ChatGPT und KI in der Medizin: Zwischen Revolution und Vorsicht

ChatGPT (Chat Generative Pre-trained Transformer) weckt weltweit in der Medizinbranche sowohl Hoffnung als auch Bedenken. Experten betonen sein revolutionäres Potenzial für den Gesundheitssektor, mahnen aber gleichzeitig zu einer durchdachten Einführung und kritischen Nutzung, um Risiken zu vermeiden. Parallel dazu spielt die Künstliche Intelligenz (KI) eine zunehmend wichtige Rolle in der kardiovaskulären Medizin, insbesondere bei der Segmentierung bildgebender Verfahren. Ein Vergleich innerhalb der Medizin zeigt, dass sich bis Januar 2023 am meisten FDA (Food and Drug Administration in der USA, ähnlich wie Swissmedic in der Schweiz) -zugelassene Algorithmen in der Radiologie und der Kardiologie etabliert haben. Daher ist die kardiovaskuläre Bildgebung eines der wichtigsten Gebiete für die Anwendung von KI.

ChatGPT (Chat Generative Pre-trained Transformer) is raising both hopes and concerns in the medical industry worldwide. Experts emphasize its revolutionary potential for the healthcare sector, but at the same time urge thoughtful introduction and critical use in order to avoid risks. At the same time, artificial intelligence (AI) is playing an increasingly important role in cardiovascular medicine, particularly in the segmentation of imaging procedures. A comparison within medicine shows that by January 2023, the most FDA (Food and Drug Administration in the USA, similar to Swissmedic in Switzerland) -approved algorithms will have been established in radiology and cardiology. Cardiovascular imaging is therefore one of the most important areas for the application of AI.
Keywords: Chat GPT, Artificial intelligence (AI), Cardiovascular imaging

ChatGPT, entwickelt von OpenAI, einem Unternehmen mit Sitz in Kalifornien, erfreut sich grosser Beliebtheit und findet bereits im Alltag vielfältige Anwendung, beispielsweise im Bereich Kundenservice und Support, als Assistent für E-Mail und Präsentationserstellung, in sozialen Medien, bei der Programmierung und Software­entwicklung sowie in der Bildung und Lehre.

Was ist eigentlich ChatGPT?

ChatGPT ist ein fortschrittliches Sprachmodell (Large Language Model), das auf der Transformer-Architektur basiert. Es wurde durch die Analyse einer riesigen Menge an Textdaten trainiert, um Sprachmuster, Grammatik und Stil zu erkennen. Der Chatbot wurde mit einem umfangreichen Textdatenkorpus trainiert, der etwa 570 GB an Datensätzen umfasst, einschliesslich Webseiten, Büchern und weiteren Quellen. Dies klingt zwar nach einer sehr grossen Datenmenge, doch da es sich um reine Textdaten handelt und das Modell die Daten nicht selbst speichert, sondern nur auf deren Basis trainiert wurde, ist der tatsächliche Speicherbedarf relativ gering. Das Sprachmodell kann bereits 50 Sprachen und verarbeitet ca. 10 Millionen Anfragen pro Tag von 100 Millionen wöchentlichen Nutzern. Dieses Training ermöglicht es ChatGPT, Texte zu generieren, die in Struktur und Inhalt menschenähnlich sind. Bei der Verarbeitung einer Benutzereingabe zerlegt ChatGPT den Text in kleinere Einheiten, sogenannte Tokens, und generiert daraufhin eine Antwort, indem es das nächste wahrscheinliche Token basierend auf dem Kontext der vorherigen Tokens vorhersagt. Anders gesagt, wenn ich dem System ein Wort eingebe, ermit­telt es anhand statistischer Wahrscheinlichkeiten, welches Wort wahrscheinlich folgen wird. Dieser Prozess ermöglicht es ChatGPT, kohärente und kontextbezogene Antworten zu formulieren. Darüber hinaus kann ChatGPT für spezifische Aufgaben oder Richtlinien feinabgestimmt werden, um bestimmten ethischen oder praktischen Standards zu entsprechen.

In der Praxis kann ChatGPT eine breite Palette von Aufgaben bewältigen, die ein Verständnis natürlicher Sprache erfordern, von der Beantwortung von Fragen bis hin zur Textgenerierung, indem es auf sein umfangreiches Training und seine Fähigkeit, den Kontext zu verstehen, zurückgreift. Also, zusammengefasst, besitzt das Modell kein intrinsisches Wissen, sondern stützt sich auf statistische Analysen. Es ist momentan nicht angebracht, zu behaupten, dass dies der menschlichen Intelligenz in irgendeinem Aspekt gleichkommt. Trotzdem eröffnet es schon jetzt zahlreiche Anwendungsbereiche, einschliesslich in der Herz-Gefässmedizin. Es ist wichtig zu betonen, dass ChatGPT und ähnliche KI-Tools die fachliche Expertise und Urteilskraft von medizinischem Personal nicht ersetzen können.

Einsatz von ChatGPT in der Herz-­Gefässmedizin

Ärzte können ChatGPT für verschiedene Aufgaben nutzen, darunter Informationsrecherche zu medizinischen Themen, Unterstützung bei der Patientenkommunikation durch Generierung verständlicher Erklärungen medizinischer Sachverhalte und Übersetzungen in alle Sprachen, Hilfe bei der Ausbildung und Weiterbildung durch Bereitstellung von Lehrmaterialien und als Hilfsmittel zur Ideenfindung für Forschungsprojekte. Andererseits wird ChatGPT bereits von vielen Patienten genutzt, um bestimmte Diagnosen und Vorschläge selbst zu erforschen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie schnitt sogar ChatGPT besser ab als Fachpersonen, wenn es darum geht, auf Online-Medizinforen zu beraten. Die Studie, durchgeführt auf der Plattform AskDocs mit ca. 452 000 Mitgliedern, die es Menschen ermöglicht, medizinische Fragen zu stellen, die von verifizierten Gesundheitsfachkräften beantwortet werden, sammelte insgesamt 195 Dialoge. In dieser Studie, bei der Patientenfragen aus dem AskDocs-Subreddit von Reddit gesammelt und sowohl von Ärzten als auch von ChatGPT beantwortet wurden, wurden die Antworten von ChatGPT als deutlich besser gewertet. Im Detail wurde die Studie wie folgt durchgeführt: Die ursprünglichen Fragen wurden anschliessend ChatGPT gestellt, dessen Antworten von einem Gremium aus drei lizenzierten Ärzten bewertet wurden. Die Ärzte verglichen die Antworten hinsichtlich Informationsqualität und Einfühlungsvermögen. Jede Bewertung erfolgte auf einer fünfstufigen Skala von «sehr schlecht» bis «sehr gut» für die Qualität bzw. von «nicht empathisch» bis «sehr empathisch» für das Einfühlungsvermögen. In 78,6 % der 585 abgeschlossenen Bewertungen bevorzugte das Gremium die Antworten von ChatGPT gegenüber denen der Ärzte. Die Antworten von ChatGPT waren mit 168 bis 245 Wörtern auch länger als die der Ärzte, die zwischen 17 und 62 Wörtern lagen. Die Antworten der KI wurden zudem signifikant höher sowohl in Bezug auf Qualität als auch Empathie bewertet. Im Durchschnitt erzielten ChatGPTs Antworten eine 4 in Qualität und eine 4,67 in Empathie. Im Vergleich dazu erreichten die Antworten der Ärzte eine 3,33 in Qualität und 2,33 in Empathie. Insgesamt hatte ChatGPT 3,6-mal mehr qualitativ hochwertige Antworten und 9,8-mal mehr empathische Antworten als die Ärzte. Also, KI scheint nicht nur akkurater, sondern auch empathischer zu sein.

