Der komplexe Schmerzpatient in der Praxis

An den diesjährigen ZAIM MediDays in Zürich berichteten Dr. Barbara Jungner, Dr. Florian Käs, Dr. Henrik Fredrich und Dr. Daniel Friis vom Schmerzambulatorium für diagnostische und therapeutische Schmerzmedizin am Institut für Anästhesiologie des USZ über Fallbeispiele aus ihrer Praxis.

Schmerzen sind ein vielschichtiges Phänomen, das sich in unterschiedlichsten Formen und Intensitäten äussern kann, so Dr. Friis. Gemäss der International Association for the Study of Pain (IASP) ist Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis definiert, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder als solche beschrieben wird.

Schmerzformen, Schmerzmechanismus

Es gibt verschiedene Formen von Schmerzen, die jeweils spezifische Ursachen und Mechanismen aufweisen:
Nozizeptiv: Nozizeptiver Stimulus, Protektion
→ Hohe Reizschwelle
Inflammatorisch: Entzündung, Heilung Neuropathisch: Schädigung Nervensystem
→ Tiefe Reizschwelle
Noziplastisch: Kein nozizeptiver Stimulus, kein neuropathischer Schaden, keine Entzündung
Die Behandlung ist multimodal und interdisziplinär mithilfe des Bio-psycho-sozialen Modells: Dieses besteht aus Edukation, psychologischer Therapie, medikamentöser Therapie, physikalischer Therapie und interventioneller Therapie.

Fallvignette

Der Referent stellte einen durch den Hausarzt zugewiesenen Patienten, Jahrgang 1952, vor. Er leidet unter einem chronisch zervikobrachialen Syndrom links ohne neurologische Ausfälle. Als Nebendiagnosen bestehen eine arterielle Hypertonie und eine koronare Herzkrankheit. Die Überweisung erfolgte wegen Halswirbelgelenkschmerzen. Ferner liegt ein chronisches zervikobrachiales Syndrom links ohne neurologische Ausfälle vor. Die Klinik umfasst Nackenschmerzen mit Schmerzausstrahlung vom unteren Nackenbereich in die Schulterregion ohne sensomotorische Ausfälle. Eine kurzzeitige Beschwerdereduktion kann durch Physiotherapie erzielt werden. Vor allem körperliche Arbeit wie beispielsweise Gartenarbeit führt zu Schmerzexazerbationen, wie der Patient feststellte.

Ein MRI der Halswirbelsäule (HWS) zeigt multisegmentale degenerative Veränderungen mit Diskusprotrusionen auf Höhe C6/7, wobei eine rechtsseitige Dominanz erkennbar ist. Es liegen keine Hinweise auf Myelonkompression und keine spinozerebelläre Enge vor. Der Referent verwies auf die ICD-11-Klassifikation (WHO seit 2023) hin. Der hier vorgestellte Therapievorschlag umfasst eine Locus-dolendi-Infiltration mit Lokalanästhetika (Lidocain/Carbostesin), welche zu einer signifikanten Schmerzreduktion führt. Eine Wiederholung des Verfahrens erfolgt mit gleichem Resultat.

Differentialdiagnostisch kommen eine muskuläre Problematik der Halsmuskulatur (M. Scalenii, Sternocleidomastoideus), eine ossäre Problematik (Cavicula, Sternum), eine neurologische Problematik (Plexus axillaris, zervikale Nervenwurzeln) sowie eine vaskuläre Problematik (Vasa subclavia) und eine intrathorakale Problematik (Lunge, Pleura) in Betracht.

Das Thoracic outlet Syndrom (TOS)

Das Thoracic-outlet-Syndrom (TOS) – auch als neurovaskuläres Kompressionssyndrom bezeichnet – manifestiert sich in der Nähe des Plexus brachialis und der Vasa subclavia, zwischen Klavikula und erster Rippe, und zeigt eine Inzidenz von 1–3/100.000.
Es werden drei Typen unterschieden: Neurologische TOS (nTOS), welche Schmerzen, Hyp-/Dysästhesie, Parästhesie und Muskelschwäche umfassen, venöse TOS (vTOS), die mit Schwellungen, Schmerzen, Thrombose einhergehen, sowie arterielle TOS (aTOS), die Ischämie und Claudicatio-Symptome sowie Thrombenbildung als Symptome zeigen. Die Diagnose ist schwierig zu stellen.

Die klinische Untersuchung umfasst den Test der Oberarmspannung (Upper limb tension test), die Bildgebung mittels Röntgen und MRT, die neurologische Untersuchung (Elektroneuromyographie) sowie die lokale Infiltration im Bereich des Musculus Scalenii (Interscalenusblockade). Die Therapie erfolgt konservativ mittels Physiotherapie zur Korrektur von Fehlhaltung und muskulärer Dysbalance. Bei Bedarf kann eine Operation zur Dekompression mit teilweise resezierter erster Rippe und Skalenotomie durchgeführt werden.

Fallvignette

Eine weitere Fallvignette stellte Dr. Henrik Fredrich vor. Es handelte sich um eine 17-jährige Patientin, seit ca. einem Jahr bestehende Schmerzen rechts periumbilical, keine Stuhlunregelmässigkeiten, keine Allodynie. Eine ähnliche Episode hatte sich sechs Jahre zuvor ereignet.Die Diagnostik vor Einweisung umfasste diverse Enteropathien sowie diverse radiologische Untersuchungen, darunter native und dynamische KM-verstärkte MRT des Abdomens. Diese ergaben jedoch keinen richtungsweisenden Befund.

Diagnostik/Therapie

– Die Infiltration des Locus dolendi periumbilical rechts resultiert in einer signifikanten Schmerzlinderung über einen Zeitraum von sechs Stunden.
– Diagnostischer Transversus abdominus Plane-Block rechts, erneute signifikante Schmerzlinderung während der LA-Wirkung.
– Therapeutischer Transversus Abdominus Plane-Block rechts, dessen Wirkung erneut lediglich im LA-Zeitfenster zu beobachten war, gefolgt von einer Zunahme der Schmerzen.
→  Somit kann eine lokale Desensibilisierung ausgeschlossen werden.

Weitere Therapie

– Im Rahmen der Testinfusion von Lidocain und Ketamin konnte eine verbesserte Wirkung von Lidocain mit einer ca. zweiwöchigen Schmerzreduktion beobachtet werden.
– Daher wurde eine Serie von Lidocain-Infusionen mit anschliessender gepulster Radiofrequenztherapie eingeleitet, wobei lediglich eine kurzfristige Besserung zu verzeichnen war.
– Die letzte Therapie war eine Kryoablation des Locus dolenti Abdomen und der periumbilikalen Region rechts. Diese führte zu einer Schmerzfreiheit für die Dauer eines Jahres.

Definitive Therapie

– Etwa ein Jahr nach der Kryoablation manifestierten sich erneut Schmerzen.
– Es erfolgte eine erneute Locus-dolenti-Infiltration mit jeweils deutlicher Schmerzreduktion.
– Der Entschluss zur operativen Neurotomie und Nerventeilresektion von Th 10 und Th 11 in der vorderen Axillarlinie rechts wurde etwa zwei Jahre nach dem ersten Kontakt mit dem Schmerzambulatorium gefasst.
Seither besteht Beschwerdefreiheit.

A.C.N.E.S.

Das Abdominal (anterior/acute) Cutaneous Nerve Entrapment Syndrom ist durch Schmerzen der Bauchwand gekennzeichnet, welche durch die Einklemmung des anterioren Hautastes der Intercostalnerven bedingt sind.

