Grippeartige Symptome bei einer Patientin mit paranoider Schizophrenie

Fallpräsentation

Eine 33-jährige Patientin musste wegen einer schweren paranoiden Schizophrenie in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert werden. Es erfolgte eine medikamentöse Einstellung mit Clozapin und Amisulprid. Im Laufe der Hospitalisation klagte die Patientin über zunehmende Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und trockenen Reizhusten. In der Folge kam es auch zu zunehmender Dyspnoe, so dass die Patientin notfallmässig ins Akutspital verlegt werden musste. Bei Eintritt war die Patientin subfebril und tachykard mit einer Herzfrequenz von 120 pro Minute. Der Blutdruck lag bei 100/50mmHg. In der klinischen Untersuchung fanden sich keine eindeutigen Stauungszeichen. Radiologisch zeigte sich eine knapp kompensierte Lungenzirkulation. Das EKG zeigte keine spezifischen Veränderungen. Im Labor fielen eine deutliche Leukozytose, ein CRP von 287 mg/l (Norm < 10) und ein hochsensitives (hs) Troponin T von 245 pg/l (Norm < 14) auf. Als zusätzliche Untersuchung wurde eine transthorakale Echokardio-graphie durchgeführt. Hierbei zeigte sich eine konzentrische linksventrikuläre (LV) Myokardverdickung, welche inferolateral betont war. Ferner fand sich ein minimer Perikarderguss (Abb. 1). Die LV Ejektionsfraktion (EF) war mit 38% mittelschwer eingeschränkt und es zeigte sich Spontankontrast im LV Apex (Abb. 2). Der globale longitudinale Strain (GLS) war mit -11.4% deutlich eingeschränkt (Abb. 3), was auf eine erhebliche Einschränkung der myokardialen Longitudinalfunktion hinwies. Aufgrund der erhobenen Befunde ergab sich das Bild einer akuten Myokarditis. An welche Ursache hierfür muss bei dieser Patientin im Besonderen gedacht werden?

Kommentar

Differentialdiagnostisch war einerseits eine infektiöse Genese der akuten Myokarditis denkbar. Daneben musste jedoch auch an eine Nebenwirkung von Clozapin, welches kurze Zeit vor der akuten kardialen Erkrankung initialisiert wurde, gedacht werden. Bei möglicher Clozapin-induzierter Myokarditis wurde dieses Medikament umgehend gestoppt und eine medikamentöse Herzinsuffizienztherapie eingeleitet. Fünf Tage nach Sistierung von Clozapin zeigte sich ein Rückgang des CRP auf 123 mg/l und des hs Troponins T auf 39 pg/l. Dies ging sowohl mit einer Verbesserung der LVEF auf 45%, als auch mit einer klinischen Verbesserung einher. Einen Monat später zeigte die Kontrollechokardiographie bei kardial nunmehr beschwerdefreier Patientin eine Normalisierung der Dimensionen des LV Myokards (Abb. 4), welches retrospektiv anfangs durch den entzündlichen Prozess mit konsekutivem intramyokardialem Ödem verdickt war. Ferner fanden sich eine Normalisierung der LVEF auf 55% (Abb. 5) und des GLS auf -21% (Abb. 6).
Die Prävalenz der Schizophrenie liegt bei Erwachsenen bei etwa 1% (1). Der Einsatz von Clozapin ist die Behandlung der Wahl bei schweren, anderweitig therapierefraktären Fällen (2). Neben einer Agranulozytose ist die Entwicklung einer Myokarditis eine der gefürchtetsten Nebenwirkungen von Clozapin. Die Inzidenz der Clozapin-induzierten Myokarditis liegt bei etwa 3% (3), wobei dieses Krankheitsbild wegen seiner klinisch sehr variablen Präsentation vermutlich unterdiagnostiziert wird. Die Genese der Clozapin-induzierten Myokarditis ist unklar. Mögliche diskutierte Ursachen sind unter anderem eine Hypersensitivitätsreaktion Typ I oder ein direkt toxischer Effekt des Medikamentes (4). Typischerweise tritt die Myokarditis relativ früh nach Beginn der Therapie mit Clozapin auf. 87% der Fälle wurden im ersten Monat der Behandlung registriert (5). Eine klare Dosisabhängigkeit scheint nicht zu bestehen; die Myokarditis kann bereits unter tiefen Dosen von Clozapin auftreten (5). Eine möglichst frühe Erkennung des Problems ist von grosser Bedeutung. Als therapeutische Massnahmen müssen Clozapin gestoppt und eine medikamentöse Herzinsuffizienz-Behandlung eingeleitet werden. Bei einigen Fällen wurden auch Steroide eingesetzt (5). Gemäss Literatur geht die Clozapin-induzierte Myokarditis mit einer hohen Mortalität einher. Fatale Verläufe wurden in 1/5 bis 1/3 der Fälle beschrieben (5, 6). Patienten, welche die initiale Phase der Myokarditis überstehen, zeigen aber in der Regel einen guten Outcome mit rascher Verbesserung der kardialen Funktion (5).

PD Dr. med. Alain M. Bernheim

Stadtspital Triemli
Klinik für Kardiologie
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

Alain.Bernheim@triemli.stzh.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

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5. Bellissima BL, Tingle MD, Cicović A, Alawami M, Kenedi C. A systematic review of clozapine-induced myocarditis. Int J Cardiol 2018;259:122-9.
6. Swart LE, Koster K, Torn M, Budde RPJ, Uijlings R. Clozapine-induced myocarditis. Schizophr Res 2016;174:161-4

17. Zürcher Review Kurs in Klinischer Kardiologie

Vom 5.4. bis 7.4. fand unter der Leitung von Frau Prof Dr. med. Christine Attenhofer-Jost, Zürich, Prof. Dr. med. Heidi M. Connolly, Mayo Clinic, Rochester und Prof. Dr. med. Perry Elliott, London, der 17. Zürcher Review Kurs in Klinischer Kardiologie statt. Unter den verschiedenen hervorragenden Vorträgen wurden Antikoagulation und Dyslipidämie zur Berichterstattung ausgewählt.

Direkte orale Antikoagulantien (DOAK 2019): Worauf ist in der Praxis zu achten?

Wie viel Gerinnung soll gemessen werden?

Die Antikoagulantien umfassen die Vitamin-K-Antagonisten, die Heparine, Heparinoide und die direkten Antikoagulantien Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban, erklärte PD Dr. med. Lars Asmis, Zürich, zu Beginn seiner Ausführungen. Bei den Wirkmechanismen wird zwischen direkter und indirekter Antikoagulation unterschieden. Die direkten Antikoagulantien wirken direkt am aktiven Ort, d.h. am Zielmolekül FXa bzw. FIIa (direkte orale Antikoagulantien (DOAK), während die indirekten Antikoagulantien, die Heparine am Antithrombin, die Vitamin K Antagonisten am y-COOH wirken, die Zielmoleküle sind in diesem Fall freier FIIa und FXa bzw. «freier» II, VII, IX, PrC, PrS (Tab. 2).
Spiegelmessung bei DOAK: Der maximale Spiegel wird ca. 2-4h nach Einnahme gemessen, der Tal-Spiegel vor der nächsten Einnahme. Routinemässige Spiegelmessungen sind nicht indiziert, wie der Referent erläuterte.
Rivaroxaban verändert die Prothrombinzeit, die aktivierte partielle Thromboplastinzeit und die Faktoranalyse für intrinsische und extrinsische Faktoren signifikant. Die Bestimmung der Thrombinzeit, des Fibrinogens, der FXIII- und D-Dimer-Werte werden dagegen nicht beeinflusst.
Situationen, bei denen die Messung der Wirkung von DOAKs möglicherweise nützlich ist, sind die folgenden:
Der Referent wies auf die Pharmakologie der verschiedenen DOAKs hin, die in der Tabelle 2 wiedergegeben sind.

Take-Home Messages

• Laborkontrollen bei DOAK: Was ist die Indikation? Dosis?
• Pharmakologie: Nierenabhängigkeit, Leberabhängigkeit (Komedikation), Nahrungsabhängigkeit
• Anti-FXa- oder Anti-FIIa Messung: Timing (Maximal- oder Minimalspiegel)
• Interaktionen mit anderen Labortests

PCSK9-Hemmer oder Lebensstilmodifikationen bei KHK und Statinintoleranz?