Weitere Sprachmodelle

Eine weitere Applikation hat Google entwickelt mit «Google Gemini», vormals bekannt als «Google Bard». Dies widerspiegelt eine revolutionäre Software, die das Potenzial hat, die medizinische Suche und Forschung zu transformieren. Diese KI-basierte Anwendung bietet ähnliche Funktionen wie ChatGPT, ist jedoch speziell darauf ausgerichtet, medizinischen Fachkräften und Patienten massgeschneiderte Unterstützung zu bieten. Gemini ermöglicht es, individuelle Antworten auf komplexe medizinische Fragen zu generieren, fachspezifische Texte zu verfassen und zu bearbeiten sowie bei der medizinischen Forschung und Programmierung von gesundheitsbezogenen Anwendungen zu assistieren. Ein besonderer Vorteil von Gemini ist seine Fähigkeit, selbst in der kostenlosen Version, mit den neuesten medizinischen Informationen zu arbeiten. Neben Gemini hat Google mit Med-PaLM, kurz für «Medical Pre-trained Attention-based Language Model», ein medizinspezifisches Modell präsentiert. Im Gegensatz zu ChatGPT, (KI für allgemeine Zwecke), wurde Med-PaLM speziell für den Einsatz im medizinischen Bereich konzipiert und basiert auf 540 Milliarden Parametern. Ein in Nature veröffentlichter Bericht zeigt, dass die von Med-PaLM erzeugten Antworten «sich sehr akkurat mit den Antworten von Klinikern vergleichen lassen.» Dieser spezial­isierte Ansatz von Google zeigt eine gezielte Bemühung, KI in die Gesundheitssysteme zu integrieren.

Risiken von Sprachmodellen

Obwohl diese neuen Tools in Zukunft nicht mehr wegzudenken sind, ist es auch wichtig, dass man sich der Limitationen und Risiken von solchen KI-gesteuerten Systemen bewusst ist. Anwender, die nicht mit den zugrundeliegenden Prozessen vertraut sind, übersehen leicht, dass auch fortschrittliche KI-Systeme im Kern auf Mustererkennung beruhen und Sätze generieren, die lediglich auf Wahrscheinlichkeitsanalysen basieren. Somit repräsentieren sie, entgegen der durch den Namen implizierten Annahme, keine Intelligenz im herkömmlichen Verständnis. Die Nutzung von ChatGPT in der Medizin birgt Risiken, darunter die Genauigkeit der Informationen, Datenschutzbedenken und die potenzielle Abhängigkeit von KI-gesteuerten Entscheidungen. Fehlinformationen können zu fehlerhaften Diagnosen oder Behandlungsempfehlungen führen. Die Haftung und wer dafür verantwortlich wäre in einem solchen Fall ist nicht geklärt, und ob ein solches System als Medizinprodukt zuerst geprüft und zugelassen werden muss, sind alles offene Fragen. Datenschutz ist ebenfalls kritisch, da sensible Patientendaten geschützt werden müssen. Zudem könnte eine übermässige Abhängigkeit vom KI-System die klinische Urteilsfähigkeit beeinträchtigen. Eine sorgfältige Überwachung und regulative Massnahmen sind notwendig, um diese Risiken zu minimieren. Deshalb ist es wichtig, trotz des enormen revolutionären Potenzials von KI, diese Bedenken bezüglich der Systeme von ChatGPT und Co. ernst zu nehmen und nicht blind den neuen Systemen zu vertrauen, ohne diese zu hinterfragen.

Revolution in der Kardiovaskulären Bildgebung – KI-gesteuerte Diagnostik und Analyse

Künstliche Intelligenz spielt eine zunehmend wichtige Rolle in der kardiovaskulären Medizin, insbesondere bei der Segmentierung bildgebender Verfahren. Ein Vergleich innerhalb der Medizin zeigt, dass sich bis Januar 2023 am meisten FDA (Food and Drug Administration in den USA, ähnlich wie Swissmedic in der Schweiz) -zugelassene Algorithmen in der Radiologie und der Kardiologie etabliert haben. Daher ist die kardiovaskuläre Bildgebung eines der wichtigsten Gebiete für die Anwendung von KI. Algorithmen des maschinellen Lernens (ML) und des Deep Learnings (DL) ermöglichen es insbesondere, Strukturen wie die Herzkammern, den Herzmuskel sowie die Aorta und die Koronargefässe in Echokardiographien, kardiovaskuläre CT- und MRI schnell und akkurat zu identifizieren-, segmentieren- und zu analysieren. Diese Technologie ermöglicht es, die Herzfunktion wie die systolische linksventrikuläre Ejektionsfraktion und den Myokard-Strain innerhalb von Sekunden mit hoher Genauigkeit zu berechnen. Darüber hinaus unterstützt KI bei der Erkennung pathologischer Veränderungen, wie z.B. bei der Diagnose von Herzmuskelerkrankungen oder der Beurteilung von Atherosklerose in den Koronararterien.

Manche Ansätze, die ursprünglich nur für Forschungszwecke entwickelt wurden, haben später ihren Weg in kommerzielle Produkte gefunden und sind bereits im klinischen Alltag im Einsatz. Ein Beispiel für eine bereits eingesetzte Methode ist die automatische Erkennung der Koronarverkalkung im nativen CT, um den Kalziumscore automatisch zu berechnen. Hier werden Voxel, die eine Abschwächung von 130 Hounsfield Units oder mehr aufweisen, automatisch markiert und dem korrekten Koronargefäss zugeordnet. Am Ende wird der Kalziumscore automatisch berechnet und in Relation gesetzt zu den Perzentilen gemäss Alter und Geschlecht (Abb. 2). Dies dient der schnellen Risikostratifizierung, insbesondere von Patienten, bei denen die Entscheidung bezüglich einer Statintherapie aufgrund der Laborwerte und klinischen Daten allein ungenügend ist.

Eine andere Anwendung von KI ist im Bereich des Herz-MRIs. Bei einer Herz-MRI-Untersuchung werden circa 1000 Bilder in verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Sequenzen aufgenommen, die viele Atemanhaltekommandos erfordern. Die Planung dieser Untersuchung ist komplex und nur für speziell ausgebildete und erfahrene Ärzte und Radiologiefachpersonen möglich (Abb. 3). Eine schnellere Untersuchungszeit wäre hier natürlich wünschenswert. Der neue Algorithmus von Heart Vista soll nun Abhilfe schaffen und dabei helfen, Herz-MRI-Untersuchungen mit weniger Fachkenntnissen und deutlich schneller durchzuführen. Dies wird unter dem Slogan «One Click MRI» beworben, wobei das neue Produkt bis zu sechsmal schneller ist als wenn ein Mensch die MRI Untersuchung durchführt, zudem weniger oder sogar keine Atemkommandos benötigt und deutlich weniger Artefakte, insbesondere bei Arrhythmien aufweist. Ein weiteres Herz-MRI-Beispiel ist die automatische Segmentierung des Endokards und Epikards in der Diastole sowie in der Systole. Normalerweise ist dies zeitintensiv, da jede Schicht und jede Phase (typischerweise wird das Herz in 10–14 Schichten zu je 8 mm gescannt, in ca. 25–30 Phasen) bearbeitet werden muss. Dies führt einerseits zu einem erheblichen Aufwand und andererseits zu Unterschieden in den Messwerten zwischen verschiedenen Untersuchern (Interrater-Variabilität) sowie auch innerhalb des gleichen Untersuchers (Intrarater-Variabilität), wenn die gleiche Person den gleichen Patienten später nochmals analysiert. Diese automatische Konturerkennung erfolgt innerhalb von Sekunden und ist sehr genau und hilft diese Messwertunterschiede zu minimieren.

Ein weiteres Produkt für die kardiale Bildgebung kommt von der Firma Caption AI, welches eine innovative Technologie für die Echokardiographie bietet, die medizinisches Personal durch Live-Anleitungen unterstützt, um qualitativ hochwertige Ultraschallbilder zu erfassen. Ein Qualitätsmesser beurteilt live die diagnostische Qualität der Bilder und die Software gibt Anleitungen, wie der Schallkopf gedreht oder gekippt werden soll, um die Bildqualität zu verbessern. Die Anzeige färbt sich grün, sobald die optimale Bildqualität erreicht ist und gleichzeitig werden die Messungen automatisch erhoben. Zudem speichert das System automatisch nur die besten Bilder jeder Scansitzung, was auch Nicht-Experten ermöglicht, am Schluss einen Datensatz an diagnostisch auswertbaren Bildern zu gewinnen.

