Häufigkeit, Komplikationen und Behandlung von Eisenmangel in der Schwangerschaft

Eisenmangel und/oder Eisenmangelanämie verkomplizieren fast 50 % der Schwangerschaften weltweit und wirken sich negativ auf die Gesundheit von Mutter und Kind aus. Eisenmangel kann eine Reihe von Symptomen verursachen, die von erschwerend bis hin zu lähmend reichen, darunter Müdigkeit, schlechte Lebensqualität, Heißhungerattacken und das Restless-Legs-Syndrom.

Eisenmangel und Eisenmangelanämie werden auch mit Komplikationen bei der Mutter in Verbindung gebracht, darunter vorzeitige Wehen, eine erhöhte Rate an Kaiserschnittentbindungen, postpartale Blutungen und Müttersterblichkeit. Zu den fetalen Komplikationen gehören eine erhöhte Rate an Neugeborenen mit niedrigem Geburtsgewicht und Neugeborenen, die für ihr Gestationsalter zu klein sind. Eine vorgeburtliche Anämie der Mutter wurde auch mit Autismus-Spektrum-Störungen beim Neugeborenen in Verbindung gebracht, obwohl ein kausaler Zusammenhang nicht nachgewiesen ist. Ein Mangel beim Neugeborenen geht mit einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses, der Verarbeitung und der Bindung einher, wobei einige dieser Defizite bis ins Erwachsenenalter vorhanden bleiben. Trotz der Prävalenz und der Folgen, die mit einem Eisenmangel in der Schwangerschaft verbunden sind, zeigen Daten, dass er routinemäßig unterbehandelt wird. Aufgrund der physiologischen Veränderungen in der Schwangerschaft sollten alle schwangeren Personen eine orale Eisenergänzung erhalten. Die Bioverfügbarkeit von oralem Eisen ist jedoch gering und es ist oft unwirksam bei der Vorbeugung und Behandlung von Eisenmangel. Ebenso verursacht es häufig gastrointestinale Symptome, die die Lebensqualität in der Schwangerschaft verschlechtern können. Es sind jetzt intravenöse Eisenpräparate erhältlich, die in einer Einzeldosis oder in mehreren Dosen verabreicht werden. Es gibt immer mehr Daten, die darauf hindeuten, dass neuere intravenöse Präparate im zweiten und dritten Trimester sicher und wirksam sind und bei schwangeren Personen, die nicht optimal auf eine orale Eisenergänzung ansprechen, unbedingt in Betracht gezogen werden sollten.

Quelle:
The incidence, complications and treatment of iron deficinecy in pregnancy. Eur J Haematol 2022 ;109 :633-642

Copyright Aerzteverlag medinfo A

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Kongressausgabe der “info@herz+gefäss” 2024

Hier finden Sie das PDF der ESC-Kongresszeitung

Kongress der European Society of Cardiology 2024

Die weltweit grösste kardiologische Veranstaltung, der Kongress der European Society of Cardiology, fand dieses Jahr in London statt. Die Tagung beeindruckte erneut mit einem umfassenden wissenschaftlichen Programm, das sämtliche Gebiete der Kardiologie abdeckte. Das Kongressthema lautete «Personalising Cardiovascular Care». Im Mittelpunkt stand die Stärkung der Patienten durch eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Behandlung, mit dem übergeordneten Ziel, die Ergebnisse zu verbessern, die Risiken zu verringern und die Versorgungsstandards neu zu definieren.

Die mit Spannung erwarteten Ergebnisse der klinischen Studien wurden in zwölf Hot-Line-Sessions präsentiert. Diese Sessions boten nicht nur detaillierte Einblicke in die neuesten Forschungsergebnisse, sondern ermöglichten auch eine kritische Diskussion der Daten durch führende Ärztinnen und Ärzte sowie international anerkannte Experten.

Wie jedes Jahr wurden auch 2024 neue ESC-Leitlinien vorgestellt. Dieses Jahr lag der Fokus auf vier zentralen Praxisleitlinien: erhöhter Blutdruck und Hypertonie, chronisches Koronarsyndrom, Vorhofflimmern sowie periphere Arterien- und Aortenkrankheiten.
Insgesamt wurden mehr als 4.000 wissenschaftliche Beiträge präsentiert, darunter zahlreiche kleinere Studien, Registerstudien und Studienupdates sowie experimentelle Arbeiten aus der Grundlagenforschung in mehreren Late-Breaking Science Sessions.

In dieser Sonderausgabe haben wir die wichtigsten Studienergebnisse und Highlights des Kongresses für Sie zusammengefasst. Neben einer Übersicht der bedeutendsten Hot-Line-Sitzungen und den neuen Leitlinien finden Sie auch Interviews mit führenden Schweizer Experten wie Prof. Kuster, Prof. Sudano und Prof. Steffel, die zusätzliche Perspektiven und persönliche Einschätzungen zu den Kongresshighlights bieten.

Wir wünschen Ihnen viel Freude und wertvolle Erkenntnisse beim Lesen!

Eleonore E Droux
Verlegerin & Publizistische Leitung

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen
Wissenschaftliche Leitung

Journal Watch von unseren Experten

Die Einnahme von Multivitaminpräparaten ist ohne Einfluss auf die Mortalität

Frage: Geht die Einnahme von Multivitaminpräparaten mit einer geringeren Mortalität einher?

Hintergrund
Die Einnahme von Multivitaminpräparaten ist weit verbreitet, allein in den USA nimmt jede dritte Person täglich ein Multivitaminpräparat ein. Weltweit handelt es sich um einen Milliardenmarkt, der unter anderem darauf begründet, dass diese Präparate bessere Gesundheit und/oder ein längeres Leben ermöglichen sollen.

Methodik
Kohortenstudie mit Daten aus drei prospektiven Kohortenstudien aus den USA. Es erfolgte ein propensity score matching, das heisst, Multivitaminpräparate-Einnehmenden wurden möglichst identische Personen (Alter und weitere Faktoren) zugematcht. Der Follow-up-Zeitraum reichte von 1998 bis 2004).

Ein-Ausschlusskriterien
Die Daten stammen von Teilnehmern der National Institute of Health-AARP Diet and Health Studie (327 732 Teilnehmer), der Prostata-, Lungen- und Ovarial Carcinom-Screening Studie (42 732 Teilnehmer) und der Agricultural Health Studie (19 660 Personen). Von allen Teilnehmern waren detaillierte Daten zum Gesundheitszustand und Lebensstil vorhanden. Alle Teilnehmer waren gesund, litten insbesondere nicht an chronischen Erkrankungen.

Intervention
Die Einnahme des Multivitaminpräparates beruhte auf einer Selbstdeklaration, erfasst wurde hierbei der Zeitraum für die Einnahme von 1993 bis 2001.

Outcome: Mortalität im Follow-up Zeitraum 1998–2004.

Studienort: Vereinigte Staaten von Amerika, USA.

Ergebnisse
Unter den Personen, die täglich Multivitamine einnahmen, waren 49.3 % weiblich, 11 % Raucher und 42 % hatten einen Collegeabschluss, verglichen mit 39.3 % Frauen, 13 % Rauchern und 37.9 % mit Collegeabschluss unter denjenigen, die keine Multivitaminpräparate einnahmen.
Insgesamt traten unter den 390 124 Teilnehmern (medianes Alter 61.5 [IQR: 56.7–66] Jahre, 216 202 [55.4 %] Männer), 164 762 Todesfälle in der Follow-up Periode auf.
Die für zahlreiche Faktoren (Alter, Ethnie, Rauchen, körperliche Aktivität, BMI, Beziehungsstatus, Alkohol- und Kaffeekonsum) korrigierte Einnahme von Multivitaminpräparaten war nicht assoziiert mit einer geringeren Gesamtsterblichkeit in der ersten Hälfte der Follow-up Periode (1.04; 95 % CI, 0.99–1.08) oder der zweiten Hälfte des Follow-up (HR, 1.04; 95 % CI, 1.02–1.07).
Die Autoren kommen zur Schlussfolgerung, dass die Einnahme von Multivitaminpräparaten in ihrer Studie nicht mit einem Überlebensvorteil verbunden war.

Kommentar
• Der Benefit durch die Einnahme von Vitaminpräparaten wird höchstwahrscheinlich massiv überschätzt, wie ­Studien zu einzelnen Vitaminen, wie Vitamin D, Vitamin B12, ­Vitamin A und E bereits zeigten.

• Diese Studie zeigt an einem grossen Sample, dass dies auch für Multivitaminpräparate gilt. Eine Stärke der Studie ist die Korrektur der Ergebnisse für zahlreiche, die Lebenserwartung beeinflussende Faktoren, wie körperliche ­Aktivität, Rauchen, BMI und Alkoholkonsum.

• Trotz der Korrekturen, respektive des Propensity-Score Matchings, handelt es sich dennoch nicht um einen prospektive RCT und mögliche Einflussfaktoren, wie dass im Verlauf erkrankte Personen eher ein Multivitaminpräparat einnahmen, konnten nicht ausgeschlossen werden. Insgesamt erhärtet die Studie anhand eines grossen Samples eine Datenlage, die keinerlei Benefit für die Einnahme von Vitaminen zeigt.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Rosemann

Literatur: JAMA Network Open. 2024;7(6):e2418729. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.18729.

Xanomelin/Trospium als neues Medikament für Schizophrenie

Die Kombination des zentral wirksamen selektiven Muskarinrezeptoragonisten Xanomelin mit dem peripheren Muskarinantagonisten Trospium (KarXT), der die Nebenwirkungen von Xanomelin abschwächt, konnte die FDA überzeugen, dieses neue Medikament für Schizophrenie zuzulassen.

