Embolisation bei benigner Prostatahyperplasie

Die transurethrale Resektion (TURP) gilt als Standardbehandlung der benignen Prostatahyperplasie (BPH). Obwohl weit­gehend perfektioniert, bleibt der Eingriff nicht ohne Neben­wirkungspotential, so dass die Suche nach alternativen, bessern Methoden weitergeht.

Wie auch bei der Behandlung von Uterusmyomen ist seit einiger Zeit die arterielle Embolisation (PAE) eine Methode unter studienmässiger Beobachtung. Die Departemente Urologie und Radiologie am Kantonsspital St. Gallen haben nun die Resultate ihrer randomisierten, offenen Vergleichsstudie präsentiert, welche zum Ziel hatte, zu zeigen, dass die PAE nicht schlechter sei als die TURP.
103 Patienten über 40 Jahre mit Symptomen des unteren Harntraktes (LUTS) bei BPH wurden randomisiert, 48 und 51 Patienten erreichten den primären Endpunkt, die Veränderung des internationalen Prostatasymptom Score (IPSS) 12 Wochen nach PAE (250-400 um Mikrosphären unter Lokalanästhesie) oder TURP (Monopolar unter Spinal- oder Allgemeinanästhesie). Eine Differenz von weniger als 3 Punkten wurde als Limite für Nichtinferiorität gesetzt. Sekundäre Endpunkte waren weitere Symptomfragebogen, funktionelle Messungen, Bildgebung und Nebenwirkungen.
Die mittlere Reduktion im IPSS betrug -9.23 vs. -10.77, was nur 1.54 Punkte zugunsten der TURP ergab, trotzdem konnte Nichtinferiorität nicht gezeigt werden. Die Verbesserung des maximalen Urinfluss betrug 5.19 vs. 15.34 ml/s (p < .001), die Änderung des Restharns betrug −86.36 vs. −199.98 ml (p = 0.003) und des Prostatavolumens −12.17 vs. −30.27 ml (p < 0.001). Hingegen traten nach PAE signifikant weniger Nebenwirkungen auf (36 vs. 70, p = 0.003).
Die Autoren schliessen, dass die Verbesserung der LUTS 12 Wochen nach PAE ähnlich sei wie nach TURP und nach PAE weniger Nebenwirkungen auftreten. Jedoch führt die PAE zu schlechteren funktionellen Resultaten. Diese Beobachtungen müssen bei der Beratung des individuellen Patienten in Betracht gezogen werden. Insgesamt ist die Methode noch nicht reif für einen breiten Einsatz als Routinemethode, aber wird nach weiteren Studien mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Stellenwert in der Behandlung der BPH bekommen.

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Behandlung und Betreuung von Patienten mit fortgeschrittener Demenz

Die Behandlung und Betreuung von demenzerkrankten Menschen ist eher ein Stiefkind der klinischen Medizin. Dies trotz der Tatsache, dass in der Schweiz rund 150 000 Menschen mit Demenz leben, und dass diese Zahl aufgrund der demografischen Entwicklung mit Sicherheit in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich zunehmen wird. Ein Grund für das geringe klinische Interesse mag sein, dass immer noch manche Ärzte denken, bei einer Demenz könne man «ohnehin nichts machen». Diese Haltung ist aber aus zweierlei Gründen nicht angebracht. Zum einen stehen uns mit den Antidementiva Acetylcholinesterasehemmer und Memantin bereits heute Medikamente zur Verfügung, welche bei einzelnen Demenzformen oder in spezifischen Situationen sehr hilfreich sein können. Zum anderen kann eine professionelle Demenzbetreuung einen sehr grossen Unterschied in der Lebensqualität der betroffenen Patienten und ihrer Angehörigen machen. Mit diesem letzteren Thema beschäftigt sich dieser Artikel, wobei im vorliegenden Teil v.a. klinische Aspekte, in einem späteren zweiten Teil dann primär ethische Aspekte beleuchtet werden.

Anforderungen an ein «demenzfreundliches» Gesundheitswesen

Unser Gesundheitswesen ist nach wie vor stark auf die Betreuung von medizinischen Akutsituationen ausgerichtet und es wird davon ausgegangen, dass Patienten grundsätzlich urteilsfähig sind und selber entscheiden können. Es liegt auf der Hand, dass solche Strukturen für Demenzpatienten oftmals alles andere als ideal sind.
In ein Akutspital werden Menschen mit Demenz allerdings nur selten explizit wegen dieser Diagnose eingeliefert. Vielmehr erfolgen entsprechende Hospitalisationen beispielsweise wegen Stoffwechselentgleisungen (infolge falscher Medikamenteneinnahme), wegen Infektionen (aufgrund mangelnder Selbstpflege), wegen Dehydratation, Mangelernährung oder wegen Frakturen nach Stürzen. Während aber für die vordergründigen somatischen Probleme im Spital in der Regel rasch die nötigen Therapiemassnahmen eingeleitet werden, fehlt häufig ein adäquater Umgang mit der dahinter stehenden Demenzerkrankung. Oft wird diese gar nicht oder zu spät als solche erkannt. Notwendige Anpassungen in der Kommunikation und der Betreuung werden nicht vorgenommen, so dass sich nicht selten zur Demenz noch ein Delir entwickelt. In dieser Situation ist die Durchführung der geplanten Therapiemassnahmen erschwert, es kommt zu verlängerten Hospitalisationen, ungünstigen Verläufen oder raschen Rehospitalisationen.
Gefordert ist aber auch der ambulante Bereich. Besonders bedeutsam für die Behandlung und Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind dabei die Pflegeheime, welche als eigentliche Palliativstationen von Menschen mit Demenz funktionieren. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, benötigen Pflegeheime aber neben gut ausgebildetem Pflegepersonal auch die Einbindung eines geriatrisch erfahrenen Hausarztes oder eines eigenen Heimarztes (1). Sind diese strukturellen Voraussetzungen gegeben, dann sollte die rechtzeitige Diagnostik und Therapie verschiedener alltäglicher akuter internistischer Erkrankungen (z.B. Lungenentzündung, Harnwegsinfekte, Dehydratation, Erysipel) im Pflegeheim selber möglich sein, ebenso die Behandlung z.B. einer bestehenden chronischen Herz- oder Lungenkrankheit inklusive deren Exazerbationen. Dabei ist auch zu bedenken, dass Hospitalisierungen für Menschen mit fortgeschrittener Demenz oftmals noch belastender sind als für kognitiv Gesunde. Leider sieht die Realität oft anders aus – internationale Studien zeigen, dass zwischen 25% und 40% aller Hospitalisationen aus Pflegeheimen medizinisch unnötig, d.h. primär durch Unzulänglichkeiten des Versorgungssystems bedingt sind (2).

Anamnese und Befunderhebung bei Menschen
mit Demenz

Bei der Kontaktaufnahme mit bzw. der Anamnese und Befunderhebung von Menschen mit Demenz sollte das bei kognitiv intakten Patienten übliche Vorgehen angepasst werden. Von besonderer Bedeutung ist es, Menschen mit Demenz ohne Hektik und in einer ruhigen Atmosphäre begegnen zu können. Da die Betroffenen aufgrund ihrer kognitiven Defizite Situationen nicht richtig einschätzen können, besteht die Gefahr, sie zu erschrecken. So sollte beispielsweise ein Herantreten von hinten an die Patienten vermieden werden. Der Arzt soll sich zudem jedes Mal in seiner Funktion vorstellen.
Bei Patienten mit Demenz ist aufgrund der kognitiven Einschränkungen, zusätzlich aber auch wegen einer oft fehlenden Krankheitseinsicht (Anosognosie), die Anamnese nicht zielführend. Die Betroffenen können z.B. Schmerzen oder Atemnot nicht mehr auf sich selber beziehen, dadurch werden solche Symptome verneint, obwohl die Patienten darunter leiden (falsch negative Anamnese). Deshalb sollte vor dem Besuch beim Patienten eine Fremdanamnese bei einer Betreuungsperson, idealerweise einer erfahrenen Pflegefachperson eingeholt werden. Der Arzt lässt sich mit Vorteil von dieser Betreuungsperson zum Patienten begleiten. So kann auch das für die Durchführung einer körperlichen Untersuchung nötige Vertrauen geschaffen werden.
Ein allgemeines Bild über den Zustand des Patienten verschafft man sich am besten, indem man die Visite auf Schlüsselmomente wie die Mobilisation oder die Essenseinnahme terminiert. Gerade letztere bietet eine Fülle von Informationen über die posturale Kontrolle, die Kognition, die Schluckfähigkeit, manchmal sogar über den allgemeinen Lebenswillen, der bei fortgeschrittener Demenz oft eng mit dem Appetit vergesellschaftet ist.

