. Predictors of changes in subjective daytime sleepiness in response to CPAP therapy withdrawal in OSA: A post-hoc analysis. J Sleep Res 2020: e13078.

Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Entscheidungen in Gesundheitsbelangen werden in der heutigen Zeit weniger paternalistisch und vielmehr selbstbestimmt und autonom durch die Betroffenen selbst getroffen. Die Entscheidungen reduzieren sich nicht auf Therapien und Massnahmen zum Erhalt des Lebens, sondern umfassen auch die Wünsche über die Begleitung am Lebensende. Gesundheitsfachpersonen werden somit auch mit den Sterbewünschen von Betroffenen konfrontiert. In diesem Zusammenhang rückt die Möglichkeit durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) das Leben vorzeitig zu beenden zunehmend in den Fokus der Sterbebegleitung.

Les décisions en matière de santé sont aujourd’hui moins paternalistes et plus autodéterminées et autonomes, étant prises par les personnes concernées elles-mêmes. Les décisions ne se limitent pas aux thérapies et aux mesures visant à préserver la vie, mais incluent également les souhaits concernant le soutien en fin de vie. Les professionnels de la santé sont donc également confrontés aux souhaits de décès des personnes concernées. Dans ce contexte, la possibilité de mettre prématurément fin à la vie par le renoncement volontaire aux aliments et aux liquides (RVAL) devient de plus en plus le point central des soins en phase terminale.

Hintergrund

Neben der Sterbehilfe, die abhängig von gesetzlichen Bestimmungen eines Landes erlaubt oder verboten ist, ist in jüngster Zeit eine weitere Möglichkeit, das Leben vorzeitig zu beenden, in den Mittelpunkt der Sterbebegleitung gerückt – es geht um den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Der FVNF ist eine aktive Handlung einer urteilsfähigen Person, die bewusst das Essen und Trinken einstellt, in der Absicht das Leben vorzeitig zu beenden. Gesundheitsfachpersonen sind daher nicht damit beauftragt, der Person ein tödliches Medikament zur Verfügung zu stellen, sondern die Person vom Beginn des FVNF bis zu ihrem Tod zu begleiten.
Die Schweizerinnen und Schweizer reden offen über das Lebensende, den Umgang mit Sterbewünschen und mit zunehmendem Interesse auch über den FVNF, was sich in öffentlichen Diskussionen, Zeitungsberichten und Fernsehbeiträgen zeigt. Dies bedeutet auch, dass die Wahrscheinlichkeit als Gesundheitsfachperson mit dem Sterbewunsch durch FVNF konfrontiert zu werden, steigt. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften reagierte darauf und nahm 2018 den FVNF als weitere Option am Lebensende in die Richtlinie «Umgang mit Sterben und Tod» auf. Diese Richtlinie stellt Gesundheitsfachpersonen eine Orientierungshilfe dar, um mit den Herausforderungen bei der Sterbebegleitung umzugehen. In Bezug auf FVNF werden weniger Anweisungen beschrieben, als vielmehr die kontroverse Diskussion um die Option beschrieben.
Aus nationalen und internationalen Studien geht hervor, dass bereits ein bis zwei Drittel der teilnehmenden Gesundheitsfachpersonen mindestens eine Person während des FVNF begleitet haben. Die geschätzte Häufigkeit der Todesfälle, welche auf den FVNF zurückzuführen sind, liegt in Europa zwischen 0.4%-2.1%, und es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Nach heutigem Kenntnisstand wird der FVNF typischerweise zu Hause (52%) oder in Pflegeheimen (42%) umgesetzt, womit in der Schweiz die medizinische Versorgung in der Regel durch Hausärztinnen und Hausärzten übernommen wird.

Die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte

Der FVNF ist die Entscheidung einer urteilsfähigen Person, welche in der Lage ist zu essen und zu trinken, freiwillig und bewusst darauf zu verzichten, in der Absicht ihr Leben vorzeitig zu beenden. Somit ist der FVNF klar zu unterscheiden vom Abbruch künstlicher Ernährung, von äusseren Einflüssen, die die Nahrungsaufnahme beeinträchtigen (z. B. Schmerzen, Unterernährung), oder psychischen Beeinträchtigungen (z. B. Demenz, Depressionen). Meist entscheiden sich Frauen (62%) und hochaltrige Personen für diesen Weg. Da viele Menschen eine innige Beziehung zu ihrer Hausärztin oder ihren Hausarzt pflegen, sind diese oft in den Entscheidungsprozess eingebunden und sind bereit, die Begleitung zu übernehmen. Dies ist besonders wichtig, da die Betroffenen im Verlauf des FVNF aufgrund zunehmender körperlicher Schwäche auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind, bis hin zur Pflegeabhängigkeit.
Während bislang noch keine schweizerische Leitlinie für den Umgang mit Personen während des FVNF existiert, können sich Hausärztinnen und Hausärzte derzeit an der niederländischen Leitlinie der KNMG Royal Dutch Medical Association und V&VN Dutch Nurses’ Association «Caring for people who consciously choose not to eat and drink so as to hasten the end of life» orientieren, um die notwendigen Schritte in der Vorbereitung und während der Begleitung (z. B. Auftreten eines Delirs) festzulegen. Insbesondere ist es wichtig, vorab die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person zu bestimmen. Hausärztinnen und Hausärzte übernehmen demnach eine entscheidende Rolle in der Begleitung einer sterbewilligen Person während des FVNF. Bislang gibt es keine empirischen Daten über die persönlichen Einstellungen und professionellen Haltungen von Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten unbekannt und Informationen über den FVNF in der Schweiz.