Das Krankheitsbild der Schizophrenie zeichnet sich durch drei Symptomkreise aus: Die Positivsymptome äussern sich in Wahnvorstellungen und Halluzinationen sowie ein gestörtes Denken und Sprechen, die Negativsymptome machen sich durch eine mangelnde Motivation und einen fehlenden emotionalen Ausdruck/flachen Affekt mit sozialem Rückzug bemerkbar und die dritte Domäne umfasst kognitive Störungen wie Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnis-, Konzentrations- und Entscheidungsdefizite.

Bisherige Medikamente beeinflussten die Dopaminrezeptoren (Blockierung der D2-Dopaminrezeptoren) und damit vorwiegend die Positivsymptome der Schizophrenie wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Die Wirkung von Xanomelin kommt durch die selektive Stimulierung der Muskarin 1- und 4-Rezeptoren zustande.

In der EMERGENT-2-Studie erhielten die 126 Teilnehmer der Verumgruppe in den ersten 2 Tagen zweimal täglich 50 mg Xanomelin und 20 mg Trospium und dann 100 mg Xanomelin und 20 mg Trospium zweimal täglich für die Tage 3-7; ab Tag 8 war die Dosierung von KarXT flexibel mit einer optionalen Erhöhung auf 125 mg Xanomelin und 30 mg Trospium zweimal täglich und der Option, je nach Verträglichkeit auf 100 mg Xanomelin und 20 mg Trospium zurückzukehren. Der primäre Endpunkt war die Veränderung der “Positive and Negative Syndrome Scale” (PANSS, 1 bis 7 Punkte für 7 Positivsymptome und 7 Negativsymptome sowie 16 allgemeine psychopathische Symptome). Nach 5 Wochen betrug der PANSS in der KarXT-Gruppe -21,2 Punkte gegenüber Placebo -11,6 Punkte (p<0,0001). Alle sekundären Endpunkte wurden ebenfalls erreicht und sprachen für KarXT gegenüber Placebo. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse unter KarXT im Vergleich zu Placebo waren Verstopfung (21% vs. 10%), Dyspepsie (19% vs. 8%), Kopfschmerzen (14% vs. 12%), Übelkeit (19% vs. 6%), Erbrechen (14% vs. 1%), Bluthochdruck (10% vs. 1%), Schwindel (9% vs. 3%), gastroösophageale Refluxkrankheit (6% vs. 0%) und Durchfall (6% vs. 3%). Die Raten von behandlungsbedingten unerwünschten Ereignissen bei extrapyramidalen motorischen Symptomen (KarXT 0% vs. Placebo 0%), Akathisie (1% vs. 1%), Gewichtszunahme (0% vs. 1%) und Schläfrigkeit (5% vs. 4%) waren zwischen der KarXT- und der Placebogruppe ähnlich, ebenso wie die Abbruchraten wegen unerwünschter Ereignisse (7% vs. 6%).

Die EMERGENT-3-Studie umfasste 256 Teilnehmer (125 in der Xanomelin-Trospium-Gruppe und 131 in der Placebo-Gruppe). In Woche 5 reduzierte KarXT den PANSS-Gesamtscore signifikant (KarXT -20,6 vs. Placebo -12,2, p<0,001). Die Abbruchraten aufgrund von behandlungsbedingten unerwünschten Ereignissen (TEAEs) waren in beiden Gruppen (KarXT 6,4% vs. Placebo 5,5%) ähnlich. Die häufigsten TEAEs unter KarXT vs. Placebo waren Übelkeit (19,2% vs. 1,6%), Dyspepsie (16,0% vs. 1,6%), Erbrechen (16,0% vs. 0,8%) und Verstopfung (12,8% vs. 3,9%). Extrapyramidale Symptome, Gewichtszunahme und Schläfrigkeit waren in beiden Gruppen ähnlich.

Fazit: Die neuentwickelte Substanzkombination ist vielversprechend und kann die Lebensqualität von Schizophreniekranken verbessern. Nicht zu unterschätzen ist das Nebenwirkungsprofil (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen und vermehrter Speichelfluss), welches in den beiden Studien zu erstaunlich wenigen Therapieabbrüchen führte; dies könnte in der täglichen Praxis anders aussehen. Langfristige Ergebnisse liegen leider noch nicht vor. Die Anwendung in den USA wird uns helfen, mehr Einblick in Xanomelin mit Trospium (KarXT) zur Behandlung der Schizophrenie zu erhalten.

KD Dr. med. Marcel Weber

Literatur: Kaul I. et al. Efficacy and safety of the muscarinic receptor agonist KarXT (xanomeline-trospium) in schizophrenia (EMERGENT-2) in the USA: results from a randomised, double-blind, placebo-controlled, flexible-dose phase 3 trial. Lancet 2024;403(10422):160-170. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38104575/

Kaul I. et al. Efficacy and Safety of Xanomeline-Trospium Chloride in Schizophrenia: A Randomized Clinical Trial. [EMERGENT-3] JAMA Psychiatry 2024;81(8):749-756. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2024.0785. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38691387/

Pruritus, das Kardinalsymptom vieler Erkrankungen

Juckreiz entsteht durch komplexe Vorgänge mit exogenen Einflüssen auf die Haut wie Allergene, Antigene und Schadstoffe, Einflüssen einer gestörten Hautbarriere und entzündlicher Vorgänge in der Haut mit Akkumulation von Zytokinen und Signalübertragung über sensorische C-Fasern. Er ist das Kardinalsymptom vieler internmedizinischer, neurologischer, psychiatrischer und dermatologischer Erkrankungen mit einer erheblichen Einbusse an Lebensqualität und Einschränkung im Alltag und Störung des Schlafes. Durch eine gezielte Anamnese, Untersuchung des gesamten Integuments und Laboruntersuchungen inklusive der klinischen Chemie, des Blutbildes, Glucose, Harnsäure, Schilddrüsenwerte und der Suche nach Parasiten und Allergien kann eine Ursache oft eruiert werden. Therapeutisch bilden hochdosierte Antihistaminika und topische Emollienzien mit Zusatz von Polidocanol, Milchsäure, Urea und Salicyl das Rückgrat der Behandlung und können ergänzt werden durch Lichttherapie, antimikrobielle Textilien und mehr. Durch die Eliminierung der auslösenden Faktoren kann das Leiden günstig beeinflusst werden.

Itch is the result of complex mechanisms with external influences on the skin such as allergens, antigens and pollutants/chemicals, influence of an impaired skin barrier and an inflammatory process leading to an accumulation of cytokines and signaling through sensory C-fibers. It is the cardinal symptom of many diseases in internal medicine, neurology, psychiatry and dermatology and leads to an extensive loss in quality of life, restrictions in everyday life and disturbed sleep. By thorough medical history, a whole-body examination and laboratory analysis including chemical parameters, blood count, glucose, uric acid, thyroid levels and the search for parasites and allergies an underlying cause can often be found. High-dose antihistamines and topical emollients containing polidocanol, lactic acid, urea and salicylic acid are the backbone of treatment and can be supplemented by phototherapy, textiles with antimicrobial function and more. By eliminating the underlying cause, a beneficiary outcome can be achieved.
Key words: Pruritus, Itching, Differential Diagnosis, Evaluation, Therapy

Nicht von ungefähr steht der Spruch «das juckt mich nicht», welcher impliziert, dass es sich beim Pruritus um einen störenden und plagenden Zustand handelt.

Tatsächlich führt der Juckreiz zu einer Verschlechterung der Lebensqualität mit DLQI Werten bis zu 30, einer Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit und des Schlafes.

Pruritus ist das Kardinalsymptom vieler internistischer, infektiologischer und dermato-allergologischer Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes mellitus, Tumorerkrankungen und Parasitosen.

Der Pruritus entsteht durch Signalübertragung der Histaminrezeptoren, insbesondere der Histamin-1-Rezeptoren und bedient sich der neuralen C-Fasern, die auch für das Schmerzempfinden verantwortlich sind, weshalb bisweilen auch Stechen, Brennen und Schmerzen empfunden werden. Auch Nocirezeptoren werden stimuliert, und es sind bei entzündlichen Vorgängen der Haut Cytokine wie IL-4, IL-13 und insbesondere IL-31, welche den Juckreiz begünstigen.

Wo entsteht der Juckreiz?

Vereinfacht gesagt auf der Haut, in der Haut, unter der Haut und zentralnervös. In der Haut ist vor allem eine gestörte Barrierefunktion verantwortlich für die Juckreizgenese. meist aufgrund zu wenig eingebauter Sphingolipide und Ceramide, die genetisch durch eine Filaggrin-Mutation bei der atopischen Dermatitis zum Beispiel zustande kommt. So kann schon bei kleinen Kindern unter zwei Jahren eine spätere Neurodermitis anhand erhöhter proinflammatorischer Sphingosin-1-Phosphate prognostiziert werden (1). Aber auch vermehrte Auslaugung der Haut führt zu einem zunehmenden Barriere­schaden, welcher das saure Milieu von pH 5.6 der Haut stören kann. Einfach gesagt ist Wasser schon Gift für die Haut mit einem pH von 7.

Eine Folge ist die zunehmende Schwierigkeit der Haut, Substanzen und Flüssigkeiten mit erhöhtem pH abzupuffern. Gerade die Staphylokokken, insbesondere Staphylococcus aureus, besiedeln die Haut in zunehmendem Masse bei gestörter pH-Balance. Durch den Barriereschaden nimmt der transepidermale Wasserverlust zu (TEWL), der Juckreiz generiert und zum Kratzen animiert, was wiederum einen zusätzlichen Schaden hervorruft. So kommt ein Circulus vitiosus in Gang.