Eine weitere Firma, US.ai aus Singapur, bietet eine Technologie an, die während der Echokardiographie alle Messwerte laufend generiert und zudem direkt einen Bericht inklusive der Wahrscheinlichkeitsbewertung der Diagnose erzeugt. Dies wird ein enormer Zeitgewinn sein für die Kardiologen/-innen und wird auch helfen, schnell zu entscheiden, welche weiteren Abklärungen indiziert sind.

KI-Technologien zur Segmentierung und Erkennung von Herz-Gefässerkrankungen werden in Zukunft nicht nur dazu beitragen, Diagnosen präziser, personalisierter und schneller zu stellen, aber auch zunehmend ganzheitliche Rollen zu übernehmen. Diese umfassen korrekte Diagnosestellung und den Vorschlag zur individualisierten Therapie, beispielsweise bei der Aortenklappen Stenose durch optimale Klappenselektion (Grösse der Klappe, Zugang minimalinvasiv oder chirurgisch) oder wie eine medikamentöse Therapie aussehen soll (z.B. bei der kardialen Amyloidose oder Entschied einer Defibrillator Implantation bei der hypertrophen Kardiomyopathie) oder Empfehlungen zum weiteren Patienten Monitoring (z.B. wie man kardiale Sarkoidose Patienten nachkontrollieren soll). In dieser Zukunft werden Ärztinnen und Ärzte hauptsächlich eine überwachende und bestätigende Experten Rolle einnehmen, anstatt die Analysen und Berechnungen direkt selber durchzuführen.

(Dieser Text wurde von ChatGPT 4.0 auf Grammatik und Stil korrigiert.)

Zweitabdruck aus info@herz+gefäss 01/24 und 02/24

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. Dr. med. Christoph Gräni

PhD, FESC, FACC, FSCCT, FSCMR
Leiter kardiale Bildgebung
Universitätsklinik für Kardiologie
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

christoph.graeni@insel.ch

Es besteht keine Beteiligung des Autors an den erwähnten Produkten, weder in Bezug auf deren Entwicklung noch in
finanzieller Hinsicht.

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Physikalische Massnahmen bei Arthroseschmerzen und Physiotherapie

Arthrose verursacht starke Schmerzen, die die Mobilität und die Lebensqualität der Betroffenen ­beeinträchtigen. Dies gilt insbesondere für Menschen über 55 Jahren, wobei Frauen häufiger betroffen sind. Physiotherapie, die sich auf die Entwicklung und den Erhalt funktioneller Fähigkeiten konzentriert, ist für die Behandlung von Arthroseschmerzen von entscheidender Bedeutung. Dieser Artikel untersucht die physikalischen Interventionen, die in der Physiotherapie zur Behandlung von Arthroseschmerzen angeboten werden, und hebt ihre Wirksamkeit hervor. Schmerzen sind komplex und erfordern einen individuellen Ansatz. Ein Training, welches die Kräftigung der Muskulatur, die Förderung der Ausdauer, die Verbesserung der Beweglichkeit sowie die Stärkung des Gleichgewichtssinns zum Ziel hat, weist einen klaren Nutzen auf. Ein strukturiertes, auf den Einzelnen zugeschnittenes Programm kann diese Effekte maximieren. Von Massagen und Elektrostimulation wird hingegen abgeraten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein aktiver Lebensstil und angemessene Bewegung eine entscheidende Rolle bei der Schmerzbekämpfung und der Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Arthrose spielen.

Osteoarthritis causes severe pain, impacting mobility and quality of life, especially in those over 55, particularly women. Physiotherapy, focused on developing and preserving functional capacities, is crucial for managing arthritic pain. This article explores physical interventions, highlighting their effectiveness. The complex nature of pain requires an individualized approach. Exercise, including muscle strengthening, endurance, flexibility, and balance, provides benefits. A structured program tailored to the individual can maximize these effects. However, massages and electrostimulation are not recommended. In conclusion, an active lifestyle and tailored exercises play a crucial role in managing pain and improving the quality of life for people with osteoarthritis.
Keywords: Osteoarthritis – Physiotherapy – Pain Management – Exercise Interventions – Quality of Life

Einführung

Arthrose ist eine degenerative Gelenkerkrankung. Sie betrifft alle Gelenke und das sie umgebende Gewebe. Am häufigsten tritt sie in den Knien (85 %), den Hüften, der Wirbelsäule und den Händen auf (1). Sie ist bei Personen über 55 Jahren weit verbreitet (73 %) und betrifft vor allem Frauen (60 %) (1). Die Inzidenz von Knie- und Hüftarthrose nimmt bei beiden Geschlechtern mit zunehmendem Alter stetig zu, während das Risiko für Handarthrose bei Frauen um die Menopause herum am höchsten ist (1).

Dieser Zustand führt zu Schmerzen, Schwellungen und Steifheit, die die Bewegungsfähigkeit des Betroffenen einschränken (1). Von allen Symptomen werden die Schmerzen von den Patienten häufig als am stärksten beeinträchtigend empfunden (2). Arthrose geht mit einer Vielzahl an Einschränkungen einher und stellt für die Betroffenen eine erhebliche und zunehmende gesundheitliche Belastung dar, welche die Lebensqualität beeinträchtigt (2). Aufgrund der kumulativen Auswirkungen der alternden Weltbevölkerung, der zunehmenden Fettleibigkeit, der steigenden Zahl von Gelenkverletzungen und der Inaktivität nimmt dieses bereits schwerwiegende Syndrom weiter zu (2).

Physiotherapie ist eine Therapie, die von Physiotherapeuten an Einzelpersonen und Gruppen durchgeführt wird, um lebenslang ein Höchstmass an Beweglichkeit und Funktionsfähigkeit zu entwickeln, zu erhalten und wiederherzustellen. Physiotherapie ist indiziert, wenn Bewegung und Funktion bedroht sind, z.B. durch Alterung, eine oder mehrere Verletzungen oder Schmerzen sowie verschiedene andere Pathologien (3).
Obwohl Physiotherapie traditionell bei Arthrose und den damit verbundenen Schmerzen verordnet wird, werden den Patienten immer wieder Behandlungen angeboten, deren Wirksamkeit fragwürdig ist. Dieser Artikel befasst sich mit den verschiedenen physikalischen Massnahmen, die in diesem Zusammenhang eingesetzt werden, und ihrer Wirksamkeit.

Schmerzen

Schmerzen bei Arthrose sind sehr heterogen und variieren von Person zu Person und in verschiedenen Stadien der Erkrankung. Diese Komplexität macht es besonders schwierig, den Schmerz zu bewerten. Traditionell wird der Schmerz als nozizeptiv betrachtet, d.h. als Folge einer abnormalen Belastung eines geschädigten Gelenks (4). Einige Patienten weisen jedoch eine entzündliche Komponente in ihrem Schmerzerleben auf. Neuere Studien zeigen auch eine signifikante Prävalenz von neuro­pathischen Schmerzen bei Menschen mit Knie- oder Hüftarthrose von bis zu 23% (4). Im Gegensatz zum nozizeptiven Schmerz, der durch eine tatsächliche Gewebe­schädigung oder potentiell gewebeschädigende Reize ausgelöst wird, entsteht der neuropathische Schmerz durch eine Schädigung des Nervensystems selbst. Ein besseres Verständnis dieser multifaktoriellen Komponenten des Arthroseschmerzes ist für eine bessere Behandlung unerlässlich (4).