Ziele

Die Ziele dieser Studie waren es, die Häufigkeit des FVNF in der Schweiz zu berechnen und die Haltungen und Einstellungen über den FVNF von Hausärztinnen und Hausärzten zu erfassen.

Methodologie

Wir führten zwischen August 2017 und Juli 2018 eine dreisprachige, nationale Querschnittsstudie durch, in der 1 411 praktizierende Hausärztinnen und Hausärzte zu einer Online-Befragung (Questback) eingeladen wurden. Die Einladung zur Befragung wurde über den Berufsverband mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz an ihre Mitglieder versandt. Aufgrund der schlechten Rücklaufquote von 2.8% – fünf Monate nach Beginn der Studie – wurde die Rekrutierungsstrategie geändert und den Teilnehmenden wurde daraufhin eine Papierbefragung zugestellt (EVASYS). Ein zuvor entwickelter und validierter standardisierter Fragebogen wurde verwendet, um das Vorkommen des FVNF in der Schweiz und die Einstellungen und Haltungen über den FVNF zu erfassen. Um das Vorkommen zu berechnen, wurde alle Teilnehmenden, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben, befragt, wie viele Personen sie im vergangenen Jahr begleitet haben. Dieser Wert wurde anhand aller Todesfälle im Jahr 2017 (66 971 Todesfälle) und bezogen auf die Todesfälle in der Langzeitpflege (40%) und zu Hause (20%) berechnet (40 183 Todesfälle). Die Daten wurden deskriptiv analysiert, anschliessend wurde eine logistische Regression durchgeführt.

Ergebnisse

Beschreibung der Teilnehmenden

Von allen 1 411 eingeschlossenen Teilnehmenden, waren 1 013 für die Studienteilnahme geeignet. Ausgeschlossen wurden Teilnehmende, die kürzlich verstorben sind, bereits im Ruhestand waren oder sich ausschliesslich der Betreuung von Kindern und Jugendlichen widmeten. Insgesamt haben 751 Teilnehmende den Fragebogen beantwortet was zu einer Rücklaufquote von 74% führte.
Die überwiegend männlichen Teilnehmenden (71.7%) sind im Mittel 58 Jahre alt und üben ihre berufliche Tätigkeit durchschnittlich seit 29 Jahren aus.

Relevanz und Vorkommen des FVNF

Die Thematik ist 82% der Teilnehmenden bekannt und die Hälfte fühlt sich mit der Thematik vertraut. Bezogen auf den beruflichen Alltag, empfinden die meisten Teilnehmenden (64%), dass der FVNF eine geringe oder keine relevante Thematik darstellt und auch in Zukunft nicht oder nur wenig an Bedeutung gewinnen wird (58%).
Von allen Teilnehmenden haben insgesamt 320 (43%) bereits eine Person beim FVNF begleitet. Wir haben diese Subgruppe gebeten, weitere Informationen über die Anzahl begleiteter FVNF-Fälle zu geben, worauf 302 bereitwillig geantwortet haben. Es geht daraus hervor, dass im Jahr 2017 insgesamt 458 Personen durch die Teilnehmenden begleitet wurden. Das führt zu einem Vorkommen von 0.7% aller Todesfälle bezogen auf die Schweiz, bzw. 1.1% aller Todesfälle zu Hause oder im Pflegeheim.

Klassifizierung des FVNF aus Sicht der Hausärztinnen und Hausärzte

Der FVNF wird von mehr als der Hälfte als natürlicher Tod mit pflegerischer und medizinischer Begleitung klassifiziert, mit Suizid oder ärztlich assistiertem Suizid wird es nur von 5% der Teilnehmenden gleichgesetzt (Abb. 1).

Hausärztliche Einstellungen über den FVNF in der Schweiz

Im Allgemeinen gaben knapp drei Viertel der Teilnehmenden an, dass der FVNF mit ihrer persönlichen Weltanschauung und Religion vereinbar ist. Die Vereinbarkeit des FVNF mit der eigenen Weltanschauung erhöht sich bei Teilnehmenden mit FVNF-Erfahrung und wenn sie den FVNF als Suizid klassifizieren. Auch übertragen auf die professionelle Haltung geben über die Hälfte der Teilnehmenden an, dass der FVNF mit ihrer beruflichen Ethik im Einklang ist. 18% positionierten sich neutral während knapp ein Viertel der Teilnehmenden empfinden, dass der FVNF ihrer beruflichen Ethik widerspricht. Fast alle Hausärztinnen und Hausärzte können die Entscheidung der sterbewilligen Person in der Regel akzeptieren, also die Entscheidung annehmen und respektieren im Sinne von Rücksichtnahme, also jeder Person das Recht zugestehen, so zu sein wie sie es möchte und worüber einem selbst kein Urteil zusteht. Die meisten Hausärztinnen und Hausärzte sind dazu bereit, eine Person beim FVNF zu begleiten, und etwas mehr als die Hälfte würde Personen mit Sterbewunsch die Option des FVNF als eine unter anderen Möglichkeiten empfehlen. Drei Viertel der Teilnehmenden empfinden, dass durch den FVNF ein würdevolles Sterben ermöglicht wird. Die Begleitung einer Person beim FVNF wird von der Hälfte der Hausärztinnen und Hausärzte als belastend empfunden und knapp ein Viertel äussern moralische Bedenken.