Auf der Haut wirken Allergene, mikrobielle Antigene (zum Beispiel Toxine und Superantigene) und Kontaktallergene und lösen entweder eine Histamin-Antwort aus, eine unspezifische Antwort oder eine kontaktallergische mit einer Antigen-Prozessierung durch die dermalen dendritischen Zellen. Dies geschieht umso mehr, wenn die Hautbarriere geschädigt ist oder ganz fehlt, wie bei erosiven Hautpartien. Schadstoffe und Schwebeteilchen vermögen oxidativen Stress der Zellen auszulösen. Eine TH2-Dysbalance des Immunsystems und Alterierung des Mikrobioms der Haut mit vermehrtem Vorhandensein von Staphylococcus aureus und Staphylococcus epidermidis führen zu einer geringeren Produktion von Filaggrin und Invulocrin, die für die Barrierefunktion entscheidend sind (2).

Unter der Haut können sich verschiedene Stoffe akkumulieren, welche den Juckreiz fördern. Gute Beispiele hierfür sind Harnsäure, Kreatinin, Bilirubin, Glukose und Transaminasen. Auf welchem Weg dies geschieht, ist noch nicht ganz geklärt, wobei es beim Diabetes mellitus zu einer Schädigung der Nervenendigung kommt; oder der Juckreiz wird generiert über eine Polyneuropathie bei längerdauernder Hyperglykämie.

Zusätzlich kommt es zur transepidermalen Elimination von Stoffen durch die Haut, z. B. Harnsäure. Dermale Inflammation führt nicht nur zur zytokingebundenen Auslösung von Juckreiz, sondern auch zur Einspeisung sensibler Nervenfasern in die Haut, was die Empfindlichkeit zusätzlich verstärkt.

Zentralnervös besteht ein Juckreizzentrum im Thalamus mit Verbindung zu verschiedenen Arealen am Cortex. Nicht nur wird hier der Juckreiz empfunden, sondern er kann auch hier entstehen, wie z. B. bei hirnorganischen Schäden, vermutlich auch beim senilen Pruritus. Es konnte auch gezeigt werden, dass bei chronischen Juckreizzuständen bei der Neurodermitis dieses Arial im postzentralen Gyrus, dem primären sensorischen Cortex, auch autonom aktiviert sein kann und das Kratzen an der Haut animiert mit einer Abschwächung der Konnektivität zwischen insulären und cingulären Cortices und der Basalganglien (3).

Wie soll praktisch vorgegangen werden?

1. Die Anamnese

Durch genaues Fragen können schon einzelne Erkrankungen und Auslöser eruiert werden. Erfahren Sie also mehr über die Periodizität des Juckens; tritt es nach dem Essen auf oder innerhalb von Stunden nach der Medikamenteneinnahme; ist der Juckreiz tagsüber oder in der Nacht? (nächtlicher Juckreiz spricht z. B. für eine Skabiesmanifestation). Wie ist der Juckreiz: Stechend brennend, animiert er zum Kratzen? Treten Hautveränderungen auf; zum Beispiel nur vorübergehend Quaddeln oder entstehen diese erst durch das Kratzen? Besteht eine Reiseanamnese, evtl. Durchfall, Magenschmerzen oder Halsschmerzen? Bestehen bekannte internistische Erkrankungen, Gewichtsabnahme, B-Symptomatik, Fieber oder Gelenkschmerzen? Sind andere Leute in der Familie betroffen, was wieder für eine Skabies spricht. Lässt sich der Juckreiz lindern und wie? An welchen Körperteilen tritt der Juckreiz auf?
Bestehen Hautveränderungen über 24 Stunden oder weniger, handelt es sich meist um eine Urtikaria; verweilen sie länger, dann besteht eine entzündliche Dermatose.

2. Inspektion

Es ist wichtig, den Juckreiz-Patienten ganz zu untersuchen. Manchmal finden sich dezente Veränderungen, welche auf die mögliche Diagnose hindeuten. Finden sich Hautläsionen in den Arm- und Kniebeugen, so ist häufig eine Neurodermitis vorhanden; sind sie in den Achselhöhlen und inguinal, dann ist möglicherweise eine Arzneimittelreaktion involviert. Sind die Reaktionen linear angeordnet, könnte es sich um Flohstiche handeln, wenn sie gruppiert sind, um Milbenbisse, und über den Ellbogen eine Manifestation einer Dermatitis herpetiformis Duhring.

Eventuell sind auch Spuren vorhergehender Läsionen noch ersichtlich, wie Petechien oder Hyperpigmentierungen. Finden sich Papeln zwischen den Fingern oder genital, so ist eine Skabies wahrscheinlich. Veränderungen aussen an den Armen und Beinen und den Flanken sind häufig reaktiver Natur, zum Beispiel bei bakteriellen Infekten oder als Reaktion auf eine Pilzinfektion (sogenanntes Mykid). Des Weiteren lässt sich erkennen, ob es sich bei den Hautveränderungen um papulovesikulöse Veränderungen handelt; dermatoskopisch können auch Kapillärstrukturen für eine Psoriasis oder eine weissliche Streifenzeichnung für einen Lichen Ruber gefunden werden. Um die Reaktivität der Haut zu testen, kann ein kleines Kreuz auf den oberen Rücken gekratzt werden. Bei einer Urtikaria und hyperreaktiven Haut wird dieses innerhalb von 3 Minuten anschwellen (demographismus ruber elevatus), was für eine latente Urtikaria spricht. Eine Verdickung der Haut mit vermehrter Fältelung deutet auf ein chronisches Geschehen hin, wie z. B. einer chronischen Neurodermitis, und weist auf ein chronisches Reiben hin. Auch die Farbe der Haut kann einiges verraten; so findet sich allenfalls eine ikterische Tendenz oder die fahlgraue Farbe des Integuments bei der Niereninsuffizienz.

3. Laboruntersuchungen

Zu jedem Pruritus-Screening gehört ein grosses Blutbild inklusive der Eosinophilen, Leberwerte, Bilirubin, Nierenwerte, Glukose, Hba1c, Harnsäure, CRP, totales IgE. Für die infektiologisch-reaktiven Auslöser sind die Untersuchung nach Stuhlparasiten und die Strongyloides IF; für die bakteriellen Auslöser sind die ASLO-Antikörper, die anti-Strepto DNAse Antikörper und anti-Helico­bacter-pylori Antikörper hilfreich. Zudem könnten Abstriche von Follikulitiden für die Bakteriologie und der Zehenzwischenräume für eine Mykologie erfolgen. Autoimmun­erkrankungen und Mangelzustände sind selten Auslöser eines Juckreizes.

Im allergologisch-immunologischen Labor können die spezifischen IgE auf Staphylokokken Endotoxine gemessen werden, um eine Überempfindlichkeit gegenüber Staphylokokken festzustellen (eine Hyperergie ist schon bei leicht erhöhten Werten wahrscheinlich, wird aber nicht durch einen negativen Test ausgeschlossen, da 14 verschiedene Staphylokokken Antigene existieren und auch zelluläre Allergien möglich sind). Allenfalls können auch spezifische IgE auf Malassezia sympodialis bei Neurodermitis am Hals, Kopf und Rücken gemessen werden (4). Von Interesse wären allenfalls auch die spezifischen IgE auf Candida und Anisakis simpex. Autoimmun-Antikörper sind nicht typischerweise erhöht beim Juckreiz-Patienten, wohl aber kann eine erhöhte Tryptase gemessen werden bei Mastzell Vermehrung. Zum Ausschluss einer autoimmunbullösen Erkrankung können die entsprechenden Antikörper gegen das bullöse Pemphigoid Antigen 1 und 2 erfolgen.

Allergie Abklärungen

Zwar liegt die Häufigkeit von allergischen Reaktionen bei einer chronischen Urtikaria nur bei 1 % und auch bei chronischem Juckreiz sind ständige allergische Auslöser selten. Dennoch lohnt sich eine Abklärung auf Medikamenten-Allergien, Allergien auf Grundnahrungsmittel und auch auf Nahrungsmittelzusätze, welche bei regelmässiger Einnahme zu einem ständigen Juckreiz führen können. Insbesondere Histamin aus der Nahrung, Natriumdisulfit und Grundnahrungsmittel wie Weizen, Milch, Eigelb und Eiweiss wären eine mögliche Quelle von Allergien und Motor diverser Symptome. Als Nächstes folgen allergische Reaktionen auf die physikalischen Auslöser Druck, Reibung, Kälte und Wasser. Diese können ebenfalls auf der Haut getestet werden. Auch ist eine Testung des Eigenserums möglich, was bei positiver Reaktion auf Auto-Antikörper gegen IgE oder gegen IgE-Rezeptoren an den Mastzellen hinweist.

Internmedizinische Auslöser

Juckreiz ist ein Symptom bei vielen internistischen Erkrankungen, wobei es hier oft zu einer Akkumulation oder zu einer geringen Elimination von Stoffen kommt, wie Zucker, Harnstoff, Harnsäure etc. Genau geklärt ist jedoch nicht, wie diese Stoffe den Juckreiz generieren können. Bei anderen Erkrankungen wiederum sind die Stoffe, die Juckreiz entfachen, noch nicht einmal identifiziert. Bekannt ist der Pruritus, ausgelöst durch Niereninsuffizienz, erhöhte Leberwerte (Transaminasen) oder Hyper-Bilirubinaemie, der Hyperurikaemie, Anaemie, Hyperglobulinaemie und anderen Störungen des Stoffwechsels und des Blutbildes (Abb.1). Diese verursachen nicht nur Störungen der sensiblen Wahrnehmung, auch können alle diese genannten Erkrankungen zu Hautveränderungen führen, insbesondere Ekzeme und die Prurigo simplex subacuta (Abb.2). Auch Tumorleiden können, zum Teil wird es auch als das erste Symptom wahrgenommen, schweren Pruritus auslösen. Als Beispiel seien maligne Lymphom- und metastasierende Tumoren genannt.