Fallvignette:

Ein 58-jähriger Mann mit progredienter koronarer Dreigefäss-erkrankung, der vor 15 Jahren einen inferioren Myokardinfarkt erlitten hat, wird von Prof. Dr. med. Franz Eberli, Chefarzt Triemlispital vorgestellt. Verschluss RCA → PCI/Stent x 1, Stenose RIVA/D1 → PCI/Stent x 1, LV-Funktion bei inferiorer Hypokinesie erhalten. Kardiovaskuläre Risikofaktoren: Hypertonie, Hypercholesterinämie, Nikotin (12 py), FA. Die medikamentöse Therapie besteht unter anderem aus Sortis 40 mg/Tag. Der Patient zeigt eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Zusätzlich wurde die Diagnose einer Hypothyreose gestellt und eine Therapie mit Eltroxin gestartet. Eine zweite Intervention wurde wegen zunehmender AP notwendig (3/2005). Unter Erhöhung der Atorvastatin-Dosis auf 80mg betrug das LDL-C nun 1.9mmol/l. Die daraufhin registrierte Erhöhung der CK- und der Leberwerte wurde auf die hohe Atorvastatin-Dosis zurückgeführt. Im Mai 2006 klagte der Patient über Schulterschmerzen beidseits. Er wies eine Ulzeration am Finger D2 auf. Die Ulzeration wurde beschrieben, als der Patient unter hohen Statindosen stand. Entsprechend wurde die Atorvastatin-Therapie gestoppt und durch Inegy (Simvastatin 20 mg, Ezetimibe 10mg) ersetzt. Inegy wurde darauf auf 40mg Simvastatin erhöht. Im April 2008 zeigten sich eine starke Leistungsintoleranz und eine Erhöhung der Leberenzyme, LDL-C betrug 2.5 mmol/l. 2009/2010 stellten sich Schmerzen unter Belastung an der Tibiavorderkante beidseits ein. Wegen zunehmender Wadenschmerzen erfolgte eine Inegy-Pause 5/2012. Nach 2 Wochen war der Patient schmerzfrei und die Schwellung der Wadenmuskulatur verschwunden. Beginn mit Rosuvastatin 5mg/Tag. Kopfschmerzen, Übelkeit, Fieber, Beinödeme beidseits, Stopp Rosuvastatin. Am 28.6.2012 dritte Intervention: akutes Koronarsyndrom, Plaqueruptur CX: PCI/Stent (x 4). De-novo-Läsion RCA: PCI/Stent (x 2). Therapie Aspirin Cardio, Efient, Rosuvastatin 5 mg, Eltroxin, Cosaar Plus, Beloc ZOK 50 mg. Cholesterin 6.0 mmol/l, HDL-C 0.61 mmol/l, LDL-C 3.98 mmol/l. Da sich der Patient weigerte, Rosuvastatin weiter einzunehmen, wurde mit Ezetimibe allein 10 mg/Tag begonnen. Die LDL-C-Konzentration betrug 3.19 mmol/l. 4/2013 erneute Angina Pectoris, positive Ergometrie, Koronarangiographie. 5-facher ACBP, Venenbypass zu RPL und RIVPO der RCA. 10/2013 keine Angina Pectoris, aber deutliche Leistungsminderung wegen bilateraler Wadenschmerzen. Ezetimibe wird gestoppt. Beschwerden verbleiben lange Zeit, ebenso die Erhöhung der CK und der Transaminasen. Abklärung wegen Polyneuropathie und Myopathie ist unergiebig. Cholesterin 5.6 mmol/l, HDL 0.53 mmol/l, LDL-C 3.85 mmol/l. 1/2017 Kostengutsprache für Evolocumab und Beginn mit Repatha 140 mg jede 2. Woche. Keine Myalgien, keine Wadenkrämpfe, gute Leistungsfähigkeit. 5/2017 Cholesterin 3.3 mmol/l, HDL-C 0.7 mmol/l, LDL-C 1.43 mmol/l. 01/2018 Cholesterin 2.6 mmol/l, HDL-C 0.77 mmol/l, LDL-C 0.94 mmol/l.

Nebenwirkungen der Statine

Gute klinische Evidenz gibt es für die Myopathie, für Leberenzymerhöhung und die Entwicklung eines Diabetes mellitus. Weniger gute Evidenz für Krebs, intrazerebrale Blutung, Psychiatrische Krankheiten, erektile Dysfunktion, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Katarakt, Rheumatoide Arthritis, Bauchschmerzen, Brustschmerzen, bleibende Leber- und Nierenschäden, so der Referent. Die Statin-assoziierten Muskelschmerzen teilen sich in Myalgie, bis 5% in klinischen Studien, Myositis 1% in klinischen Studien, CK erhöht (< 10 x), mit oder ohne Myalgien, Rhabdomyolyse, 1 pro 10 000 Patientenjahre, CK >10x erhöht, Myoglobinurie, Niereninsuffizienz und Statin-assoziierte Autoimmun-Myopathie, 2-3 pro 100 000 Patienten. Ursache sind Autoantikörper gegen HMGCoA-Reduktase-Behandlung durch immunsuppresive Therapie.

Lebensstiländerung bei Statinintoleranz: Was nützt? Wie gut?

Nahrungsergänzungsmittel, denen eine cholesterinsenkende Wirkung nachgesagt wird, sind roter Reis, Bergamotte, Artischocken, faserreiche Kost, pflanzliche Sterole, Phytosterole, Berberitze, Knoblauch, Grüntee, Soja, Omega-3-ungesättigte Fettsäuren. Der rote Reis senkt Cholesterin um 15-25% wegen seines Gehalts an Monacolin K, das chemisch identisch mit Lovastatin ist (Klasse I/A-Empfehlung). Es können daher zu den Statinen identische Nebenwirkungen auftreten. Die Phytosterine senken LDL-C zwischen 7 und 10%. Sie sollten bei Patienten mit Phytosterolämie und den für ABCG5 und ABCG8 Heterozyten vermieden werden (IIa/C-Empfehlung).
In verschiedenen Studien wurde eine Reduktion der kardiovaskulären Mortalität durch Omega-3-Fettsäuren festgestellt. Basierend auf diesen Studien (u.a. DART und GISSI) empfehlen alle Guidelines eine fischreiche Ernährung und die Einnahme von 1g Fischölkapseln. Bereits in den Nachfolgestudien zu DART und GISSI, von den gleichen Autoren durchgeführt, konnten die guten Resultate nicht reproduziert werden. In der Folge fanden die meisten Studien keinen Effekt, das Interesse für die Fischölkapseln blieb aber aufgrund von Open-Label-Studien hoch, insbesondere zum Verhindern von Arrhythmien, Herzinsuffizienz und bei Diabetikern. Ein Cochrane Review mit 79 randomisierten Studien an 112 059 Probanden fand keinen Effekt oder wenig bezüglich Gesamtmortalität (RR0.98), kardiovaskuläre Mortalität (RR 0.99), Schlaganfall (RR1.06) und Arrhythmien (RR0.97). In einer Sensitivitätsanalyse der qualitativ guten Studien tendierten alle Effekte gegen Null (RR1.0).
Die im letzten Jahr veröffentlichte ASCEND-Studie an 15 480 Patienten mit Diabetes, aber ohne chronische Herzerkrankung, zeigte keinen Nutzen von Omega-3-Fettsäuren bei Diabetes mellitus.
In der REDUCE-IT-Studie mit Icosapent Ethyl, einem speziellen Omega-3-FS-Präparat wurde in diesem Jahr eine 25%-Risikoreduktion gegenüber Placebo beschrieben. Das in der REDUCE-IT-Studie verwendete Vascepa® (Icosapent Ethyl) senkt die Triglyceride nur leicht > (-0.44 mmol/l), der Effekt war unabhängig vom Ausgangswert der Triglyceride, LDL-C blieb unverändert (+ 0.05 mmol/l). Placebo verhielt sich in der Studie nicht neutral (Erhöhung von LDL-C um 10.2% (0.18 mmol/l), CRP wurde um 30% erhöht. Die Resultate sind zu gut, um wahr zu sein! Denn PCSK9-Inhibitoren senken LDL-C um 54-59% auf unter 1 mmol/l. Trotzdem haben sie das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis nur um 15% (ODYSSEY OUTCOMES), respektive um 20% (FOURIER) gesenkt. Weder die kardiovaskuläre noch die Gesamtmortalität wurden durch die PCSK9-Hemmer gesenkt. Vascepa® wurde von der FDA zugelassen.