Diskussion

Der FVNF ist unter Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten kein Alltagsthema, jedoch hat knapp die Hälfte bereits eine Person beim FVNF begleitet, womit es als eine relevante Thematik in der Sterbebegleitung bezeichnet werden kann. Das Vorkommen des FVNF in der Schweiz anhand der Teilnehmenden dieser Studie ist vergleichbar mit den Ergebnissen der ein Jahr zuvor befragten Leitungen von Schweizer Langzeitpflegeeinrichtungen (0.7%) und zwei Studien aus den Niederlanden (0.4-2.1%).
Die meisten Teilnehmenden klassifizieren den FVNF – vergleichbar zu Studien aus den USA – als natürlichen Tod, was vermutlich auf die Erfahrungen der Teilnehmenden zurückzuführen ist, die den Sterbeprozess als würdevoll beschreiben. Hausärztinnen und Hausärzte interpretieren im Allgemeinen ein gutes Sterben auch damit, dass das eigene Handeln mit den Wünschen der sterbewilligen Person übereinstimmt, was beim FVNF gegeben ist, da dem FVNF eine ausführliche Beratung vorausgeht, gefolgt von einer engen Begleitung. Knapp ein Drittel klassifiziert den FVNF als Sterben­lassen, welches auch die Haltung in Deutschland präsentiert, und nur ein geringer Anteil als Suizid, wie es in den Niederlanden definiert wird. Diese sehr unterschiedlichen Klassifizierungen sind vielfach in internationaler Literatur diskutiert worden und stets eng mit den juristischen Voraussetzungen des jeweiligen Landes verknüpft. Auch die Teilnehmenden dieser Studie, welche den FVNF als Suizid klassifizierten, sind dem FVNF sehr zugewandt und wären bereit, eine Person auf diesem Weg zu begleiten, wie aus der Regressionsanalyse hervorgeht .
Die Einstellungen der Hausärztinnen und Hausärzten sind bezüglich des FVNF sehr offen und zugewandt. Fast alle würden eine sterbewillige Person beim FVNF begleiten, selbst wenn moralische Bedenken während der Begleitung aufkommen. Bei Teilnehmenden, die bereits eine Person beim FVNF begleitet haben, wird die zugewandte Einstellung zum FVNF nochmals verstärkt.

Prof. Dr. Wilfried Schnepp†
Dr. med. Daniel Büche, MSc
Dr. med. Christian Häuptle
Kantonsspital St.Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen
†Wilfried Schnepp ist am 14.02.2020 verstorben

Einhaltung ethischer Anforderungen: Diese Studie wurde von der zuständigen Ethikkommission geprüft und genehmigt (EKOS 17/083). Die Teilnahme an der Studie war freiwillig und die irreversible Anonymität der Teilnehmenden war jederzeit gewährleistet.
Finanzierung: Die Studie wurde durch das Förderprogramm «Forschung in Palliative Care» durch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die Gottfried und Julia Bangerter-Rhyner-Stiftung und die Stanley Thomas Johnson Stiftung unterstützt. Die Förderer haben keinen Einfluss auf das Studiendesign, Datenerhebung und -analyse sowie der Publikation der Ergebnisse.
Originalstudie und Literatur: Die Literatur ist der Originalstudie zu entnehmen, welche im Journal of International Medical Research veröffentlicht wurde. Stängle, S., Schnepp, W., Büche, D., Häuptle, C., & Fringer, A. (2020). Family physicians’ perspective on voluntary stopping of eating and drinking: a cross-sectional study. Journal of International Medical Research, 48(8), 1–15. https://doi.org/10.1177/0300060520936069

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in «info@onkologie» 05-2020 erschienen Originalartikels.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Sabrina Stängle, MSc, RN

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Department Gesundheit, Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Universität Witten/Herdecke
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Stockumerstr. 12
58453 Witten, Deutschland

sabrina.staengle@zhaw.ch

Prof. Dr. rer. medicAndré Fringer, MScN, RN

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Department Gesundheit, Institut für Pflege
Katharina-Sulzer-Platz 9
8400 Winterthur
Universität Witten/Herdecke
Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft
Stockumerstr. 12
58453 Witten, Deutschland

Die Autorin und Autoren erklären, dass keine potentiellen Interessenskonflikte in Bezug auf die Forschung, Autorenschaft und/oder Veröffentlichung des Artikels bestehen.

  • Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) stellt für Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte zwar kein Alltagsthema, jedoch eine relevante Thematik in der Sterbebegleitung dar.
  • Der FVNF ist auch in der Schweiz kein Einzelfall, welcher in jeder der sieben Grossregionen vorkommt.
  • Meist wird der FVNF als natürlicher Tod oder Sterbenlassen klassifiziert, kaum als suizidaler Akt.
  • Die meisten Hausärztinnen und Hausärzte würden sich dazu bereit erklären, eine sterbewillige Person beim FVNF zu begleiten.