Auf der infektiologischen Seite können vor allem bakterielle Erkrankungen Juckreiz auslösen, mit oder ohne Hautveränderungen. Man denke hier an Streptokokkeninfekte, Infekte der ableitenden Harnwege und auf der anderen Seite auch an intestinalen und anderweitigen Parasitenbefall.

Juckreiz bei dermatologischen Erkrankungen

Man würde meinen, dass alle Dermatosen jucken, aber dem ist nicht so. Bei der Psoriasis zum Beispiel juckt es bei 30–50 % der Patienten, die Vaskulitis juckt gar nicht und auch viele virale Exantheme jucken kaum. Auf der anderen Seite des Spektrums quälen einige Dermatosen ausgesprochen, wie zum Beispiel die chronische Urtikaria, die Prurigo simplex subacuta und alle Ekzeme. Auch die eosinophilenreichen Erkrankungen sind von Juckreiz gekennzeichnet, wie zum Beispiel die autoimmunbullösen Dermatosen und die eosinophile Zellulitis Wells und das Hypereosinphile Syndrom. Bei den Ekzemen spielt es eigentlich keine Rolle, was für eine Ätiologie diese besitzen, sei es atopisch, kontaktallergisch, seborrhoisch oder reaktiv. Die reaktiven Ekzeme und Exantheme sind häufig durch Staphylokokken hervorgerufen, die als Superantigen und Quelle von Endotoxinen und Antigenen fungieren und sich in einem so genannten Staphid manifestieren, welches übrigens eine übergeordnete Rolle bei der Neurodermitis spielt.

Auf der parasitären Seite führen nicht nur Stichreaktionen zu enormem Juckreiz, sei es durch Milben, Flöhe und Wanzen, sondern auch die Ektoparasiten, welche auf der Haut verweilen, seien dies Fliegenlarven (Myiasis), Läuse oder Skabies. Auf der tumorösen Seite sind es vor allem die T-Zell-Lymphome der Haut, die anfänglich auch häufig mit einem Ekzem verwechselt werden. Schliesslich soll auch eine sekundäre Syphilis nicht vergessen werden und eine sekundäre Tuberkulose mit Hauterscheinungen.

Knacknuss Pruritus sine materia

Hat man die Haut untersucht und einiges abgeklärt ohne Ergebnis, so bleiben einige Patienten übrig mit einem sogenannten Pruritus sine materia.

Hier lohnt es sich, nochmals seltene Ursachen des Pruritus durch den Kopf gehen zu lassen, wie zum Beispiel Pruritus bei hirnorganischen Störungen, Entzugssymptomatik, Kokainabusus. Auch werden häufig die medikamentösen Ursachen des Juckreizes übersehen oder unterschätzt. Mit einer Hauttestung der Medikamente kann allenfalls das verantwortliche Agens ermittelt werden. Auch ist es überlegenswert, ob es sich um eine Haut­erkrankung ohne klare Hautmanifestation handeln könnte; so habe ich denn auch zwei Fälle eines invisiblen bullösen Pemphigoids finden können, welche Antikörper gegen das bullöse Pemphigoid Antigen 1 mit 180 kDa Grösse und bP-AG2 mit 230 kDa aufwiesen, jedoch keinerlei Hautveränderungen aufwiesen, aber an starkem Juckreiz am Rücken und an den Oberarmen litten (5). Eine Therapie der Grunderkrankung führte zur Symptomfreiheit.

Vielleicht lohnt es sich auch, sich den Patienten nochmals anzuschauen, ob nicht doch eine Mykose in den Inguinae oder an den Füssen besteht oder eine versteckte Folliculitis gluteal oder auf dem Kopfboden. An ein paraneoplastisches Geschehen kann gedacht werden und vielleicht könnten die Lymphknoten palpiert oder mittels Ultraschall untersucht werden, und ein Thorax Röntgen könnte vonstattengehen, um Lymphome und andere Tumoren auszuschliessen. Daraufhin könnte auch der Ausschluss gynäkologischer Tumoren erfolgen und die wichtigsten Tumormarker gemessen werden. Bioptisch könnte eine Vermehrung von Mastzellen der Haut oder Ablagerung von Muzin oder Amyloid im Rahmen einer Ablagerungsdermatose gesucht werden.

Therapie des Pruritus

Am besten beginnt man mit der äusserlichen Behandlung. Bewährt haben sich Externa mit Zusatz von Polidocanol 3 bis 5 %ig oder Menthol 1 %ig, welche kommerziell erhältlich sind. Es hat sich als günstig gezeigt, wenn die Cremes gekühlt werden und direkt aus dem Kühlschrank appliziert werden. Die Rezeptur mit einprozentigem Salicyl-Spiritus kann bei hartnäckigem Juckreiz eingerieben werden, darüber sollte aber eine normale Rückfettung mit Verbesserung der Hautbarriereeigenschaften benutzt werden. Kühlende Umschläge könnten ebenfalls versucht werden.

Die Barriere wird verbessert durch den Zusatz von Salicylsäure bis fünfprozentig oder Urea bis fünfprozentig sowie auch Milchsäure oder Glycerin. Es existieren auch alte Rezepturen, welche adstringierend sind und den Juckreiz lindern, wie zum Beispiel Eosin wässrig oder Pyoctanin. Diese Therapien sind aber wegen der Farbrückstände nicht sehr praktikabel und werden selten verwendet.
Externa mit Cannabinoid-Rezeptoren-Blocker können bei der Bekämpfung des Pruritus hilfreich sein, sind jedoch in der Schweiz nicht mehr erhältlich (6).

Es empfiehlt sich auch, mit einem juckreizstillenden Mittel zu duschen, wie zum Beispiel mit Zusätzen von Polidocanol oder Milchsäure. Ichthyol ist ein weiterer Zusatz, welcher antientzündlich und antipruriginös ist, jedoch kommerziell zurzeit nur in einem Shampoo erhältlich ist.

Möchte man lieber baden, dann soll man dies nicht zu heiss tun und allenfalls Weizenkleie zur Juckreizlinderung hineingeben.

Nicht nur was man auf die Haut aufträgt, sondern auch was man auf der Haut trägt, kann helfen. So sind Textilien mit eingewobenem Silber in der Lage, das Mikrobiom der Haut zu bessern. Bei Textilien mit pH – Beschichtung (langkettige Zitronensäure) und einem sauren Wert von pH 5.6 bis 6,5 konnten wir in einer doppelblinden Placebo-kontrollierten Studie innert zweier Wochen eine Verbesserung der Empfindlichkeit und der TEWL- Werte demonstrieren (7).

Die interne Therapie des Juckreizes beginnt und endet mit den Antihistaminika. Vorzugsweise sollen Pharmaka älterer Generation gewählt werden, die auch einen leicht sedativen Effekt haben, wie das Dimetinden und Hydroxyzin. Aber auch die neueren Generationen wirken sehr gut, müssen allenfalls höher dosiert werden; so kann die vierfache übliche Tagesdosis verwendet werden. Die Ergänzung mit einem Histamin-2-Rezeptoren-Blocker ist möglich. Es ist jedoch nicht evidenzbasiert, dass es auch einen zusätzlichen Nutzen bringt. Ebenso ist die Anwendung von nichtsteroidalen Antirheumatika bezüglich Wirkung auf den Juckreiz nicht belegt. Steroide werden in der Regel nur benutzt, wenn auch eine manifeste Hautaffektion vorhanden ist, wie zum Beispiel eine Urtikaria oder ein Arzneimittelexanthem. Es gibt Fälle, in denen probatorisch ein Antiparasitologicum gewählt wird. Kontrollierte Studien hierzu gibt es jedoch auch nicht.

In sehr hartnäckigen Fällen, insbesondere beim hepatischen Pruritus, der häufig therapieresistent ist gegenüber allen internen Medikamenten und physikalischen Massnahmen, können nebst der Ursodeoxycholsäure auch Ionen-Austausch-Harze wie das Colestyramin (8) oder der Opioid-Rezeptor-Antagonist Naloxon versucht werden.

Biologics, welche hauptsächlich für die Behandlung atopischer Dermatitis zugelassen sind, wie Upacitinib, Baricitinib, Abrocitinib und Dupilumab, vermögen innert Tagen bis Wochen den Juckreiz zu stillen (9).

Des Weiteren bestehen auch physikalische Therapien für die Behandlung des Juckreizes, insbesondere die Lichttherapie die mit UVB 311 nm Schmalband und UVA angeboten wird. UVB 311 nm vermag Entzündungszellen im Bereiche der dermo-epidermalen Junktionszone und oberen Dermis zu vertreiben und somit auch die inflammatorischen Zytokine, die UVA wirkt auf die Dermis in gleicher Weise, nur etwas tiefer. Die beiden Strahlenquellen können einzeln oder kombiniert verwendet werden und sind effektiv bei jeglicher Form des Juckreizes. Nicht nur wirken sie antiinflammatorisch, sondern können auch den Abbau schädlicher Stoffe wie das Bilirubin beschleunigen. Ferner kann auch eine Photo-Chemotherapie eingesetzt werden mit dem Photosensibilisator Psoralen, der so genannten PUVA-Therapie, bei welcher zuerst in Psoralen gebadet oder es appliziert wird, was somit die Strahlenwirkung verstärkt. Da Psoralen in jeglicher Form schwieriger zu beschaffen ist, wird diese Therapie nicht mehr so oft benutzt. Die Hochdosis UVA Therapie bedarf einer speziellen Einrichtung mit Kühlung und ist nicht weit verbreitet, wird aber mit Erfolg vor allem bei der Neurodermitis eingesetzt. Ebenfalls selten eingesetzt wird die UVB-Therapie in Kombination mit lokalem Dithranol in verschiedenen Konzentrationen, was die Wirkung des UVB verstärkt.