Ökonomische und ökologische Fakten zu Omega-3-Fettsäuren

Der Fischölkapselkonsum hat sich in den letzten Jahren in den USA verzehnfacht. Weltweit werden Fischölkapseln im Wert von 33 Milliarden Dollar verbraucht. Fischölkapseln werden aus kleinen Fischen (z.B. Sardellen und Heringen) hergestellt. Ein Achtel des gesamten Weltfischfangs geht in die Produktion von Omega-3-Fettsäuren-Nahrungssupplemente. Die Produktion der unwirksamen Fischölkapseln stellt ein riesiges Umweltproblem dar.

Kardiovaskuläre Effekte von intensiver Lebensstilintervention bei Typ-2-Diabetes:

Im Look AHEAD Trial (NEJM 2013;369:145-152) absolvierten von 5145 übergewichtigen Patienten mit Typ-2-Diabetes 2570 ein intensives Training und Gewichtsreduktion, 2575 erhielten eine normale Betreuung. Primärer Endpunkt war kardiovaskulärer Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall, Hospitalisierung wegen Angina Pectoris. Die Nachbetreuung war für 13.5 Jahre vorgesehen, die Studie wurde nach 9.6 Jahren gestoppt. Die Effekte des intensiven Trainings waren -4 kg Gewichtsreduktion (p < 0.001), körperliche Fitness +0.6 (MET) (p< 0.001), Bauchumfang -3.2cm (P < 0.01), HbA1c -0.22 (P < 0.001). Das intensive Training und die Gewichtsreduktion verringerten indessen die kardiovaskulären Ereignisse beim Typ-2-Diabetiker nicht.

Therapieversuche bei Statinintoleranz und Alternativen zu Statinen

Der Referent erwähnt Diät und Lebensstiländerung, Reduktion von Fett und cholesterinhaltigen Lebensmitteln, Ersatz von gesättigten durch mono- und poly-ungesättigte Fette (Omega 3 >), körperliches Training, Gewichtsabnahme. Reduktion der Statindosierung, Wechsel des Statins, intermittierende Dosis z.B. jeden 2. Tag.
Behandlung der Muskelschmerzen: Coenzym Q10, Vitamin D. Als medikamentöse Alternativen zu den Statinen nannte der Referent Ezetimibe, PCSK9-Inhibitoren: Antikörper gegen PCSK9, Alirocumab und Evolocumab, Inclisiran: small interfering RNA zur Hemmung der PCSK9-Synthese. Ferner Bempedoinsäure, ein Hemmer der ATP-Citrat-Lyase (ACL). ACL ist das Enzym, das im Zytosol eukaryotischer Zellen eine Acetylgruppe von Citrat auf Coenzym A überträgt, woraus unter anderem Acetyl-CoA resultiert.
PCSK9-Inhibitoren bei Statinintoleranz: In der GAUSS-3-Studie (Intoleranz gegen 3 Statine) senkte Evolocumab das LDL besser als Ezetimibe. Nebenwirkungen waren Muskelschmerzen (Evolocumab vs. Ezetimibe) 20.7% vs. 28.8%, Nasopharyngitis 9.7% vs. 2.7%, Arthralgie 9.0% vs. 1.4%, Schmerzen in den Extremitäten 9.0% vs. 1.4%. In der ODYSSEY ALTERNATIVE mit Alirocumab wurden medikamentabhängige unerwünschte Muskelwirkungen unter Alirocumab in 32.5%, unter Ezetimibe in 42.2% und unter Atorvastatin in 46.0% festgestellt (HR vs. Alirocumab 1.41 bzw. 1.61). Medikamentabhängige, unerwünschte Muskelwirkungen, die zum Therapieabbruch führten, wurden unter Alirocumab in 15.9%, unter Ezetimibe in 20.2% und unter Atorvastatin in 22.2% registriert (HR vs. Alirocumab 1.28 bzw. 1.52).
Die Dosierungen der PCSK9-Inhibitoren sind für Evolocumab (Repatha®) 140mg s.c. alle 2 Wochen, 420mg s.c. alle 4 Wochen, für Alirocumab (Praluent®) 75 mg s.c. alle 2 Wochen, 150 mg s.c. alle 2 Wochen.
Der PCSK9-RNA-Inhibitor Inclisiran ergab in der ORION-Studie eine LDL-C-Senkung von 28% bis 52% in den verschiedenen Dosierungen. Die Wirkung erstreckte sich über 180 Tage.
Für Bempedoinsäure lieferte die CLEAR-Harmony-Studie den Beweis dafür, dass dieses Medikament sicher ist. Das Nebenwirkungsprofil von Bempedoinsäure war im Allgemeinen ähnlich wie das von Placebo.
Die Hintergrund-Statinintensität hatte keinen Einfluss auf das Sicherheitsprofil von Bempedoinsäure.
Bempedoinsäure reduzierte LDL-C in Woche 12 um 18,1% (ITT) und 19,8% (On-Treatment), signifikante Reduzierungen von LDL-C wurden bis Woche 52 beobachtet.
Bempedoinsäure senkte auch signifikant Non-HDL-C, Gesamtcholesterin, apoB und hsCRP.
Bempedoinsäure bietet eine zusätzliche therapeutische Option zur sicheren Senkung von LDL-C in hohen Konzentrationen bei ASCVD-Risikopatienten, die mit Statinen behandelt werden.

Quelle: 17. Zürcher Review Kurs in Klinischer Kardiologie, 5.4.-7.4.2019 Zürich Oerlikon.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Radiale Handgelenksschmerzen nach Trauma

Ein Sturz auf das Handgelenk kann auch bei geringer Energieeinwirkung zu Verletzungen führen. Einige Pathologien sind radiologisch nicht oder erst im Verlaufe sichtbar. Zu den häufigsten posttraumatischen radialen Handgelenksschmerzen gehören Fraktur, Non-Union, aktivierte Arthrose, ligamentäre und tendinöse Ursachen.

A fall on the wrist can lead to injury even with low energy. In addition to anamnesis and clinical examination, the standard X-ray image of the wrist in 2 levels is part of the basic diagnosis. Some pathologies are not visible radiologically or only gradually; For this reason, immobilization of the wrist and a re-evaluation after 2 weeks is recommended even with blandem X-rays.

Distal radius fracture

With ¼ of all fractures, it is one of the most common adult human fractures with two frequency peaks: young men (high-energy trauma) and women over 50 (low-energy trauma). Clinically, swelling, hematoma and possibly local deformation can be found. Peripheral circulation, sensitivity and motor skills should be checked. The diagnosis is confirmed radiologically.
An undisplaced fracture can be treated by immobilization in the forearm plaster for 6 weeks. Secondary dislocation or crushing of the fracture should be excluded by means of a follow-up x-ray after 1, 2 and 4 weeks. For secondary
dislocation or initial 3 or more existing instability criteria (according to Lafontaine), an operative procedure must be discussed: • Dorsiflexion> 10 °
• Dorsal decay zone
• Intra-articular fracture
• Ulnar fracture
• Age> 60 years

For complex fractures, a CT scan is useful preoperatively.
In patients over 50, the question of bone mineralization arises. In 2011, one study (1) found osteoporosis in 18% of patients with a radius fracture between 50-59 years of age, and 25% between 60-69 years of age (control groups without fracture: 5% and 7%, respectively). Male patients also showed an increased rate of osteoporosis. In addition, patients after radius fracture have a 2 to 3-fold increased risk of suffering a vertebral or hip-joint-like fracture. For secondary prevention, it therefore makes sense to initiate early further diagnosis and therapy regarding osteoporosis.