Entscheidungsfindung

Medizinische Entscheidungen bei Menschen mit Demenz sind hoch individuell. Medizinische Guidelines sind meist wenig hilfreich, vielmehr müssen die zu wählenden Massnahmen der Diagnostik und Therapie an die jeweilige spezifische Situation angepasst werden. Meist steht bei der leichten und mittelschweren Demenz die möglichst lange Erhaltung der Funktionalität im Vordergrund. Mit weiter fortschreitendem Krankheitsverlauf wird neben dem Erhalt der Lebensqualität die Symptomlinderung immer wichtiger (3). Vor weitreichenden medizinischen Entscheidungen sollte bei fehlender Urteilsfähigkeit des Betroffenen niederschwellig mit der gesetzlichen Vertretungsperson Rücksprache genommen werden.
Bei Menschen in höherem Alter tritt eine Demenz oft zusammen mit anderen chronischen Krankheiten auf (sog. Multimorbidität). In dieser Situation ist der Einsatz der einzelnen Therapiemassnahmen und Medikamente sorgfältig abzuwägen, um eine Übermedikation mit sich potenzierenden Medikamenteninteraktionen und Nebenwirkungen (sog. Polypharmazie) zu vermeiden. Sehr oft sind Symptome wie z.B. Schläfrigkeit, Agitiertheit, Sturzneigung, Nausea, Obstipation oder Mundtrockenheit Nebenwirkungen von Medikamenten, welche sich durch Reduktion der Polypharmazie lindern lassen. Unbedingt vermieden werde sollten sog. Verordnungskaskaden (z.B.: Agitiertheit wegen SSRI → Therapie mit niedrigpotenten. Neuroleptikum → EPNW → Verschreibung von L-Dopa).
Generell gilt, dass unmittelbar symptomlindernde Medikamente (Psyche / Verhaltensstörungen, Schmerz, Atemnot) in der Palliativsituation einen höheren Stellenwert haben als Medikamente, deren Indikation primär in einer allgemeinen statistischen Prognoseverbesserung z.B. bezüglich Mortalität besteht, ohne aber unmittelbar funktionsverbessernd oder symptomlindernd zu wirken. So stellt zwar eine möglichst frühzeitige medikamentöse Einstellung der kardiovaskulären Risikofaktoren (arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Dyslipidämie) eine hoch wirksame primäre Demenzprävention dar, deren Nutzen bei Gebrechlichkeit und fortgeschrittener Demenz aber sehr fraglich ist.

Klinischer Verlauf der fortgeschrittenen Demenz

Die Demenz ist eine neurodegenerative Krankheit, deren Verlauf ähnlich wie z.B. bei einer Parkinsonkrankheit oder einer Amyotrophen Lateralsklerose letztlich nicht aufzuhalten ist. Im Stadium einer fortgeschrittenen Demenz haben fast alle Betroffenen in irgendeiner Form Probleme mit der Ernährung und es kommt mit zunehmender Häufigkeit zu Infektionen (Lungenentzündungen, Harnwegsinfektionen). Die Komplikationen führen in absehbarer Zeit zum Tod. Deshalb sollte z.B. bei rezidivierenden Lungenentzündungen im Endstadium einer Demenz die Durchführung einer Antibiotikatherapie nicht die Regel sein (4). Die Antibiotikagabe ist für eine effektive Symptomlinderung (z.B. Therapie einer allfälligen Dyspnoe) unnötig und verlängert zudem nur bei einer Minderheit dieser Patienten das Leben.
Studien zeigen, dass ab dem Stadium, in dem nur noch eine minimale verbale Kommunikation möglich ist, und gleichzeitig eine vollständige Pflegebedürftigkeit besteht, ein Viertel der Patienten in den folgenden sechs Monaten und fast die Hälfte im folgenden Jahr versterben werden (Tab. 1) (5).

Nahrungsaufnahme bei fortgeschrittener Demenz

Bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz sollte mindestens einmal monatlich eine Gewichtsbestimmung durchgeführt werden. Zeigt sich ein Abfall der Gewichtskurve, sollte als erster Schritt nach behandelbaren resp. korrigierbaren Ursachen einer Mangelernährung geforscht werden.
Die Untersuchung des Mund-Rachenraumes erlaubt es, einen Soor oder einen Zahnabszess auszuschliessen. Zeigt sich ein stark sanierungsbedürftiges oder kariöses Eigengebiss oder auch eine schlecht sitzende Prothese, ist der Patient einem Zahnarzt zuzuführen. Auf jeden Fall soll sich der Arzt auch persönlich ein Bild vom Essensvorgang bei dem betroffenen Patienten machen. Gelegentlich können dabei kognitiv bedingte Probleme der Nahrungsaufnahme festgestellt werden, indem Menschen mit Demenz die Speisen nicht mehr als solche erkennen, stattdessen auf der Serviette herumkauen oder die Nahrung im Mund hin und herschieben. Speichelseen im Mundvorhof oder Rachen sind Hinweis auf eine Schluckstörung, Husten oder Räuspern nach erfolgtem Schluckakt sind Hinweise auf eine Aspiration.
In manchen Fällen sind aber eingeschränkte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahmen durch ein allgemeines Erlöschen der Lebenskräfte und des Lebenswillens im Rahmen der weit fortgeschrittenen Demenz bedingt. Oft verhalten sich solche Patienten beim Nahrungsangebot zunehmend unwillig und drehen den Kopf weg. Keinesfalls darf in solchen Situationen Druck oder Zwang ausgeübt werden z.B. durch Einführen des Löffels in den Mund gegen den Widerstand des Patienten. Nahrung und Flüssigkeit sollen aber immer wieder in unterschiedlicher Form und zu verschiedenen Tageszeiten angeboten werden.
Die Anlage einer PEG-Sonde bei einer fortgeschrittenen Demenz ist kontraindiziert. Diese kann die Nahrungsaufnahme in diesem Stadium nicht verbessern und führt zu keiner Verlängerung der Überlebenszeit. Dagegen sind die Nebenwirkungen (z.B. Aufstossen der zugeführten Nahrung, Gestörtsein durch die Sonde) erheblich. Sie können die Lebensqualität der Patienten schwer beeinträchtigen und führen zu einer erhöhten Deliranfälligkeit (Tab. 2).

Prof. Dr. med. Reto W. Kressig

Ärztlicher Direktor & Klinischer Professor für Geriatrie
Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER & Universität Basel
Burgfelderstrasse 101
4002 Basel

RetoW.Kressig@felixplatter.ch

PD Dr. med.Georg Bosshard

Klinik für Geriatrie
Universitäts Spital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

georg.bosshard@usz.ch

Der Autor hat im Zusammenhang mit diesem Beitrag keine Interessenkonflikte deklariert.

  • Bei Menschen mit Demenz ist aufgrund der kognitiven Einschränkungen und wegen einer oft fehlenden Krankheitseinsicht die Anamnese nicht zielführend (falsch negative Anamnese). Deshalb sollte immer eine ergänzende Fremdanamnese bei einer Betreuungsperson, idealerweise einer erfahrenen Pflegefachperson, eingeholt werden.
  • Medizinische Entscheidungen bei Demenzpatienten sind hoch individuell. Meist steht bei der leichten und mittelschweren Demenz die möglichst lange Erhaltung der Funktionalität im Vordergrund. Mit weiter fortschreitendem Krankheitsverlauf wird die Symptomlinderung immer wichtiger.
  • Die fortgeschrittene Demenz führt fast immer zu Störungen der Ernährung und es kommt gehäuft zu rezidivierenden Infektionen, z.B. Pneumonien. Im letzteren Fall sollte eine Antibiotikatherapie nicht die Regel sein.
  • Eine PEG-Sonde bei Demenz im Endstadium ist kontraindiziert: Sie wirkt nicht lebensverlängernd, führt zu keinem Benefit betreffend Lebensqualität oder Infektvermeidung, geht aber einher mit vermehrter Dekubitusneigung und vermehrter Deliranfälligkeit.

Literatur:
1. Van den Block L et al. Comparing palliative care in care homes across EUROPE (PACE): protocol of a cross-sectional study of deceased residents in 6 European countries. JAMDA 2016;17,566.e1-566.e7.
2. Young Y et al. Factors Associated with Potentially Preventable Hospitalization in Nursing Home Residents in New York State: A Survey of Directors of Nursing. J Am Geriatr Soc 2010;58:901–907.
3. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizinethische Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz (2017). https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
4. Van der Steen JT et al. White paper defining optimal palliative care in older people with dementia: a Delphi study and recommendations from the European Association for Palliative Care. Palliat Med. 2014; 28:197-209.
5. Mitchell SL et al. The clinical course of advanced dementia. N Engl J Med 2009; 361:1529-1538.
6. Finucance T.E., Christmas C., Travis K. Tube feeding in patients with advanced dementia: A review of the evidence. JAMA. 1999;282:1365–1370.
7. Sampson EL et al. Enteral tube feeding for older people with advanced dementia. Cochrane Database Syst Rev 2009;2:CD007209.

Aspirin ohne Nutzen, aber Schaden

Aspirin hat aufgrund seiner entzündungshemmenden und antithrombotischen Wirkung einen festen Platz in der Sekundärprävention von kardiovaskulären Ereignissen. Den heutigen Stellenwert in der Primärprävention zu klären, war Ziel mehrerer kürzlich veröffentlichter Studien.

Nachdem in grossen Studien zur Primärprävention, wie z.B. der Physicians’ Health Study und der Women’s Health Study, ein gewisser kardiovaskulärer Nutzen aufgewiesen werden konnte, avancierte Aspirin zu einer der weltweit meistgebrauchten Substanzen in dieser Indikation, wenn auch schon von allem Anfang an klar war, dass die Substanz mit einem erhöhten Blutungsrisiko einhergeht. Die ersten Studien erfolgten zu einer Zeit, als Rauchen noch häufiger war, die Blutdruckeinstellung oft suboptimal und eine aggressive Lipidkontrolle selten. Verschiedene Studien hatten jetzt zum Ziel, den Stellenwert von Aspirin in der Primärprävention in der aktuellen Zeit zu überprüfen. Die ASCEND Studie untersuchte 15480 Patienten mit Diabetes, die ARRIVE Studie 12546 Hoch-
risikopatienten ohne Diabetes und die ASPREE Studie 19114 Menschen ab 70 Jahre.
In der ASCEND Studie war eine Senkung von vaskulären Ereignissen um 12% durch eine Steigerung von relevanten Blutungen um 29% kontrastiert bei unbeeinflusster Gesamtmortalität.
In der ARRIVE Studie blieb der primäre kombinierte Endpunkt unbeeinflusst, jedoch war die Rate an gastrointestinalen Blutungen unter Aspirin signifikant doppelt so hoch, wie unter Plazebo bei unbeeinflusster Gesamtsterblichkeit.
In der ASPREE Studie blieben alle in separaten Artikeln publizierten Endpunkte wie Behinderungs-freies Überleben und kardiovaskuläre Ereignisse unbeeinflusst und die Gesamtmortalität fiel unter Aspirin sogar höher aus als unter Plazebo, hauptsächlich auf Kosten von häufigeren Karzinomen, ein Resultat, das zu allen anderen Interventionsstudien mit Aspirin im Widerspruch steht und laut Autoren entsprechend vorsichtig interpretiert werden soll. Auch in dieser Studie wurde ein erhöhtes Blutungsrisiko beobachtet, signifikant um 39%.
In seinem Editorial vergleicht der Autor Paul Ridker diese Studie mit aktuellen Statin-Studien. Bei Studien zur Primärprävention zeigten diese konsistent eine Reduktion des Risikos für grosse vaskuläre Ereignisse um 25% pro 1 mmol/l Senkung (38,7 mg/dl) von LDL-Cholesterin bei beachtlichem Sicherheitsprofil insbesondere ohne Blutungsrisiko. Er kommt zum Schluss, dass neben Einhaltung einer gesunden Kost, körperlicher Bewegung und Verzicht auf Rauchen in der heutigen Zeit die beste Strategie für den Einsatz von Aspirin in der Primärprävention dessen Ersatz durch ein Statin sei.