Alles in allem bieten die physikalischen Therapien, insbesondere Lichttherapie, die Möglichkeit therapieresistente Juckreiz-Patienten zufriedenstellend zu behandeln.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Mark David Anliker

Lindengut AG, Ärzte am Graben
Unterer Graben 29
8400 Winterthur

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Juckreiz-Patienten stehen unter enormem Leidensdruck und Verlust der Lebensqualität.
  • Durch systematische Aufarbeitung können Ursachen eruiert, eventuell eliminiert werden und geeignete Therapieformen gefunden werden.
  • Durch das Wegfallen des Juckreizes kann die Genesung der Patienten ihren Gang nehmen und es ist äusserst wertvoll, wenn der Patient sagen kann: «Das juckt mich nicht».

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Zeckenstich mit Folgen

Die 27-jährige Patientin entwickelte nach einem periumbilikalen Zeckenstich Fieber, Kopfschmerzen und Lichtempfindlichkeit. An der Zeckenstichstelle trat ein zentral verkrustetes Ulkus mit einer begleitenden schmerzhaften Lymphadenopathie inguinal links auf. Zudem entwickelte die Patientin neurokognitive Einschränkungen. Aufgrund stark erhöhter IgM- und IgG-Titer für Francisella tulariensis konnte eine Tularämie mit Beteiligung des zentralen Nervensystems diagnostiziert werden. Nach zehntägiger Therapie mit Gentamicin und Ciprofloxacin waren die Kopfschmerzen rückläufig, die neurokognitive Symptomatik besserte sich nur langsam.

The 27-year-old patient developed fever, headache, and light sensitivity after a tick bite in the periumbilical region. At the site of the tick bite, a centrally crusted ulcer appeared, accompanied by painful inguinal lymphadenopathy on the left side. Additionally, the patient developed neurocognitive impairments. Due to significantly elevated IgM and IgG titers for Francisella tularensis, a diagnosis of tularemia with central nervous system involvement was made. After a ten-day treatment with gentamicin and ciprofloxacin, the headaches subsided, but the neurocognitive symptoms improved only slowly.
Key words: Tularemia with central nervous affection, tick-borne diseases with central nervous affection, Ulcer following tick bite

Anamnese und Befunde

Die 27-jährige Patientin bemerkte eine Zecke links periumbilikal und entfernte diese. Drei Tage später traten Kopfschmerzen, Lichtempfindlichkeit, Übelkeit und Fieber auf. Sie stellte sich in der hausärztlichen Sprechstunde vor. Bei erhöhten Entzündungswerten (CRP 86 mg/l, Leukozyten 7.3 x 103/µl (Normwerte: CRP < 5 mg/l, Leukozyten 3.9–10 x 103/µl) und Rötung um die Stichstelle verschrieb der Hausarzt in Annahme eines Erythema migrans bei Borrelien-Infektion Amoxicillin für sechs Tage. Die Kopfschmerzen besserten unter Ibuprofen nur temporär. Es persistierte ein «nebliges Gefühl im Kopf». Fünf Tage nach der antibiotischen Therapie stellte sich die Patientin mit einem schmerzhaften Ulkus an der Zeckenstichstelle und linksseitigen Leistenschmerzen auf der Notfallstation vor. In der körperlichen Untersuchung zeigte sich an der Zeckenstichstelle eine fibrinbelegte Wunde mit umgebender Rötung und papulopustulösen Hautveränderungen von etwa 4 x 2 cm mit subkutaner Induration (Abb. 1).

In der linken Leiste fand sich ein 7 mm messender, druckdolenter, verschieblicher Lymphknoten, sonographisch vereinbar mit einer reaktiven Lymphadenopathie. Das CRP war mit 67 mg/l erhöht, die Leukozyten mit 6.61 x 103/µl normwertig. Die Patientin wurde mit symptomatischer Therapie entlassen. Eine Woche später stellte sie sich erneut in der hausärztlichen Sprechstunde vor, da sie zunehmend schwach war und ihrer Arbeit nicht nachgehen konnte. Am Bauchnabel persistierte das eiternde Ulkus. Die Entzündungswerte waren leicht erhöht (CRP 29 mg/l, Leukozyten 6.6 x 103/µl). Bei Verdacht auf eine bakterielle Superinfektion nach Zeckenstich wurde die Therapie mit Clindamycin eingeleitet. In der hausärztlichen Kontrolle zwei Tage später waren die Entzündungswerte leicht rückläufig (CRP 21 mg/l, Leukozyten 7 x 103/µl). Die Patientin und ihr Umfeld berichteten jedoch über eine zunehmende psychomotorische Verlangsamung und Wesensveränderung.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Der erlittene Zeckenstich mit konsekutiver Rötung und Entwicklung eines Ulkus an der Einstichstelle mit begleitender schmerzhafter Lymphadenopathie und neurokognitiven Beschwerden lassen primär an folgende mögliche Krankheitsbilder denken:

Lyme Borreliose

Mit 650 000 bis 850 000 Fällen jährlich ist die Lyme-Borreliose die häufigste vektorübertragene Erkrankung in Europa. Hervorgerufen wird sie durch verschiedene Spezies von Borrelia burgdorferi, gramnegative, anaerobe, spiralförmige Bakterien aus der Familie der Spirochäten. 3 bis 30 Tage nach Übertragung kann sich an der Zeckenstichstelle ein Erythema migrans, ein sich ausbreitender Hautausschlag, entwickeln. Begleitend können selten auch vergrößerte Lymphknoten auftreten. Bei unbehandelten Patienten kann es zu einer Dissemination mit Allgemeinsymptomen, weiteren kutanen Manifestationen, früher Neuroborreliose, Karditis und nach Monaten bis Jahren zu Spätmanifestationen wie Arthritis oder späte Neuroborreliose kommen. Die Hautmanifestationen nach Zeckenstich und neurologischen Symptome unserer Patientin könnten auf eine frühe Lyme-Neuroborreliose hindeuten. Jedoch sah das Hautulkus der Patientin nicht wie ein Erythema migrans aus, dessen Diagnose klinisch erfolgt. Zur Diagnose einer Neuroborreliose muss der Serum-Liquor-Index der spezifischen Antikörper bestimmt werden (1).

Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)

Die Frühsommer-Meningoenzephalitis wird durch das FSME-Virus aus der Gruppe der Flaviviren hervorgerufen. Nur ein Drittel der Infektionen verläuft symptomatisch. Nach einer Inkubationszeit von vier bis 28 Tagen treten Fieber, Muskelschmerzen und Abgeschlagenheit auf. Nach zwei bis sieben Tagen tritt eine symptomarme, afebrile Phase von etwa zehn Tagen auf, auf die eine zweite febrile Phase mit Meningitis oder Meningoenzephalitis folgt. Während der initialen symptomatischen Phase ist die spezifische serologische Diagnostik noch negativ. In dieser Phase wäre ein Virusnachweis im Blut mittels PCR möglich. In der zweiten Phase ist die serologische Diagnostik positiv (2). Die neurologischen Beschwerden der Patientin könnten zu einer FSME passen, jedoch war der Krankheitsverlauf bei unserer Patientin nicht zweigipflig, sie war durchgehend symptomatisch. Ausserdem treten bei der FSME in der Regel keine ausgeprägten Hautveränderungen an der Zeckenstichstelle auf.

Tularämie

Die Tularämie wird durch das gramnegative, aerobe, fakultativ intrazelluläre Bakterium Francisella tularensis hervorgerufen (3). Die Übertragung erfolgt meist vektorgebunden durch Zecken und Stechmücken. Einen weiteren Übertragungsweg stellt der direkte Kontakt mit infizierten Säugetieren, typischerweise Nagetieren, oder Ingestion von rohem Fleisch eines infizierten Tieres dar. Auch durch kontaminiertes Wasser und Inhalation kontaminierter Aerosole, beispielsweise bei landwirtschaftlicher Tätigkeit, kann die Infektion erfolgen (4–7).

Die Tularämie kann sich durch ein breites Spektrum klinischer Symptome äussern; der Schweregrad reicht von asymptomatisch bis tödlich. Nach einer Inkubationszeit von drei bis fünf Tagen kommt es vom Ort der Infektion aus (je nach Infektionsweg von der Insektenstichstelle, den Konjunktiven, dem Gastrointestinal- oder Respirationstrakt) zur Ausbreitung der Bakterien über das Lymphsystem zu den regionalen Lymphknoten, wo die Replikation stattfindet. Anschliessend erfolgt die Dissemination, während der grippeähnliche Symptome auftreten können. Klassischerweise werden sechs Verlaufsformen unterschieden (7): Bei der ulceroglandulären und glandulären Form kommt es zu regionaler Lymphadenopathie mit (ulceroglandulär) oder ohne (glandulär) Hautläsion. Bei der oculoglandulären Form tritt eine Konjunktivitis mit cervicaler Lymphadenopathie auf. Die oropharyngeale Form präsentiert sich mit einer Pharyngitis und teilweise oropharyngealen Ulcera mit cervicaler Lymphadenopathie. Die respiratorische Form äussert sich als akute oder subakute Pneumonie. Die typhoide Form beschreibt einen schweren Verlauf mit Sepsis (4, 8). Es können eine Vielzahl von Komplikationen auftreten. Die Bildung von Lymphknotenabszessen ist mit ca. 30 % der Patienten mit Lymphadenopathie die häufigste. Seltener kommt es zu Beteiligung anderer Organe, beispielsweise Karditis oder zu Meningitis und Meningoencephalitis (4, 8, 9). Mit einem Ulkus an der Zeckenstichstelle und begleitende Lymphadenopathie weist unsere Patientin typische Krankheitszeichen einer ulceroglandulären Tularämie auf. Die neurologischen Symptome könnten Hinweise für eine begleitende Meningoenzephalitis sein. Angesichts dieser differentialdiagnostischen Überlegungen und des schwerwiegenden Krankheitsbildes der Patientin sind weiterführende Untersuchungen zur genaueren Diagnose und Behandlungsplanung dringend empfohlen.