Schmerzen bei Kniearthrose sind in der Regel intermittierend und hauptsächlich gewichtsabhängig (mechanisch) (2). Häufig sind intermittierende Schmerzen vorhersehbar, aber wenn sie stärker, häufiger oder unvorhersehbar werden, stufen die Patienten sie häufiger als unerträglich ein. Das Konzept und Verständnis von Attacken, die als «flare-ups» bezeichnet werden, entwickelt sich weiter und wird nun als umfassender als eine einfache Schmerzexazerbation angesehen (2). Entgegen der landläufigen Meinung zeigen konventionelle Röntgen- und MRT-Bilder bei den Betroffenen nur eine mässige Assoziation zwischen struktureller Arthrose und dem Vorhandensein von Schmerzen (2). Obwohl die Arthrose eine grosse medizinische Herausforderung darstellt, ist eine krankheitsmodifizierende Behandlung noch nicht verfügbar. Die medikamentöse Analgesie (Paracetamol und NSAR) ist nach wie vor die bevorzugte Schmerz­therapie (2). Infiltrationen kommen zum Einsatz, wenn die orale Medikation versagt (2). Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, weniger invasive Optionen zu prüfen, bevor grössere Eingriffe vorgenommen werden.

Physiotherapie

Der Physiotherapeut muss den Patienten bei der Durchführung der physikalischen Therapie darauf hinweisen, dass er nicht über seine Schmerzgrenze hinaus trainiert. Eine umfassende Eingangsuntersuchung ermöglicht es dem Therapeuten, ein sinnvolles und wirksames Programm zu entwickeln (5). Im Folgenden werden sehr empfehlenswerte, mässig wirksame und nicht empfehlenswerte Interventionen unterschieden (Abb. 1). Diese Einteilung basiert auf den Ergebnissen klinischer Studien und dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Arthrosetherapie.

Massagen

Die wenigen Studien zur Massagetherapie bei Kniearthrose weisen darauf hin, dass sie einen kurzfristigen
Nutzen bei der Linderung von Knieschmerzen haben könnte. Im Allgemeinen wird diese Behandlungsform jedoch nicht empfohlen (6).

Wärme und Kälte

Diese Interventionen umfassen direkte Wärme- und Kältequellen sowie indirekte Wärmequellen wie Diathermie oder Ultraschall. Die Variation der Methoden zur Durchführung der Intervention in den veröffentlichten Studien und die kurze Dauer des Nutzens haben zu einer bedingten Empfehlung geführt (6).

Die Elektrostimulation

Studien, die den Einsatz der transkutanen elektrischen Neurostimulation (TENS) untersuchten, haben gezeigt, dass es keinen Nutzen bei Kniearthrose gibt. Die Studien sind jedoch von geringer Qualität, mit kleinen Stichproben und variablen Kontrollen, was den Vergleich zwischen den Studien erschwert (6).

Die Balneotherapie

Balneotherapie ist die Bezeichnung für die Technik des Badens in Mineralwasser zu Gesundheitszwecken und umfasst auch verwandte Praktiken wie Schlammpackungen. Obwohl einige Studien darauf hindeuten, dass diese Art der Balneotherapie die Schmerzen bei Arthrose
lindern kann, ist die Zahl der qualitativ hochwertigen Studien zu gering, um zu eindeutigen Schlussfolgerungen zu gelangen (7).

Die Wasserübungen, bei denen Muskelaufbau- und Ausdauerübungen in einem Schwimmbecken durchgeführt werden, haben sich jedoch als deutlich vorteilhaft erwiesen, was die Schmerzreduktion und die Funktionsverbesserung betreffen (8). Bemerkenswert ist, dass die Übungen im Wasser im Vergleich zur Übungsgruppe an Land weniger Nebenwirkungen, wie z.B. Beschwerden, aufweisen (9). Die Verbesserungen bei den Schmerzen selbst scheinen jedoch zwischen den beiden Gruppen vergleichbar zu sein (9).

Gehhilfe / Hilfsmittel

Die Verwendung von Gehstöcken wird für Patienten mit Knie- und/oder Hüftarthrose dringend empfohlen, wenn die Krankheit das Gangbild und die Gelenkstabilität stark beeinträchtigt oder starke Schmerzen verursacht (6). Die Verwendung von Knieschonern und/oder Ferseneinlagen ist jedoch umstritten (10).

Körperliches Training

Bewegung im Allgemeinen hat sich als wirksam bei der Schmerzbekämpfung erwiesen (10). Neben der Wirkung auf den Schmerz selbst könnten verschiedene Wirkungsmechanismen vorliegen, wie z.B. die Verbesserung der allgemeinen Funktion, des Selbstbewusstseins, die Verringerung von Depressionen und Angstzuständen (11), die Steigerung der sozialen Interaktion, die Verbesserung der Körperzusammensetzung oder die Verbesserung der Erholung von Knorpelschäden (12). Zu den wichtigsten Komponenten eines jeden Bewegungsprogramms gehören Übungen zur Verbesserung der Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer. Abbildung 2 zeigt die grundlegenden Empfehlungen der American Society of Geriatry (13).

Dehnen
Obwohl Dehnübungen (Stretching) nicht direkt die zugrunde liegenden Ursachen von Osteoarthritis bekämpfen, können sie eine gewisse Linderung der damit verbundenen Schmerzen und Unannehmlichkeiten bewirken. Sanfte Dehnübungen können dazu beitragen, Muskelverspannungen zu lindern und die Entspannung zu fördern (10).

Stärkung der Muskeln
Die Muskeln spielen eine wichtige Rolle in der Biomechanik der Gelenke, da sie Bewegung erzeugen, Belastungen absorbieren und für eine dynamische Gelenkstabilität sorgen. Diese Beteiligung am Anpassungs- und Degenerationsprozess der Gelenke bei Osteoarthritis unterstreicht die Bedeutung der Muskelfunktion bei der Behandlung dieser Erkrankung (14).

Beim Krafttraining ist ein gezielter Ansatz erforderlich, um sowohl den Gelenkschutz als auch die Muskelfunktion im Zusammenhang mit Osteoarthritis zu optimieren. Es hat sich gezeigt, dass Krafttraining die Schmerzlinderung erleichtert und die Stossdämpfungsfähigkeit der Muskeln der unteren Gliedmassen beim Gehen stärkt (11). Wenn die Muskeln in einer Art Kette eingesetzt und statisch trainiert werden, können sie insgesamt als «Stossdämpfer» wirken, um ein verletztes Gelenk zu schützen. Beispielsweise tragen Trizeps, Quadrizeps, Hamstrings, Gesässmuskeln, Bauchmuskeln und Rückenmuskeln zum Schutz der Hüfte bei. Andererseits sind diese Muskeln wichtig für die Funktion und sollten besonders angesprochen werden (15).

Ausdauer
Ausdauertraining kann den Stoffwechsel des Fettgewebes fördern, Muskelatrophie verhindern, die Erholung von Knorpelschäden beschleunigen und Schmerzen reduzieren (12). Die Art des Ausdauertrainings kann vielfältig sein und neben der spezifischen Kräftigung auch ganzheitlichere Aktivitäten wie Gehen, Radfahren oder die Verwendung eines Sitzsteppers umfassen, je nachdem, was für den Patienten am bequemsten und durchführbar ist (15). Laut mehreren klinischen Studien wird auch Kraft- und Ausdauertraining für Patienten mit Kniearthrose empfohlen (9).ance
Das Gleichgewichtstraining hat sich bei Kniearthrose als wirksam erwiesen, da es die Beweglichkeit verbessert und die Schmerzen sowie das Sturzrisiko reduziert. Der direkte Zusammenhang zwischen Gleichgewichtstraining und Schmerzen ist noch nicht eindeutig geklärt (6).

Strukturierte körperliche Übungen
Umfassende Programme haben positive Ergebnisse bei der Linderung der Symptome von Osteoarthritis, einschliesslich der Schmerzen, gezeigt. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Programm GLA:D® (Good Life with osteoArthritis in Denmark), das 2013 in Dänemark und 2019 in der Schweiz eingeführt wurde und speziell für Menschen mit Osteoarthritis in den Knien oder Hüften entwickelt wurde (16). Das Ziel des Schweizer GLA:D® -Programms ist es, die internationalen Empfehlungen in die Praxis umzusetzen und gleichzeitig eine strenge Qualitätskontrolle zu gewährleisten (17). Das Programm kombiniert über mehrere Wochen Beratung, Anleitung und neuromuskuläre Übungen.

Andererseits konnten Gehübungen, die dreimal pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten durchgeführt wurden, in Kombination mit einem anschliessenden Spaziergang nach Hause über einen Zeitraum von 15 Monaten, ebenfalls eine signifikante Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung bewirken (9).