Quelle:
The ASCEND Study Collaborative Group. Effects of aspirin for primary prevention in persons with diabetes mellitus. N Engl J Med 2018;379:1529-1539.
Gaziano JM et al. Use of aspirin to reduce risk of initial vascular events in patients at moderate risk of cardiovascular disease (ARRIVE): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2018 August 24 (Epub ahead of print).
McNeil JJ et al. Effect of aspirin on disability-free survival in the healthy elderly. N Engl J Med 2018;379:1499-1508.
McNeil JJ et al. Effect of aspirin on cardiovascular events and bleeding in the healthy elderly. N Engl J Med 2018;379:1509-1518.
McNeil JJ et al. Effect of aspirin on all-cause mortality in the healthy elderly. N Engl J Med 2018;379:1519-1528.
Ridker PM. Should Aspirin Be Used for Primary Prevention in the Post-Statin Era? N Engl J Med 2018; 379:1572-1574

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Enuresis

Viele Kinder und Jugendliche leiden unter einer Enuresis. Die emotionale Belastung, die psychischen, sozialen und ökonomischen Folgen können erheblich sein. Es braucht das entsprechende Wissen, Einfühlungsvermögen und etwas Zeit, um entscheidende Verbesserungen zu erzielen. In diesem Artikel werden die Grundlagen vermittelt, die einzelnen Abklärungsschritte sowie die therapeutischen Möglichkeiten in der Praxis skizziert, aber auch die Grenzen sowie die Differentialdiag-
nose aufgezeigt.

Das Einnässen im Kindes- und Jugendalter bezeichnet man als Harninkontinenz. Die diesbezügliche Terminologie wurde von der ICCS (International Children’s Continence Society) standardisiert (1,2). Dementsprechend ist eine intermittierende Harninkontinenz im Schlaf eine Enuresis und ein Einnässen am Tag eine funktionelle Harninkontinenz. Dies gilt für Kinder, welche älter als
5 Jahre alt sind und keine organische Ursache für das Einnässen haben (Abb. 1). Der Begriff Enuresis diurna wird nicht mehr angewendet.
Nässt ein Betroffener seit jeher ein, ist die Enuresis primär, bestand ein Intervall mit Trockenheit von mehr als 6 Monaten, so wird sie als sekundär bezeichnet. Bei Kindern mit einer monosymptomatischen Form ist die Enuresis isoliert, bei den nicht monosymptomatischen bestehen zusätzlich Symptome einer Blasendysfunktion (3).
Aus diesen Definitionen ergeben sich folgende vier Formen der Enuresis:

1. primär monosymptomatisch
2. primär nicht monosymptomatisch
3. sekundär monosymptomatisch
4. sekundär nicht monosymptomatisch

Monosymptomatische Enuresis

Sowohl bei den primären als auch bei den sekundären Formen besteht eine familiäre Häufung mit autosomal dominantem Erbgang, hoher Penetranz und Beteiligung von diversen Genen (ENUR-1-Gen, Gene auf Chromosom, 13, 12 und 22). Ist ein Elternteil betroffen, ist das Wiederholungsrisiko 44%, haben beide eingenässt, so liegt es bei 77% (4).
In der vielfältigen, nicht vollständig geklärten Pathogenese werden folgende Aspekte als wesentlich angesehen:

  • Schwere Weckbarkeit (Arousalstörung) und Unfähigkeit bei voller Blase aufzuwachen
  • Mangelnde zentrale Inhibition des Detrusors in der Nacht
  • Nächtliche Polyurie (5)

Nicht monosymptomatische Enuresis nocturna

Betroffene mit dieser Störung haben ein Einnässen im Schlaf und Symptome tagsüber wie imperativer Harndrang, kleine Blasenkapazität, habitueller Miktionsaufschub, auffälliger Harnstrahl, Staccato-Miktion; häufig ohne Einnässen. Diese von den Eltern meist als zweitrangig beurteilten Symptome werden selten spontan erwähnt, was fälschlicherweise zur Diagnose monosymptomatische Enuresis mit der Gefahr von therapeutischen Misserfolgen führt (6). Besteht ausserdem ein Einnässen tags, erhalten die Betroffenen zusätzlich die Diagnose funktionelle Harninkontinenz. Kinder mit dieser Problematik sollten nur von erfahrenen Grundversorgern betreut oder in entsprechende Zentren überwiesen werden.

Diagnostik

Die Diagnostik soll Kinder mit Enuresis erfassen, ohne eine organische Störung, eine funktionelle Harninkontinenz oder Komorbiditäten zu verpassen (Tab. 1).

Folgende fünf Aspekte sind bedeutsam:

  • Harninkontinenz (vorhanden/nicht vorhanden, Frequenz, Ausmass)
  • imperativer Harndrang
  • Miktionsfrequenz, Harnstrahl
  • Miktionsvolumina
  • Trinkmenge und Trinkverhalten.

Zeitaufwändig ist die Anamnese, welche aufgrund der teilweise schambehafteten Themen einfühlsam und sinnvollerweise mittels eines Fragebogens und eines persönlichen Gespräches erhoben wird. Bereits ab der ersten Konsultation ist die grösste Herausforderung der Aufbau einer empathischen, vertrauensvollen Beziehung und das Fördern sowie die Aufrechterhaltung der Motivation der Betroffenen bei den aufwändigen und teilweise langwierigen Abklärungen und Therapien. Sinnvoll ist, wenn sich jeder Grundversorger ein eigenes, für ihn und seine Patienten passendes Betreuungskonzept aufbaut. Es folgt eine behutsame, kindgerechte körperliche Untersuchung inklusive Anus und Genitale, LWS, Os sacrum sowie der unteren Extremitäten mit Erfassung von Asymmetrien sowie Muskeleigenreflexe, Zehenspitzen- und Fersengang. Ein Urinstatus ergänzt die Abklärung, Blutuntersuchungen sind nicht notwendig.
Die Sonographie der Nieren und Harnwege mit Bestimmung von Blasenwanddicke und Restharn kann bei einer monosymptomatischen Enuresis weggelassen und bei Therapieversagen allenfalls nachgeholt werden. Trink- und Miktionsprotokolle werden von Kind und Eltern angefertigt. Entsprechende Anamnesebögen und Protokolle findet man im Internet (3).
Bestehen bei diesen Untersuchungen Hinweise auf eine organische Ursache oder eine nicht monosymptomatische Enuresis, so ist – bei fehlender diesbezüglicher Erfahrung – eine Überweisung an ein Zentrum sinnvoll.

Therapie

Die Unterscheidung in primäre und sekundäre Enuresis ist wichtig, da bei der sekundären Form psychische Faktoren ursächlich eine grössere Rolle spielen. Therapeutisch geht man beide gleich an. Da viele Kinder als Folge der Enuresis psychische Symptome wie niedriges Selbstwertgefühl, Traurigkeit, unglücklich Sein, Schuld- sowie Insuffizienzgefühle entwickeln, soll ihnen ab dem Alter von 6 Jahren eine Therapie angeboten werden. Nicht zu vernachlässigen ist auch: das Leben mit Enuresis kann die Lebensqualität der ganzen Familie erheblich beeinträchtigen (7).
Bei jüngeren Kindern steht an erster Stelle Aufklärung, Entlastung und Begleitung sowie das Verhindern von ungünstigen Verhaltensweisen. Vermeiden sollte man die Aussage, es werde sich auswachsen.

Im Gespräch zur Therapieplanung sollen folgende Fragen beantwortet werden:
1. Was ist normal?
2. Was ist im individuellen Fall gestört?
3. Was ist nicht effektiv?
4. Was kann man tun?

Unter Punkt 1 werden die Blasenfunktion als Reifungsprozess dargestellt, die Häufigkeit der Enuresis in der Bevölkerung und die Familiarität aufgezeigt. Blasenfüllungsphase, restharnfreie Entleerung, normale Miktionsfrequenz, das erwartete Miktionsvolumen sowie die verschiedenen pathogenetischen Faktoren in der Entstehung der Enuresis werden besprochen. „Niemand trägt Schuld am Problem des Kindes“ ist dabei eine wichtige Aussage.
Was im individuellen Fall gestört ist, kann man aufgrund der Protokolle sowie der Anamnese erklären: z.B. nächtliche Polyurie, kleine Blasenkapazität (Tab. 2).
Alle nicht effektiven Massnahmen wie Wecken des Kindes während der Nacht, extreme Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr, Diäten, tragen von Windeln (Ausnahme: zu grosse familiäre Belastung) sollen gestoppt werden.
Jetzt folgt das Aufzeigen der bei der Enuresis als wirksam beschriebenen therapeutischen Optionen: Urotherapie, apparative Verhaltenstherapie (Weckgerät) sowie die Gabe von Desmopressin.
Die apparative Verhaltenstherapie wird eher bei Kindern mit kleinerer Blasenkapazität und Desmopressin bei Kindern mit einer nächtlichen Polyurie angewendet. Den Betroffenen können aber beide Verfahren zur Wahl angeboten werden. Sollte eine Therapie nicht wirken, so wechselt man pragmatisch auf die andere. Kombinationen können sinnvoll sein, dazu ist aber eine weiterführende Abklärung und gegebenenfalls Betreuung an einem Zentrum sinnvoll.