Klinische Zeichen

– Der Schmerz ist eng lokalisiert, meist im rechten Unterbauch, aber grundsätzlich in der gesamten Bauchwand möglich.
– Positiver Pinching Test
o Schmerzexazerbation durch Kneifen
– Positives Carnett’s Sign:
o Schmerzexazerbation durch Anspannen der Bauchmuskeln
– Andere klinische Zeichen
o Allodynie, Hypo-/Hyperästhesie, Hyperalgesie

Therapieoptionen

– Infiltration Locus dolenti
– TENS
– Neurodol-Pflaster
– Neurektomie
«When facing abdominal pain, don’t forget ACNES»

Fallvignette

Dr. Florian Käs stellte eine 64jährige Frau vor mit chronischem Clusterkopfschmerz + Migräne. Die Symptome manifestierten sich erstmals im Sommer 2014 und lokalisierten sich in der linken Gesichtshälfte, wobei das Auge, die Wange und die Zähne betroffen waren. Der Schmerz wurde als stechend beschrieben und erreichte auf der Numerischen Rating Scale (NRS) einen Wert von 10/10. Die Dauer einer Episode betrug zwischen drei und vier Stunden, ohne dass eine Therapie erfolgte. Es wurden zwei Episoden pro Tag berichtet. Begleiterscheinungen waren eine Photophobie, eine Rückzugstendenz sowie trigeminoautonome Symptome, welche sich durch eine Rötung des linken Auges, Tränenfluss sowie eine Rhinorrhoe manifestierten. Triggerfaktoren konnten nicht identifiziert werden.

Therapie

Die bisherigen therapeutischen Massnahmen umfassten:
1. Langzeitprophylaxe
– St. N. Verapamil, Valproat, Lamotrigin (mit kurzzeitigem Ansprechen)
– Im Mai 2021 wurde mit der Gabe von Lithium 660 mg begonnen. Die Medikation wurde täglich verabreicht, wobei im Verlauf eine Entwicklung von Tremor beobachtet wurde. Dies führte zu einer Beendigung der Therapie.
– Im Jahr 2020 wurde eine GON-Infiltration ohne Wirkung vorgenommen.
– Von 2019 bis Mai 2023 erfolgte die Anwendung von Amovig 140 mg s. c. (Migräne) monatlich, Reduktion der Attacken-Frequenz intermittierend, attackenfreie Episoden (wenige Monate), danach Wirkungsverlust.
– Von Juni bis September 2023 Gabe von Vyepti® 300 mg (Migräne). Dies löste als Nebenwirkung eine Urtikaria aus.
– Beginn mit Topiramat, was nach drei Tagen bei Unwohlsein und Schwindel wieder abgesetzt wurde.
2. Kurzzeitprophylaxe
– St. N. 2 x Glukokortikoid-To-Therapie i. v. über fünf Tage mit guter Wirksamkeit.
– Seit Sommer 2023 erfolgt die Anwendung von Glukokortikoiden p.o., wobei aktuell eine Dosis von 12 mg Spiricort pro Tag verabreicht wird.
3. Akuttherapie
– Eine Sauerstofftherapie führte teilweise zu einer Schmerzreduktion auf mindestens 5/19 (NRS)
– Die Gabe von Sumatriptan (nasal) führte lediglich zu einer 30-prozentien Schmerzreduktion.
– Die Gabe von Imigran führte teilweise zu einer Reduktion der Episodendauer auf 10–30 Min.

Gibt es weitere Therapiemöglichkeiten? In den Guidelines der European Academy of Neurology on the Treatment of Cluster Headache wird folgendes vorgeschlagen: Für die Akutbehandlung von Clusterkopfschmerzattacken wird dringend Sauerstoff (100%) mit einem Flow von mindestens 12 L/min über 15 Minuten und 6 mg subkutanes Sumatriptan empfohlen. Zur Prophylaxe von Clusterkopfschmerzattacken wird Verapamil in einer Tagesdosis von mindestens 240 mg (die Höchstdosis hängt von der Wirksamkeit und Verträglichkeit ab) empfohlen. Kortikosteroide sind bei Clusterkopfschmerz wirksam. Lithium, Topiramat und Galcanezumab (nur bei episodischen Clusterkopfschmerzen) werden als alternative Behandlungsmethoden empfohlen. Die nichtinvasive Stimulation des Vagusnervs ist bei episodischem, aber nicht bei chronischem Clusterkopfschmerz wirksam. Die Blockade des Nervus occipitalis major wird empfohlen, aber die elektrische Stimulation des Nervus occipitalis major wird aufgrund des Nebenwirkungsprofils nicht empfohlen.

Die Blockade des Ganglion Sphenopalatinum/Meckels Ganglion kann zu folgenden Komplikationen führen: Bitterer Geschmack (Lidocain), Brennen der Schleimhäute, Epistaxis, Allergische Reaktion auf Kontrastmittel.

Zusammenfassend kann gesagt werden:

Blockade des Ganglion Sphenopalatinum
– Aufgrund der fehlenden Evidenz durch qualitativ unzureichend durchgeführte Studien kann keine abschliessende Aussage getroffen werden.
– Basierend auf den Erfahrungen der Vortragenden lässt sich jedoch ableiten, dass bei einer wiederholten Durchführung (alle 6–12 Wochen) von ca. 30–40 % der relevanten prophylaktischen Massnahmen eine Wirksamkeit zu erwarten ist.
– Bezüglich anderer Kopfschmerzen (Migräne, Spannungskopfschmerz, Trigeminus-Neuralgie) gibt es noch weniger Evidenz.
– Einfach durchzuführen, nicht invasiv, kostengünstig, niedriges Nebenwirkungsprofil

Evidenz Migräne
Aufgrund der aktuellen internationalen Guidelines und Reviews kann aufgrund der fehlenden RCTs keine Empfehlung ausgesprochen werden (Tzankova et al., Diagnosis and acute management of migraine, CMAJ 2013;195:E153-E158).

Evidenz: Cluster Kopfschmerz
Das Ganglion sphenopalatina ist ein vielversprechendes Ziel für die Behandlung von Clusterkopfschmerz durch Blockaden, Radiofrequenzablation und Neurostimulation. Weitere Studien sind jedoch nötig (Ho KWD, Przkora R, Kumar S. Sphenopalatine ganglion: block, radiofrequency ablation and neurostimulation – a systematic review. J Headache Pain. 2017 Dec 28;18(1):118).

Endometriose – Allgemein

Im Rahmen der Veranstaltung referierte Frau Dr. Barbara Lungner über die Endometriose sowie die entsprechenden Schmerztherapien. Die Endometriose wird definiert als chronisch-entzündliche Erkrankung, bei der sich endometriumähnliches Gewebe ausserhalb des Uterus befindet. Das Durchschnittsalter bei der Diagnose liegt bei 28 Jahren, wobei Endometriose auch bereits im Jugendalter auftreten kann. In seltenen Fällen ist auch die Diagnose bei kleinen Mädchen möglich. Es ist zu beobachten, dass die Diagnose häufig erst nach einem Zeitraum von über fünf Jahren gestellt wird. Unter geeigneter Therapie lässt sich die Diagnose günstig stellen. Jede zehnte Frau ist von dieser Erkrankung betroffen, wobei eine familiäre Häufung beobachtet wird. Die Prävalenz des superfizialen peritonealen Befalls liegt bei ca. 80 %, wobei auch eine ovarielle Manifestation in Form von Zysten beobachtet wird. Die Lokalisationen der Erkrankung sind vielfältig und können tief im Peritoneum, aber auch kombiniert auftreten. Zudem kann eine Erkrankung des Blasenepithels sowie extrapelviner Regionen, wie beispielsweise thorakal, umbilikal oder zerebral, erfolgen.Das Behandlungskonzept ist in Abb. 1 wiedergegeben.

Therapie

Zu den schmerzmedizinische Therapieoptionen bei Endometriose zählen: Psychosomatik, Akupunktur, Physiotherapie, TENS, SNRI, TCA, Antikonvulsiva, Nichtopioid-Analgetika, Psychologie, Hypnose, Opioide, Intervention sowie Cannabis.

Zu den psychotherapeutischen Verfahren zählt die Kognitive Verhaltenstherapie, deren Einsatz unter Einbeziehung psychosomatischer Faktoren einen statistisch signifikant besseren Therapieeffekt aufweist. Diesbezüglich wird eine starke Empfehlung ausgesprochen.

Physiotherapie, eine manuelle Therapie sowie die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) stellen vielversprechende Behandlungsmethoden bei einer Beckenbodendysbalance bzw. bei Triggerpunkten dar. Diesbezüglich konnte in einer randomisierten Studie eine signifikante Schmerzreduktion sowie eine Verbesserung der Lebensqualität nachgewiesen werden. Eine Behandlung dieser Art wird empfohlen.