Scaphoidverletzungen

Scaphoidfraktur

Sie ist mit 60% die häufigste Fraktur der Handwurzelknochen. Aufgrund der komplexen Anatomie und der empfindlichen Vaskularisation ist die Therapie oft schwierig. 80% der Durchblutung erfolgt durch einen dorsalen Seitenast der A. radialis retrograd von distal her. Aufgrund dieser Vaskularisation ist eine Fraktur umso komplikationsreicher (Delayed union, Pseudoarthrose, avaskuläre Nekrose), je proximaler sie liegt.
Initiale Röntgenbilder können auch beim Vorliegen einer Scaphoidfraktur unauffällig sein. Bei klinischem Verdacht auf Fraktur (Schmerzen in der Tabatière anatomique und Tuberculum scaphoideum, Schwellung, schmerzhafte Ulnardeviation) soll das Handgelenk für 2 Wochen immobilisiert, und danach die Bildgebung wiederholt werden. Bleiben die Röntgenbilder weiter nicht konklusiv, muss eine weiterführende Bildgebung (CT oder MRI) durchgeführt werden, wobei (2) das MRI zur Aufdeckung okkulter Frakturen besser geeignet ist.
Raucher weisen im Vergleich zu Nichtrauchern eine deutlich erhöhte Konsolidationszeit sowie Non-Unionrate auf; es ist daher wichtig, die Raucher zum Sistieren / Pausieren des Nikotinkonsums zu motivierten.
Nicht-dislozierte Frakturen im distalen Drittel können durch 4-8 wöchige Immobilisation im Vorderarmgips behandelt werden. Bei Frakturen im mittleren Drittel dauert die Immobilisation in der Regel 8-12 Wochen, im proximalen Drittel auch bis zu 6 Monate. Keine Studie konnte belegen, dass der Daumeneinschluss in die Ruhigstellung die Konsolidationsrate erhöht(3). Durch eine axiale Kompressionsschraube kann die Konsolidationszeit verkürzt und die Konsolidationsrate erhöht werden. Kriterien zur Operationsindikation sind neben der Lokalisation auch instabile Frakturen:
• Lateraltranslation > = 1 mm
• Seitlicher intra-scaphoidaler Winkel > 35° (sog. Humpback-Deformität)
• Scapho-lunärer Winkel > 60°
• Knochenverlust / Trümmerfraktur
Zur Evaluation der ossären Durchbauungsrate eignet sich die CT-Untersuchung.

Pseudoarthrose

Die Hauptursachen für die Entstehung einer Scaphoid-Pseudoarthrose sind:
• Nicht / verspätet diagnostizierte Fraktur
• Proximale Fraktur
• Dislokation > 1 mm
Bleibt sie unerkannt, kann sie mit der Zeit aufgrund von Instabilität zum karpalen Kollaps, zu einer progressiven Arthrose bis hin zur Panarthrose des Handgelenkes (SNAC (Scaphoid Non Union Advanced Collapse)-Wrist Grad IV) führen. Schmerzen können nach Re-Traumatisierung des Handgelenks akut auftreten oder schleichend zunehmen.
Ebenso kann eine vorbestehende Arthrose (Rhizarthrose, STT-Arthrose, Radiocarpalarthrose) durch einen Sturz aktiviert und schmerzhaft werden. Die gezielte Röntgenaufnahme hilft bei der Diagnostik. Meist reicht da eine Ruhigstellung mittels Schiene sowie mehrtägige NSAR-Therapie.

Scapho-lunäre Bandverletzung

Der typische Unfallmechanismus ist ein Sturz auf das hyperextendierte Handgelenk in Ulnardeviation; sie reicht von Distorsion über Partial- bis kompletter Ruptur.
Eine SL-Ruptur kann ähnlich der Scaphoidpseudoarthrose zu karpaler Instabilität bis hin zum Kollaps und konsekutiver progressiver Handgelenksarthrose (SLAC (Scaphlounate Advanced Collapse)-Wrist) führen.
Klinisch findet sich eine dorsoradiale Schwellung, Bewegungseinschränkung und Kraftlosigkeit. Es besteht ein Instabilitätsgefühl sowie ein dumpfes Knacken; dieses kann durch den Watson-Test (Fixierung des distalen Scaphoidpoles und simultane Radialdeviation) provoziert werden. Neben Standard-Röntgenbild (SL-Abstand, SL-Winkel, O-ring Sign) sind bei Verdacht auch dynamische seitenvergleichende Bilder hilfreich: pa in Ulnardeviation, oder pa geballte Faustaufnahme zur Visualisierung
eines erhöhten SL-Spaltes. Die MRI-Untersuchung weist eine Sensitivität von 65-90% auf. Gold-Standard in der Diagnosesicherung ist die Handgelenksarthroskopie.
Die Therapie richtet sich nach dem Verletzungsgrad und Alter der Verletzung und berücksichtigt eine veränderte Kinematik des Carpus, das Vorhandensein einer Fehlstellung (reponierbar oder fixiert) und ob bereits Arthrosezeichen im Handgelenk vorhanden sind.

Reizung des ersten Strecksehnenfaches

Ein direkter Schlag über dem Radius-Styloid oder Hyperabduktion des Daumens können zu Irritation, respektive Einblutung ins erste Strecksehnenfach und der darin verlaufenden Sehnen der M. abductor pollicis longus und M. extensor pollicis brevis führen. Klinisch imponieren die Beschwerden einer Tendovaginits de Quervain (schmerzhafte Schwellung des ersten Strecksehnenfachs, schmerzhafte MP-Extension und Radialabduktion des Daumens, positiver Finkelsteintest). Ist der hier verlaufende Ramus superficialis nervi radialis auch kontusioniert, können in seinem Versogungsgebiet Dysästhesien hinzukommen. Therapeutisch wird primär ein konservatives Vorgehen empfohlen mit strikter Ruhigstellung von Handgelenk inklusive Daumen sowie NSAR. Therapierefraktäre Fälle können mit einer perifokalen Steroidinfiltration ins erste Strecksehnenfach behandelt werden (Erfolgsrate ca. 70%). Als ultima Ratio kommt die chirurgische Spaltung des ersten Strecksehnenfaches in Frage. Die Konvaleszenz dauert etwa 3-4 Wochen.

Handgelenksganglion

Das Ganglion ist eine sackartige Ausstülpung ohne epitheliale Auskleidung, welche über einen Stiel mit dem Gelenk oder einer Sehnenscheide in Verbindung steht und mit einer gallertigen Masse aus Glucosamin, Albumin, Globulin und Hyaluronsäure gefüllt ist. Die eigentliche Pathogenese bleibt unklar. Neben synovialer Hernierung und Mukoid-Degeneration postulieren neue Theorien Belastungen (z.B. Dehnung) an der synovio-kapsulären Verbindung, welche die Produktion von Mucin anregen sollen, welches sich dann als Hauptbestandteil des Ganglions durch die Kapsel ausstülpt (4). Je nach Aktivitätsgrad sind Gangliongrösse und Symptome fluktuierend (Schmerzen, Reduktion der Greifkraft). Bei Verdacht auf okkultes symptomatisches Ganglion kann ein MRI Klarheit schaffen. Falls der Schmerz durch Ruhigstellung und NSAR nicht abklingt, ist die chirurgische Exzision in Erwägung zu ziehen (Rezidiv-Rate 10-15%). Die Punktion eines Ganglions hat eine Rezidivrate von 50%.
Die meisten Ganglien treten jedoch ohne vorangehendes Trauma auf; daher ist ein Kausalzusammenhang zum Unfall in den meisten Fällen nicht nachweisbar.

Dr. med. Salomé Bruneau

DS Praxis
Buchenstrasse 4
6210 Sursee

s.bruneau@ds-praxis.ch

Die Autorin hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Auch hinter einfachen Stürzen mit blanden Röntgenbildern können schwerwiegende Handgelenksverletzungen stecken, eine Reevalua-tion ist daher unabdingbar.
  • Durch gezielte Osteoporose-Abklärung und Therapie bei älteren Patienten mit distaler Radiusfraktur kann die Anzahl folgender grosser Frakturen mit entsprechenden sozialen und sozio-ökonomischen Folgen reduziert werden.
  • Nicht-behandelte Scaphoidfrakturen und scapho-lunäre Bandrup-turen können zu einer Panarthrose des Handgelenks fortschreiten.
  • Ein nach Sturz symptomatisch gewordenes Handgelenksganglion wird von den Unfallversicherungen meist nicht als Unfallfolge angesehen, da es wahrscheinlich bereits vor dem Unfall vorhanden war und sein Entstehen durch das Trauma nicht bewiesen werden kann.

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Physikalische Therapiemassnahmen bei rheumatischen Erkrankungen

Ungefähr ein Fünftel der in der allgemein-internistischen Sprechstunde geäusserten Beschwerden betreffen den Bewegungsapparat. Neben medikamentösen haben auch physikalische Therapiemassnahmen einen wichtigen Stellenwert in der Behandlung muskulo-skelettaler Beschwerden. In diesem Artikel wird der Stellenwert von passiven und aktiven physikalischen Therapiemassnahmen für in der Grundversorgung häufig gesehene akute und chronische rheumatische Erkrankungen vorgestellt.