Urotherapie

Diese Therapie beinhaltet das Ausfüllen von Protokollen, die Instruktion zu einem optimalen Trink- und Essverhalten, das Aufzeigen eines guten Miktionsverhaltens mit guter Sitzposition auf dem WC, regelmässigen Miktionen, die Anleitung zu einer regelmässigen Darmentleerung und die Therapie einer etwaigen Obstipation. Dabei ist die Begleitung von Eltern und Kind mit regelmässigen, initial engmaschigen Kontakten sehr wichtig (8).

Apparative Verhaltenstherapie

Bei motivierten Kindern und Eltern ist die apparative Verhaltenstherapie (8) mittels eines Weckgerätes (mit Klingelton und/oder Vibration) vor allem bei Kindern mit einer normalen oder leicht verminderten Blasenkapazität und ohne nächtliche Polyurie die Therapie der Wahl mit den besten Langzeitresultaten (12). Ein Weckgerät kann aber eine Belastung für die ganze Familie sein. Eine ausführliche Beratung und Demonstration des Gerätes ist deshalb unumgänglich. Der Familie muss klar sein: eine solche Therapie dauert im Durchschnitt 2-3 Monate.

Desmopressin

Als Analogon von Arginin-Vasopressin reduziert Desmopressin die nächtliche Urinmenge (8). Indiziert ist es bei therapieresistenten Formen der Enuresis, bei nächtlicher Polyurie sowie bei der Notwendigkeit von kurzfristigem Trockenwerden (z.B. vor Schulausflügen etc.). Ebenso können die fehlende Motivation für eine apparative Verhaltenstherapie oder die Unmöglichkeit der Durchführung derjenigen als Therapiegrund gelten. Für die Indikation Enuresis sind eine Tablettenform und eine Schmelztablette (Melt) zugelassen. Bei Einhaltung entsprechender Vorsichtsmassnahmen – 2 h vor dem Schlafengehen möglichst nichts mehr trinken – ist Desmopressin in der Anwendung sicher. Der primäre Behandlungserfolg ist gross, wird das Medikament aber abrupt abgesetzt, kommt es sehr häufig zu Rezidiven. Der langfristige Erfolg liegt bei 18 – 38%. Eine schrittweise Dosisreduktion über mehrere Wochen kann zu besseren Langzeitresultaten führen (Tab. 3) (9).

Andere Therapien?

Bei der monosymptomatischen Enuresis ist weder der Einsatz von Anticholinergika noch von trizyklischen Antidepressiva gerechtfertigt. Mit alternativen Therapieformen wie Hypnose, die als unterstützende Massnahme angepriesen wird, Homöopathie, Phytotherapie, Kinesiologie etc. haben wir keine persönlichen Erfahrungen.

Dr. med. Regula Laux

Stiftung Ostschweizer Kinderspital, Pädiatrische Klinik
Leiterin Nephrologie
Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen

regula.laux@kispisg.ch

Die Autorin hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Bei Betroffenen mit Harninkontinenz ist es eminent wichtig, die richtige Diagnose zu stellen, da dies auf die Therapie eine entscheidende Auswirkung hat
  • Eine monosymptomatische Enuresis nocturna kann mit Einsatz von etwas Zeit und Wissen durch einen Grundversorger betreut werden
  • Bei der monosymptomatischen Enuresis nocturna ist eine spezifische Therapie ab 6 Jahren indiziert
  • Eine monosymptomatische Enuresis wird mit einer Urotherapie sowie je nach Situation entweder mit einer apparativen Verhaltenstherapie oder Desmopressin behandelt.

Literaturverzeichnis
1. Austin P, Bauer S, Bower W, Chase J, Franco I, Hoebeke P, Rittig S, VandeWalle J, von Gontard A, Wright A, Yang S, Neveus T. The Standardization of Terminology of Lower Urinary Tract Function in Children and Adolescents: Update Report from the Standardization Committee of the International Children’s Continence Society (ICCS). J Urol 2014;191:1863-1865
2. Nevéus T. The new International Children’s Contience Society’s terminology for the paediatric lower urinary tract – why it has been set up and why we should use it. Pediatr Nephrol 2008; 33: 1931-2
3. Definition Enuresis nocturna. S2k-Leitlinie 028/026: Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen aktueller Stand: 12/2015
4. Von Gontard A, Schaumburg H, Hollmann E, Eiberg H, Rittig S. The Genetics of Enuresis: a review. J Urol 2001; 166(6):2438-43.
5. Rittig S, Knudsen UB, Norgaard JP, Pedersen EB, Djurhuus JC. Abnormal diurnal rhythm of plasma vasopressin and urinary output in patients with enuresis. Am J Physiol 1989; 256 (4Pt2): F664-71
6. Rittig N, Hagstroem S, Mahler B, Kamperis K, Siggard C, Mikkelsen MM, Bower WF, Djurhuus JC, Rittig S. Outcome of a standardized approach to childhood urinary symptoms-long-term follow-up of 720 patients. Neurourol Urodyn 2014; 33(5):475-81
7. Von Gontard A, Baeyens D, Van Hoecke E, Warzak W, Bachmann C. Psychological and psychiatric issues in urinary and fecal incontinence. J Urol 2011; 185:1432-1437
8. Neveus T, Eggert P, Evans J, Macedo A, Rittig S, Tekgül S, Vande Walle J, Yeung CK, Robson L. Evaluation and treatment for monosymptomatic enuresis: a standardization document from the International Children’s Continence Society. J Urol 2010; 183: 441-447
9. Glazener CM, Evans JHC. Desmopressin for nocturnal enuresis in children. Cochrane Database Syst Rev 2002;(3):CD00211

Tinnitus - häufig und schwer zu erfassen

Tinnitus ist ein häufiges Symptom, das für viele Ärzte nicht richtig fassbar ist. Dieser Artikel soll Klarheit über die Entstehungsmechanismen und die aktuellen Behandlungsmöglichkeiten eines Ohrgeräusches liefern.

Risikofaktoren und Epidemiologie

Der Hauptrisikofaktor für die Entstehung eines Ohrgeräusches ist eine Hörminderung. Diese kann vorübergehend oder permanent sein. Aufgrund der Presbyakusis findet sich die höchste Prävalenz für Tinnitus in der älteren Bevölkerung ab einem Alter von etwa 60 Jahren (1). Neben der altersbedingten Schwerhörigkeit sind auch akute oder chronische Lärmbelastungen ein wichtiger Faktor. Interessanterweise sind mehr Männer als Frauen betroffen (2, 3). Tinnitus kann plötzlich auftreten, etwa in Zusammenhang mit einem Hörsturz oder einen langsamen, schleichenden Verlauf nehmen, wenn der Hörverlust über Jahre progredient ist. Weitere, einfach messbare Risikofaktoren für Tinnitus sind trotz umfangreicher Untersuchungen nicht zu ermitteln. Vielfach konnte allerdings bestätigt werden, dass eine vorhandene Depression einen erheblich höheren Leidensdruck bei zusätzlich vorhandenem Tinnitus bewirkt (4, 5). Ein Zusammenhang mit Rauchen, Alkoholkonsum, Übergewicht, Schädeltraumen oder Bluthochdruck wird vermutet (6).
Ototoxische Medikamente, wie Aminoglykosid-Antibiotika, platinhaltige Chemotherapeutika oder Salicylate, können neben einem Hörverlust auch einen Tinnitus bedingen. Eine genetische Prädisposition für bestimmte Formen von Tinnitus wird angenommen, ist aber derzeit noch Gegenstand wissenschaftlicher Überprüfung (7-10).
Die in der Literatur angegebene Zahl der von Tinnitus betroffenen Menschen hat eine sehr grosse Bandbreite. Einige Studien gehen davon aus, dass etwa 10 – 25% aller Erwachsenen von Tinnitus betroffen sind (11-14).
Andere Studien zeigen jedoch das bis zu 80% aller Erwachsenen bereits Erfahrung mit einer Form von Tinnitus gemacht haben (7, 15). Die Prävalenz des dekompensierten Tinnitus schwankt zwischen 1 und 15% (11-13, 16).

Pathophysiologie

Die Pathophysiologie von subjektivem Tinnitus ist heterogen und erklärt somit die verschiedenen Ausprägungen und Unterschiede in der individuellen Betroffenheit. Ein gemeinsames Grundmodell scheint aber den verschiedenen Formen zugrunde zu liegen. Demnach führt Hörverlust zu veränderter elektrophysiologischer Aktivität im auditorischen Kortex. Der verminderte Input aus der Peripherie führt zu einer Neuorganisation des auditorischen Kortex im Sinne einer Kompensationsreaktion. Daraus resultiert eine kontinuierliche Überaktivität auch in ruhigen Situationen. Durch Vernetzung des auditorischen Kortex mit anderen Zentren des Gehirns, welche für Aufmerksamkeit und Bewusstsein (dorsolateraler präfrontaler und parietaler Kortex), Emotion (Amygdala), Stress (Amygdala) und Gedächtnis (Amygdala und Hippocampus) verantwortlich sind, kommt es zur bewussten Wahrnehmung von Tinnitus (siehe Abbildung). Je nach Konfiguration des Netzwerkes lassen sich so auch die unterschiedlichen Belastungsformen durch Tinnitus erklären. Leider lassen sich die bisher gewonnenen Erkenntnisse über die Pathophysiologie von Tinnitus (noch) nicht für eine bessere Phänotypisierung des einzelnen Betroffenen in der Praxis anwenden.