Im Rahmen einer Pilotstudie wurde die Wirksamkeit von Antikonvulsiva bei 47 Frauen mit relevanter Organopathologie über einen Zeitraum von sechs Monaten untersucht. Es konnte nachgewiesen werden, dass Gabapentin (300–2700 mg/d) im Vergleich zu Placebo eine überlegene Wirkung hinsichtlich der Reduktion von Schmerz und Depressivität aufweist. Hinsichtlich der Nebenwirkungen konnten keine Unterschiede festgestellt werden.
In der randomisierten kontrollierten Studie wurden 306 Frauen über einen Zeitraum von 16 Wochen untersucht. Dabei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede
zwischen Gabapentin (bis 2700 mg/d) und Placebo hinsichtlich der Schmerzreduktion. Allerdings traten in der Gabapentin-Gruppe schwerwiegende Nebenwirkungen häufiger auf, weshalb eine zeitlich befristete Therapie in Erwägung gezogen werden sollte. 

Die interventionelle Schmerztherapie wird in der medizinischen Praxis häufig unterschätzt, obwohl sie eine vielversprechende diagnostische Option darstellt, für die jedoch noch keine ausreichende Evidenz vorliegt.

Die Indikation umfasst Nervenreizungen im kleinen Becken, beispielsweise in Form von Nerven-Nervenwurzelblockaden, wie sie bei Pudendusblockaden oder Ganglion Impar Blockaden zum Einsatz kommen. Auch neuropathische Schmerzen können mit dieser Methode behandelt werden. Dabei kommen verschiedene Infusionen zum Einsatz, darunter Ketamin, NMDA-Rezeptorantagonisten und Lidocain, ein Natriumkanalblocker. Das Ziel dieser Behandlung ist eine Schmerzmodulation.
Behandlung kann erwogen werden

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Lipidmanagement anno 2024. Wo stehen wir?

Im Rahmen der ZAIM MediDays 2024 in Zürich sprach Prof. Dr. med. Georg Noll, Zürich, über das derzeitige Lipidmanagement. Er erwähnte zunächst den Entwurf zum ­«Gesundes-Herz-Gesetz» (GHG) in Deutschland. Durch das Gesetz sollen Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen möglichst früh erkannt und bekämpft werden. «Lauterbachs Herz-Gesetz komplett einstampfen», sagen dazu die Krankenkassen. Ende August hat das Bundeskabinett Karl Lauterbachs Gesetzesentwurf zur Herzgesundheit verabschiedet. Das sorgte bei manchen Fachleuten für Empörung. Die AOK-Vorsitzende fand deutliche Worte. Auch in der Schweiz wehrt man sich gegen Prävention, so der Referent.

LDL-Cholesterin (LDL-C) ist einer der wichtigsten und bestuntersuchten kardiovaskulären Risikofaktoren. Der Zusammenhang zwischen der LDL-Senkung und dem Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung ist durch klinische Studien belegt, einerseits durch 198 503 Patienten, die während durchschnittlich 5 Jahren behandelt wurden, andererseits durch prospektive Kohortenstudien mit 403 501 Patienten, die während 12 Jahren beobachtet wurden, und durch randomisierte Mendel-Studien mit 194 427 Probanden, die während 52 Jahren beobachtet wurden.

Damit wurde auch die Kausalität des LDL-C als kardiovaskulärer Risikofaktor nachgewiesen (1). Es hat sich dabei gezeigt, je tiefer das LDL-C gesenkt wird, desto niedriger ist das kardiovaskuläre Risiko.

Risikoberechnung in der Primärprävention

Die Berechnung des Risikos kann durch Scores, die aufgrund der Ausprägung der Risikofaktoren das globale Risiko ermitteln, geschätzt werden. Dabei werden in der Schweiz AGLA-Scores oder ESC-Scores angewandt. Der ESC-Score umfasst die Risikofaktoren Alter, Geschlecht, Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin, systolischer Blutdruck und das Rauchen. Die europäischen Länder werden im ESC-Score in Hochrisikoländer und solche mit tiefem Risiko eingeteilt. Beim AGLA-Score kommen zu den Risikofaktoren des ESC-Scores die Triglyceride und die Familienanamnese für kardiovaskuläre Krankheit dazu. Der ESC-Score ist etwas sensitiver als der AGLA-Score. «Wenn Sie also jemand behandeln möchten, verwenden Sie den ESC-Score und wenn Sie dies nicht tun möchten, verwenden Sie den AGLA-Score», bemerkte der Referent.

Aufgrund der verschiedenen Studienresultate erliess die ESC im Jahr 2019 neue Richtlinien zum Management von LDL-C (2). Diese empfehlen für ein tiefes kardiovaskuläres Risiko einen Zielwert des LDL-C unter 3 mmol/l, für moderates Risiko unter 2.6 mmol/l, für hohes Risiko unter 1.8 mmol/l und für sehr hohes Risiko unter 1.4 mmol/l.

Kardiovaskuläre Prävention: Diät

Gesunde Ernährung gehört bei allen Risikokategorien zu den wichtigsten Massnahmen:
• gesättigte Fettsäuren < 10 % der totalen Energiezufuhr, bei Reduktion von gesättigten Fettsäuren, diese v.a. durch mehrfach ungesättigte Fettsäuren ersetzen und Trans-Fettsäuren vermeiden.
• Kein Salzexzess (Vermeiden von verarbeiteten Nahrungsmitteln, kein Nachsalzen). Bei Patienten mit Hypertonie, Nierenkrankheiten oder Herzinsuffizienz sollte die Reduktion strenger sein.
• 30–45 g Fasern pro Tag bevorzugt aus Vollkornprodukten.
• ≥ 200 g Früchte pro Tag (2–3 Portionen)
• ≥ 200 g Gemüse pro Tag (2–3 Portionen)
• 1–2 mal Fisch pro Woche, davon einmal fetthaltiger Fisch
• 30 g ungesalzene Nüsse pro Tag
• Alkohol aus gesundheitlichen Gründen nicht empfohlen, bei Konsum nicht täglich und bei Männern/Frauen < 14/< 7 Standarddrinks pro Woche.
• Patienten mit Hypertonie sollten auf Alkohol verzichten.
• Zuckerhaltige Softdrinks und Alkopops meiden. In besonders schwierigen Situationen – z. B. ausgeprägte Hypertriglyceridämie professionale Ernährungsberatung.

Im Zusammenhang mit diätetischen Methoden verwies der Referent auf die «PREDIMED»-Studie zur Wirkung einer mediterranen Diät auf akuten Myokardinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulären Tod (3). In dieser Studie, an der Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko teilnahmen, war die Inzidenz grösserer kardiovaskulärer Ereignisse bei den Teilnehmern an einer mediterranen Diät, die mit nativem Olivenöl extra oder Nüssen ergänzt wurde, niedriger als bei den Teilnehmern an einer fettreduzierten Diät.

Wirkung antilipidämischer Medikamente

Wenn durch diätetische Massnahmen die Zielwerte nicht erreicht werden, bedarf es in der Sekundärprävention medikamentöser Massnahmen zur Lipidsenkung. Tab. 1 gibt die Wirkung verschiedener, antilipidämischer Medikamente wieder.
Dass die Senkung von LDL-Cholesterin von besonderer Wichtigkeit im Rahmen der kardiovaskulären Prävention ist, zeigte der Referent anhand der Daten der Cholesterol Treatment Trialists (4). Die Senkung von LDL-C um 1 mmol/l ergibt eine Senkung koronarer Ereignisse um 23 % und vaskulärer Ereignisse um 21 %, egal, mit welcher Methode die LDL-Senkung erzielt wurde. Statine unterscheiden sich in Bezug auf ihre Interaktionen mit anderen Medikamenten. Prof. Noll erwähnte das Statin Pitavastatin, welches ein geringes Interaktionspotential mit anderen Medikamenten hat und insbesondere bei Patienten mit HIV, welche mit Proteasehemmern, die mit Statinen interagieren, behandelt werden (5).