Written testimonies on medical and thus also physical therapy measures in the broadest sense go back to ancient times, as ancient Egyptian (1), ancient Greek (2) and Roman (3) texts attest. At the latest in the Roman Empire developed a significant bathing and spa culture, many of which bear witness to archaeological remains. In addition, Galen (3) may have been the first to write down an early form of electrotherapy: the application of electric shock to the head for the treatment of headaches. In the Middle Ages, important medical findings from the Middle East and Islamic cultural areas (4, 5) were added. At the beginning of modern times with the outbreak of several epidemics disappeared the bathing culture. Among other things, public baths were suspected to be complicit in the epidemics – but more likely to have spread to the spread of syphilis (5). It was not until the end of the 19th century that bathing and spa services experienced a renaissance that was temporarily interrupted by the two world wars. The emerging electrification of everyday life led to further electrical therapy devices (6). From the middle of the last century onwards, interesting, traditional therapeutic concepts such as Tai Chi, Qi Gong or massage techniques such as Tuina and Shiatsu (7) were increasingly adopted from Asia. Many therapeutic measures are based on traditional knowledge and were therefore not evidence-based for a long time. Only in the last few decades has the effort been made to find a thorough workup with an increasing number of scientific studies on physical therapies.

Physikalische Therapiemassnahmen

Physikalische Therapiemassnahmen (8) können in aktive und passive Massnahmen unterteilt werden. Seit der Antike wurden fast ausschliesslich passive Massnahmen durchgeführt: Der Kranke liess sich behandeln. Erst in den letzten Jahrzehnten kamen vermehrt aktive Therapiemodalitäten dazu: Nun ist das aktive Mitmachen des Patienten gefordert, auch wenn es nicht immer leicht fällt, dieses einzufordern.
Bei Problemen des Bewegungsapparates empfiehlt es sich weiter, zwischen akuter und chronischer/stabiler Phase zu unterscheiden, da sich die optimalen Therapiemassnahmen in den einzelnen Phasen teils deutlich unterscheiden.
Zu den wichtigsten, im ambulanten Setting gebräuchlichen passiven Therapiemassnahmen gehören:
• Impulsstrom (transkutane elektrische Nervenstimulation/TENS). Bei der TENS werden rechteckförmige Stromimpulse verwendet, welche innerhalb des Stromfeldes eine analgetische Wirkung entfalten.
Ultraschall führt über thermische Effekte zu einer Tiefenerwärmung mit nachfolgender Durchblutungsförderung und Regenerationsbeschleunigung in Weichteilen und Knochen, aber auch über nicht-thermische Effekte zu einer Elastizitätssteigerung von Kollagenfasern und einer Änderung der Zellmembranpermeabilität. Weiter ist ein direkt schmerzstillender Effekt über eine Veränderung der Reizschwelle sensibler Nervenfasern nachweisbar. Mit der Ultraschallsonde können auch NSAR-Gel einmassiert werden (Sonophorese), was das Eindringen des Medikamentes in tiefere Gewebeschichten erleichtert.
Stretching, Massagen, Dry Needling. Diese Therapiemassnahmen eigenen sich vor allem zur Muskeldetonisierung und zur Durchblutungsförderung in den Weichteilen.
Taping kann je nach Festigkeit und Aufkleberichtung des Tapes ein Gelenk stabilisieren, Muskeln und Sehnen entlasten oder über den taktilen Input über die Haut die Propriozeption verbessern.
Kälteapplikationen (Kryotherapie) führen über eine Vasokonstriktion zu einem reduzierten Einstrom inflammatorischer Zellen in das betroffene Gewebe und damit zu einer Entzündungshemmung und Schmerzlinderung durch eine verminderte Ausschüttung von Entzündungsmediatoren (vor allem Prostaglandine und Histamin). Ein zusätzlich schmerzlindernder Effekt entsteht durch die Erhöhung der Reizschwelle sensibler Nerven.
Wärmeapplikationen dienen zur Muskeldetonisierung, Durchblutungsförderung und Regenerationsbeschleunigung.
Manuell-medizinische Techniken werden zur Weichteil-, Gelenk- und Wirbelsäulenmobilisation verwendet.

Bei aktiven Therapiemassnahmen steht der Muskelaufbau im Vordergrund zur Verbesserung der Gelenk- und Wirbelsäulenstabilisation sowie zur Schulung der Propriozeption, Koordination und des Gleichgewichts. Neben Übungen unter Zuhilfenahme des eigenen Körpergewichtes (z.B. Liegestützen, Thera-Band®) kann ein Kräftigungsprogramm auch im Wasser (z.B. AquaJogging) und an Geräten durchgeführt werden. Die Rheumaliga (9) bietet ein breites Kursprogramm an Gymnastik und Wassertherapien an, zu welchen die Patienten − teils auf ärztliche Verordnung hin − angemeldet werden können.

Ausgewählte Krankheitsbilder

Arthrose

Muskulär gut stabilisierte Gelenke altern langsamer, ein gutes Muskelkorsett entlastet die Gelenke. Hauptpfeiler der Arthrosetherapie ist das Stärken der jeweiligen muskulären Stabilisatoren zur Entlastung des Gelenkes sowie zur Verbesserung der Koordination und Propriozeption. In der akut schmerzhaften Phase empfehlen sich passive Massnahmen wie Sonophorese, TENS und Kälteapplikationen, weiter manuell-medizinische Techniken wie Mobilisation und Traktion.

Unspezifischer Rückenschmerz

Früher eine Domäne der passiven Therapiemassnahmen. Heute ist durch viele Studien belegt, dass nur aktive Therapien zu einer relevanten Besserung führen. Neben der reinen Kräftigung der Rumpf- und Beckenstabilisatoren muss auch die Koordination und Propriozeption verbessert werden.

Gicht, Rheumatoide Arthritis, Psoriasis-Arthritis

Bei den genannten entzündlichen Erkrankungen bieten sich im Schub vor allem passive Therapiemassnahmen zur Entzündungs- und Schmerzlinderung an. Im schmerzfreien Intervall sollen die Gelenkstabilisatoren auftrainiert werden.

Ankylosierende Spondylitis

Trotz ausgebauter medikamentöser Therapie mit NSAR und Biologika kann es auch heute noch zu Ankylosierungen vorwiegend des Achsenskelettes, seltener der peripheren Gelenke kommen. Viele Studien haben einen positiven Einfluss mobilisierender Gymnastik (Automobilisation) auf die Progredienz der Ankylosierung zeigen können. Wichtig ist das regelmässige, schlussendlich lebenslange Durchführen derselben. Hier bietet sich zudem eine regelmässige Wassergymnastik an, mit welcher auch gerade die Kraft- und Ausdauer verbessert werden können.

Fibromyalgie

Unabhängig davon, welche Pathologie schlussendlich zur Fibromyalgie führt, gibt es heute evidenzbasierte Therapieempfehlungen. In ein Therapieprogramm gehört unbedingt das Verbessern der aeroben Leistungsfähigkeit mittels dosiertem Ausdauer- und Krafttraining, auch wenn deren schmerzlindernder Effekt erst nach Monaten eintritt. In den letzten Jahren gut untersucht wurde der positive Einfluss von Tai Chi auf das Schmerzerleben. Weiter scheint der regelmässige Besuch von Kältekammern (Kryosauna) bei vielen Patienten die Schmerzschwelle zu erhöhen.

Adipositas

Auch aus rheumatologischer Sicht muss die Adipositas bekämpft werden. Bei Adipösen finden sich erhöhte Spiegel proinflammatorischer Substanzen wie TNFα und IL-6. Eine Gewichtsreduktion bei Adipositas vermindert nicht nur entzündliche Prozesse bei Arthrose, sondern führt auch zu einer geringeren Entzündungsaktivität unter anderem bei Psoriasisarthritis und ankylosierender Spondylitis. Was bietet sich hier mehr an als ein dosiertes Ausdauer- und Krafttraining.
Wer sich eine ironische Abrechnung mit Auswüchsen des Kurbetriebs zu Gemüte führen möchte, dem sei der Film von Regisseur Alan Parker «The Road to Wellville» nach einem Roman von T. C. Boyle empfohlen.

Dr. med. Urs Grossenbacher

Physikalische Medizin und Rehabilitation SGPMR
Manuelle Medizin SAMM
Interventionelle Schmerztherapie SSIPM
Limmattalstrasse 167
8049 Zürich

dr.urs.grossenbacher@hin.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Turne bis zur Urne
  • Physikalische, zunehmend evidenzbasierte Therapiemassnahmen haben nach wie vor einen grossen Stellenwert in der Behandlung rheumatischer und damit häufig chronischer Erkrankungen des Bewegungsapparates
  • As doctors are hardly
    familiar with the entire spectrum of physical therapy options, it is advisable to have regular discussions with physiotherapists and occupational therapists.