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Durch den Hausarzt wurden bei Verdacht auf Encephalitis ein Elektroencephalogramm (EEG), eine Liquorpunktion und eine zerebrale Magnetresonanztomographie (MRT) veranlasst. Das EEG zeigte eine regionale Verlangsamung linkshemisphäriell.

Die MRT zeigte keine strukturell pathologischen Befunde im Sinne einer Enzephalitis. In der Lumbalpunktion fand sich eine Zellzahl von drei mononukleären Zellen/µl bei normwertigem Protein und negativem Borrelien- und FSME-Serum-Liquor-Index. Die Patientin wurde zur weiteren Abklärung in die neurologische Sprechstunde zugewiesen. Hier wurde zwei Monate nach Auftreten der ersten Symptome bei stark erhöhten IgG- sowie IgM-Titer für Francisella tulariensis (IgG 123.7 U/ml [Normwert < 10], IgM 241.5 U/ml [Normwert < 10]) eine Tularämie mit zerebraler Beteiligung diagnostiziert. Bei normaler Zellzahl im Liquor waren formal die Kriterien für eine Meningitis nicht erfüllt, wobei die Lumbalpunktion knapp zwei Monate nach den initialen Beschwerden durchgeführt wurde. Die Patientin wurde zur Therapie mit Gentamicin 350 mg intravenös einmal täglich sowie Ciprofloxacin 500 mg peroral zweimal täglich für zehn Tage stationär aufgenommen. In der erneuten MRT ergaben sich weiterhin keine bildmorphologischen Korrelate einer Enzephalitis. Ein wiederholtes EEG zeigte eine fokale Verlangsamung temporo-occipital rechts und in geringerem Ausmass temporo-occipital links. Im Montreal Cognitive Assessment erreichte die Patientin 26 von 30 Punkten. Unter der Therapie waren die Kopfschmerzen komplett rückläufig. Aufgrund der nur langsam regredienten neurokognitiven Symptomatik wurde die Patientin der stationären neurologischen Rehabilitation zugewiesen. Bei Spitalsaustritt bestanden ein subjektives Schwächegefühl der rechten Körperseite ohne klinisch manifeste Parese, Wortfindungsschwierigkeiten, phonematische Paraphasien bei verlangsamter Spontansprache und deutliche Defizite in attentionalen, mnestischen und exekutiven Funktionen. Die Symptome besserten sich im Laufe der neurologischen Rehabilitation. Zwei Monate später bestanden weiterhin kognitive Einschränkungen im Sinne einer erhöhten geistigen Erschöpfbarkeit im Alltag, welche ein reduziertes Arbeitspensum bedingen. Somatische Beschwerden waren keine mehr vorhanden.

Kommentar

Die beschriebene Patientin wies initial einen typischen Verlauf einer ulzeroglandulären Tularämie mit Ausbildung eines Ulkus an der Einstichstelle und schmerzhafte Lymphadenopathie mit ausgeprägtem Krankheitsgefühl auf. Aufgrund der Seltenheit der Tularämie konnte die Diagnose trotz wiederholter Arztkontakte erst spät gestellt werden. Bei klinischem Verdacht auf eine Tularämie ist es essenziell, die entsprechende Diagnostik in die Wege zu leiten und die entsprechende antibiotische Therapie zu beginnen, um Komplikationen zu verhindern. Für die Diagnose wird ein über vierfacher Titeranstieg der spezifischen Antikörper, ein einmalig sehr hoher Titer, wie bei unserer Patientin, oder ein direkter Erregernachweis aus Patientenmaterial wie Blut, Ulkus- oder Lymphknotengewebe per PCR oder Kultur gefordert. Der kulturelle Nachweis gelingt selten, da das Bakterium rasch transportiert werden muss und spezielle Nährmedien benötigt (3, 10, 11). Eine zentralnervöse Beteiligung bei Tularämie ist selten (12). Eine Meningitis drei bis 30 Tage nach der initialen febrilen Erkrankung bei ulceroglandulärer und typhoidaler Form ist beschrieben (12–14). Auch Fälle von Meningitis nach inhalativer Exposition werden berichtet (12). Weitere seltene neurologische Verlaufsformen sind das Guillain-Barre-Syndrom sowie die Manifestation an einzelnen kranialen Nerven (15, 16). Zur Therapie der Tularämie kommen Chinolone, Tetracycline und bei schweren Verläufen Aminoglycoside zum Einsatz (17). Seit 2004 ist die Tularämie beim Menschen meldepflichtig. 2022 wurden 114 Fälle gemeldet, was einer Inzidenz von 1.3 Fällen pro 100  000 Einwohnern entspricht. Seit 2011 wird eine Zunahme der Fallzahlen verzeichnet, wobei die Fallzahl seit 2017 in etwa stabil geblieben ist. Die Zunahme wird zumindest teilweise auf vermehrte Testung zurückgeführt (18). Aufgrund der typischen Klinik der Patientin, die sich nach einem Zeckenstich entwickelt hat und den sehr hohen Titern für Francisella tularensis, ist die Diagnose bei unserer Patientin gesichert. Auf die Therapie mit Gentamicin und Ciprofloxacin hat sie gut angesprochen, auch wenn die neurokognitiven Einschränkungen nicht komplett regredient waren.

Abkürzungen
FSME Frühsommer-Meningoencephalitis
PCR Polymerase Chain Reaktion
MRT Magnetresonanztomographie
EEG Elektroencephalographie
ZNS Zentralnervensystem

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Veronika Busch-Hofbauer

Allgemeine Innere Medizin
Kantonsspital Graubünden
Loestrasse 170
7000 Chur

Dr. med. Rolf Sturzenegger

Neurologie
Kantonsspital Graubünden
Loestrasse 170
7000 Chur

PD Dr. med. Alexia Cusini

Leitende Ärztin für Infektiologie
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170
7000 Chur

alexia.cusini@ksgr.ch

Die Autorschaft hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Tularämie wir durch Zeckenstiche oder durch direkten Kontakt mit infizierten Tieren übertragen und präsentiert sich typischerweise mit einer Initialphase mit grippeähnlichen Symptomen, gefolgt vom Auftreten eines Ulcus mit regionärer Lymphadenopathie um die Zeckenbissstelle.
  • Für die Diagnose wird ein mehr als vierfacher Titer Anstieg, ein einmalig sehr hoher Titer oder der direkte Erregernachweis gefordert.
  • Selten geht eine Tularämie mit einer Beteiligung des Zentralnervensystems einher
  • Therapeutisch kommen Chinolone, Tetracycline sowie Aminoglycoside bei schweren Verläufen zum Einsatz.

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18. Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, Bundesamt für Gesundheit BAG. Bericht zur Überwachung von Zoonosen und lebensmittelbedingten Krankheitsausbrüchen. 2022.

Infektiöse Endokarditis – Update 2024

Trotz grosser Fortschritte sowohl in Prävention, Diagnostik und Therapie in den letzten Jahren bleibt die infektiöse Endokarditis (IE) eine Erkrankung mit erheblicher Morbidität und Mortalität. Im Jahr 2023 wurden sowohl durch die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) als auch durch die Internationale Fachgesellschaft für kardiovaskuläre Infektionen (ISCVID) überarbeitete Leitlinien zur IE publiziert. Darin wurden umfangreiche Neuerungen in den Bereichen Prävention, Diagnostik und Therapie implementiert. Präventive Massnahmen wurden klarer definiert und mit einer höheren Empfehlung versehen. In der Diagnostik werden neben der Echokardiographie der Einsatz weiterer Bildgebungsverfahren wie kardiale Computertomographie (CT) oder Positronenemissionstomographie (PET/CT) stärker gewichtet und in Bezug auf mikrobiologische Kriterien das Spektrum der typischen IE-Erreger erweitert. Bei der Therapie schliesslich gibt es relevante Neuerungen in Bezug auf Möglichkeiten einer ambulanten antibiotischen Therapie für bestimmte selektionierte Patienten. Die Indikationen für herzchirurgische Operationen wurden ebenfalls überarbeitet, wobei der Zeitpunkt der Operation klarer definiert wurde. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen.