Statine bei älteren Personen

Eine häufig auftretende Problematik ist die Behandlung älterer Patienten mit Statinen. Der Referent verwies dazu auf eine Publikation von MW Andersson et al. aus dem vergangenen Jahr (6). Dabei zeigte sich, dass 85jährige und ältere in Bezug auf vaskuläre Primärprävention im selben Masse von eine Statintherapie profitieren wie 50 bis 69-jährige.

Die familiäre Hypercholesterinämie

Eine weitere Problematik ist die familiäre Hypercholesterinämie. Die Datenlage dazu ist für die Schweiz noch ungenügend. Prof. Noll präsentierte das Beispiel eines 38-jährigen Bankers. Er wurde wegen Hypercholesterinämie zugewiesen. Sein Vater verstarb mit 43 Jahren an einem Myokardinfarkt. Der Patient ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren. Sein LDL-C beträgt 7.2 mmol/l und deutet auf eine familiäre Hypercholesterinämie hin. Diese wird autosomal dominant vererbt. Das bedeutet, dass schon ein verändertes Gen, das von einem der beiden Elternteile vererbt wurde, ausreicht, um an einer familiären Hypercholesterinämie zu erkranken. Betroffene vererben das veränderte Gen in 50 Prozent der Fälle an einen Nachkommen. Bei Verdacht auf eine familiäre Hypercholesterinämie empfiehlt sich die Abklärung mittels Kaskadenscreening nach den Kriterien der Dutch Lipid Clinics.
Der Patient wurde mit Rosuvastatin 20 mg/Ezetimibe 10mg behandelt, worauf das LDL-C auf 4.1 gesenkt wurde. Eine nicht seltene Nebenwirkung der Statine ist das Auftreten von Muskelschmerzen. Dabei ist aber der Nocebo-Effekt zu beachten, wie der Referent ausführte. In einer im Jahre 2021 erschienenen Arbeit hatten 8 % der Personen, die keine Statinbehandlung erhielten Muskelschmerzen. In der Placebogruppe waren es 15.4 % und in der Statingruppe 16.3 %.

PCSK9 Inhibition zur Senkung von LDL-C

Eine ebenso wirksame Senkung von LDL-C lässt sich durch Inhibition von PCSK9 erreichen, so der Referent. PCSK9 (Proproteinkonvertase Subtilisin Kexin Typ 9) ist ein Enzym, welches inaktive Vorläuferzellen in eine aktive Form umwandelt. Unabhängig von seiner katalytischen Form bindet PCSK9 an den membranständigen LDL-Rezeptor von Hepatozyten. An PCSK9 gebundener LDL-Rezeptor wird internalisiert und der Rezeptor in der Zelle abgebaut, so dass er nicht auf die Membranoberflächen rezykliert werden kann. Ohne PCSK9 wird der Rezeptor rezykliert und kann erneut LDL binden und in die Zelle internalisieren, wo es abgebaut wird. Die Inhibition von PCSK9 hat in den Studien FOURIER mit Evolocumab (8) und ODYSSEY Outcomes mit Alirocumab (9) eine LDL-C-Senkung von 59 % bzw. 62 % ergeben. Evolocumab senkte den primären Endpunkt, ein Komposit von kardiovaskulärem Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall, Hospitalisierung wegen instabiler Angina oder koronare Revaskularisierung um 15 % (HR 0.85, 95 % KI 0.7 bis 0.92; p < 0.001). Mit Alirocumab ergaben sich in der ODYSSEY Outcomes Studie ähnliche Resultate mit einer ebenfalls 15 % Reduktion des gleichen primären Endpunkts, wie in FOURIER (KI HR.78 bis 0.93; p < 0.001).

Inclisiran – small interfering RNA

Inclisiran, eine small interfering RNA, inhibiert die PCSK9 durch RNA-Interferenz, ein biologischer Prozess, bei dem RNA-Moleküle die Genexpression oder -translation hemmen, indem sie gezielte mRNA-Moleküle neutralisieren.Inclisiran ist eine synthetische, doppelsträngige small interfering RNA (siRNA). Die RNA-Inhibition besteht aus den folgenden Mechanismen:
Guide strand erkennt die PCSK9 mRNA, Passenger strand wird für den Transport benötigt. Der konjugierte GalNAc–Zucker ermöglicht den gezielten Transport in die Leber. In den Studien ORION 10 und ORION 11 wurde mit einer einzigen subkutanen Dosis Inclisiran zusätzlich zu maximal verträglicher Dosis von Statin eine Senkung des LDL-C von ungefähr 50 % über 6 Monate erreicht (10).

Inclisiran zweimal jährlich zusätzlich zu einer maximal verträglichen Statintherapie mit oder ohne andere LDL-senkende Mittel verabreicht, ergab eine wirksame, sichere und gut verträgliche Behandlung zur Senkung von LDL-C bei Erwachsenen mit heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie, ASCVD oder ASCVD-Risikoäquivalenten (11).

Eine im letzten Jahr publizierte Analyse bietet erste Eindrücke in den potenziellen Nutzen einer LDL-C-Senkung mit Inclisiran für die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und deutet auf einen potenziellen Nutzen für die Verringerung der Häufigkeit von Erkrankungen hin. Diese Ergebnisse müssen noch in grösseren Studien mit längerer Studiendauer bestätigt werden (12).

Adhärenz bei lipidsenkender Therapie mit PCSK9-Inhibiton

Der Vergleich einer 12-monatigen Behandlung mit Inclisiran versus Therapie mit monoklonalen anti-PCSK9 Antikörpern ergab für Inclisiran 0.9 (n = 852), für Alirocumab 0.71 (n = 852) und für Evolocumab 0.70 (n = 852). Die jährlich nur zweimalige Injektion durch den behandelnden Arzt ergibt erwartungsgemäss eine weitaus bessere Adhärenz als die zweimal monatliche Injektion durch den Patienten selbst.

Inclisiran und kardiovaskuläre Ereignisse

Eine kürzlich publizierte Analyse bietet erste Eindrücke in den potenziellen Nutzen einer LDL-C-Senkung mit Inclisiran für die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und deutet auf einen potenziellen Nutzen für deren Verringerung der Häufigkeit hin (12). Diese Ergebnisse müssen noch in grösseren Studien mit längerer Studiendauer bestätigt werden.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

• Der LDL-C-Wert ist vorwiegend genetisch determiniert → Kaskaden-Screening bei familiärer Hypercholesterinämie
• LDL-C ist ein behandelbarer Risikofaktor
• LDL-C Zielwerte sollten erreicht werden (the lower the better), nötigenfalls mit einer Kombinationsbehandlung
• Bei Intoleranz der Statine (cave Nocebo-Effekt), LDL > Zielwert trotz Statin: Be,pedoinsäure /PCSK9-Hemmer erwägen.
• Inclisiran ist eine einfache und potente Möglichkeit über CSK9-Synthese Hemmung LDL-C zu senken.