Vorgehen bei Patienten mit Tinnitus – Abklärungen

Sollte ein Tinnitus über mehrere Tage bestehen, so ist eine Abklärung sinnvoll. An erster Stelle steht die Ohrinspektion mittels Otoskop oder Ohrmikroskop. Hier können mögliche zugrundeliegende Ursachen, wie akute oder chronische Infekte (Otitis media oder externa) oder obstruierendes Cerumen erkannt oder ausgeschlossen werden. Ebenso wichtig ist die Erfragung der Umstände, unter denen das Ohrgeräusch aufgetreten ist. Der Zeitverlauf (akut bis 3 Monate vs. chronisch) ist ein wichtiger Faktor für eine mögliche Therapie-Entscheidung. Auch die Qualität des Tinnitus, ein möglicher pulsatiler Charakter, sowie ein begleitender Hörverlust und Schwindel können wichtige Hinweise liefern. Bei längerer Persistenz, bzw. entsprechendem Verdacht ist dann die audiologische Testung der Ohren mittels Tonaudiometrie angezeigt. Eine asymmetrische Hörkurve mit gleichzeitigem Tinnitus auf der schlechteren Seite, sollte Anlass für eine Bildgebung mittels MRI des Felsenbeines zum Ausschluss einer intra- oder retrocochleären Pathologie (z.B. Schwannom) geben (17, 18). Bei pulssynchronem Tinnitus würde eine zusätzliche Magnetresonanz-Angiographie (MRA) zur Abklärung einer Gefässveränderung (Stenose, atypischer Verlauf, Glomustumor, sinudurale arteriovenöse-Fistel, knöcherne Dehsizenz, Gefässnerven-Konflikt) ergänzt werden.
Bei chronischem Verlauf können validierte Fragebögen zur Erfassung des subjektiven Leidensdrucks und Schweregrades des Tinnitus eingesetzt werden (19).

Therapie

Bei der Wahl der geeigneten Therapie orientiert man sich an der Zeitdauer des Tinnitus (akut vs. chronisch). Von den im Folgenden erwähnten Therapieformen kommen beim akuten Tinnitus der Psychoedukation/Counseling und der Pharmakotherapie eine besondere Bedeutung zu, wohingegen die anderen dargestellten Formen mehr der chronischen Verlaufsform vorbehalten sind.

Psychoedukation/Counseling
Eine klärende, psychoedukative Erläuterung (typischerweise als «Counseling» bezeichnet) wird als grundlegende Komponente jeglicher Tinnitus-Therapie empfohlen (19, 20). Eine verständliche und verständnisvolle Aufklärung über die grundsätzlich gutartige Natur des idiopathischen Tinnitus und seine Entstehungs-Mechanismen ist in vielen Fällen völlig ausreichend. In erster Linie ist Tinnitus ein Symptom und nicht eine Erkrankung. Oben beschriebene Veränderungen im MRI sind äusserst selten und sollten sicherlich kein Gegenstand eines ersten beratenden Gespräches sein. Die erste Beratung stellt häufig die Grundlage für eine erfolgreiche Etablierung konstruktiver Kompensations- und Habituationsmechanismen dar. Daneben gilt es insbesondere bei wiederholten Beratungen auf den in aller Regel günstigen Verlauf hinzuweisen. Hierbei ist allerdings wichtig festzuhalten, dass für die meisten Formen von Tinnitus eine kausale Therapie (im Sinne einer Auslöschung der Tinnitus-Wahrnehmung) nicht existiert und, dass ein erfolgreicher Verlauf einer Therapie einen günstigen Umgang mit dem Tinnitus ohne Beeinträchtigung der Lebensqualität bedeutet.

Otologisch-audiologische Therapie
Sollte eine verbesserungswürdige Schwerhörigkeit vorliegen, so sollten entsprechende Massnahmen ergriffen werden. Dies kann je nach Ätiologie des Hörverlustes eine Hörgeräteversorgung (z.B. sensorineurale Schwerhörigkeit) oder auch eine operative Massnahme sein (z.B. Stapesplastik bei Otosklerose). Der positive Effekt auf den Tinnitus kommt hier durch die Maskierung zentraler Vorgänge durch ein verbessertes peripheres Gehör zustande. Bei vollständiger Taubheit kann die Versorgung mit Cochlea-Implantaten im Einzelfall eine hochwirksame Therapieform darstellen.
Um eine De-Fokussierung weg von dem durch die Betroffenen als störend empfundenen Tinnitus zu erzielen, ist in manchen Fällen eine auditorische Stimulation hilfreich. Konkret wird den Patienten empfohlen mittels einer natürlichen oder artifiziellen Schallquelle (Musik, Zimmerbrunnen, offenes Fenster, Rauschgenerator, Smartphone-App) ein Geräusch zu erzeugen, welches vom Tinnitus ablenkt. Dies soll verhindern, dass Patienten, welche sich zum Beispiel beim Einschlafen nicht vom Tinnitus in der für sie erforderlichen Art und Weise distanzieren können, zu sehr auf das Geräusch fixieren.

Kognitive Verhaltenstherapie
Der Goldstandard in der Therapie des chronischen dekompensierten Tinnitus ist die kognitive Verhaltenstherapie (CBT). Bei einem dekompensierten Tinnitus liegen neben dem Tinnitus psychische Komorbiditäten (z.B. Angststörung, Depression) vor, die das Erleben des Tinnitus negativ beeinflussen. Eine psychologisch-psychiatrische Mitbetreuung ist hier sicherlich sinnvoll. Bei schweren Verlaufsformen kann die gleichzeitige psychopharmakologische Therapie von Komorbiditäten wie Angst-, Schlaf- und depressiven Störungen zu einer schnelleren Verbesserung als durch die CBT alleine führen. Eine Kombination von psychotherapeutischen Verfahren (CBT, Entspannungsverfahren) mit akustischen Ablenkungsverfahren (z.B. Rauschgeneratoren, Hörgeräten) wird auch als Tinnitus Retraining Therapie (TRT) bezeichnet.

Pharmakotherapie des Tinnitus
Bisher kann in der Therapie des Tinnitus pharmakologisch kein alleiniger medikamentöser Behandlungsansatz als etablierte therapeutische Option betrachtet werden. Trotz der Untersuchung einer Vielzahl von Pharmaka existiert derzeit weder in Europa noch in den USA ein spezifisch für die Indikation Tinnitus zugelassenes Medikament (21). Insbesondere bei akutem Tinnitus wird dennoch in manchen Fällen ein pharmakologischer Ansatz gewählt. Dies geschieht hinsichtlich der Annahme, dass ein akut aufgetretenes Ohrgeräusch auch als eine akute Funktionsstörung des Innenohres interpretiert werden kann. Vor diesem Hintergrund wird in manchen Fällen ein orales oder intratympanal appliziertes Steroid empfohlen. Eine Evidenz auf der Grundlage randomisierter Studien existiert allerdings für dieses Vorgehen nicht (22). Die Verabreichung von durchblutungsfördernden Medikamenten (z. B. Ginkgo, Pentoxiphyllin, Betahistin) ist angesichts fehlender Signifikanz in Studien und der Erkenntnisse über die pathophysiologischen Entstehungsmechanismen sehr umstritten (18, 22). Bei schwerwiegenden Verlaufsformen muss in manchen Fällen eine Pharmakotherapie zur Verbesserung von Begleiterkrankungen, wie etwa einer schweren Schlafstörung, Depression oder Angststörung, in Erwägung gezogen werden.

Somatosensorischer Tinnitus
Eine Sonderform des Tinnitus wird als «somatosensorischer Tinnitus“ bezeichnet. Bei dieser Form geht man davon aus, dass im Sinne des oben beschriebenen Tinnitus-Netzwerk-Konzeptes nicht nur eine Veränderung des auditorischen Inputs, sondern auch abnormale Aktivität von somatosensorischen Afferenzen (ausgehend vom Kiefergelenk und der HWS) einen bestehenden Tinnitus modulieren und in manchen Fällen vielleicht auch ursächlich induzieren kann. Sollte ein Zusammenhang aufgrund der Anamnese oder der Untersuchung (z.B. Modulation eines Tinnitus durch bestimmte Bewegungen im Kiefergelenk oder in den Kopfgelenken) bestehen, so sollte eine Abklärung im entsprechenden Bereich (Physiotherapie, Zahnheilkunde) in Erwägung gezogen werden. Möglichweise ergibt sich hieraus eine unterstützende Therapie.

Alternative Therapieformen
Da Tinnitus, wie oben beschrieben, nicht zu den Symptomen zählt, die nach Vorgehensweise der wissenschaftlich basierten Medizin in den meisten Fällen geheilt, also beseitigt werden können, finden manche Betroffene auch Zuflucht in alternativen Heilmethoden. Hierunter fallen Methoden wie die Akupunktur, Ayurveda, Homöopathie, verschiedene Formen der Musik- und Klangtherapie, Hypnotherapie, Kinesiologie, Lasertherapie, etc. Für die meisten dieser Ansätze existiert in der wissenschaftlichen Medizin keine geeignete Untersuchung, die einen Wirksamkeitsnachweis bei Tinnitus belegt oder die durchgeführten Studien ergaben ein negatives Ergebnis (23, 24). Für sämtliche dieser Methoden existieren Fallberichte von Betroffenen, die einen positiven Effekt der jeweiligen Technik beschreiben. Dies mag im Wesentlichen auf einem Placeboeffekt, suggestiven Wirkungen oder bisher nicht bekannten Beeinflussungen der komplexen Tinnitus-Pathophysiologie beruhen. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche Ansätze einen komplementären (ergänzenden) Aspekt zu den oben beschriebenen medizinisch-psychologischen Behandlungsmassnahmen haben können.