Die Teilnahme an Aktivitäten wie Tai Chi scheint im Vergleich zu anderen gemischten Übungen eine deutlichere Verbesserung der Schmerzen bei Osteoarthritis des Knies zu bewirken. Tai Chi hat gezeigt, dass es nicht nur die Schmerzen, sondern auch die Steifheit, den Muskelaufbau und die Gelenkfunktion bei Personen mit Osteoarthritis des Knies verbessern kann (8). Obwohl Qi Gong und Yoga ähnliche Vorteile haben können, sind weitere Untersuchungen notwendig, um die Vorteile der Schmerzlinderung zu untersuchen (8, 15).

Um eine optimale Verbesserung der Symptome und der Funktion zu erreichen, ist ein Programm aus Einzel- und Gruppentraining, das von einem Physiotherapeuten beaufsichtigt wird und auf das ein Heimprogramm folgt, von entscheidender Bedeutung (15). Programme, die auch eine therapeutische Ausbildung und/oder Unterstützung bei der Gewichtsabnahme beinhalten, scheinen auch bei Knie- und Hüftarthrose wirksam zu sein, um Schmerzen zu reduzieren und die Funktion zu verbessern (12, 18, 19). Es ist nicht ungewöhnlich, dass Patienten während des Trainings Beschwerden in dem betroffenen Gelenk verspüren; dies ist normal und bedeutet keine Verschlechterung der Arthroseerkrankung. Das Tragen von geeignetem Schuhwerk, angemessenes Aufwärmen, eine korrekte Übungstechnik und eine schrittweise Erhöhung der Dosis können diese Symptome verhindern oder begrenzen (15). Eine deutliche Zunahme von Schmerzen und/oder Schwellungen während oder nach dem Training, die mehrere Stunden lang anhält, kann darauf hindeuten, dass eine Änderung des Trainingsprogramms erforderlich ist.

Körperliches Training ist sicher und wird von den meisten Menschen mit Arthrose der unteren Extremitäten auch im fortgeschrittenen Stadium gut vertragen. Es gibt nur wenige Kontraindikationen, die gegen eine körperliche Betätigung aufgrund der Arthrose selbst sprechen, obwohl Komorbiditäten berücksichtigt werden müssen (15).

Übersetzung aus «la gazette médicale» 02/03-2024:
Verbelen D., Lovell-Rod L., Vignaux L.: Douleurs arthrosiques et physiothérapie – Mesures physiques

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

PT MSc Debora Verbelen

Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
Av. de Beaumont 21 bis
1011 Lausanne

debora.verbelen@chuv.ch

PT DPT Lori Lovell-Rod

Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
Av. de Beaumont 21 bis
1011 Lausanne

michelle.lovell-rod@chuv.ch

PT PhD Laurence Vignaux

Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
Av. de Beaumont 21bis
1011 Lausanne

laurence.vignaux@chuv.ch

DIe Autorinnen haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die physikalischen Massnahmen der Physiotherapie, die bei Schmerzen im Zusammenhang mit Arthrose wirksam sind, lassen sich im Wesentlichen auf körperliche Übungen reduzieren.
  • Der multidimensionale Ansatz, der sich auf angepasste physikalische Massnahmen konzentriert, ermöglicht die Optimierung des Bewegungs- und Funktionspotenzials über die gesamte Lebensspanne. Die verschiedenen Interventionen – Wasserübungen, Krafttraining, regelmässiges Gehen und strukturierte Programme wie GLA:D® – zeigen deutliche Vorteile in Bezug auf die Schmerzlinderung und die Verbesserung der Funktion.
  • Ein aktiver Lebensstil und die regelmässige Teilnahme an geeigneten Übungsprogrammen können bei der Schmerzbekämpfung und der Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Osteoarthritis eine entscheidende Rolle spielen.
  • Aufgrund der Heterogenität der Osteoarthritis sollte die Bewegungstherapie in erster Linie individualisiert und auf den Patienten, seine Krankheit, seinen Zustand und seine Ziele ausgerichtet sein.
  • Die Literatur ist am umfangreichsten für Kniearthrose und dann für Hüftarthrose, je nach der höheren Prävalenz; ­dennoch sprechen die Schmerzen bei Wirbelsäulenarthrose gut auf ganzheitliche Übungen an. Die Literatur über physikalische Massnahmen und Arthrose der Hände ist begrenzt.

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12. Zeng CY, Zhang ZR, Tang ZM, Hua FZ. Benefits and Mechanisms of Exercise Training for Knee Osteoarthritis. Front Physiol. 2021;12:794062.
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14. Valderrabano V, Steiger C. Treatment and Prevention of Osteoarthritis through Exercise and Sports. J Aging Res. 2010;2011:374653.
15. Bennell KL, Hinman RS. A review of the clinical evidence for exercise in osteoarthritis of the hip and knee. J Sci Med Sport. 2011;14(1):4-9.
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18. Sinatti P, Sánchez Romero EA, Martínez-Pozas O, Villafañe JH. Effects of Patient Education on Pain and Function and Its Impact on Conservative Treatment in Elderly Patients with Pain Related to Hip and Knee Osteoarthritis: A Systematic Review. Int J Environ Res Public Health. 2022;19(10).
19. Robson EK, Hodder RK, Kamper SJ, O‘Brien KM, Williams A, Lee H, et al. Effectiveness of Weight-Loss Interventions for Reducing Pain and Disability in People With Common Musculoskeletal Disorders: A Systematic Review With Meta-Analysis. J Orthop Sports Phys Ther. 2020;50(6):319-33.

Vitamin D: Was bleibt?

An der diesjährigen Frühjahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) vom 29. bis 31.5.2024 in Basel gab Prof. Thomas Rosemann einen Überblick über die aktuelle Studienlage zur Wirkung von Vitamin D. Die Ergebnisse sind teilweise ernüchternd und sprechen gegen viele der populären Annahmen.

«Vitamin D – immer wenn es um Leben und Tod geht» , «Superhormon Vitamin D – So aktivieren Sie Ihren Schutzschild gegen chronische Erkrankungen», «Gesund in 7 Tagen-Erfolge mit der Vitamin D-Therapie», dies einige Titel zum «Wunderhormon» Vitamin D, wie sie in der Presse in den letzten Jahren erschienen sind. Prof. Dr. Dr. med. Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich, zeigte anhand wissenschaftlicher Studien und Meta-Analysen eindrücklich auf, was zu Vitamin D tatsächlich wissenschaftlich belegt ist.

Assoziation zwischen Calcium oder Vitamin D und Frakturrisiko

In einer Metaanalyse randomisierter klinischer Studien war die Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln, die Kalzium, Vitamin D oder beides enthielten, im Vergleich zu Placebo oder keiner Behandlung nicht mit einem geringeren Frakturrisiko bei älteren Erwachsenen verbunden, die in der Gemeinschaft leben. Diese Ergebnisse unterstützen nicht die routinemässige Verwendung dieser Nahrungsergänzungsmittel bei älteren Menschen, die nicht in Institutionen leben (Zhao JG et al. Association Between Calcium or Vitamin D Supplementation and Fracture Incidence in Community-Dwelling Older Adults: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA 2017 ;318 :2466–2482).

Vitamin D mit Omega-3 Fettsäuren-Supple­mentierung und Krafttraining

In einer randomisierten Schweizer Studie sprechen die Ergebnisse nicht für den Einsatz von Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren oder einem Krafttrainingsprogramm für diese Therapien bei gesunden älteren Erwachsenen Vitamin D Supplmetireung und kardiovaskuläres (Bischoff-Ferrari H et al..Effect of Vitamin D Supplementation, Omega-3 Fatty Acid Supplementation, or a Strength-Training Exercise Program on Clinical Outcomes in Older Adults: The DO-HEALTH Randomized Clinical Trial. JAMA 2020 Nov 10;324(18):1855–1868).