1. Ference BA et al. Low-density lipoproteins cause atherosclerotic cardiovascular disease. 1. Evidence from genetic, epidemiologic, and clinical studies. A consensus statement from the European Atherosclerosis Society Consensus Panel. Eur Heart J 2017;38(32):2459-2472. doi: 10.1093/eurheartj/ehx144.
2. Mach F. et al. 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J 2020;41:111-188.doi: 10.1093/eurheartj/ehz455.
3. Estruch R et al. Primary Prevention of cardiovascular disease with amediterranean diet supplementd with extra-virgin olive oil or nuts. New Engl J Med 2018 ;378 :e34. DOI : 10 ;1056/NEJMoa1800389.
4. Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaboration>Efficacy and safety of LDL-lowering therapy among men and women: meta-analysis of individual data from 174 000 participants in 27 randomised trials. The Lancet 2015; 385, 9976, 1397 – 1405
5. Grinspoon SK et al. Pitavastatin to Prevent Cardiovascular Disease in HIV Infection.. N Engl J Med 2023; ;389(8):687-699.doi: 10.1056/NEJMoa2304146
6. Andersson NW et al. LDL-C Reduction With Lipid-Lowering Therapy for Primary Prevention of Major Vascular Events Among Older Individuals. J Am Coll Cardiol 2023; 82):1381-1391. doi: 10.1016/j.jacc.2023.07.027.
7. Howard JP et al Side Effect Patterns in a Crossover Trial of Statin, Placebo, and No Treatment J Am Coll Cardiol 2021;78:1210-1222. doi: 10.1016/j.jacc.2021.07.022.
8. Sabatine MS et al. Evolocumab and clinical outcomes in patients with cardiovascular disease. New Engl J Med 2017 ;376 :1713-1722.
9. Schwartz GC et al : Alirocumab and cardiovascular outcomes after acute coronary syndrome. N Engl J Med 2018 ; 379 : 2097-2107
10. Ray KK et al Two Phase 3 trials of Inclisiran jn patients with elevated LDL cholesterol. New Engl J Med 2020 ;382 :1507-1519
11. Wright RS et al. Pooled patient-level analysis of Inclisiran trials in patients with familial hypercholesterolemie of atherosclerosis. JACC 2021 ;77 :1182-1193
12. Ray KK et al. Inclisiran and cardiovascualr events : a patient-level analysis of phase III trials.Eur Heart J 2023 ;44 :129-138

Colitis ulcerosa und Morbus Crohn: Stringente Therapieziele wie Mukosaheilung nun möglich

Colitis ulcerosa (UC, ulcerative colitis) und Morbus Crohn (CD, Crohn’s disease) gehören zu den häufigsten Formen von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (IBD, inflammatory bowel disease) (1, 2). Patient/-innen können heute auf eine klinische Remission hoffen, so dass sie im Alltag grösstenteils symptomfrei sind. Behandelnde Ärzt/-innen wollen darüber hinaus eine endoskopische Remission erreichen und somit die Entzündung langfristig kontrollieren. Die Doppelzulassung von Upadacitinib zur Behandlung der UC und des CD erweitert die Behandlungslandschaft in besagte Richtung, wie die Experten Prof. Dr. med. Luc Biedermann, Universitätsspital Zürich (USZ), und Prof. Dr. med. Alain Schöpfer, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), anlässlich des von AbbVie organisierten Medien-Round-Tables «IBD-Update: Kraftvoll gegen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn» zeigten (3-8).

Typische Symptome von IBD sind Durchfall mit Blut oder Schleim im Stuhl und heftige Bauchschmerzen (9). Die Heterogenität der Erkrankung macht die Therapie der IBD enorm anspruchsvoll, da Patient/-innen sich nicht nur im Krankheitsverlauf, sondern auch in der Schwere der Erkrankung sowie im Therapieansprechen stark unterscheiden können (10). Daher braucht es ein breites Angebot an wirksamen Medikamenten mit einem guten Sicherheitsprofil, um die unterschiedlichen Lebenslagen und Bedürfnisse abzudecken.

Langfristige Therapieziele auch bei vorherigem Therapieversagen

Das Erreichen von stringenteren Therapiezielen wie die Mukosaheilung führt zu einem besseren Outcome für die Patient/-innen, da es zu weniger Hospitalisationen, weniger Operationen und weniger Steroidgebrauch komme, so Prof. Biedermann während seines Vortrags. Die aktuellen STRIDE-II Leitlinien empfehlen daher einen «Treat-to-Target»-Algorithmus für das Erreichen ausgewählter kurz-, mittel- und langfristiger Behandlungsziele (11). Dafür brauche es aber Substanzklassen, die auch bei Patient/-innen wirken, die schon mehrere Therapielinien hinter sich haben. Mit Januskinase (JAK)-Inhibitoren konnte gezeigt werden, dass das schnelle Ansprechen sowie die langfristige Wirksamkeit bestehen bleibt, auch wenn die Patient/-innen vorher bereits auf eine oder sogar mehrere Biologika-Therapien unzureichend angesprochen haben (3-7). JAK-Inhibitoren wie Upadacitinib stellen einen vielversprechenden therapeutischen Ansatz zur Behandlung von UC und CD in diesen Situationen dar (12).

Mit JAK-Inhibitoren gegen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn

Upadacitinib ist ein oraler, selektiver, reversibler JAK-Inhibitor, welcher in vitro JAK1 stärker hemmt als JAK2, JAK3 und Tyrosinkinase 2 (13). Seit dem 07.06.2024 ist Upadacitinib für die Behandlung von mittelschwerer bis schwerer aktiver UC sowie mittelschwerem bis schwerem aktivem CD zugelassen – dies bei erwachsenen Patient:innen, die auf mindestens ein Biologikum unzureichend angesprochen haben, nicht mehr darauf ansprechen oder dieses nicht vertragen haben (bio-IR), oder bei denen eine solche Therapie kontraindiziert ist (8). Prof. Schöpfer zeigte in seinem Vortrag die Resultate der klinischen Zulassungsstudien mit Upadacitinib, wobei ein schnelles Ansprechen innert Tagen und eine anhaltende Remission über 52 Wochen bei beiden Indikationen möglich ist (3-8). Eine Mukosaheilung (endoskopische Verbesserung der Mukosa) wurde bei bis zu 59 % der bio-IR UC-Patient/-innen zu Woche 52 beobachtet (4). Bei CD wurde Mukosaheilung als ulkusfreie Endoskopie definiert – dieser stringente Endpunkt konnte bei bis zu 20 % der CD-Patient:innen zu Woche 52 erreicht werden (8). Zudem war Upadacitinib gut verträglich und es wurden keine neuen Sicherheitsrisiken beobachtet, verglichen zu den anderen zugelassenen Indikationen in der Rheumatologie und Dermatologie (4, 6, 8).

Fazit

Die Erweiterung der Therapielandschaft führt zu neuen Langzeitperspektiven für die Behandlung von UC und CD. Somit dürfen sich Ärzt/-innen und Patient/-innen in Zukunft hohe Therapieziele setzen, denn das Erreichen stringenter Ziele wie die Mukosaheilung rückt näher.

Quelle
Medien-Round-Table «IBD-Update: Kraftvoll gegen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn», AbbVie AG, 25. Juni 2024, Zürich.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. Crohn Colitis. Leben mit der Krankheit. https://www.crohn-colitis.ch/leben-mit-der-krankheit. Letzter Zugriff: Juni 2024.
2. Jairath, V. and B.G. Feagan, Global burden of inflammatory bowel disease. Lancet Gastroenterol Hepatol, 2020. 5(1): p. 2-3.
3. Danese, S., et al., Upadacitinib as induction and maintenance therapy for moderately to severely active ulcerative colitis: results from three phase 3, multicentre, double-blind, randomised trials. Lancet, 2022. 399(10341): p. 2113-2128. Incl. Suppl.
4. Vermeire, S., et al., Efficacy and safety of upadacitinib maintenance therapy for moderately to severely active ulcerative colitis in patients responding to 8 week induction therapy (U-ACHIEVE Maintenance): overall results from the randomised, placebo-controlled, double-blind, phase 3 maintenance study. Lancet Gastroenterol Hepatol, 2023. 8(11): p. 976-989. Incl. Suppl.
5. Loftus, E.V., Jr., et al., Upadacitinib Therapy Reduces Ulcerative Colitis Symptoms as Early as Day 1 of Induction Treatment. Clin Gastroenterol Hepatol, 2023. 21(9): p. 2347-2358 e6.
6. Loftus, E.V., Jr., et al., Upadacitinib Induction and Maintenance Therapy for Crohn‘s Disease. N Engl J Med, 2023. 388(21): p. 1966-1980. Incl. Suppl.
7. Colombel, J.F., et al., Upadacitinib Reduces Crohn‘s Disease Symptoms Within the First Week of Induction Therapy. Clin Gastroenterol Hepatol, 2024.
8. Aktuelle Fachinformation von RINVOQ® (Upadacitinib) auf www.swissmedicinfo.ch.
9. The global, regional, and national burden of inflammatory bowel disease in 195 countries and territories, 1990-2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet Gastroenterol Hepatol, 2020. 5(1): p. 17-30.
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11. Turner, D., et al., STRIDE-II: An Update on the Selecting Therapeutic Targets in Inflammatory Bowel Disease (STRIDE) Initiative of the International Organization for the Study of IBD (IOIBD): Determining Therapeutic Goals for Treat-to-Target strategies in IBD. Gastroenterology, 2021. 160(5): p. 1570-1583.
12. Salas, A., et al., JAK-STAT pathway targeting for the treatment of inflammatory bowel disease. Nat Rev Gastroenterol Hepatol, 2020. 17(6): p. 323-337.
13. Parmentier, J.M., et al., In vitro and in vivo characterization of the JAK1 selectivity of upadacitinib (ABT-494). BMC Rheumatol, 2018. 2: p. 23.