Despite significant advancements in prevention, diagnosis, and therapy in recent years, infectious endocarditis (IE) remains a disease with considerable morbidity and mortality. In 2023, both the European Society of Cardiology (ESC) and the International Society for Cardiovascular Infectious Diseases (ISCVID) published revised guidelines on IE. Extensive innovations in the areas of prevention, diagnosis, and therapy were implemented. Preventive measures were more clearly defined and given stronger recommendations. In diagnosis, alongside echocardiography, the use of additional imaging modalities such as cardiac computed tomography (CT) or positron emission tomography (PET/CT) is given greater emphasis, and the spectrum of typical IE pathogens has been expanded concerning microbiological criteria. In therapy, there are significant innovations regarding the possibilities of outpatient antibiotic treatment for certain selected patients. The indications for cardiac surgical operations have also been revised, with the timing of surgery being more clearly defined. This article provides an overview of the most important changes.
Key words: Endocarditis/prevention, endocarditis/Diagnosis, endocarditis

Einleitung

Weltweit beträgt die geschätzte Inzidenz der IE 13.8 Fälle pro 100 000 Personen pro Jahr; 66 300 Patienten versterben an den Folgen einer IE (1). Trotz enormer Fortschritte in der Medizin haben sich sowohl die Inzidenz als auch die Mortalität (bei hospitalisierten Patienten mit IE zwischen 15 und 30 %) in den letzten 25 Jahren nicht wesentlich gebessert. Was sich jedoch verändert hat, ist die Ätiologie der IE. Waren früher häufiger Patienten mit rheumatischer Herzkrankheit als Risikofaktor betroffen und vergrünende Streptokokken die häufigsten Erreger einer IE, so sehen wir heute vermehrt Patienten mit kardiovaskulären Implantaten (Schrittmacher, künstliche Herzklappen (inkl. TAVI), Rekonstruktionen etc.), ältere Patienten mit mehr Komorbiditäten, mehr Immunsuppression, mehr altersbedingt degenerativen Klappenveränderungen und als auslösende bakterielle Erreger häufiger Staphylokokken, Enterokokken und weitere bisher eher seltene IE-Erreger, wie zum Beispiel Cutibakterien, Corynebakterien sowie gramnegative Bakterien, wie zum Beispiel Serratia marcescens. Vor diesem Hintergrund der epidemiologischen, klinischen und mikrobiologischen Veränderungen der IE wurden 2023 sowohl durch die European Society of Cardiology (ESC) (1) als auch die International Society of Cardiovascular Infections (ISCVID) (2) neue Guidelines zur Prävention, Diagnostik und Therapie der IE publiziert. In diesem Übersichtsartikel werden die für den Allgemeinpraktiker wichtigsten Aspekte der neuen IE-Guidelines beleuchtet und zusammengefasst.

Prävention

Patienten werden in Gruppen mit niedrigem, mittlerem und hohem Risiko einer IE eingeteilt. Unverändert bleibt die Empfehlung zur Prophylaxe mit Antibiotika für Patienten mit hohem IE-Risiko (Tab. 1), wurde aber von Evidenzklasse IIa auf Evidenzklasse I erhöht, innerhalb der Gruppe mit hohem Risiko für eine IE wurde ausserdem speziell eine früher durchgemachte IE stärker gewichtet (neu Evidenzklasse Ib für eine Antibiotikaprophylaxe bei diesen Patienten [zuvor Evidenzklasse II]). Die Gruppe mit Klappenprothesen (= hohes IE-Risiko) umfasst nun auch Patienten, bei denen für eine Klappenrekonstruktion Fremdmaterial eingesetzt wurde. Ebenso zählen Patienten dazu, bei denen mithilfe eines kathetergestützten Verfahrens eine Aorten- (TAVI) oder Pulmonalklappe implantiert wurde. Neu ist die Empfehlung zur Antibiotikaprophylaxe überdies bei Patienten mit Herzunterstützungssystemen (ventricular assist devices «VAD»). Erwogen werden kann eine Prophylaxe bei Patienten mit minimal-invasivem Eingriff an der Mitral- (MitraClip) oder Trikuspidalklappe (TriClip) (Evidenzklasse IIa), für Patienten nach Herztransplantation ist die Evidenzlage unklar und eine Prophylaxe sollte mit den behandelnden Ärzten individuell diskutiert werden. Für Patienten mit mittlerem (z. B. rheumatische Herzerkrankung, nicht-rheumatische degenerative Herzklappenerkrankungen, angeborene bikuspide Aortenklappe, intrakardiale Devices wie Pacemaker etc.) oder tiefem Risiko ist die Evidenzlage unklar und eine Antibiotikaprophylaxe wird nicht empfohlen.

Die Gabe der Antibiotikaprophylaxe bei Patienten mit hohem Risiko wird in folgenden Situationen empfohlen: bei zahnmedizinischen Interventionen mit Blutungsfolge (Zahnextraktionen, kieferchirurgische Eingriffe, Eingriffen mit Manipulation an der Gingiva oder der periapikalen Zahnregion). Neu in den Guidelines ist auch die Empfehlung, dass eine Antibiotikaprophylaxe bei Patienten mit hohem Risiko auch im Rahmen invasiver diagnostischer oder therapeutischer Eingriffe am Respirationstrakt, Gastrointestinaltrakt, Urogenitaltrakt sowie an Haut, Weichteilen und muskuloskelettalem System erwogen werden kann (Evidenzklasse IIb), hiervon wurde in den vorhergehenden Leitlinien aus dem Jahr 2015 noch explizit abgeraten. Diese optionale Erweiterung der Indikation für eine Prophylaxe sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt und es bleibt abzuwarten, wie sich die Schweizerische Expertengruppe «Infective Endocarditis Prevention» hierzu äussern wird (3). Allen Patienten mit hohem Risiko sollte ein Endokarditis-Ausweis (4) abgegeben werden. Das empfohlene prophylaktische Antibiotikaregime ist in Tab. 2 aufgelistet. Unspezifische Präventionsmassnahmen werden für alle Patienten mit mittlerem und hohem Risiko einer IE empfohlen (Evidenzklasse I), dazu gehören allgemeine Massnahmen, die in Tab. 3 zusammengefasst sind.

Neu ist weiter die Empfehlung, dass als präoperative antibiotische Prophylaxe vor kathetergestützter Implantation einer Klappe (z.B. TAVI) nicht wie sonst standardmässig Cefuroxim, sondern ein S. aureus- und Enterokokken-wirksames Antibiotikum verabreicht werden soll, nämlich Amoxicillin/Clavulansäure (Evidenzklasse IIa).

Patienten, die eine IE durch Streptococcus gallolyticus oder Enterokokken durchgemacht haben, sollen nach Abschluss der IE-Therapie im zeitnahen Intervall einer diagnostischen Koloskopie zugeführt werden, aufgrund einer Assoziation mit kolorektalen Neoplasien.

Diagnostik

Die IE bleibt aufgrund der vielfältigen klinischen Manifestation eine diagnostische Herausforderung. Je nach Prädilektion, Erreger und Komorbiditäten ist die klinische Präsentation unterschiedlich. Ein klinischer Verdacht sollte bei allen Patienten in Betracht gezogen werden, welche neu Fieber oder eine Sepsis mit unklarem Fokus haben. Fieber (77 %), neues Herzgeräusch (64 %), Herzinsuffizienz (27 %), septisch-embolische Komplikationen (25 %) und Rhythmusstörungen (11 %) sind die häufigsten Symptome vor Diagnosestellung einer IE (6). Klassische lehrbuchmässige Stigmata wie Janeway Läsionen, Osler Knoten, Roth Spots und Splinter Hämorrhagien sehen wir heutzutage selten. Dies hängt wahrscheinlich mit einem Shift von den früher häufiger (und eher protrahiert diagnostizierten) «Endocarditis lenta» Erregern (klassischerweise vergrünende Streptokokken) zu heute häufiger virulenteren Keimen (wie z. B. S. aureus u.a.) zusammen. Wichtig ist, dass man, gerade am Anfang der Versorgungskette in der Hausarztpraxis, an die Differentialdiagnose IE denkt, mehrere (idealerweise 3 x 2) Blutkulturen abnimmt und bei stabilem Allgemeinzustand des Patienten mit Antibiotika nach Möglichkeit noch zuwartet, um die entscheidende Erregerdiagnostik und Resistenzprüfung nicht zu verzögern.

Die diagnostischen Dukes Kriterien zur IE wurden 2023 überarbeitet (Tab. 4). Die Echokardiographie bleibt weiterhin die zentrale Bildgebungsmodalität in der Diagnostik einer IE. Nachdem in den früheren Leitlinien CT und PET/CT als wertvolle diagnostische Ergänzungen erwähnt wurden, wird in den aktuellen Leitlinien die Bedeutung dieser Verfahren weiter hervorgehoben. Die CT hat neu eine Evidenzklasse IB zur ergänzenden Diagnostik bei Patienten mit vermuteter IE von Nativklappen. Ebenso haben PET/CT und CT bei vermuteter Prothesenklappen-IE eine IB-Empfehlung erhalten, wenn eine valvuläre Läsion detektiert und die Diagnose einer IE bestätigt
werden soll. Bei der Diagnosestellung einer Prothesenklappen-IE lässt sich die Sensitivität durch das PET/CT deutlich erhöhen (Sensitivität PET/CT für Prothesenklappenendokarditis 73–100 %, Spezifität 71–100 %) (5) Unabhängig davon, ob es sich um eine Nativ- oder Prothesenklappen-IE handelt, ist die CT gut geeignet zur Diagnose von paravalvulären oder periprothetischen Komplikationen, wenn die Ergebnisse der Echokardiographie uneindeutig sind.

Bei symptomatischen Patienten mit Nativ- oder Prothesenklappen-IE wird eine Bildgebung des Gehirns und des gesamten Körpers (CT, MRT, ev. PET/CT) empfohlen, um zerebrale oder periphere septische-embolische Läsionen zu erkennen oder diagnostische Nebenkriterien zu bestimmen (Evidenzklasse IB).