1. Among others Edwin Smith Papyrus, Ebers Papyrus, Ramesseum Papyrus.
2. Especially the corpus hippocraticum of Hippocrates.
3. Among other things, de materia medica of Dioscorides, various writings of Galen and Asclepiades of Bithynia.
4. Predominantly from the Qanun at-Tibb of Ibn Sina (also called Avicenna).
5. Reddig WF. Bader, Medicus and Wise Woman. Battenberg, 2000.
6. https://www.medmuseum.siemens.com/museumsgeschichten/elektromedizin
7. Wikipedia.
8. Long A, physical medicine. Springer, 2003.
9. www.rheumaliga.ch/offers

Stuhlinkontinenz

Stuhlinkontinenz ist definiert als unwillkürlicher Verlust von festem oder flüssigem Stuhl. Bei der Urge-Inkontinenz kommt es zu unkontrolliertem Verlust bei wahrgenommenem Stuhldrang. Demgegenüber steht die passive Inkontinenz, bei welcher es unbemerkt zu Stuhlverlust kommt. Der Artikel fasst die aktuellen Abklärungsschritte und Therapieoptionen zusammen.

Die genaue Prävalenz von Stuhlinkontinenz ist unbekannt. Eine Review aus 2015 zeigt eine mittlere Prävalenz von 7.7%, wobei je nach Definition von Inkontinenz und untersuchter Studienpopulation ein grosser Unterschied von 2.0 – 20.7% besteht (1). Ein Geschlechterunterschied scheint nicht zu bestehen.
Als Hauptrisikofaktoren für Stuhlinkontinenz gelten Diarrhoe, zunehmendes Alter, Diabetes mellitus und gleichzeitige Urininkontinenz. Tabelle 1 zeigt in der detaillierteren Übersicht mögliche Ursachen für Stuhlinkontinenz (2).
Zur Graduierung der Stuhlinkontinenz wird heutzutage am häufigsten der Wexner-Vaizey-Score verwendet (Tabelle 2). Maximal können 24 Punkte erreicht werden, was einer kompletten Stuhlinkontinenz entspricht.

Abklärungen

Nebst der genaueren Anamnese werden als weiter führende Abklärungen eine Endoskopie, eine anorektale Manometrie und ein endoanaler Ultraschall empfohlen.
In der Endoskopie sollten entzündliche oder neoplastische Veränderungen des Anorektums ausgeschlossen werden.
Bei der anorektalen Manometrie könnten die Druckwerte des M. sphincter ani internus (Ruhedruck) und des M. sphincter ani externus (Klemmdruck) gemessen werden.
Der M. sphincter ani internus ist ein zirkulärer Muskel von glatten Muskelzellen und wird über das autonome Nervensystem innerviert. Er kann daher nicht aktiv beeinflusst werden. Häufig wird bei passiver Inkontinenz ein isoliert zu tiefer Ruhedruck gemessen.
Der M. sphincter ani externus ist ein zirkulärer Muskel von quergestreifter Muskelzelle und wird über den N. pudendus (S3-S4) innerviert. Er kann somit aktiv kontrahiert und entspannt werden. Dabei sind weniger die Maximalkraft als die Mitteldruckwerte über 10 Sekunden für die Kontinenz entscheidend. Eine Insuffizienz des M. sphincter ani externus geht häufig mit einer Urge-Inkontinenz einher.
Nebst der Druckmessung kann bei der anorektalen Manometrie gleichzeitig noch die rektale Compliance (Rektumkapazität) und Perzeption (Wahrnehmungsschwelle) mitgemessen werden. Hierzu wird ein dehnbarer Ballon ins Rektum eingeführt und dann mit Luft- oder Flüssigkeit langsam gefüllt. Beispielsweise zeigen stuhlinkontinente Patienten mit Diabetes mellitus häufig eine herabgesetzte Wahrnehmung (erhöhte Schwelle) für Dehnungsreize im Rektum. Patientinnen und Patienten mit entzündlichen Veränderungen (Proktitis ulzerosa oder Strahlenproktitis) hingegen eine erhöhte Wahrnehmung (reduzierte Schwelle).
Der endoanale Ultraschall kann bei nachgewiesener Sphinkterinsuffizienz allfällig zugrunde liegende Sphinkterdefekte nachweisen. Abbildung 1 zeigt einen Normalbefund mit zirkulärem echoarmem Internusring. In der Abbildung 2 kann auf der anterioren Hemizirkumferenz (9-3 Uhr) der Internus nach obstetrischen Verletzungen nicht mehr abgegrenzt werden.
In ausgewählten Fällen, insbesondere bei vermutetem Beckenbodendeszensus oder präoperativ gewünschter Darstellung der Beckenorgane kann ergänzend eine Magnetresonanz-Defäkographie durchgeführt werden. Dabei können beim simulierten Anspannen/Pressen die intraabdominalen Bewegungen real-time dargestellt werden.

Therapiemöglichkeiten

Mit Quellmitteln kann versucht werden die Stuhlkonsistenz zu beeinflussen. Dies kann vor allem bei Inkontinenz wegen weicher, lockerer Stuhlkonsistenz helfen.
Loperamid hat nachgewiesen einen positiven Effekt bei Inkontinenz wegen zu wässriger Stuhlkonsistenz (3).
Die Biofeedbacktherapie ist eine gute und effektive Therapieoption bei Urge-Inkontinenz infolge Insuffizienz des M. sphincter ani externus. Hingegen kann eine isolierte Insuffizienz des Internus nicht mit Training beeinflusst werden. Hier hilft eine vorgängig durchgeführte anorektale Manometrie zur Unterscheidung.
Direkt injizierte Substanzen (beispielsweise Silikon) können bei isolierter Insuffizienz des Internus versucht werden, allerdings ist die Datenlage spärlich.
Eine chirurgische Reparatur des Analsphinkters kann bei nachgewiesenem Sphinkterdefekt und vorgängig erfolgloser Biofeedbacktherapie und/oder medikamentöser Beeinflussung durchgeführt werden.
Die sakrale Neuromodulation ist die nächste Option falls Medikamente/Biofeedback und Sphincterrepair keine Besserung der Inkontinenz erbracht haben (4). Bei dieser Methode werden die für die Kontinenz wichtigen Beckenbodennerven mittels Strom stimuliert. Ein Vorteil gegenüber anderen chirurgischen Verfahren ist sicher die Möglichkeit einer 14-tägigen Teststimulationsphase. Kommt es darunter zu einer Verbesserung der Kontinenz und verträgt der Patient die Elektrode kann in einem 2. Schritt der definitive Schrittmacher implantiert werden.
Weitere «high-end» chirurgische Möglichkeiten sind die Kolostomie, die dynamische Grazilisplastik oder der künstliche Sphinkterapparat. Diese Therapieformen sollten aber nur in spezialisierten Zentren evaluiert und durchgeführt werden.

Dr. med. Marcel Halama

FMH Gastroenterologie
Aerztehaus Fluntern
Zürichbergstrasse 70
8044 Zürich

marcel.halama@hin.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Eine Stuhlinkontinenz kann Folge von strukturellen (postoperativ, neoplastisch, entzündlich, neuronal) und auch funktionellen Abnormitäten sein und wird auch durch allgemeine Erkrankungen und Stuhlabnormitäten beeinflusst
  • Der Schweregrad einer Stuhlinkontinenz kann mit dem Wexner-Vaizey-Score abgeschätzt werden
  • Die Diagnostik umfasst eine Endoskopie, eine anorektale Manometrie und ein endoanaler Ultraschall
  • Die Basistherapie umfasst Quellstoffe, Loperamid und bei Urge-Inkontinenz infolge Insuffizienz des M. sphincter ani externus eine Biofeedbacktherapie.