Vergessene Alpen hoch über Mergoscia

Mergoscia, der Ausgangspunkt unserer Wanderung, klebt hoch über dem Lago di Vogorno auf der Westseite der Valle Verzasca. Die einzelnen Dorfteile liegen weit über den Hang verstreut, teilweise durch mehr als zweihundert Höhenmeter voneinander getrennt. Beim Anblick der Dorfkirche werde ich jedesmal daran erinnert, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die amerikanische Flagge jahrein jahraus über dem Kirchturm wehte und daran gemahnte, dass damals weit über die Hälfte der Bevölkerung, vor allem Männer, ihr Auskommen in Übersee zu finden versuchten. Die kleinen, mehrstufigen Bauernbetriebe wurden zumeist von den zurückgebliebenen Frauen geführt, wobei die Kinder mitarbeiten mussten, um nicht nur die Ackerterrassen und Reben im Dorf, sondern auch Maiensäss und Alp bewirtschaften zu können.

Wir beginnen unsere Rundwanderung im Dorfteil Lissoi. Wenige Meter östlich des Parkplatzes beginnt ein kurzes Zubringersträsschen, von dem bergwärts ein steiler Weg abgeht und am Rand einiger Rebterrassen vorbeiführt. Im Herbst ist die Luft erfüllt vom aromatischen Duft der Uva americana, einer traditionellen Rebsorte, aus der ein herber Wein gekeltert wird, der allerdings nicht jedermanns Geschmack ist. Dafür mundet der gesüffige Nostrano, eine Assamblage aus Merlot- und Americanotrauben umso mehr. Er spielt in der Tessiner Gastfreundschaft eine besondere Rolle und wird aus kleinen henkellosen Tassen, Tazze genannt, getrunken. Unter den Alten ist es heute noch Brauch, dass Geschäfte erst nach dem Leertrinken der ersten Tazza besprochen werden, also nicht bevor der Gastfreundschaft genüge getan werden konnte. Wer diese Regel bricht hat kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Verhandlung.

Bei einem Rebhäuschen erreichen wir den Bergweg, der durch noch jungen Wald in wenigen Kehren zu den Monti di Cortoi hinaufführt. Spuren aufgelassener Terrassen weisen darauf hin, dass früher der gesamte Hang entweder für den Getreideanbau oder als Weideland genutzt wurde, um wenigstens den Zurückgebliebenen ein karges Überleben zu sichern. In Cortoi wenden wir uns gegen Südwesten dem Maiensäss Fossei zu. In Cortoi di Là, gleich nach Querung eines Bachbetts, zweigt der breite Weg nach Porchesio ab, der sich durch lichten Birkenwald hochschlängelt (Abb. 1). Etwa in der Weghälfte führt ein kurzer Pfad leicht abfallend zu zwei grossen Schalensteinen. Solche finden sich auch ­andernorts im Tal, z. B. bei der Capanna Borgna in der Valle della Porta oder auf Bardughè am Fusse des Gipfelaufbaus des Pizzo di Vogorno. Sie sind Beweise dafür, dass die Valle Verzasca bereits in frühen Zeiten besiedelt war.

Die Häusergruppen von Porchesio liegen verstreut auf einer breiten Hangschulter. Die Aussicht hinüber zur Pyramide des Pizzo di Vogorno und über die Piano di Magadino hinaus zum Ceneri und Monte Tamaro ist herrlich. Schon hier wähnt man sich wie in einem Flugzeug. Doch es soll noch besser kommen. Bei den zentralen Häusern von Mòtt beginnt ein weiss-blau-weiss markierter Pfad, der zum Ostgrat des Madone hinaufleitet. Dieser bildete früher den Zugang zur Alpe Redrisc, die wir leicht und schon nach kurzer Zeit erreichen. Im Herbst scheinen die zwei Alphütten in einem goldenen Grasmeer zu schwimmen (Abb. 2). Der Tiefblick in die Valle di Corippo mit seinen vielen Maiensiedlungen und weiter in das Haupttal hinein ist atemberaubend.

Vor nicht langer Zeit wurde der verbuschte, gegen Westen abgehende Verbindungsweg zur Alpe Rocca hoch über der Valle di Mergoscia wieder in Stand gesetzt. Er führt durch jungen Birkenwald, der die früheren Weideflächen für damals wenige Kühe, dafür aber viele Ziegen wieder zurückerobert. Kurz vor der Alp begegnet uns tatsächlich eine kleine Herde autochthoner Nera Verzasca-Ziegen. Sebstbewusst beschnuppern die Tiere uns Fremde und holen ihre Streicheleinheiten ab, bevor sie Gämsen gleich in den Felsen über uns verschwinden. Das noch intakte Hauptgebäude der Alpe Rocca steht auf einer vorspringenden Geländerippe unter einem schützenden Felspfeiler im stotzigen Südhang des Madone. Die Mauern scheinen mit den umstehenden Felsen zu verschmelzen. In der Valle di Mergoscia ist nur der Südhang besiedelt. Die schattige Nordseite ist von Buchenwald bedeckt, dem Bosco di Faedo.

Über einen Zickzackpfad steigen wir steil nach Móta di Sopra ab. Der Weg umgeht dieses Maiensäss gegen Süden und führt zum Hauptweg des Tales hinab. Bergwärts liegen nur noch die Maiensiedlung Fàed und die Alpe di Bietri, auf der noch heute ein köstlicher Alpkäse hergestellt wird. Über Bresciàdiga, Campitt, Sestrill und Campegliài gelangen wir nach Ranzòi, wo wir in einer spitzen Kehre den markierten Weg gegen Südosten verlassen und uns einem ebenfalls breiten, aber kaum mehr begangenen Pfad anvertrauen, der uns sanft abfallend nach Lissoi zurückbringt. Hier stossen wir wieder auf den zu Beginn eingeschlagenen Bergweg, über den wir die engstehenden Häuser des Dorfteils und den Ausgangspunkt unserer Wanderung erreichen (Abb. 3).

Leserinnen und Leser, die gerne einmal eine Bergtour mit dem ­Autor der Wandertipps unternehmen möchten, können ihr ­Interesse per E-Mail an christian.besimo@bluewin.ch anmelden und werden darauf über geplante Wanderungen informiert.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Betreuung des Neugeborenen bei der Geburt

Dieser Artikel beleuchtet wesentliche Aspekte der Betreuung von Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt. Im Fokus stehen dabei wichtige Themen wie die Indikationen für eine pränatale Verlegung in ein perinatales Zentrum, das Konzept des Spätabnabelns sowie das Management bei einer gestörten Primäradaptation. Dabei werden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und bewährte klinische Praktiken vorgestellt, um eine optimale Versorgung und den bestmöglichen Start ins Leben für Neugeborene zu gewährleisten. Der Artikel dient als praxisorientierter Leitfaden, um Geburtshelfer/-innen in ihrer entscheidenden Rolle bei der Neugeborenenbetreuung zu unterstützen.