Messages à retenir

  • Le renoncement volontaire aux aliments et aux liquides (RVAL) n’est pas un sujet quotidien pour les médecins généralistes suisses, mais c’est une question pertinente dans les soins en phase terminale.
  • Le RVAL n’est pas non plus un cas isolé en Suisse, qui se produit dans chacune des sept grandes régions.
  • Dans la plupart des cas, le RVAL est classé comme une mort naturelle ou comme le fait de laisser mourir, à peine comme un acte suicidaire.
  • La plupart des médecins généralistes accepteraient d’accompagner une personne prête à mourir par le RVAL

Update Refresher Endokrinologie

Am Update Refresher Innere Medizin in Lausanne vom 12.2. 2021 stand die Endokrinologie, Diabetologie im Mittelpunkt. Spezialisten des Departements für Endokrinologie und Diabetologie des CHUV referierten über Diagnose und Therapie von Schilddrüsenkrankheiten, Erkrankungen der Hypophyse und der Nebennieren, Behandlung des Diabetes Typ 2 und Dia-
gnose und Behandlung diabetischer Komplikationen. Dieser Bericht befasst sich mit den Schilddrüsenerkrankungen.

Erkrankungen der Schilddrüse – Differentialdiagnose und Therapie

Erarbeiten aller Ursachen der Hyper- und Hypothyreose und deren Behandlung, Verdichtung der Informationen aus Nachschlagewerken, Entwicklung einer eigenen Argumentation angesichts eines Verdachts auf Dysthyreose, Kenntnis der üblichen Fallstricke und Umgang mit ihnen, bessere Beurteilung des Patienten, bevor/statt den Rat eines Endokrinologen einzuholen, Überprüfung der neuesten Nachrichten über Behandlungsmöglichkeiten, Untersuchung der Zusammenhänge zwischen COVID-19 und der Schilddrüse − dies waren die Ziele des Referats von Prof. Dr. med. Gerasimos Sykiotis, Service d’ endocrinologie et diabétologie, CHUV.
Der Referent beleuchtete zunächst die Frage des TSH Screenings. Soll bei einem asympto­matischen Erwachsenen ein Screening des TSH gemacht werden?
Die Empfehlungen der United States Prevention Services Task Force sagen nein. Die American Thyroid Association sagt ja, ab 35 Jahren alle 5 Jahre, die American Association of Clinical Endocrinologists sagt ebenfalls ja, bei betagten Personen (ohne definierte Altersschwelle).

Fazit

Das Screening der Schilddrüsenfunktion erfolgt durch TSH.
Die Bestimmung der freien Schilddrüsenhormone sollte bei normalem TSH vermieden werden, denn diese Bestimmungen sind auf gewissen Automaten weniger vertrauenswürdig. Sie sind durch multiple Faktoren beeinflusst und die Referenzwerte sind zweifelhaft.

Einfluss von COVID-19 auf die Schilddrüse: ein Update

Es ist bekannt, dass die Schilddrüse und die Virusinfektion mit den damit verbundenen entzündlich-immunen Reaktionen in einem komplexen Wechselspiel stehen. SARS-CoV-2 nutzt ACE2 in Kombination mit der Transmembranprotease Serin 2 (TMPRSS2) als molekularen Schlüsselkomplex zur Infektion der Wirtszellen. Interessanterweise sind die ACE2- und TMPRSS2-Expressionsniveaus in der Schilddrüse hoch und höher als in der Lunge, was darauf hinweist, dass die Schilddrüse und die gesamte Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse relevante Ziele der Schädigung durch SARS-CoV-2 sein könnten. Konkret gehören zu den COVID-19-bedingten Schilddrüsenstörungen Thyreotoxikose, Hypothyreose sowie das nicht-thyreoidale Krankheitssyndrom (Scappaticcio L et al. Impact of COVID-19 on the thyroid gland: an update Endocr Metab Disord 2020; 25;1-13).
Die persönlichen Schlussfolgerungen zu COVID-19 und Schilddrüsenerkrankungen des Referenten waren: SARS-CoV-2 kann eine virale/postvirale Thyreoiditis verursachen, wie andere Viren auch, möglicherweise mit weniger oder ohne Schmerzen aufgrund einer Lymphopenie. Die Störung der Schilddrüsenfunktion kann unbemerkt bleiben, wenn das Halsweh auf eine COVID-19-Infektion zurückgeführt wird. Es gibt keine weiteren gut etablierten Assoziationen zwischen COVID-19 und Schilddrüsenerkrankungen. Mehrere Studien sind von unzureichender Qualität. Die Patienten sind Mehrfachbelastungen ausgesetzt (Kortikosteroide, Heparine, jodhaltige Kontrastmittel, akute Erkrankungen usw.) Es gibt keine Epidemien von Hyper- oder Hypothyreose im Zusammenhang mit SARS CoV-2 in der Westschweiz, weder stationär noch ambulant.