1. Ng KS et al; Dis Colon Rectum 2015 ; 58 (12) : 1194
2. Lazarescu et al; Can J Gastroenterol; 2009; 23: 301
3. Markland et al; Dis Colon Rectum 2015 ; 58 (10) : 983-993
4. Matzel et al ; Lancet 2004 ; 363 (9417) : 1270

Zur aktuellen Kontroverse über Testosteronersatzbehandlung bei älteren Männern

Der Late-onset Hypogonadismus (LOH), auch als Alters-assoziiertes Testosterondefizit bekannt, ist ein klinisches und biochemisches Syndrom, charakterisiert durch Alter, Libidoverlust, erektile Dysfunktion, abnehmende Muskelkraft, vermehrtes Viszeralfett, Anämie und Stimmungsschwankungen. In diesem Artikel werden die aktuellen Kontroversen um Diagnose und Behandlung dieses Krankheitsbildes diskutiert.

Zahlreiche Studien belegen sowohl enge Zusammenhänge mit der Entwicklung eines Metabolischen Syndroms als auch Hinweise darauf, dass ein Testosterondefizit (TD) durch Störung des Lipidprofils und der glykämischen Kontrolle sowie Obesitas und vermehrte Freisetzung von Entzündungsmediatoren zu erhöhter Mortalität führt (1, 2, 3).
Die zunehmende Beachtung dieses Krankheitsbildes hat die Testosteronverschreibungen in den letzten Jahrzehnten um das Siebenfache hochschnellen lassen (4, 5). Studien schätzen, dass in den USA aktuell 2.4 Mio. Männer im Alter zwischen 40-60 Jahren einen LOH aufweisen und für 2025 werden 6.5 Mio. geschätzt (6, 7, 8). Zu tiefe Testosteronwerte sollen direkt oder indirekt für jährlich 1.3 Mio. neue Fälle kardiovaskulärer Erkrankungen, 1.1. Mio. neue Diabeteskranke und rund 600 000 Osteoporosefälle pro Jahr mitverantwortlich sein (das − oft schicksalhafte − Frakturrisiko dagegen scheint verminderten Serum-Estradiolwerten anzulasten zu sein (12)). Für die nächsten zwei Dekaden werden Kosten für das amerikanische Gesundheitswesen durch Testosteronmangel von bis zu 500 Milliarden USD entstehen (9).
Positive Effekte einer korrekten Testosteron-Ersatztherapie (TET) auf Insulinresistenz, Diabetes mellitus 2 (Dm2), Dyslipidämie, Zytokinbildung, Viszeralfettmasse, Hypertonie, subdepressive Verstimmungen, Knochenmineralisation und Muskelkraft sind in zahlreichen Studien längst und bestens belegt (10, 11). Eine Reihe beachtenswerter Untersuchungen belegen die engen Assoziationen zwischen tiefen Testosteronwerten und erhöhter Mortalität (13-20), respektive in nicht randomisierten Studien sogar eine reduzierte Mortalität unter TET bei Männern mit tiefen Testosteron-Spiegeln (21, 22). Leider aber wird Testosteron nach wie vor oft inadäquat verschrieben – oft sogar ohne vorgängige Hormonbestimmung (23).
Trotz all dieser positiven Erkenntnisse hat in den vergangenen Jahren eine heftige Kontroverse stattgefunden, die sich um die Frage der Sicherheit einer TET und ein möglicherweise erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse drehte. Die schwache Datenlage führte dazu, dass noch 2015 die FDA die TET nur bei kongenitalem Hypogonadismus und nicht beim LOH unterstützte. Damit fällt aber nur eine kleine Zahl von Patienten in diese Kategorie, während die erdrückende Mehrheit der Hormonmangelpatienten eben Komorbiditäten wie Dm2, Adipositas, metabolisches Syndrom aufweisen (8). Die Position der FDA, insbesondere ihre Forderung nach obligatem Warnhinweis auf ein CV Risiko einer TET, wurde allerdings rasch in Frage gestellt.
Basis für diese drastischen, staatlich verordneten Einschränkungen bei der Therapieempfehlung waren zwei Übersichtsartikel, die eine Gefährdung für CVE bzw. Schlaganfälle unter TET glaubten nachweisen zu können (24, 25). Sie lösten heftige Kontroversen und nachgeordnete Massnahmen aus und hallten – erwartungsgemäss – in der Laienpresse lange nach (26). Bereits 2014 fand die European Medicines Agency EMA in einem Review aber keine Hinweise auf eine erhöhte kardiovaskuläre Gefährdung unter Testosterontherapie und teilte ausdrücklich die Einschätzung der FDA nicht (27).
Obschon bei genauer Betrachtung beide Studien erhebliche fachliche und statistische Fehler aufwiesen (so wiesen beispielsweise behandelte Männer deutlich tiefere Testosteron-Basiswerte auf als die Kontrollen und die Kontrollgruppe in der einen Studie erhielt PD5-Hemmer mit bekannt positiver kardiovaskulärer Wirkung) und obschon gemeinhin Entwarnung gegeben wurde, sitzt in der Ärzteschaft die Verunsicherung immer noch tief und muss Anlass zu einer kritischen aktuellen Lagebeurteilung sein:

Kurzer geschichtlicher Abriss

  • Testosteron ist ein «junges» Hormon – nach seiner 1937 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten, chemischen Identifizierung (vor allen anderen durch Butenandt und Ruzicka in Zürich) wurde es sehr rasch therapeutisch eingesetzt. So berichten erste Studien bereits nach 1940 (28-31) über günstige Effekte von Testosteron auf periphere Gefässkrankheiten und Angina pectoris.
  • In der Folge erschienen zahllose Publikationen, die einerseits einem möglichen Risiko eines Testosteronmangels nachgingen und andererseits bereits früh die positiven Effekte eines entsprechenden Ersatzes belegten (32-34).
  • Erste ernsthafte Einwände gegen den therapeutischen Einsatz von T finden sich 2010 in einer Studie zur Auswirkung einer TET auf Muskelkraft und Mobilität älterer Männer: die Untersuchung wurde wegen vermehrten CVE im Vergleich mit der Plazebo-Gruppe frühzeitig abgebrochen (35).
  • 2013 verursachte die retrospektive National Cohort Study (24) enormen Publizitätswirbel durch Hinweise auf vermehrte Herzinfarkte, Schlaganfälle und Todesfälle unter TET. Obschon diese Studie wegen grober Fehler und paradoxer Einschätzung der Resultate heftig kritisiert wurde (36) und in der Folge einige Fachgesellschaften ihren Rückzug verlangten, wird sie vor allem in der Laienpresse immer noch unkritisch zitiert.
  • 2014 beobachteten Finkle und Mitarbeiter (25) in einer retrospektiven Kohortenstudie an 55 593 Patienten ein relativ erhöhtes Risiko für Herzinfarkte nach einer TET von 1.36 im Vergleich mit 167 270 Kontrollen. Allerdings basieren die Meldungen nicht auf ärztlicher Diagnose, sondern auf Versicherungsmeldungen, was allein bekanntlich mit einer Irrtumsrate von 12% behaftet ist (1). Komorbiditäten wurden schlichtweg nicht berücksichtigt und als Kontrollgruppe funktionierten Männer unter Medikation mit Phosphodiesterase-Hemmern Typ 5, also einer völlig abweichenden Indikation. Die FDA folgerte aus dem meist nur 30-90 Tage dauernden kurzen Therapieregime die Möglichkeit, dass Patienten nach diesen wenigen Wochen immer noch hypogonadal sein und das erhöhte CVE Risiko eben gerade durch zu tiefe Testosteronwerte bedingt sein könnte (37).
  • Seit 2005 kommen über 100, auch interventionelle klinische Studien zur Frage möglicher negativer Korrelationen von TET und CVE (exzellent zusammengestellt in der Übersicht von Clavell-Hernandez und Wang (34)) zum Schluss, dass keine Korrelation besteht zwischen TET und der Entwicklung von CVE. Bemerkenswert sind neben diesen Meta-Analysen auch Studien, die auf eine antiarrhythmische Wirkung bei Vorhofflimmern einer TET zur Normalisierung einer Hypoandrogenämie hinweisen (38, 39) – auch wenn die genauen Mechanismen bis heute noch nicht aufgeklärt sind.
  • Einen interessanten Denkansatz vertritt Yeap (40): Er vermutet eine U-förmige Kurve der Konzentration zirkulierender Androgene mit theoretisch erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse wie auch die Entwicklung von Begleitkrankheiten bei zu tiefen wie auch zu hohen Werten – einzig mittlere Konzentrationen würden schützende Wirkung entfalten. Diese sogenannte U-These harrt noch aber ihrer Bestätigung.

Welches sind die vaskulären Mechanismen von Testosteron?