Experimentelle Therapieansätze
In den letzten 20 Jahren wurden, ausgehend von der Annahme, dass chronischer Tinnitus ein Phänomen ist, das aus einem komplexen Zusammenspiel und Aktivitätsveränderungen verschiedener Zentren des Gehirns hervorgeht, neuromodulatorische Therapieansätze entwickelt. Dabei werden unterschiedliche Ansätze verfolgt, die überwiegend nicht-invasiv versuchen, die elektrische Aktivität des Gehirns in den entsprechenden Regionen günstig zu beeinflussen (25). Neben der transkraniellen Magnetstimulation, der transkraniellen Elektrostimulation kommt auch die Methode des Neurofeedbacks zum Einsatz. Detaillierte Evaluationen der klinischen Wirksamkeit durch grosse randomisierte kontrollierte Studien stehen noch aus (25).
Auch unterschiedliche Formen der auditorischen Stimulation werden aktuell erprobt. Die Ansätze unterscheiden sich zum Teil diametral, so gibt es Verfahren, welche zum einen eine besondere Aktivierung in Bereichen der Tinnitus-Frequenz anstreben, während andere Therapieansätze die betroffene Frequenz aussparen und angrenzende Frequenzen stimulieren. Sämtliche dieser Techniken sind noch in der Erprobung, wenn auch für verschiedene Verfahren bereits kommerziell erwerbbare Systeme zur Verfügung stehen. Ein abschliessender Nachweis der Wirksamkeit in grösseren, randomisierten Studien steht noch aus, sodass hier keine generelle Empfehlung zum routinemässigen Einsatz gegeben werden kann.

Dr. med. Konrad Thoele

UniversitätsSpital Zürich, ORL-Klinik
Frauenklinikstrasse 24
8091 Zürich

Dr. med. Nicole Peter

UniversitätsSpital Zürich, ORL-Klinik
Frauenklinikstrasse 24
8091 Zürich

Prof. Dr. med. Tobias Kleinjung

UniversitätsSpital Zürich, ORL-Klinik
Frauenklinikstrasse 24
8091 Zürich

tobias.kleinjung@usz.ch

Es besteht kein Interessenskonflikt in Verbindung mit dem vorgelegten Manuskript.

  • Tinnitus ist ein sehr weitverbreitetes Phänomen, bei welchem in den meisten Fällen trotz initialer Beunruhigung kein längerfristiger Leidensdruck besteht
  • Für die meisten Formen existiert kein kausalorientierter Therapieansatz, der zu einem Verschwinden des Geräusches führt
  • Als wichtigste therapeutische Massnahmen kommen die individuelle Hörverbesserung, das Counseling und psychotherapeutische Interventionen zum Einsatz
  • Katastrophisierende Aussagen wie «Für Tinnitus gibt es keine Therapie» oder «Sie sollten sich damit abfinden» sind falsch und sollten in der Beratung von Betroffenen auf jeden Fall vermieden werden
  • Prävention im Sinne von Lärmschutz ist wichtig und kann im günstigsten Fall dazu beitragen, einen Schaden der Innenohrstrukturen mit konsekutiver Entwicklung eines Ohrgeräusches zu verhindern.

Literatur:
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3. Shargorodsky, J., G.C. Curhan, and W.R. Farwell, Prevalence and characteristics of tinnitus among US adults. Am J Med, 2010. 123(8): p. 711-8.
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6. Nondahl, D.M., et al., Tinnitus and its risk factors in the Beaver Dam offspring study. Int J Audiol, 2011. 50(5): p. 313-20.
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8. Jakes, S.C., et al., A factor analytical study of tinnitus complaint behaviour. Audiology, 1985. 24(3): p. 195-206.
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10. Tyler, R.S. and L.J. Baker, Difficulties experienced by tinnitus sufferers. J Speech Hear Disord, 1983. 48(2): p. 150-4.
11. Bhatt, J.M., H.W. Lin, and N. Bhattacharyya, Prevalence, Severity, Exposures, and Treatment Patterns of Tinnitus in the United States. JAMA Otolaryngol Head Neck Surg, 2016. 142(10): p. 959-965.
12. Coles, R.R., Epidemiology of tinnitus: (1) prevalence. J Laryngol Otol Suppl, 1984. 9: p. 7-15.
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20. Kreuzer, P.M., V. Vielsmeier, and B. Langguth, Chronischer Tinnitus – eine interdisziplinäre Herausforderung. Dtsch Arztebl Int 2013, 2013. 110(16): : p. 278–84.
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23. Kim, J.I., et al., Acupuncture for the treatment of tinnitus: a systematic review of randomized clinical trials. BMC Complement Altern Med, 2012. 12: p. 97.
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25. Peter, N. and T. Kleinjung, Neuromodulation for tinnitus treatment: an overview of invasive and non-invasive techniques. J Zhejiang Univ Sci B, 2018.

Therapeutische Optionen der Antikoagulation bei Herz-Kreislauferkrankungen

Seit Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer entscheidenden Entwicklung im Bereich der Antikoagulation und Antiaggregation: Einerseits wurden die direkten oralen Antikoagulantien eingeführt (DOAK), die zunehmend die konventionellen Antikoagulantien d.h. Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon, Acenocoumarol und Warfarin ersetzt haben und andererseits wurden neben Acetylsalicylsäure andere Thrombozytenaggregationshemmer entwickelt, die die Thrombozytenaggregationshemmung ergänzen. Die vorliegende Übersicht behandelt die wichtigsten kardiovaskulären Indikationen der oralen Antikoagulantien und praktische Hinweise für den Gebrauch der DOAKs im Alltag.

Traditionell wurden zur Blutverdünnung seit einigen Jahrzehnten orale Antikoagulantien verwendet wie Warfarin und die anderen Vitamin-K-Antagonisten, wie Phenoprocoumon und Acenocoumarol. Warfarin (Name in Anerkennung der Förderagentur «Wisconsin Alumni Research Foundation») ist seit 1954 in Gebrauch und stellte mehrere Jahrzehnte lang die einzige verfügbare orale Antikoagulationstherapie mit einem breiten Spektrum klinischer Indikationen dar.

Wirkmechanismus der Antikoagulantien

Die Aufrechterhaltung der Blutzirkulation wird durch einen homöostatischen Prozess gewährleistet, der durch ausgeglichene und entgegengesetzte Eigenschaften des Blutes selbst gekennzeichnet ist: proaggregatorische und antiaggregatorische Faktoren. Wenn proaggregatorische Faktoren dominieren, tritt eine Thrombusbildung auf. Dieser Prozess wird durch 13 Faktoren katalysiert, die sogenannten Koagulationsfaktoren, welche typischerweise mit römischen Zahlen bezeichnet werden. Viele davon werden von der Leber synthetisiert. Bei einem Teil der Faktoren wird Vitamin K zu deren posttranskriptioneller Modifikation benötigt.
Die Gerinnungskaskade wird auf zwei verschiedenen Wegen aktiviert: Der extrinsische Weg beginnt mit der Aktivierung von Faktor VII aus geschädigten Geweben oder Gefässen. Dieser wiederum aktiviert den Faktor X. Der intrinsische Weg beginnt mit der Aktivierung des Faktors XII, welcher bei Oberflächenkontakt mit negativer Ladung entsteht. Dieser Faktor aktiviert Faktor XI, der wiederum Faktor IX und schliesslich den Faktor X.
Beim Faktor X laufen die 2 Koagulationswege zusammen. Der aktivierte Faktor X transformiert das Prothrombin in Thrombin. Das Thrombin hat mehrere Funktionen, wie die Bildung von Fibrin aus Fibrinogen und die Thrombozytenaktivierung. Fibrin und aktivierte Thrombozyten zusammen sind für die Thrombusbildung verantwortlich (1).