Die Überlegungen des Spezialisten bei gestörten Schilddrüsentests

Hat der Patient Symptome und/oder Zeichen eine Dysthyreose? Hat der Patient einen Kropf? Sind Hypothalamus und Hypophyse intakt? Kann man dem Labor vertrauen? Hat der Patient eine akute Erkrankung? Erholt sich der Patient gerade von einer akuten Erkrankung? Welches sind die Medikamente, die der Patient einnimmt? War der Patient einer pharmakologischen Dosis von Jod ausgesetzt?

Klinische Manifestationen – Pathogenese

Einerseits gibt es kardiometabolische Manifestationen, deren Hauptmechanismus eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Katecholaminen ist. Dies führt zur Stimulation des autonomen sympathischen Systems und einem katabolen Zustand.
Andrerseits führen hormonelle Manifestationen zu erhöhter Produktion von hepatischen Vektorproteinen, was zu einer Verminderung der freien (bioaktiven) Hormone führt.
Zudem kommt es zu einer Erhöhung von SHBG (Sexhormon bindendes Globulin), was mit einer Abnahme des freien Estradiols und einem verminderten Peak des LH und infolgedessen einer Anovulation einhergeht.
Ursachenspezifische Manifestationen sind das TSH sezernierende hypophysäre Adenom mit Folgen wie Kopfschmerzen, Hyperprolaktinämie, hormonelle Mängel der anderen Hypophysennebenachsen, Morbus Basedow, Orbitopathie (exophthalmische Inflammation, Ophthalmoplegie, usw.) und Dermatopathie.
Teprotumumab, ein monoklonarer Antikörper, der an den IGF-1 Rezeptor bindet, führt bei Graves’ Disease und aktiver Augenerkrankung zu einer Reduktion des Exophthalmus um ≥2mm.

Subakute Thyeroiditis nach De Quervain: Inflammation der Drüse mit Zerstörung der Follikel, Freisetzung von Hormonen, initiale Hyperthyreose. Hauptsymptome sind Apathie, Depression, Lethargie, Kälteintoleranz, Appetitverminderung, Konstipation, Muskelschwäche, Muskelschmerzen, Haarausfall, spröde Nägel und Karpaltunnelsyndrom, bei Frauen Oligo-Amenorrhoe oder Menorrhagie und verminderte Fruchtbarkeit.
Bei Dysthyreose sollten die Fragen bezüglich Krankheitsurlaub, Fahrgenehmigung, Schwangerschaft / Wunsch nach Schwangerschaft und Depression nicht vergessen werden.

Probleme der Symptomatologie

Die Probleme mit der Symptomatologie sind Mangel an Sensibilität bei subklinischer Hyper-und Hypothyreose, TSH ausserhalb der Norm mit normalen T4 und T3, keine oder wenig Symptome.
Apathische Hyperthyreose: Mangel an Symptomen trotz einer offenen Hyperthyreose, häufig bei betagten Personen. Die Symptomatologie ist wenig spezifisch. Die Manifestationen sind Depression, Angstzustände, Übergewicht. Es existiert eine positive Korrelation zwischen TSH und BMI, Leptin →↑TRH→↑TSH, Gewichtsverlust kann diskret erhöhtes TSH normalisieren.

Wozu dient dann die Klinik?

Die Symptomatologie und die klinische Untersuchung werden verwendet zur Bestätigung oder zum Ausschluss eines Verdachts, was durch eine Hormonuntersuchung bestätigt wird.
Bei Unstimmigkeiten zwischen Klinik und Labor sind eine Reihe von Fällen zu beachten. Es gibt zwei Typen von Schilddrüsenproblemen: Funktionsstörungen: Euthyreose, Hyperthyreose. Hypothyreose und Störungen der Anatomie: normale (oder nicht palpable) Schilddrüsengrösse, diffuse Struma, knotige Struma.
Funktionsstörungen sind nicht gleich Störungen der Anatomie. Beispiele sind: ein M. Basedow kann sich als Hyperthyreose präsentieren mit diffuser Struma, mit knotiger Struma oder ohne Struma. Ein Schilddrüsenknoten kann sich mit einer Hyperthyreose (toxischer Knoten), einer Euthyreose (nicht funktioneller Knoten) oder einer Hypothyreose (koexistierende Hashimoto Thyreoiditis) präsentieren.

Was bringt es denn, die Schilddrüse zu untersuchen?

Erkennen von Knoten, die eine Zytopunktur erfordern. Zur Orientierung über die wahrscheinliche Ursache der Dysthyreose, sofern das Labor eine Dysthyreose bestätigt. Kenntnis wie man die Schilddrüse palpiert unter (https//www.youtube.com/watch?v=Ed2WE7heOdU). Es muss dabei aufgepasst werden, dass man keine Palpationsthyreose verursacht.
Es gibt zwei Kategorien von Ursachen für Schilddrüsenfunktionsstörungen, abhängig von der Aktivität der Schilddrüse. Die hormonelle Hyperproduktion, die zu einer Steigerung der Schilddrüsenaktivität führt und die Abnahme von Schilddrüsenhormonen, die zu einer verminderten Aktivität führt.