Die entscheidende vasodilatatorische Wirkung von Testosteron wird in erster Linie dem aktivierenden Einfluss auf die K-Kanäle bzw. dem inaktivierenden Effekt auf die Ca-Kanäle zugeschrieben. Interessanterweise scheint es sich bei der raschen Vasodilatation durch Testosteron um eine Androgen-Rezeptor (AR) unabhängige, nicht-genomische Funktion zu handeln (39).
Der AR ist dagegen bei den Langzeitwirkungen auf den Tonus in Schlüsselfunktion: AR finden sich ubiquitär in den Gefässstrukturen und Testosteron wie auch sein aktiver Metabolit DHT erhöhen die endothelialen NO (eNO) Konzentrationen (41). Bemerkenswerterweise konnte aber gezeigt werden, dass DHT selber – und zwar unabhängig vom AR-vermittelten Prozess (33) – die Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie COX2 durch die Muskulatur der Koronararterien hemmt.
Wieweit bei den raschen, nicht-AR-abhängigen Prozessen auch die Estradiol-Rezeptoren ins Spiel kommen, wird noch zu klären sein, denn Aromatase wird in den Gefässstrukturen exprimiert und hat identische Einflüsse auf die eNO Bildung (42).
Neben den zahlreichen Untersuchungen mit Frage nach erhöhtem CV Risiko, Häufigkeit von CV Ereignissen, Arrhythmien und Meta-Analysen ist es nach wie vor die zentrale Frage, wie die antientzündlichen, durch T ausgelösten Prozesse in Gang kommen:
Proinflammatorische Zytokine wie IL-1-beta, IL-6, TNF-alpha und CRP standen im Fokus des Interesses: Zwar scheinen die Ergebnisse durchaus widersprüchlich, doch in der Mehrheit konnten positive Effekte auf die genannten Zytokine und CRP nachgewiesen werden (43). Damit bedarf auch die 2017 publizierte Beobachtung noch der Erklärung, weshalb unter TET mehr nichtkalzifizierte Koronarplaques auftreten sollen (44). Ob damit ein echtes kardiovaskuläres Risiko entsteht oder aber ob eventuell auch andere potentiell schädigende Mechanismen wie Flüssigkeitsretention unter Testosteronbehandlung in Gange kommen, wird derzeit diskutiert (40, 45, 46).

Aktuelle Datenlage zum Risiko eines CVE unter TET

T ist ein Gefässhormon mit direkter vasoreaktiver Wirkung und günstigen Einflüssen auf Atheroprotektion und Freisetzung von Entzündungsmarkern und damit direkten antientzündlichen Effekten auf die Blutgefässe. Obschon fast alle einschlägigen Untersuchungen zum positiven Effekt einer TET beim LOH durch Komorbiditäten kompliziert sind, zeigt doch eine überwiegende Mehrzahl, dass Testosteron über endothelabhängige Faktoren sowohl in physiologischen wie auch supraphysiologischen Konzentrationen kurz- wie langzeitige vasodilatatorische Effekte hat. Dabei überwiegen die Kalzium-antagonistischen Wirkungen über die Aktivierung der Endothelzellen durch Kalium-Kanalinaktivierung (47).
Nach Auswertung von Studiendaten von über 210 000 mit Testosteron behandelten Männern zeigen sich keine Zusammenhänge mit erhöhtem Risiko für Myokardinfarkte, Mortalität, Schlaganfälle oder thromboembolischen Ereignissen (48, 49, 50, 51, 52, 53). Einzig bei Männern über 65 Jahren, transkutaner Ersatzbehandlung und nur in den ersten Therapiemonaten wurde in einer Untersuchung auf ein mögliches kardiovaskuläres Risiko verwiesen (54). Kelly und Jones (43) folgern deshalb in ihrer Meta-Analyse 2013 aus der eindrücklichen Summe der günstigen Effekte, dass TET mögliche therapeutische Benefits bei der CVD haben wird.
Mehrere führende Fachgesellschaften haben in vergangenen Jahren Reviews veröffentlicht und darin im Sinne von Richtlinien ausführlich zur Problematik allfälliger CV Risiken unter TET Stellung genommen. Dabei sticht das Statement der EMA (27) hervor, die keine erhöhte Gefährdung erkennen kann – dies im Gegensatz zu den Erkenntnissen der FDA (37). Andere Fachgesellschaften konzentrieren sich auf den Ausschluss möglicherweise gefährdeter Männer mit schweren, nicht bekannten Herzleiden oder Zustand nach Myokardinfarkten (Endocrine Society; 55). Die European Association of Urology reiht schwere chronische Herzleiden NYHA Klasse IV ebenfalls unter den Kontraindikationen zur TET ein, definiert aber keine weiteren Gefahrensituationen (56). Zu einem anderen Schluss gelangt die Canadian Men’s Health Foundation in ihren Empfehlungen: «…Testosterone treatment is appropiate for men with low testosterone and cardiovascular disease» (57).
Unabhängig von diesen Disputen und unwidersprochen gelten nach wie vor erhöhte Hämatokritwerte sowie Fälle von Mammakarzinom beim Mann als Kontraindikationen für eine TET (56) , wogegen die Vorbehalte gegen eine solche Behandlung wegen potentieller Auslösung eines Prostatakarzinoms endgültig als ausgeräumt gelten.
Zwar fehlt nach wie vor die grosse, prospektive, randomisierte, doppelblinde und Placebo-kontrollierte Studie zur Sicherheit der TET. Bei offensichtlich überwiegenden Benefits des Männerhormons auf das kardiovaskuläre System sind aber alle Anstrengungen zu unterstützen, die zur endgültigen Aufklärung der zugrundeliegenden Gefässreaktionen führen (39). Leider tun sich viele Fachgesellschaften bis heute noch schwer, sich auf einheitliche Indikationslisten zur TET zu einigen. So variieren bei den entscheidenden Richtlinien beispielsweise die einer TET zugrunde liegenden Hormonuntergrenzen zwischen 8 – 14 nmol/l (siehe Tabelle 1) (55-57).
Leider haben es die andrologischen Fachgesellschaften bis heute nicht geschafft, sich auf einheitliche Indikationslisten und Richtlinien zur TET zu einigen. Damit wird möglicherweise Generationen von Männern ein in praktisch jeder Hinsicht günstig wirkendes Hormon als Ersatz bei altersbedingtem Verlust vorenthalten – ein Versäumnis, das die Nachwelt wohl kritisch beleuchten wird.

Dr. med. Christian Sigg

Forsterstrasse 61
8044 Zürich

dr.sigg@hispeed.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die günstigen Effekte einer TET bei LOH auf Psyche, Teilaspekte des Metabolischen Syndroms, Sexualität und Muskelkraft liessen die Verschreibungen in letzten Jahrzehnten ums Siebenfache steigen
  • Bis heute liegen keine Hinweise auf ein erhöhtes CVE-Risiko unter TET vor – im Gegenteil: Hinweise auf entsprechende Benefits verdichten sich
  • Vasodilatatorische Effekte und eine verminderte Freisetzung von
    Entzündungsmediatoren wurden als protektive Mechanismen unter TET identifiziert
  • Bei nach wie vor inkonsistenten Richtlinien zur klaren Indikationsstellung könnte möglicherweise durch allzu grosse Zurückhaltung eine erwiesenermassen wirkungsvolle Behandlung des LOH der aktuellen «Hormonmangel-Generation» vorenthalten werden.

1. Tremlett H, Yinshan Z, Devonshire V. Natural history of secondary-progressive multiple sclerosis. Mult Scler 2008; 14: 314–24.
2. Scalfari A, Neuhaus A, Daumer M, Muraro PA, Ebers GC. Onset of secondary progressive phase and long-term evolution of multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014; 85: 67–75.
3. Giovannoni G, Comi G, CookS, etal. A placebo-controlled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. N. Engl. J. Med. 362(5), 416–426 (2010).
4. Giovannoni G, Soelberg Sorensen P, Cook S, Rammohan K, Rieckmann P, Comi G, Dangond F, Adeniji AK, Vermersch P. Safety and efficacy of cladribine tablets in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: Results from the randomized extension trial of the CLARITY study. Mult Scler. 2018 Oct;24(12):1594-1604. doi: 10.1177/1352458517727603
5. Montalban X, Hauser SL, Kappos L et al.: Ocrelizumab versus Placebo in Primary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2017; 376: 209–220
6. Kappos L, Bar-Or A, Cree BA, Fox RJ, Giovannoni G, Gold R, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): A double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet. 2018;391:1263–73