Vitamin D reduziert das kardiovaskuläre Risiko nicht

In einer weiteren Meta-Analyse mit mehr als 83 000 Probanden aus 21 randomisierten klinischen Studien zur ­Vitamin D-Supplementierung und dem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wurde ebenfalls kein Nutzen für die Einnahme von Vitamin D beobachtet (p=0.69) (Barbarawi M et al. Vitamin D Supplementation and Cardiovascular Disease Risks in More Than 83 000 Individuals in 21 Randomized Clinical Trials: A Meta-analysis. JAMA Cardiol 2019 Aug 1;4(8):765–776.)

Vitamin D und Prävention von Krebs und ­kardiovaskulärer Erkrankung

Die Supplementierung mit Vitamin D führte nicht zu einer geringeren Inzidenz von invasivem Krebs oder kardiovaskulären Ereignissen als Placebo, wie in einer randomisierten Studie bei über 50-jährigen Männern und über 55-jährigen Frauen gezeigt wurde (Manson JA et al. Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2019;380:33-44).

Vitamin D und marines Omega-3 bei Vorhofflimmern

Aber auch die Supplementierung mit mariner Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D bei Auftreten von Vorhofflimmern zeigte in einer randomisierten klinischen Studie keinen signifikanten Effekt (Albert CM et al. Effect of Marine Omega-3 Fatty Acid and Vitamin D Supplementation on Incident Atrial Fibrillation:A Randomized Clinical Trial JAMA 2021 16;325:1061-1073).

Vitamin D-Supplementierung bei Depression

In einer Meta-Analyse von randomisserten, kontrollierten Studien an 4385 Teilnehmern war die Supplementierung mit Vitamin D bei älteren Erwachsenen nicht miteiner Verbesserung der Symptome keine signifikante Verbesserung der depressiven Symptome assoziiert (Park Y et al. Vitamin D supplementation for depression in older adults : a meta-analysis of randomized controlled trials. Front Nutr 2023 Jun 21:10:1169436)

Gibt es eine Assoziation zwischen Inflammation und Serum- Vitamin D?

In einer retrospektiven cross-sektionalen Studie, die 25(OH)D-Werte bei 687 gebrechlichen und älteren stationären Patienten untersuchte, wurde kein Hinweis auf einen klinisch relevanten Zusammenhang zwischen Serum-Vitamin D und Serum-CRP als Inflammationsmarker gefunden (Funk L et al. Is there an association between inflammation and serum-vitmain D? – Results of a retrospective analysis of hospitalized geriatric patients . Clin. Interv. Aging 2024;19:763–768).

Geringe Wirkung von Vitamin D bei akuten ­respiratorischen Infekten

Das Ausmass der in einer Analyse beobachteten schützenden Wirkung einer Vitamin D-Supplementierung auf das Risiko eines akuten respiratorischen Infekts ist gering (OR 0.92; 0.86 bis 0.99) (Joliffe DA et al. Vitamin D supplementation to prevent acute respiratory infections: a systematic review and meta-analysis of aggregate data from randomised controlled trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2021; 9(5):276–292).

Vitamin D und COVID-19

Die Wirkung einer einzelnen hohen Dosis von Vitamin D3 bei hospitalisierten Patienten mit moderatem bis schwerem COVID-19 wurde in einer randomisierten klinischen Studie untersucht. Es zeigte sich dabei, dass eine einzelne hohe Dosis D3 im Vergleich zu Placebo die Krankenhausaufenthaltsdauer nicht signifikant reduzierte. Die Ergebnisse unterstützen die Verwendung einer hohen Dosis von Vitamin D3 zur Behandlung von mittelschwerem bis schwerem COVID-19 nicht (Murai ICH et al. Effect of a single high dose of vitamin D3 on hospital length of stay in patients with moderate to severe COVID-19 a randomized clinical trial . JAMA 2021 ;325 :1053–1060).

FAZIT

Die jüngsten Meta-Analysen zeigen:
Die Gabe von Vitamin D (in Kombination mit Calcium) hat keinen positiven Effekt auf
• Frakturen und Stürze
• Blutdruck
• Kardiovaskuläre Ereignisse
• Vorhofflimmern
• Tumoren

Auch bei Menschen, die nach (derzeitiger) Definition einen Vitamin D Mangel haben. Dies gilt auch in Kombination mit Omega-3-FS und körperlicher Aktivität.

Vitamin D senkt minim das Risiko für Atemwegsinfekte (0.92; CI 0.86–0.99), die entsprechenden Studien sind aber methodisch oft mangelhaft.
Die Gabe hoher (Bolus-)dosen ist mit einem höheren Frakturrisiko und einer erhöhten Tumorinzidenz assoziiert.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Integrative Medizin: Die «Extended toolbox» für Klinik und Praxis macht beachtliche Fortschritte

«Integrative Medizin» war am SGAIM Frühjahrskongress 2024 in Basel Gegenstand sowohl einer Keynote Lecture (Brent Bauer von der Mayo Clinic, Rochester, NY) als auch einer interaktiven «Beyond Guidelines»-Session (Pierre-Yves Rodondi, Fribourg & Brent Bauer). Das perfekt zum Kongressmotto «Creative Medicine: Renew & transmit» passende Thema stiess beim Publikum auf viel Resonanz, und die Fülle der präsentierten Studiendaten und Erfahrungen war beeindruckend. Genau der Anspruch der Evidenz ist es, die die Integrative Medizin begrifflich von der komplementären und alternativen Medizin abgrenzt, auch wenn viele ihrer therapeutischen Zusatzangebote genau in diesen Bereichen angesiedelt sind.

Prof. Brent Bauer von der Mayo Clinic, Rochester (NY) berichtete am Freitagmorgen vor vollem Plenarsaal über das vor über 30 Jahren ins Leben gerufene «Integrative Medicine Program» der Mayo Clinic. Das Forschungsprogramm basiert auf einer evidenzbasierten Methodik, die wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus der Schulmedizin mit den besten verfügbaren Daten aus der komplementären und alternativen Medizin kombiniert.

So definiert das Academic Consortium for Integrative Medicine & Health (ACIMH) zur Förderung integrativer Medizin die integrative Medizin als „die Praxis der Medizin, die die Bedeutung der Beziehung zwischen Arzt und Patient bekräftigt, den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt, sich auf Evidenz stützt und alle geeigneten therapeutischen Ansätze, Gesundheitsfachleute und Disziplinen einsetzt, um optimale Gesundheit und Heilung zu erreichen“ (1).

Laut Brent Bauer wurden im Rahmen des Integrative Medicine-Programms der Mayo Clinic bis heute 175 klinische Studien mit Patienten, gesunden Probanden und Angehörigen von Gesundheitsberufen durchgeführt und mehr als 400 peer-reviewte Publikationen im Bereich integrative Medizin veröffentlicht: zur Wirkung von Akupunktur, von Mind-Body-Verfahren, von Phytotherapie und natürlichen Nahrungsergänzungsmitten, tiergestützten Therapien, Yoga oder medizinischen Massagen bei Krebs-, Schmerz oder kardiologischen Patienten. Ein aktuelles Pilotprojekt befasst sich mit Roboter- und KI-gestützter Tuina-Massage bei Rückenschmerzen.

Ansätze der integrativen Medizin neu in Onkologie-Leitlinien

Der Einsatz von Integrativen Therapien während und nach der Brustkrebsbehandlung hat mit Unterstützung der ASCO mittlerweile auch Einzug in die in Praxis-Leitlinien der Gesellschaft für Integrative Onkologie (SIO) für das Management von Brustkrebs oder das Schmerzmanagement bei Krebspatienten gehalten (2, 3). So werden beispielsweise Musiktherapie, Meditation, Stressmanagement und Yoga Massage zum Abbau von Angst- und Stresszuständen empfohlen, Meditation, Entspannungsübungen, Yoga, Massagen und Musiktherapie oder gegen Depression und Stimmungsstörungen. Auch zeigen sich Effekte bei der Milderung von Nebenwirkungen von Krebstherapien wie Müdigkeit, Schmerz und Übelkeit.
Im Alltag kommen Methoden der integrativen Medizin als erweitertes Instrumentarium an den verschiedenen Standorten der Mayo Clinic mittlerweile bei jährlich mehr als 100‘000 Patienten pro Jahr zum Einsatz. Auch Pflegehunde sind Teil des Engagements für die Heilung von Körper, Geist und Seele. Die gut ausgebildeten Tiere werden zum Beispiel eingesetzt, um Patienten mit Depressionen durch Erfahrung von Wärme und bedingungsloser Liebe von einem Tier Mut zu machen. Wie Prof. Pierre-Yves Rodondi in der interaktiven Session berichtete, sollen Therapiehunde ab 2025 auch am CHUV eingeführt werden.