Ursachen einer Hypothyreose

Mögliche Ursachen sind Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, (Hashimoto Krankheit), Nach Schilddrüsenablation, (totale Thyreoidektomie, Lobektomie (20% Hypothyreoserisiko, radiometabolische Ablation wegen M. Basedow), ungenügende Schilddrüsenhormon-Substitution oder abgebrochene Substitution (nach Thyreoiditis, medikamentös, kongenitaler, post-operativer Mangel an TSH/TRH, nach Hypophysenapoplex, Schilddrüsenhormonresistenzsyndrom, TSH-Resistenzsyndrom, kongenitale Hypothyreose, Jodmangel).

Sind der Hypothalamus und die Hypophyse intakt?

Die Hypophysen-Schilddrüsen-Achse ist ein mehrgliedriger Regelkreis zwischen dem Hypothalamus, der Hypophyse und der Schilddrüse, der auch als Thyreoidea-Achse bezeichnet wird. Er reguliert die Konzentration der Schilddrüsenhormone im Blutplasma. Wenn das freie T4 um einen Faktor 2 ändert, ändert TSH um einen Faktor 100!

Übliche Überlegungen zur Diagnose

Vorausgesetzt, dass das Steuerungssystem intakt ist.
Offene Hyperthyreose: TSH erniedrigt, T4 und/oder T3↑
Subklinische Hyperthyreose: TSH erniedrigt, T4 und T3 normal.
Offene Hypothyreose: TSH↑, T4 erniedrigt.

Amiodaron und Schilddrüse

Mehrere pathogene Mechanismen sind möglich. Dazu gehören die Inhibition der Umwandlung von T4 in T3, die Inhibition der Schilddrüsenhormonrezeptoren, direkte toxische Wirkung auf die Schilddrüse, Jodüberlastung (eine 200mg Tablette enthält 3mg Jod. Der tägliche Bedarf ist 150µg).
Dysthyreose unter Amiodaron: Die Empfehlungen sind Messung von TSH alle 3-4 Monate, nach Absetzen Status während mindestens 12 Monaten verfolgen.
Hypothyreose bei weniger als 20% der Patienten, leicht behandelbar (Substitution, mit Amiodaron weiterfahren).
Hyperthyreose (medizinischer Notfall!) bei weniger als 10-12% der Patienten, diagnostische und therapeutische Herausforderung. Diese Situation ist mit erhöhter Mortalität assoziiert.
Bei allen Hyperthyreosen unter Amiodaron sollte die Endokrinologie schnell konsultiert werden!

Symptomatische Behandlung der Hyperthyreose

Betabocker: Propanolol mehrmals pro Tag, nicht kardioselektiv Atenolol, Metoprolol: 1x/Tag, kardioselektiv.
Ziel: Normalisierung der Herzfrequenz (<90/min). Diese Medikamente sind auch wirksam gegen Zittern, Angst und Hitzeintoleranz. Der Einsatz empfiehlt sich, weil synthetische Anti-Schilddrüsen-Medikamente nicht sofort wirksam sind. Sie inhibieren die Jodinierung des Thyreoglobulins, aber nicht die Sezernierung der bereits produzierten Hormone.

Behandlung der De Quervain Thyreoiditis

Keine synthetischen Anti-Schilddrüsen-Medikamente (Freisetzung vorgefertigter Hormone ohne aktive Hypersekretion), Symptomatische Behandlung der Hyperthyreose mit Betablockern, symptomatische Behandlung der Inflammation mit NSAR oder Kortikosteroiden.

Therapeutische Optionen bei M. Basedow

Thyreostatika: seit über 50 Jahren angewandt, Wirkung nach einigen Wochen, verschwindet einige Tage nach Absetzen des Medikaments. Iod-131: wird seit über 70 Jahren angewandt. Progressive Wirkung im Allgemeinen nach 3-10 Wochen.
Chirurgie: seit über 100 Jahren angewandt. Die Wirkung entsteht unmittelbar (nach wenigen Tagen).

Adenome und toxische Struma – therapeutische Strategien

Synthetische Antithyreostatika werden initial angewandt zur Normalisierung der Funktion. Die lebenslängliche Behandlung sollte vermieden werden, ausser bei betagten Menschen. Die prinzipiellen Risiken sind Agranulozytose, Teratogenese.
Schilddrüsenablation: radioaktives Jod, Chirurgie (Adenom → Lobektomie, multinoduläre Struma → Lobektomie oder totale Thyreoidektomie.
Radiofrequenz: ambulante Behandlung (interventionelle Radiologie).

Behandlung der Hypothyreose

In der Schweiz existieren 3 Produkte für Levothyroxin (T4):
Euthyrox® (Tabletten), Eltroxin® (Tabletten), Tirosint®- Sol (flüssige Form von Levothyroxin für folgende Zustände: Hypothyreose und TSH-Unterdrückung bei der Behandlung von Schilddrüsenkrebs.
Welche Dosierung? Dosis für komplette oder partielle Substitution je nach Fall. Komplette Substitution (1.6mg/kg, z.B. nach Thyreoidektomie, partielle Dosis bei subklinischer Hypothyreose, nach Thyreoiditis, etc.
Welcher Zielwert? Bei primärer Hypothyreose: TSH normalisieren.
Zentrale Hypothyreose: Freies T4 normalisieren. Wann Neudosierung? 6-8 Wochen nach Dosisanpassung.
Labor nüchtern oder nicht? Keine Notwenigkeit für Nüchternheit. Bei Bestimmung von freiem T4 Substitution nicht am Morgen vor der Blutentnahme.
Was machen im Falle von Vergessen? Doppelte Dosis am nächsten Tag.