Vitamin-K-Antagonisten beeinflussen die Bildung von Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren in der Leber wie Prothrombin (d.h. Faktor II), Faktoren VII, IX und X. Die Reaktion auf das Medikament ist von mehreren Variablen abhängig, wie genetische Voraussetzungen im Lebermetabolismus, Alter, Rasse, diätetische Aufnahme von Vitamin K (wie zum Beispiel Kohl, Spinat und Brokkoli) und der Interaktion mit anderen Medikamenten. Daher ist die Wirkung des Medikaments nicht einfach vorhersehbar und muss über den INR, der die Prothrombinzeit nach internationalem Referenz-Thromboplastin darstellt, überwacht werden. Die Wirkung von Warfarin kann durch Gabe von Vitamin K aufgehoben werden.
In der Schweiz werden Sintrom (Acenocoumarol; Halbwertszeit
8 bis 24 Stunden) und Marcoumar (Phenprocoumon, Halbwertszeit von 150 Stunden wegen der hohen Lipidlöslichkeit) verwendet. Die Metabolisierung dieser Medikamente erfolgt in der Leber; die Ausscheidung über Urin und Stuhl (1).
Direkte orale Antikoagulantien (DOAK). Neuartige Antikoagulantien wirken mit unterschiedlichen Mechanismen, indem sie das Thrombin (FIIa) oder den aktivierten Faktor X (FXa) direkt inhibieren. Es wurde gezeigt, dass diese Arzneimittel wirksam sind wie die Vitamin-K-Antagonisten mit einem vergleichbaren, wenn nicht leicht besseren Sicherheitsprofil, insbesondere beim Auftreten von schweren Blutungen. Die Wirkungen dieser Arzneimittel sind stabiler und daher muss die Wirkung auf die Gerinnungskaskade im Unterschied zu Warfarin nicht überwacht werden. Eine mögliche Einschränkung dieser Medikamente ist jedoch, dass mit Ausnahme von Dabigatran reversible Wirkstoffe im Alltag noch nicht zur Verfügung stehen. Tabelle 1 fasst die wichtigsten pharmakologischen Eigenschaften der neuen, direkten Antikoagulantien DOAK zusammen (1-4).
Dabigatran, das erste der DOAK, bindet und hemmt Thrombin und hemmt daher die Umwandlung von Fibrinogen in Fibrin. Das Medikament wird zweimal täglich in einer Dosierung von 150 mg oder 110 mg verabreicht. Die maximale Konzentration des Arzneimittels wird 1-2 Stunden nach oraler Einnahme erreicht, die Eliminationshalbwertszeit beträgt 12-17 Stunden. Der Abbau erfolgt zu 80% durch die Nieren. Ein Gegenmittel für Dabigatran ist verfügbar. Es ist ein monoklonaler Antikörper namens Idarucizumab, der Dabigatran bindet und dessen Wirkung antagonisiert.
Rivaroxaban ist ein oraler Inhibitor des aktivierten Faktor X. Dieses Medikament wird einmal täglich in einer Dosis von 20 mg oder 15 mg verabreicht. Nach oraler Aufnahme ist die maximale Konzentration nach 2-4 Stunden erreicht. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt etwa 5-9 Stunden bei jungen und 11-13 Stunden bei älteren Personen. Es wird weitgehend von der Leber eliminiert, daher sind Dosisanpassungen sowohl für Patienten mit eingeschränkter Nieren- als auch Leberfunktion erforderlich.
Apixaban ist ein oraler Inhibitor des aktivierten Faktor X. Die Dosierungsschemata sind 5 mg oder 2,5 mg zweimal täglich. Die maximale Plasmakonzentration wird nach 1-4 Stunden nach oraler Einnahme erreicht. Die Plasma-Halbwertszeit beträgt 12 Stunden. Die renale Clearance beträgt nur 27% und der Metabolismus hängt weitgehend von der Leber ab. Aus diesem Grund ist dieses Medikament auch bei eingeschränkter Nierenfunktion (Clearance Kreatinin > 15ml / min) zugelassen.
Edoxaban ist der letzte der oralen Inhibitoren des aktivierten Faktor X. Die Dosierung beträgt 60 oder 30 mg einmal täglich. Die maximale Plasmakonzentration wird nach 1-2 oralen Aufnahmen erreicht und die Eliminationshalbwertszeit beträgt 10-14 Stunden. Die renale Clearance beträgt 50%.

Praktische Informationen zu den DOAKs

Die Wahl der Antikoagulationstherapie sollte individuell angepasst werden mit Berücksichtigung von Alter, Gewicht und Nierenfunktion sowie der möglichen Wechselwirkung mit anderen Medikamenten. In Bezug auf DOAKs gibt es im Moment keine ausreichenden Beweise, um ein spezifisches Medikament vorzuziehen. Bisher verglichen alle Studien DOAKs mit VKA und es gibt keinen direkten Vergleich innerhalb dieser Gruppe. Patienten unter Antikoagulationstherapie sollten sorgfältig über den Nutzen und das potenzielle Risiko der Therapie informiert werden. Ebenfalls muss über die Modalitäten der Einnahme informiert werden (Rivaroxaban sollte mit Nahrung aufgenommen werden) und Informationskarten über Details der Therapie sollten dem Pateinten ausgestellt werden. Bei Therapiebeginn in Kombination mit einem Thrombozytenaggregationshemmer soll die Indikation eines Protonenpumpenhemmers evaluiert werden, um gastrointestinale Blutung zu vermeiden (2, 3). Die Nieren- und Leberfunktion sollte ebenfalls regelmässig getestet werden (halbjährlich oder jährlich, in Abhängigkeit vom Patienten), da eine Nieren- oder Lebererkrankung die Dosierung von Medikamenten beeinflussen kann. Der erste Follow-up wird in der Regel 1 Monat nach Therapiebeginn empfohlen, danach alle 6 Monate (2, 3).
Begleitmedikationen sollten immer auf mögliche Wechselwirkungen mit DOAKs überprüft werden. (Tab. 1) zeigt die häufigsten Arzneimittelwechselwirkungen mit DOAKs (2, 4).
Bei Ungewissheit über die Dosiseinnahme (Tablette vergessen) gelten folgende Empfehlungen: Bei einer zweimal täglichen Dosierung wird dem Patienten geraten, keine andere Tablette zu nehmen und bis zur nächsten geplanten Dosis zu warten. Bei einer einmal täglichen Therapie sollte die Empfehlung auf der Bewertung des thrombotischen und Blutungsrisikos basieren, im Falle eines hohen thrombotischen Risikos und eines geringen Blutungsrisikos sollte der Patient eine zusätzliche Tablette einnehmen, im umgekehrten Fall wird empfohlen, mit der Tabletteneinnahme bis zur nächsten geplanten Dosis zu warten .
Bei einer chronischen Nierenerkrankung sollten die Dosen gemäss Kompendium und (Tab. 1) reduziert werden.
Im Falle einer Blutung sollte sich der Patient sofort beim Hausarzt oder auf einer Notfallstation melden. Bei leichten Blutungen, kann ein Absetzen der Therapie ausreichend sein. Bei mittelschweren bis schweren oder lebensbedrohlichen Blutungen können intensivere Behandlungen einschliesslich unterstützender Massnahmen, wie mechanische Kompression, endoskopische oder chirurgische Hämostase, eventuelle Bluttransfusionen oder die Verwendung eines spezifischen Gegenmittels für Dabigatran erforderlich sein.
Im Falle einer geplanten Intervention sollte das Risiko einer Blutung unter Antikoagulationstherapie individuell und basierend auf dem spezifischen Blutungsrisiko des Verfahrens und der Kreatinin-Clearance (CrCl) des Patienten bewertet werden. Das präoperative «Bridging» mit Heparin oder Low-Molecular-Weight-Heparin wird nicht empfohlen. Eine Studie zeigte, dass bei Patienten mit Vorhofflimmern unter oraler Antikoagulationstherapie das Pausieren der Therapie im Vergleich zu einem Ersatz mit parenteraler Antikoagulation («Bridging») nicht unterlegen war in Bezug auf thromboembolische Ereignisse (5). Das Pausieren der Therapie verursacht weniger grosse Blutungen, mit der Folge einer besseren Sicherheit für den Patienten. Die Mehrzahl der kardiovaskulären Operationen wie perkutane Koronarintervention oder Schrittmacherimplantation kann unter Antikoagulationstherapie sicher durchgeführt werden. Für andere Operationen gelten die Empfehlungen der ESC Guidelines (Tab. 2) (2, 4).

Vorhofflimmern

Vorhofflimmern stellt den höchsten Risikofaktor für einen ischämischen Schlaganfall dar. Eine orale Antikoagulationstherapie wird in der Regel bei Patienten mit Vorhofflimmern empfohlen, um ischämische Schlaganfälle zu verhindern, die Vorteile sollten jedoch die potenziellen Risiken einer Blutung überwiegen. Daher empfehlen die Leitlinien der ESC von 2016 die Verwendung des CHA2DS2-VASc-Risikoscores zur Vorhersage des Schlaganfallrisikos (Tab. 3) (6). Dieser einfache Risiko-Score korreliert stark mit dem Ergebnis, wobei höhere Punktzahlen mit einem höheren Risiko für einen Schlaganfall einhergehen. Wenn der Risikoscore 0 (oder 1 für Frauen) ist, sollte keine Thrombozytenaggregationshemmer- oder Antikoagulantien-Therapie verabreicht werden. Falls der Risikoscore 1 (oder 2 bei Frauen) beträgt, kann die Antikoagulationstherapie in Betracht gezogen werden, und bei einem Risikoscore ≥ 2 bei Männern und ≥ 3 bei Frauen wird die Antikoagulationstherapie dringend empfohlen.
Wird die Indikation für eine Kardioversion des Vorhofflimmerns gestellt, kann diese Prozedur sicher durchgeführt werden, wenn die Arrhythmie weniger als 48 Stunden angedauert hat, bei Dauer über 48 Stunden besteht die Gefahr einer Thrombusbildung im linken Vorhof und aus diesem Grund sollte ein Antikoagulationsregime begonnen und für mindestens 3 Wochen vor der geplanten Kardioversion weitergeführt werden. Als Alternative können Patienten einer transösophagealen Echokardiographie unterzogen werden, um einen linksatrialen Thrombus vor der Kardioversion auszuschliessen. Nach der erfolgreichen Kardioversion in einen Sinusrhythmus sollte die Antikoagulation mindestens 4 Wochen lang durchgeführt werden. Bei hohem Thromboembolierisiko wird aber empfohlen die Antikoagulation langfristig weiterzuführen. Retrospektive Analysen von DOAKs-Studien zeigten keinen Unterschied in der Sicherheit oder Wirksamkeit zwischen der DOAKs- und VKA-Therapie bei Patienten mit Vorhofflimmern und konsekutiver Kardioversion (4).
Bei Patienten unter Antikoagulation sollte das potenzielle Blutungsrisiko ebenfalls berücksichtigt werden, wobei der spezifische HASBLED Risk Score (Tab. 4) benutzt werden kann und regelmässig neu bewertet werden muss. Normalerweise sollte eine höhere Gesamtpunktzahl nicht von einer Antikoagulationstherapie abhalten, sondern kann strengere Kontrollen oder eine Dosisreduktion des Antikoagulans implizieren. Bei absoluter Kontraindikation für eine Antikoagulation kann als alternativer Ansatz ein Verschluss des linken Vorhofohres mit einem «Schirmchen» (d.h. einem Device) in Erwägung gezogen werden, was einer Antikoagulation nicht unterlegen ist.
Zusammenfassend können somit bei klarer Indikation für eine orale Antikoagulation entweder Vitamin-K-Antagonisten oder DOAK verschrieben werden. DOAKs sind aufgrund einer besser vorhersagbaren Wirkung, einer höheren Wirksamkeit bei der Schlaganfallprävention und eines sichereren Profils vorzuziehen. Vitamin-K-Antagonisten stellen jedoch nach wie vor die einzige verfügbare Antikoagulationstherapie bei Patienten mit künstlichen Herzklappen, relevanter Mitralstenose oder Niereninsuffizienz dar. Die Indikation für DOAKs beschränkt sich somit überwiegend auf Patienten mit nicht-valvulärem Vorhofflimmern.
In Bezug auf Dabigatran zeigte die RE-LY-Studie, dass bei einer Dosis von 150 mg zweimal täglich eine 35% Reduktion des Schlaganfalls im Vergleich zu Warfarin ohne signifikante Unterschiede in Bezug auf grössere Blutungen zu verzeichnen war. Wenn die 110-mg-Dosis verabreicht wurde, war Dabigatran nicht schlechter als Warfarin, aber zeigte eine signifikante Reduktion bei grösseren Blutungen von 20% (7).
Rivaroxaban in einer Dosis von 5 mg wurde in der ARISTOTELE-Studie mit Warfarin verglichen und zeigte bei der Prävention von Schlaganfällen oder systemischen Embolien eine überlegene Wirkung gegenüber Warfarin, zudem weniger Blutungen und eine geringere Mortalität. Der primäre Endpunkt (ischämischer/hämorrhagischer Schlaganfalls oder eine systemische Embolie) betrug in der Apixaban-Gruppe 1,27% pro Jahr und in der Warfarin-Gruppe 1,60% pro Jahr. Schwere Blutungen wurden in der Apixaban-Gruppe bei 2,13% pro Jahr und in der Warfarin-Gruppe bei 3,09% pro Jahr beobachtet. Zudem war die Gesamtmortalität in der Apixaban-Gruppe niedriger (3,52% gegenüber 3,94%) (9).
Edoxaban 60 mg einmal täglich oder 30 mg (bei eingeschränkter Nierenfunktion) verglichen mit Warfarin in der ENGAGE-AF-Studie zeigte, dass beide Dosierungen Warfarin nicht unterlegen waren und weniger Blutungen verursachten. Der primäre Endpunkt (Schlaganfall oder systemische Embolie) war 1,5% mit Warfarin, verglichen mit 1,18% mit hochdosiertem Edoxaban und 1,61% mit niedrig dosiertem Edoxaban. Die Rate schwerer Blutungen betrug 3,43% / Jahr mit Warfarin gegenüber 2,75% / Jahr mit hochdosiertem Edoxaban und 1,61% / Jahr mit niedrig dosiertem Edoxaban (10).