Brent Bauer hob in seinem Vortrag auch die Bedeutung des am Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich und der Universität Zürich ansässigen Schweizer Cochrane-Satelliten „Cochrane Complementary Medicine“ hervor. Dessen Ziel ist es, zu systematischen Übersichten über komplementär- und integrativmedizinische Therapien beizutragen und einen evidenzbasierten Ansatz in der Komplementär- und Integrativmedizin zu fördern (4).

Nutzung komplementärer Medizin und SARS-CoV-2-Impfung

Die ebenfalls erwähnte CoviCare-Studie der von Mayssam Nehme, Olivia Braillard, Pierre-Yves Rodondi und Idris Guessous (5) zeige nicht nur, dass ein signifikanter Anteil der Schweizer Bevölkerung komplementäre und alternative Medizin (CAM) während der Pandemie nutzte, sondern dass Teilnehmer/-innen, die komplementäre Medizin nutzten, eine höhere Bereitschaft zur SARS-CoV-2-Impfung aufwiesen – vermutlich aufgrund eines höheren Gesundheitsbewusstseins. Die longitudinale Studie ist ein bedeutender Beitrag zur Forschung im Bereich der integrativen Medizin und zeigt, wie alternative Ansätze die öffentliche Gesundheit und das individuelle Gesundheitsverhalten positiv beeinflussen können.

Das SGAIM-Kongress-Komitee lag recht in der Annahme, dass das Integrative Medicine Program der Mayo Clinic Vorbild und Inspirationsquelle sein könnte, wie eine Kombination aus traditionellen und komplementären Therapien zur Optimierung des Wohlbefindens vieler Patient/-innen beitragen könne. Das Interesse der Teilnehmer in der von Pierre-Yves Rodondi und Brent Bauer gestalteten interaktiven Session war aufgrund des Plenarvortrags am Morgen so gross, dass aufgrund der vielen Fragen an die beiden Referenten nur einer von den vier geplanten Patientenfällen besprochen werden konnte.

In der Schweiz integrieren Ärztinnen und Ärzte Komplementärmedizin in ihre Facharztausbildung, und es gibt zunehmend stationäre Abteilungen für integrative Medizin. Trotz wachsender Angebote übersteigt die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Behandlungen das verfügbare Angebot erheblich. Auch die Kostenübernahme der Leistungen der integrativen Medizin ist ein offener Punkt.

Fest steht jedoch, dass alle gefragt sind, im Sinne der Patientinnen und Patienten auch dieses Feld der Gesundheitsversorgung aus ärztlicher bzw. allgemeininternistischer Sicht mit zu gestalten. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang, die entsprechenden Wünsche der Patient/-innen ernstzunehmen.

Dr. sc. nat. Winfried Suske

1. Academic Consortium for Integrative Medicine and Health, https://imconsortium.org/
2. Lyman GH, et al. Integrative Therapies During and After Breast Cancer Treatment: ASCO Endorsement of the SIO Clinical Practice Guideline. J Clin Oncol. 2018 Sep 1;36(25):2647-2655. doi: 10.1200/JCO.2018.79.2721. Epub 2018 Jun 11.
3. Mao JJ, et al. Integrative Medicine for Pain Management in Oncology: Society for Integrative Oncology-ASCO Guideline Summary and Q&A. JCO Oncol Pract. 2023 Jan;19(1):45-48. doi: 10.1200/OP.22.00622. Epub 2022 Oct 19.
4. Institut für komplementäre und integrative Medizin, Universitätsspital Zürich, https://www.usz.ch/en/department/complementary-and-integrative-medicine/research/
5. Nehme M, et al. Use of complementary medicine and its association with SARS-CoV-2 vaccination during the COVID-19 pandemic: a longitudinal cohort study. Swiss Med Wkly. 2023 Dec 18;153:3505. doi: 10.57187/s.3505

Behandlung und langfristiges Management des ­Vitamin-B12-Mangels bei Erwachsenen

Ein Mangel an Vitamin B12 (Cobalamin) kann verschiedene Organe wie das Knochenmark sowie das periphere und zentrale Nervensystem beeinträchtigen [1]. Die Anzeichen und Symptome eines Mangels sind unterschiedlich und meist unspezifisch. Nahrungsquellen für Vitamin B12 sind Lebensmittel tierischen Ursprungs wie rotes Fleisch, Leber, Fisch und Milchprodukte. Eine unzureichende Zufuhr von Vitamin B12 über die Nahrung (<4-5 µg/Tag) kann einen Vitamin-B12-Mangel verursachen. Die intestinale Absorption von Vitamin B12 erfordert außerdem die Freisetzung von Vitaminen aus Nahrungsproteinen, eine normale Sekretion und Funktion des intrinsischen Faktors sowie einen angemessenen Säuregehalt des Magens. Die Malabsorption von Vitamin B12 ist die Hauptursache für einen klinisch manifestierten Vitamin-B12-Mangel bei Erwachsenen. Perniziöse Anämie (Mangel an Intrinsic-Faktor oder Antikörper gegen Intrinsic-Faktor), atrophische Gastritis und andere Magen-Darm-Erkrankungen können eine B12-Malabsorption verursachen. Menschen mit einem durch Malabsorptionsstörungen verursachten Vitamin-B12-Mangel zeigen gastrointestinale Symptome (Episoden von Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Durchfall) [2], zusätzlich zu Symptomen wie Neuropathie, die durch den Mangel selbst verursacht wird [3]. Die Serumkonzentration von Vitamin B12 ist ein häufig verwendeter Marker für den Vitamin-B12-Status. Der größte Teil des Vitamin B12 im Blut ist an Haptocorrin gebunden, das für B12-abhängige enzymatische Reaktionen in den Zellen nicht verfügbar ist. Holotranscobalamin ist an Transcobalamin gebundenes Vitamin B12 und macht einen kleinen Teil des gesamten Serum-B12 aus, der biologisch aktiv ist. Ein Mangel an Adenosylcobalamin und Methylcobalamin führt zu erhöhten Plasmakonzentrationen von Methylmalonsäure bzw. Homocystein. Das zirkulierende Vitamin B12 ist möglicherweise nicht bei allen Patienten mit B12-Mangel erniedrigt (4). Die Verwendung von Stoffwechselmarkern für den B12-Status wie Methylmalonsäure und Homocystein zur Unterstützung der Diagnose eines klinisch manifesten Vitamin-B12-Mangels hat Vorteile, aber auch Nachteile (4, 5), wie z. B. die hohen Kosten der Messungen, die begrenzte Verfügbarkeit und die Auswirkungen der Niereninsuffizienz auf die Konzentrationen. Die Symptome eines Vitamin B12-Mangels können irreversibel sein, wenn sie nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden. Das Ziel einer kürzlich veröffentlichten Arbeit (6) war es, einen weithin akzeptierten Expertenkonsens als Leitfaden für die Praxis der Diagnose und Behandlung von B12-Mangel zu entwickeln.

Methoden

Die Autoren führten eine Übersicht über die seit Januar 2003 in PubMed veröffentlichte Literatur durch. Die Daten wurden für eine zweistufige Delphi-Befragung verwendet, um den Grad der Übereinstimmung unter 42 Experten zu untersuchen.