Quelle: FOMF Update Refresher Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetes, Lausanne 12.02. 2021.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Impfung gegen Zeckenenzephalitis

Die durch Zecken übertragene Enzephalitis (FSME) nimmt in Europa jährlich zu. Ziel einer kürzlich erschienenen Arbeit war es, die Immunogenität und Sicherheit der FSME-Impfung auf der Basis von Daten aus den Jahren 2009-2019 zu untersuchen.

Die in 27 europäischen Ländern endemische Zeckenenzephalitis (FSME, Frühsommermeningoenzephalitis) mit jährlich etwa 5 000 -10 000 gemeldeten Fällen ist eine der wichtigsten Ursachen für virale Enzephalitis und die häufigste Ursache für virale Meningitis in Europa. Der geographische Schwerpunkt der FSME liegt in Mittel- und Osteuropa, den baltischen Staaten, Russland und Japan, wobei sowohl eine Ausweitung der Risikogebiete als auch eine Zunahme der Inzidenz zu beobachten ist. In der Schweiz hat die Inzidenz von FSME in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Im Jahr 2018 wurden mehr als 350 Fälle registriert (1).
FSME wird durch das humanpathogene FSME-Virus verursacht, das zur Familie der Flaviviridae gehört. Drei Subtypen, basierend auf der geographischen Herkunft und den antigenen Eigenschaften, sind für den Menschen von Bedeutung: Fernöstlich, sibirisch und europäisch (2, 3). Die meisten europäischen FSME-Fälle werden durch die Zecke Ixodes ricinus übertragen, wobei mehr als 100 Arten von Wild- und Haustieren als Wirtsreservoir wirken (4, 5, 6). Zusätzlich treten in bestimmten Gebieten FSME-Fälle der sogenannten alimentären Zeckenenzephalitis, übertragen durch das Einnehmen von nicht pasteurisierter Milch oder Milchprodukten von infizierten Tieren, sowie FSME-Infektionen, die durch die Dermacentor-reticulatus-Zecken übertragen wurden.
In einer systematischen bei PROSPERO registrierten Übersichtsarbeit wurden von insgesamt 2464 Datensätzen aus CINAHI, Cochrane, Embase, PubMed und Scopus Original-Forschungspublikationen auf Immunogenität und Sicherheit ausgewertet (7).

Immunogenität

Siebenunddreissig untersuchte Originalartikel berichteten über Daten zur Immunogenität. Bei vollständig geimpften Personen wurde unabhängig von der Art der Impfung oder von verzögerten Auffrischungsintervallen eine ausreichende Immunantwort festgestellt (8-11). Darüber hinaus zeigte der in Europa zugelassene Impfstoff FSME-Immun® auch eine Kreuzimmunität gegen fernöstliche und sibirische FSMEV-Stamm-Subtypen (2). Bei Erwachsenen mit Allergien wurden im Vergleich zu Geimpften ohne Allergien höhere Antikörperspiegel nach erfolgter FSME-Impfung gefunden (12). Hohe Spiegel an schützenden Antikörpern garantieren allerdings keine FSME-Prävention (13). Die Zahl der Impfversager war gering und ging mit einer schwereren Erkrankung einher, die häufiger bei älteren Menschen auftrat (14-16).
Die älteren Menschen haben niedrigere Antikörperspiegel mit einer abnehmenden Immunantwort, eine Entwicklung, die bei Personen im Alter von über 60 Jahren und sogar bei Personen im Alter von über 50 Jahren beginnt (4, 12, 14). Die meisten untersuchten Impfstoffversagen traten bei Personen im Alter von 50 oder mehr Jahren auf, aber auch bei jüngeren Personen können Versager auftreten (15, 17). Darüber hinaus wurde bei Personen ab 60 Jahren, die eine zusätzliche Priming-Dosis erhalten hatten, kein FSME-Impfversagen berichtet (16).
Bei Kindern im Alter von 1-15 Jahren führen die Impfstoffformeln von Encepur® und FSME-Immun® zu einer hohen Immunogenität von 95,6 % bis zu 100 % und einer hohen Langzeitseropositivität bis zu 5 Jahren nach der Erstimpfung (16, 20, 21). Es scheint keine altersbedingten Unterschiede in der Avidität und funktionellen Aktivität der durch die Impfung induzierten Antikörper zu geben (2, 22).

Booster-Intervall

Bei Kindern wurde eine Langzeit-Seropositivität für die Impfstoffe Encepur® und FSME-Immun® Junior bis zu 5 Jahren bzw. 10 Jahren nach der Primärimpfung berichtet (19, 22). Bei Erwachsenen führten sowohl die Primärimpfung mit Encepur® als auch diejenige mit FSME-Immun® zu einer hohen Langzeit-Seropositivität (77,3%-94%) bei zehnjährigem Follow-up und 91,8% bei einem Median von 15 Jahren Follow-up (8, 12, 25). Altersgruppen über 60 Jahre zeigten jedoch einen schnelleren Rückgang der Seropositivitätswerte (18, 22, 25).