This article examines key aspects of newborn care immediately after birth. It focuses on crucial topics such as indications for prenatal transfer to a perinatal center, the concept of delayed cord clamping, and the management of impaired primary adaptation. Current scientific findings and proven clinical practices are presented to ensure optimal care and the best possible start in life for newborns. The article serves as a practical guide to support obstetricians in their critical role in newborn care.
Keywords: newborn care, prenatal transfer, delayed cord clamping, impaired primary adaptation

Die Erstversorgung und Reanimation von Neugeborenen stellen einen wesentlichen Aspekt der neonatologischen Betreuung dar. Die ersten Minuten nach der Geburt sind bezüglich Morbidität und Mortalität entscheidend, weshalb eine sorgfältige und gut organisierte Erstversorgung unerlässlich ist. Dabei spielen sowohl die präzise Durchführung etablierter Massnahmen als auch die schnelle Reaktion auf unerwartete Komplikationen eine zentrale Rolle. Dieser Artikel fokussiert auf einige Aspekte der Betreuung von Neugeborenen ≥ 34 0/7 Schwangerschaftswochen, die für Geburtshelfer/-innen wichtig sind. Für detaillierte Informationen und weiterführende Richtlinien verweisen wir auf die aktuellen revidierten Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie (SGN) «Die Unterstützung der Adaptation und Reanimation des Neugeborenen».

Die grosse Mehrheit gesunder Neugeborener braucht in den ersten Lebensminuten ausser Aufrechterhaltung einer normalen Körpertemperatur und Sicherstellen einer normalen Adaptation keinerlei Interventionen. Da Risikosituationen nicht immer vorausgesehen werden können, müssen bei jeder Geburt ausgebildetes Personal und die technische Ausrüstung für eine allfällige Reanimation vorhanden sein. Im Idealfall ist mindestens eine Person ausschliesslich für die Versorgung des Neugeborenen verantwortlich. Sie soll fähig sein, das Neugeborene klinisch korrekt zu beurteilen, thermisch zu stabilisieren und, falls notwendig, eine Reanimation einzuleiten, das heisst die Luftwege zu öffnen und eine Maskenbeatmung durchzuführen (1–6). Diese Kompetenzen entsprechen den Lernzielen des Schweizer Basis-Kurses in neonataler Reanimation (start4neo BSC). Dabei ist hervorzuheben, wie entscheidend eine enge Zusammenarbeit und klare Kommunikation im Team sind, vor allem in Situationen mit unzureichender personeller Besetzung. Für weitere Massnahmen soll Hilfe einer in der neonatalen Reanimation geübten Fachperson angefordert werden (7, 8). Die organisatorische Gesamtverantwortung für die Erstversorgung des Neugeborenen liegt primär bei der Leitung der geburtshilflichen Institution (9).

Indikationen für eine pränatale Verlegung

Eine optimale Versorgung von Neugeborenen erfordert noch vor der Geburt ausreichende Informationen über das neonatologische Risiko und die Antizipation der zu erwartenden Störungen. Bei einer Risikoschwangerschaft ist es entscheidend, dass Mutter und Kind bei der Geburt von kompetenten Fachpersonen betreut werden, die über spezialisierte Kenntnisse, Fähigkeiten und die erforderliche Ausstattung verfügen. Diese Ressourcen sind aus Gründen der Häufigkeit, Erfahrung und Kosten nicht in jeder Geburtsklinik verfügbar. Daher benötigt ein Teil der Schwangeren rechtzeitig vor der geplanten oder bevorstehenden Entbindung eine Verlegung in ein perinatales Zentrum mit einer neonatologischen Intensiv­station.

Einige Risikofaktoren können die Notwendigkeit von stabilisierenden Massnahmen beim Neugeborenen nach der Geburt erhöhen. In solchen Fällen ist eine intrauterine Verlegung in ein geburtshilflich-neonatologisches Zentrum (CANU Level III) angezeigt, um sicherzustellen, dass das Kind die erforderliche Reanimation und intensivmedizinische Betreuung erhalten kann (9, 10). Die primäre Verantwortung obliegt hierbei der geburtshilflichen Leitung und die Einhaltung der festgelegten Kriterien ist verbindlich (Tab. 1).

Bei allen Neugeborenen, die keine Reanimationsmassnahmen benötigen, soll sowohl nach einer vaginalen Geburt als auch nach einem Kaiserschnitt die Nabelschnur frühestens 60 Sekunden und spätestens 2 Minuten nach der vollständigen Entwicklung des Kindes abgenabelt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass das Neugeborene währenddessen stimuliert wird, um das Einsetzen der Atmung zu unterstützen und so eine problemlose Transition zu ermöglichen. Die Spätabnabelung soll weder die frühe Betreuung des Neugeborenen (Abtrocknen, Stimulation zum ersten Atemzug, und sofortiger Haut-zu-Haut-Kontakt mit der Mutter) noch die Erhebung des 1-Minuten Apgar-Score beeinträchtigen. Falls bei 60 Sekunden die Atmung insuffizient oder die HF < 100/Min. ist, soll das Neugeborene abgenabelt und die Atemunterstützung begonnen werden (14). Ein verzögertes Abnabeln ist jedoch kontraindiziert, wenn der Gasaustausch über die Plazenta durch eine Plazentalösung, einen Nabelschnurprolaps, einen Nabelschnurabriss oder eine mütterliche Hämorrhagie beeinträchtigt ist, oder bei beeinträchtigter Adaptation mit Reanimationsbedarf. In diesen Situationen kann ein Ausstreichen (umbilical cord milking) der noch pulsierenden Nabelschnur als Alternative betrachtet werden. Eine Spätabnabelung zusammen mit einem Ausstreichen der Nabelschnur durchzuführen ist nicht vorteilhaft und wird nicht empfohlen (15, 16). Bedenken hinsichtlich der Position des Neugeborenen in Relation zum Plazentaniveau bei noch intakter Nabelschnur scheinen unbegründet zu sein; der plazento-neonatale Bluttransfer findet auch bei Positionierung des Kindes auf dem Bauch/Brust seiner Mutter statt (17).

Vorgehen bei gestörter Adaptation

Falls die klinische Beurteilung zeigt, dass ein Neugeborenes keine regelmässige oder suffiziente Atmung aufweist, oder dass die Herzfrequenz < 100/Min. bleibt, kommen zu den Massnahmen, die bei einer normalen Adaptation durchgeführt werden, nämlich Thermoregulation (T), Öffnen der Atemwege (A, airway), je nach Zustand des Kindes weitere hinzu. Das Öffnen sowie das Offenhalten der Atemwege (A) und die Belüftung der Lungen (B, breathing) sind dabei die beiden wichtigsten Massnahmen in der neonatalen Reanimation. In den meisten Fällen genügen diese auch, um ein Kind zu stabilisieren. Die möglichen Schritte und deren Indikationen sind im Algorithmus zusammengefasst (Abb. 1). Folgend ein kurzer Kommentar zu den einzelnen Schritten:

T – Thermoregulation

• Unabhängig vom Gestationsalter besteht eine eindeutige Assoziation zwischen Hypothermie und neonataler Mortalität sowie Morbidität (18–21).
• Die Reanimation wird in einem warmen Raum durchgeführt (mindestens 25 °C). Luftzug wird vermieden; Fenster und Türen sind geschlossen.
• Der Wärmestrahler ist bereits 10 bis 15 Minuten vor Geburt eingeschaltet.
• Das Kind wird rasch abgetrocknet und in warmen Tüchern auf den Reanimationstisch unter den Wärmestrahler gebracht.

A – Öffnen der Atemwege

1. Korrekte Lagerung
• Eine korrekte horizontale Lagerung auf dem Rücken mit dem Kopf in Mittelstellung mit leichter Deflexion (sog. Schnüffelposition, siehe Abb. 2) ist wichtig für optimal durchgängige Atemwege (21).
• Vermeidung von Flexion oder Hyperextension des Kopfes
• Ein Anheben des Unterkiefers (jaw thrust) kann das Öffnen und Offenhalten der Atemwege unterstützen sowie Maskenlecks vermindern.
• Durch eine kleine Windelrolle unter den Schultern können die Atemwege besser offengehalten werden.

2. Absaugen
• Absaugen ist nur dann notwendig, wenn die Atemwege verlegt sind.
• Katheter nicht in die Nase einführen: Verletzungsgefahr und Anschwellen der Nasenschleimhaut.
• Wiederholtes langes Absaugen erschwert das Einsetzen einer Spontanatmung. Die Berührung der Rachenhinterwand kann einen vagalen Reflex mit Bradykardie verursachen.
• Mekoniumhaltiges Fruchtwasser: Das intrapartale oropharyngeale Absaugen bei mekoniumhaltigem Fruchtwasser hat keinen Einfluss auf den Outcome des Neugeborenen, deshalb wird diese Intervention nicht mehr als Routinemassnahme empfohlen (22–25).