Mikrobiologisch wurde das Spektrum der IE typischen Erreger sowie auch die Technik des Erregernachweises erweitert. Neu werden bei allen Formen der IE auch Enterococcus faecalis und Staphylococcus lugdunensis, bei ­Prothesenklappen zusätzlich neben den Koagulase-negativen Staphylokokken auch Corynebakterien (Corynebacterium striatum, Corynebacterium jeikeium), Serratia marcescens, Pseudomonas aeruginosa, Cutibacterium acnes oder avidum, Candida sowie Mycobacterium chimaera zu den typischen IE-Erregern gezählt. Bei der Technik des Erregernachweises zählen neben der konventionellen Kultur neu auch molekulare Techniken (PCR, in-situ Hybridisierung, Next Generation Sequencing) als diagnostische Kriterien für eine IE. Ausserdem wurde als neues und drittes Major-Kriterium neben den beiden bisherigen zwei Major-Kriterien (Mikrobiologie und Bildgebung) ein chirurgisches Kriterium etabliert: Dieses ist erfüllt, wenn durch den Chirurgen direkt intraoperativ die Diagnose IE gestellt wird.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass gewisse Unterschiede in der Formulierung und Gewichtung einzelner Kriterien bestehen, wenn man die europäischen (ESC) mit den internationalen (ISCVID) Guidelines vergleicht. Für beide Guidelines gilt, dass mit den neuen Kriterien die Sensitivität, eine definitive Diagnose einer IE zu stellen, steigt (Sensitivität für Prothesenklappen IE mit den ESC Dukes Kriterien von 2015: 65–97 %, Sensitivität mit den revidierten Duke-ISCVID Kriterien 2023: 78–97 %), diese Steigerung der Sensitivität geht aber einher mit einer gewissen Einbusse der Spezifität (5).

Tab. 4a und 4b zeigen die revidierten diagnostischen Duke-ISCVID Kriterien 2023 zur Diagnosestellung einer IE.

Therapie

Heutzutage ist durch Daten belegt, dass ein interdiziplinärer Approach bei der Diagnostik und Therapie der IE das Outcome inklusive Mortalität verbessert. Man spricht auch vom «Endokarditis Team» und dieses setzt sich idealerweise zusammen aus Experten der Infektiologie/Mikrobiologie, Kardiologie, Herzchirurgie, ggf. Nuklearmedizin und Intensivmedizin (7) (Abb. 1).

Bei der Behandlung der IE ist die komplette Eradikation der Erreger das Ziel. Meist können Bakterien in den Biofilmen auf Klappe oder Fremdmaterial aufgrund der Erregerdichte in den Vegetationen ihre metabolische Aktivität drosseln und somit die Empfindlichkeit auf Antibiotika reduzieren. Dies erklärt die in der Regel notwendige lange Dauer der antibiotischen Therapie (meist 4–6 Wochen, in ausgewählten spezifischen Fällen ggf. verkürzbar auf 2 Wochen). Als empirische Therapie (bevor der Erreger und die Empfindlichkeit bestimmt sind) gilt nach wie vor Amoxicillin/Clavulansäure i.v. hochdosiert (+/– in Kombination mit einem Aminoglykosid) als Therapie der Wahl. Sobald Erreger und Empfindlichkeit bekannt sind, wird auf eine gezielte Antibiotikatherapie i.v. gewechselt. Auf die verschiedenen Antibiotikaregime bei den entsprechenden Erregern geht dieser Artikel im Detail nicht ein. Zur Konsultation empfehlen wir lokale Therapieempfehlungen wie z.B. das Vademecum Infektiologie des Stadtspitals Zürich (verfügbar online unter www.vademecum-
infektiologie.ch/ (9) oder als App im IOS oder Android Store gratis zum Download).

Eine wesentliche Neuerung der 2023 überarbeiteten Leitlinien ist die Möglichkeit einer ambulanten Fortführung der antibiotischen Therapie. In der Anfangsphase der Behandlung einer IE wird eine standardmässige i.v.-Behandlung über mindestens 7–10 Tage durchgeführt. Im Anschluss kann eine ambulante parenterale Antibiotikabehandlung oder auch eine abgestufte ambulante orale Antibiotikabehandlung zur Konsolidierung der antimikrobiellen Therapie erfolgen, vorausgesetzt, der Patient ist klinisch stabil und es liegen keine kritischen infektionsbedingten Komplikationen vor (8). Die ambulante Antibiotikatherapie wird in der Praxis aufgrund des ­klinischen Zustandes oder weiterer limitierender Komorbiditäten jedoch nur für wenige Patienten in Frage kommen.

Operative Versorgung

Etwa die Hälfte der Patienten mit einer IE benötigt eine Operation (10). Es gibt drei Hauptgründe, eine Operation durchzuführen: 1. progressive Herzinsuffizienz, 2. unkontrollierte Infektion und 3. Verhinderung septischer Embolien. Die Eingriffe werden in notfallmässig (innerhalb von 24 Stunden), dringlich (innerhalb von 3 bis 5 Tagen) und nicht dringlich (i.d.R. nach 1–2 Wochen antibiotische Therapie) unterteilt. Aorten- oder Mitralklappen-IE mit schwerer akuter Klappeninsuffizienz oder -stenose mit refraktärem Lungenödem oder kardiogenem Schock ist unverändert die Indikation zur notfallmässigen Operation. Die IB-Empfehlung für eine dringliche Operation bei lokal unkontrollierter Infektion wurde neben dem Vorliegen eines Abszesses, eines Pseudoaneurysmas, einer Fistel und einer grösser werdenden Vegetation neu um das Vorliegen einer Prothesendehiszenz sowie das Auftreten eines neuen atrioventrikulären Blocks erweitert. Eine dringliche Operation ist in Abhängigkeit vom klinischen Zustand des Patienten empfohlen, wenn die IE durch eine Pilzinfektion oder multiresistente Keime verursacht ist. Ebenso erwogen werden sollte eine dringliche Operation bei Patienten mit persistierend positiver Blutkultur nach 7 Tagen antimikrobieller Therapie, bei einer Prothesenendokarditis verursacht durch S. aureus oder ein gramnegatives Bakterium ausserhalb der HACEK-Gruppe (HACEK steht für Haemophilus, Aggregatibacter, Cardiobacterium, Eikenella und Kingella). Die Prävention septischer Embolien ist das dritte Hauptkriterium zur Operationsindikation. Eine dringliche Operation ist hier empfohlen bei Patienten mit Nativklappen IE der Aorten- oder Mitralklappe sowie bei Prothesenklappen IE mit grossen Vegetationen (≥ 10 mm) nach einem oder mehreren embolischen Ereignissen trotz adäquater Antibiotikatherapie. Aufgewertet zu einer IC-Empfehlung wurde, eine Herzoperation dringlich durchzuführen bei Aorten- oder Mitralklappen IE mit grossen Vegetationen (≥ 10 mm), wenn eine weitere Indikation zu einer Operation besteht. Neu ist die Empfehlung, dass eine dringliche Operation bei Aorten- oder Mitralklappen IE mit einer Vegetation ≥ 10 mm erwogen werden soll, wenn keine hochgradige Klappenstörung oder kein klinischer Nachweis von Embolien vorliegt und ein niedriges Operationsrisiko besteht (Evidenzklasse IIB). Neu ist auch die Empfehlung, Prothesenklappen IE, welche in den ersten 6 Monaten nach Implantation auftreten, grundsätzlich herzchirurgisch zu sanieren (Evidenzklasse IC).

Bei Patienten mit intrakranieller Blutung nach ischämischem Schlaganfall und IE sollte die herzchirurgische Behandlung der IE in der Regel zurückgestellt werden, es sei denn, es besteht eine hämodynamische Instabilität. In diesen Fällen muss im Endokarditis-Team unter Beizug der Kollegen der Neurologie interdisziplinär Nutzen und Risiko einer allfällig vorgezogenen Operation sorgfältig abgewogen werden.

Danksagung
Herrn Dr. Adrian Schibli danke ich herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Kommentare

Dr.med. Benjamin Preiswerk

Leitender Arzt Infektiologie
Leitung Med. Mikrobiologie
Stadtspital Zürich Triemli
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • IE bleibt eine häufige Erkrankung mit hoher Morbidität und Mortalität
  • Antibiotikaprophylaxe für Patienten mit hohem Risiko für IE ist vor zahnärztlichen Risikoeingriffen unbedingt empfohlen
  • Bei klinischem Verdacht auf IE sollen 3×2 Blutkulturen
    abgenommen werden, bevor mit einer Antibiotikatherapie begonnen wird.
  • Die Echokardiographie bleibt Bildgebung der ersten Wahl; neuere bildgebende Methoden wir CT und PET/CT gewinnen aber an Bedeutung
  • Die Planung und Durchführung der IE Therapie erfolgt idealerweise im Endokarditis Team, zusätzlich zur Erreger- und resistenzgerechten antibiotischen Therapie empfiehlt sich eine frühe Rücksprache mit der Herzchirurgie

1. 2023 ESC Guidelines for the Management of endocarditis, European Heart Journal 2023 00, 1-95
2. The 2023 Duke-International Society for Cardiovascular Infectious Diseases Criteria for Infective Endocarditis, Fowler V et al, Clinical Infectious Diseases 2023;77(4):518-26
3. (3) Empfehlungen der Expertengruppe “Infective Endocarditis Prevention”, Swiss Medical Forum 2021;21(5-6):84-89
4. (4) Endokarditis Ausweis -> zu beziehen bei Schweizerische Herzstiftung: https://swissheart.ch/
5. Cuervo G et al, The clinial challenge of prosthetic valve endocarditis, Journal of the American College of Cardiology Vol 83, No 15, 2024:1418-1430
6. Habib G et al, Clinical presentation, aetiology and outcome of infective endocarditis. ESC-EORP EURO-ENDO registry; European Heart Journal 2019;40:3222-3232
7. Dayer M et al, recent insights into native valve infective endocarditis, Journal of the American College of Cardiology Vol 83, No 15, 2024:1431-1443
8. Iversen K et al, Partial Oral versus Intravenous Antibiotic Treatment of Endocarditis (POET trial), New England Journal of Medicine, 2019;380:415-424
9. Vademecum Infektiologie: www.vademecum-infektiologie.ch
10. Tornos P, Infective endocarditis in Europe: lessons from the Euro heart survey, Heart 2005 May;91(5):571-5.