Austauschbarkeit von FSME-Impfstoffen

Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern können die FSME-Impfstoffe für die Erst- und Auffrischungsimpfung weitgehend ausgetauscht werden (22, 23, 26, 29). Eine Studie zeigte jedoch eine schnellere Abnahme der Seropositivität bei Kindern, die ein gemischtes Primärimpfschema erhielten (zwei Dosen FSME-Immun® Junior gefolgt von einer Dosis Encepur® Kinder) (19).

Sicherheit

Siebzehn Originalartikel berichteten über Sicherheitsdaten. Lokale Reaktionen/leichte unerwünschte Ereignisse wie Schmerzen an der Injektionsstelle, Empfindlichkeit oder lokale Schwellungen wurden bei 24,8% (4.3-54%) der Studienteilnehmer beschrieben (10, 22, 23, 25-31). Systemische Reaktionen wurden bei etwa 30% (0,6-45,9%) der Impflinge berichtet. Fieber traten bei 3,4% (0-9,7%) der Geimpften auf. Systemische Reaktionen waren nach der 2. Dosis im Vergleich zur Verabreichung der ersten Dosis geringer, wie berichtet wurde (28). Höhere Raten von lokalen und systemischen Reaktionen traten bei 7- bis 11-jährigen Kindern im Vergleich zu den Altersgruppen 1-2 und 3-6 Jahre auf (26). Bei Erwachsenen wurde kein Altersmuster der unerwünschten Ereignisse gefunden. Weiterhin führte der Applikationsweg zu Unterschieden in der Nebenwirkungsmeldung: In der Gruppe mit intramuskulär verabreichter Impfung wurde eine signifikant niedrigere Rate an lokalen Nebenwirkungen wie Rötung, Schwellung und lokale Schmerzen berichtet als in der Gruppe mit subkutaner Injektion. Systemische Reaktionen traten in der Gruppe mit intra-muskulärer Verabreichung vermehrt auf, dies war jedoch statistisch nicht signifikant (27).
Anhand der Daten war es nicht möglich, geschlechtsspezifische Muster von unerwünschten Ereignissen zu identifizieren. Allerdings zeigte eine Arbeit, dass die Rate unerwünschter Ereignisse bei gesunden Frauen und bei Frauen mit Allergien ohne spezifische Immuntherapie im Vergleich zu gesunden Männern und Männern mit Allergien ohne spezifische Immuntherapie höher war (30).
Die Durchimpfungsrate der FSME-Impfung wird in der Schweiz nicht aktiv überwacht und daher ist es nicht möglich, die tatsächliche Durchimpfungsrate, die Menge der verwendeten Impfstoffe oder die Feldwirksamkeit der FSME-Impfstoffe in der Schweizer Bevölkerung zu beschreiben. Um die Durchimpfungsrate zu erhöhen, wurden in der Schweiz 2015 die Regeln für die Verfügbarkeit von Impfungen angepasst: Bestimmte Kantone erlaubten Gemeindeapothekern mit Impfzertifikat die rezeptfreie Verabreichung bestimmter Impfstoffe, wie z. B. FSME-Impfstoff (32). Um die Durchimpfung mit FSME-Impfstoffen auszuweiten, empfiehlt die Schweizer Armee seit 2007 eine freiwillige FSME-Impfung bei jungen Rekruten (33). Da der Dienst nur für Schweizer Männer obligatorisch ist, muss ein anderer Weg gefunden werden, um auch Schweizerinnen und Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft zu erreichen.

Schlussfolgerungen

Die FSME-Impfung ist generell sicher mit seltenen schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen. Die Impfpläne sollten, wenn möglich, die gleiche Impfstoffmarke (nicht gemischt) verwenden. FSME-Impfstoffe sind immunogen in Bezug auf die Antikörperantwort, jedoch weniger, wenn die Erstimpfung nach dem 50. Altersjahr erfolgt.

Quelle: Rampa JE et al. Immunogenicity and safety of the tick-borne encephalitis vaccination (2009–2019): A systematic review. Travel Medicine and Infectious Disease2020 ; 37 : 101876.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

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(Accessed 29 October 2019).
2. Orlinger KK et al. A tick- borne encephalitis virus vaccine based on the European prototype strain induces broadly reactive cross-neutralizing antibodies in humans. J Infect Dis 2011;203: 1556–64.
3. Maikova GB, Chernokhaeva LL, Rogova YV, Kozlovskaya LI, Kholodilov IS, Romanenko VV, et al. Ability of inactivated vaccines based on far-eastern tickborne encephalitis virus strains to induce humoral immune response in originally seropositive and seronegative recipients. J Med Virol 2019;91:190–200.
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7. Rampa JE et al. Immunogenicity and safety of the tick-borne encephalitis vaccination (2009–2019): A systematic review. Travel Medicine and Infectious Disease2020 ; 37 : 101876.
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33. Schweizer Armee reagiert auf die Zunahme der Erkrankungen durch Zeckenstiche n.d. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.ms g-id-10546.html (accessed January 9, 2020)