Ermitteln der Herzfrequenz

• Die zuverlässige Ermittlung der Herzfrequenz (HF) ist in der neonatalen Reanimation von zentraler Bedeutung, da einerseits die HF über Änderungen resp. Eskalation von Reanimationsmassnahmen bestimmt; andererseits ist ein Anstieg oder ein Verbleiben der HF > 100/Min. der wichtigste Parameter einer effektiven Ventilation und Oxygenation (26–28).
• Die HF ist initial am einfachsten durch Auskultation mittels Stethoskops über Herzspitze zu bestimmen.
• Die Palpation an der Basis der Nabelschnur soll nur behelfsmässig erfolgen, da sie mit einer bedeutenden Unterschätzung der reellen HF einhergeht (29, 30).
• Die Bestimmung der HF mittels Pulsoximeter ist genauer, braucht jedoch ca. 1 Minute für eine akkurate Messung (31).

B – Beatmung

Bei ungenügender oder fehlender Spontanatmung sowie Schnappatmung resp. bei Herzfrequenz < 100/Min. des Neugeborenen soll eine Maskenbeatmung mittels Beutel-Maske-System oder mittel T-Stück-Maske-System durchgeführt werden. Der Erfolg der Beatmung wird aufgrund folgender Kriterien beurteilt: sichtbare Thoraxexkursionen, Ansteigen der HF > 100/Min. und die Normalisierung der SpO2. Die Beatmung wird so lange fortgesetzt, bis das Neugeborene eine regelmässige und suffiziente Atmung aufgenommen hat und die HF > 100/Min. ist (7, 21).

Dieser Artikel hat einige wichtige Aspekte der Neugeborenenversorgung behandelt. Die enge Zusammenarbeit und gute Kommunikation zwischen Hebammen, Fachpersonen der Geburtshilfe, Pädiatrie und Anästhesie spielen eine entscheidende Rolle für die optimale Betreuung von Neugeborenen. Die konsequente Umsetzung dieser Empfehlungen, die kontinuierliche Weiter- und Fortbildung sowie alle 2–3 Jahre die Teilnahme an start4neo-Kursen bezüglich Standards und Fertigkeiten in der neonatalen Reanimation ist unerlässlich, um sicherzustellen, dass jedes Neugeborene die bestmögliche Betreuung erfährt.

Dr. med. Radhika Kothari 1
Prof. Dr. med. Jean-Claude Fauchère 2
1 Kinderspital Zentralschweiz – Luzerner Kantonsspital
KinderspitalHaus 33, 6000 Luzern
2 Universitätsspital Zürich
Klinik für Neonatologie
Frauenklinikstrasse 10, 8091 Zürich

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Radhika Kothari

Kinderspital Zentralschweiz – Luzerner Kantonsspital
KinderspitalHaus 33
6000 Luzern

Die Autorenschaft hat keinen Interessenskonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Zusammenarbeit: Die optimale Betreuung von Neugeborenen erfordert eine enge Zusammenarbeit und gute Kommunikation zwischen Hebammen, Fachpersonen der Geburtshilfe, Pädiatrie und Anästhesie.
  • Präpartales Risikomanagement: Das frühzeitige Erkennen von mütterlichen und kindlichen Risikofaktoren ermöglicht eine rechtzeitige Verlegung in spezialisierte Zentren, die über die erforderlichen Ressourcen verfügen.
  • Spätabnabelung: Das verzögerte Abnabeln hat mehrere physiologische Vorteile für das Neugeborene und hat sich zum Goldstandard in der Erstversorgung von Neugeborenen entwickelt.
  • Algorithmus bei gestörter Adaptation: Ein strukturierter Ansatz unterstützt das Management bei Anpassungsschwierigkeiten des Neugeborenen.
  • Weiter- und Fortbildung: Die kontinuierlich Weiter- und Fortbildung und regelmässige Teilnahme an Schulungen wie start4neo-Kursen sind entscheidend, um die konsequente Umsetzung der
    Empfehlungen sicherzustellen und die bestmögliche Betreuung
    von Neugeborenen sicherzustellen.

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Zwischen Krisen und Chancen: Unser Einsatz als Ärztinnen und Ärzte ist wichtiger denn je

Als Kind der Nachkriegsgeneration habe ich die Schrecken des Zweiten Weltkriegs nur aus Erzählungen meiner Eltern und im Geschichtsunterricht kennengelernt. Lange Zeit schienen Kriege weit entfernte Ereignisse, die uns zwar beschäftigten, aber aufgrund der Distanz ihren Schrecken etwas verloren. Wir wuchsen in einer unbeschwerten, aufstrebenden Generation auf.

Doch diese unbeschwerte Zeit ist vorbei. Die Kriege in Europa und im Nahen Osten der letzten Jahre sind von einer ­beispiellosen Brutalität. Eine schnelle Lösung dieser Konflikte scheint unerreichbar, und unser Einfluss darauf ist minimal – eine beängstigende und frustrierende Erkenntnis. Die ­Auswirkungen dieser Ereignisse machen sich auch bei den jüngeren Generationen bemerkbar die zunehmend unter ­Belastungsstörungen leidet.

Ähnlich düster ist die Lage im Schweizer Gesundheitswesen. Schlagzeilen über Ärztemangel, Spitalsschliessungen und steigende Prämien trotz strenger staatlicher Regulierung zeichnen ein besorgniserregendes Bild. Auch hier scheint eine Lösung in weiter Ferne.

Unsere Einflussmöglichkeiten erscheinen begrenzt. Jammern bringt uns nicht weiter. Dennoch sollten wir uns nicht von Pessimismus lähmen lassen. Als Ärztinnen und Ärzte haben wir einen sinnvollen und erfüllenden Beruf gewählt. Lasst uns uns auf das konzentrieren, was wir am besten ­können: Uns um unsere Patientinnen und Patienten kümmern, und ihnen bei der Lösung ihrer gesundheitlichen ­Probleme zu helfen. Die übersichtlichen und sorgfältigen ­Artikel in diesem Heft sind uns dabei eine Hilfe!

In dieser Ausgabe beleuchten wir vier aktuelle Themen aus verschiedenen Bereichen der Gynäkologie, die Einblicke in innovative Ansätze und Leitlinien bieten. Der erste Artikel widmet sich der Betreuung von Neugeborenen direkt nach der Geburt. Neben Aspekten wie pränatalen Verlegungen in perinatale Zentren und dem Spätabnabeln wird auch das Management bei gestörter Primäradaptation ausführlich ­diskutiert, um Geburtshelfer/-innen in ihrer essenziellen Rolle zu unterstützen.

Der zweite Beitrag befasst sich mit der fetalen Wachstums­restriktion und der Unterscheidung zum konstitutionell ­kleinen Fetus. Hier werden aktuelle Forschungsergebnisse und Empfehlungen zum Management, der Diagnostik und dem optimalen Entbindungszeitpunkt dargelegt.

Im dritten Artikel geht es um eine moderne perioperative ­Betreuung. Althergebrachte Untersuchungen wie routine­mässiges EKG und Thorax-Röntgen werden zunehmend durch gezieltere Massnahmen wie Anämie-Therapie ersetzt, was eine effizientere und sicherere Vorbereitung der Patient­innen ermöglicht.

Schliesslich wird das bevölkerungsbasierte Mammographiescreening-Programm «donna» in der Schweiz vorgestellt. Seit seiner Einführung im Kanton St. Gallen 2010 hat es massgeblich zur Früherkennung und schonenderen Behandlung von Brustkrebs beigetragen und wird stetig weiter ausgebaut.

Wir hoffen, dass Sie die Artikel inspirieren und eine ­Bereicherung für Ihre klinische Praxis darstellen.

 

Dr. med. David Ehm

Dr. med. David Ehm

Bern

David.Ehm@hin.ch