Vorhofflimmern bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit.

Nach einem Myokardinfarkt oder einer koronaren Stentimplantation benötigen die Patienten eine Behandlung mit Thrombozytenaggregationshemmern, und dies kann ein komplexes Problem in Bezug auf das Management der Antikoagulationstherapie darstellen. Derzeit empfiehlt die Europäische Gesellschaft für Kardiologie folgende Behandlungsstrategie (2, 4, 6):
Bei akutem Koronarsyndrom: Eine Dreifachtherapie mit DOAK + Aspirin + Clopidogrel sollte 6 Monate lang durchgeführt werden, danach sollte die Doppeltherapie mit DOAK +  Aspirin oder Clopidogrel weitere 3 bis 6 Monate fortgesetzt werden. 1 Jahr nach dem Ereignis kann der Patient nur noch mit DOAK weiterbehandelt werden.
Im Falle einer elektiven perkutanen Koronarintervention mit Drug-Eluting-Stents oder Bare-Metal-Stents der neuen Generation wird eine Dreifachtherapie (DOAK + Aspirin + Clopidogrel) für 1 Monat empfohlen, gefolgt von einer Doppeltherapie (DOAK + Aspirin oder Clopidogrel) bis 1 Jahr nach dem Eingriff und später DOAK allein. Diese allgemeinen Empfehlungen können/müssen unter Berücksichtigung des Blutungsrisikos und des atherothrombotischen Risikos patientenindividuell angepasst werden.

Lungenembolie

Die Antikoagulation bei Patienten mit Lungenembolie ist wichtig, um den normalen Blutfluss im Lungenkreislauf wiederherzustellen und die frühe Sterblichkeit und Rückfälle im Verlauf der Nachsorge zu reduzieren. Die konventionelle Behandlung der Lungenembolie umfasst eine akute Phase, gefolgt von einer längerfristigen Behandlung (für mindestens 3 Monate). In der Akutphase umfassen die Behandlungsoptionen: parenterale Verabreichung von unfraktioniertem, an die aPTT angepasstem Heparin oder niedrigmolekulares Heparin, das auf das Körpergewicht und die Nierenfunktion adaptiert wird. Ebenfalls möglich ist die Gabe von Fondaparinux (ein selektiver Inhibitor von aktiviertem Faktor X). Auf diese initiale Behandlungsstrategie folgen nach 5-10 Tagen Vitamin-K-Antagonisten mit einem INR-Bereich zwischen 2,0 und 3,0. Die Akut-Phasen-Medikamente können abgesetzt werden, sobald sich der INR im therapeutischen Bereich befindet.
DOAKs wurden als Alternative zu Vitamin-K-Antagonisten in die klinische Praxis eingeführt und waren in mehreren klinischen Studien den VKA nicht unterlegen und zeigten sogar ein besseres Sicherheitsprofil hinsichtlich grösserer Blutungen. Damit wurden sie in die Richtlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zur Behandlung von Lungenembolien implementiert. Der grösste Vorteil gegenüber VKA liegt insbesondere in einem schnelleren Wirkungseintritt und einer stabileren antikoagulierenden Wirkung. Zwei der DOAKs, Rivaroxaban und Apixaban, können auch in der akuten Phase verwendet werden (11).

Herzklappenprothesen

Zurzeit sind DOAKs für Patienten mit implantierten mechanischen Herzklappen nicht zugelassen. In diesen Fällen können nur Vitamin-K-Antagonisten mit einem Ziel-INR-Bereich von 2,0 bis 3,5 (je nach Klappenlokalisation) verwendet werden. DOAKs können jedoch bei Patienten mit Bioprothesen und Vorhofflimmern problemlos eingesetzt werden (4).

Dr. med. PhD, FESC Stefano Caselli

Herzgefässzentrum im Park
Hirslanden Klinik im Park,
Seesstrasse 247
8038 Zürich
Tel. 044 209 20 20

stefano.caselli@hirslanden.ch

Prof. Dr. med. Christine H. Attenhofer Jost

HerzGefässZentrum Klinik Im Park
Seestr. 220
8027 Zürich

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte in ­Zusammenhang mit diesem Beitrag.

  • Die direkten oralen Antikoagulantien (DOAKs) haben sich in den letzten Jahren überraschend schnell im klinischen Alltag durchgesetzt trotz langem Fehlen von Antidoten und haben die orale Antikoagu-
    lantientherapie vereinfacht
  • Schwere Blutungen sind bei jeder Art der Antikoagulation möglich und erfordern weiterhin vor allem auch eine gute Patienteninformation.
  • Die Doppelt- und Dreifachaggregation ist weiterhin ein grosses Problem und erfordert eine exzellente Indikation, Instruktion und Überwachung.

Literatur:
1. Opie LH, Gersh BJ, Drugs for the Heart 8th edition. Elsevier Publisher.
2) Heidbuchel H, Verhamme P, Alings M, et al. Updated European Heart Rhythm Association practical guide on the use of non-vitamin-K antagonist anticoagulants in patients with non-valvular atrial fibrillation: Executive summary. Eur Heart J. 2017 Jul 14;38(27):2137-2149.
3) Diener HC, Aisenberg J, Ansell J, et al.Choosing a particular oral anticoagulant and dose for stroke prevention in individual patients with non-valvular atrial fibrillation: part 1. Eur Heart J. 2017 Mar 21;38(12):852-859.
4) Steffel J, Verhamme P, Potpara TS, Albaladejo P, Antz M, Desteghe L, Haeusler KG, Oldgren J, Reinecke H, Roldan-Schilling V, Rowell N, Sinnaeve P, Collins R, Camm AJ, Heidbüchel H; ESC Scientific Document Group. The 2018 European Heart Rhythm Association Practical Guide on the use of non-vitamin K antagonist oral anticoagulants in patients with atrial fibrillation. Eur Heart J. 2018 Apr 21;39(16):1330-1393. doi: 10.1093/eurheartj/ehy136.
5) Douketis JD, Spyropoulos AC, Kaatz S, Becker RC, Caprini JA, Dunn AS, Garcia DA, Jacobson A, Jaffer AK, Kong DF, Schulman S, Turpie AG, Hasselblad V, Ortel TL; BRIDGE Investigators. Perioperative Bridging Anticoagulation in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med. 2015 Aug 27;373(9):823-33. doi: 10.1056/NEJMoa1501035. Epub 2015 Jun 22.
6) Kirchhof P, Benussi S, Kotecha D, et al. 2016 ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with EACTS. Eur Heart J. 2016 Oct 7;37(38):2893-2962.
7) Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S, et al. Dabigatran versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med. 2009 Sep 17;361(12):1139-51.
8) Patel MR, Mahaffey KW, Garg J, et al. Rivaroxaban versus warfarin in nonvalvular atrial fibrillation. N Engl J Med. 2011 Sep 8;365(10):883-91.
9) Granger CB, Alexander JH, McMurray JJ, et al. Apixaban versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med. 2011 Sep 15;365(11):981-92.
10) Giugliano RP, Ruff CT, Braunwald E, et al. Edoxaban versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med. 2013 Nov 28;369(22):2093-104.
11) Konstantinides SV, Torbicki A, Agnelli G, et al. 2014 ESC guidelines on the diagnosis and management of acute pulmonary embolism. Eur Heart J. 2014 Nov 14;35(43):3033-69, 3069a-3069k.