Ergebnisse

Die Erkennung der klinischen Symptome sollte bei der Diagnosestellung oberste Priorität haben. Es besteht Einigkeit darüber, dass die B12-Konzentration im Serum als Screening-Marker nützlich ist und Methylmalonsäure oder Homocystein die Diagnose unterstützen können. Der Lebensstil des Patienten, seine Krankheitsgeschichte und seine Medikation können Hinweise auf die Ursache des B12-Mangels geben. Unabhängig von der Ursache des Mangels wurde die anfängliche Behandlung mit parenteralem B12 als erste Wahl für Patienten mit akuten und schweren Manifestationen des B12-Mangels angesehen. Für die Langzeitbehandlung kann eine hochdosierte orale B12-Gabe in unterschiedlicher Häufigkeit in Betracht gezogen werden. Eine prophylaktische B12-Supplementierung sollte für bestimmte Risikogruppen in Betracht gezogen werden.

Schlussfolgerungen

Die vorliegende Studie gibt einen Überblick über konsistente Daten zur Diagnose und Behandlung von Vitamin-B12-Mangel. Im Rahmen der Delphi-Studie wurde ein solider Konsens zu verschiedenen Aspekten der Diagnose und Behandlung erzielt, um die medizinische Praxis zu unterstützen. Die Experten waren sich einig, dass die derzeitige Praxis in Bezug auf Ausbildung und Organisation geändert werden muss. Obwohl klinischen Symptomen mehr Gewicht beigemessen werden sollte, erkannten die Diskussionsteilnehmer die Notwendigkeit, die Serum-Vitamin-B12-Konzentration als kosteneffektiven Screening-Marker zu verwenden und zusätzlich einen Stoffwechselmarker zu messen. Die B12-Dosis und die Behandlungsschemata müssen je nach Schwere der Symptome und der Ursache des Mangels angepasst werden. Mehrere Themen bedürfen noch eingehender Untersuchungen, wie z. B. der klinische Nutzen einer prophylaktischen B12-Supplementierung bei einigen Risikogruppen.

Quelle: Obeid R et al. Diagnosis, Treatment and Long-Term Management of Vitamin B12 Deficiency in Adults: A Delphi Expert Consensus. J Clin Med. 2024 Apr; 13(8): 2176. Published online 2024 Apr 10. doi: 10.3390/jcm13082176

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. Healton E.B. et al. . Neurologic aspects of cobalamin deficiency. Medicine. 1991;70:229–245. doi: 10.1097/00005792-199107000-00001.
2. Miceli E. et al. Common features of patients with autoimmune atrophic gastritis. Clin. Gastroenterol. Hepatol. 2012;10:812–814. doi: 10.1016/j.cgh.2012.02.018.
3. Misra U.K., Kalita J. Comparison of clinical and electrodiagnostic features in B12 deficiency neurological syndromes with and without antiparietal cell antibodies. Postgrad. Med. J. 2007;83:124–127. doi: 10.1136/pgmj.2006.048132.
4. Herrmann W., Obeid R. Utility and limitations of biochemical markers of vitamin B12 deficiency. Eur. J. Clin. Investig. 2013;43:231–237. doi: 10.1111/eci.12034.
5. Green R., et al. Vitamin B(12) deficiency. Nat. Rev. Dis. Primers. 2017;3:17040. doi: 10.1038/nrdp.2017.40
6. Obeid R et al. Diagnosis, Treatment and Long-Term Management of Vitamin B12 Deficiency in Adults: A Delphi Expert Consensus. J Clin Med. 2024 Apr; 13(8): 2176. Published online 2024 Apr 10. doi: 10.3390/jcm13082176

Wer entscheidet über die Zumutbarkeit einer Therapie?

Die Präimplantationsdiagnostik ist ein noch junges, spannendes Gebiet. Auf den ersten Blick scheinen die gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Fortpflanzungsmedizin (FMedG) klar und sind doch beim näheren Betrachten unscharf.

Eine junge Frau ist heterozygote Trägerin einer MLH1-Mutation. Solche Mutationen sind für ein hochpenetrantes Lynch-Syndrom verantwortlich, welches mit einem Lebenszeitrisiko von über 75–85 % für Kolon- und/oder Endometriumkarzinom, sowie einem relevant erhöhten Risiko für weitere Karzinome einhergeht. Die Mutter der Patientin ist mit 46 Jahren an einem metastasierenden Kolonkarzinom verstorben; die Krankheitsgeschichte und der Verlust der Mutter sind für die Patientin prägend. Die empfohlenen häufigen Surveillance-Untersuchungen und die präsente Tumorangst bei einem ungewissen Restrisiko sind belastend. Diese Belastung möchte sie ihren Nachkommen möglichst nicht zumuten und entscheidet sich für eine In-vitro-Fertilisation (IVF) und eine gezielte Testung der Embryonen auf die für das Lynch-Syndrom bekannte Genmutation MLH1. Dieser Entscheid ist gut nachvollziehbar und international besteht ein breiter Konsens, dass P/LP-MLH1-Mutationen für eine PGT-M (Präimplantations-Gentest zur Erkennung von monogenen Krankheiten) qualifizieren. Wo liegt also das Problem?

Die gesetzlichen Bestimmungen in der Schweiz verlangen für eine PGT-M, dass es sich um eine vererbbare und schwere Krankheit handelt und diese vor dem 50. Altersjahr auftritt. Diese Bedingungen werden mit einem Lynch-Syndrom sicher erfüllt. Weiter verlangt das Gesetz, dass für die Krankheit keine wirksamen und zweckmässigen Therapieoptionen vorliegen. Dieser Punkt kann kontrovers diskutiert werden und zeigt die Unschärfe der gesetzlichen Vorgaben. Grundsätzlich gibt es wirksame und zweckmässige Vorsorgeuntersuchungen und Therapieoptionen für Tumorerkrankungen, allerdings wissen wir auch, dass diese aufwändig, für die Patienten belastend und leider nicht immer erfolgreich sind. Ähnlich verhält es sich mit den BRCA1/2-Mutationen, welche mit einem im Vergleich zur Normalbevölkerung massiv erhöhten Brust- und Ovarialkarzinom einhergehen. Mit dem Argument, dass eine sorgfältige Vorsorgeuntersuchung und rechtzeitige bilaterale Mast-/Salpingo-Ovarektomie eine wirksame und zweckmässige Therapieoption darstellt, wird teilweise dem Wunsch nach einer PGT-M aus rechtlicher und medizinethischer Sicht nicht entsprochen.

In den 2022 verfassten Richtlinien zur PGT-M der NEK (Nationale Ethikkommission) steht, dass eine Therapie zweckmässig ist, wenn die Risiken und Belastungen der Therapie für die von der schweren Krankheit betroffene Person und für das Paar zumutbar sind. Wer bestimmt, was und für wen und in welcher Situation zumutbar ist?

Aus meiner langjährigen internistischen Tätigkeit weiss ich, dass ein Mammakarzinom oder Colonkarzinom nicht immer langfristig beherrscht werden kann, dass häufige Vorsorgeuntersuchungen wie z.B. beim Lynch-Syndrom grosse Sorgen und Unsicherheiten auslösen können und dass eine elektive bilaterale Mastektomie für die betroffene Frau eine massive emotionale Belastung darstellt. In der Schweiz wird jeder einzelne Fall in einem individuellen PGT-M-Board behandelt und gegebenenfalls auch über den Aspekt der Zumutbarkeit einer Therapie entschieden. In den UK wird von der Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA) eine Liste mit über 600 Krankheiten/Mutationen geführt, welche für eine PGT-M qualifizieren, so dass vergleichbare Fälle gleich beurteilt werden. Und selbstverständlich gibt es auch Länder ohne jegliche Regulationen in Bezug auf die genetische Testung von Embryonen.

Die genetische Testung von Embryonen muss ein unbedingt wichtiges gesellschaftliches und politisches Thema bleiben. Eine Selektion von Embryonen mittels polygenetischer Testung (PGT-P) und Risikoscores sind bereits in diversen Ländern Realität und lassen aufhorchen. Auch mit der in der Schweiz erlaubten monogenetischen Testung müssen mit dem Wunschpaar sorgfältige Gespräche geführt werden und immer die Option offengelassen werden, dass nicht gleichzeitig auch eine Testung auf Aneuploidie (Abweichung der Chromosomenzahl) erfolgen muss. Aber es liegt mir sehr am Herzen, dass auch Gynäkologen, Onkologen und Internisten, welche die Belastung betroffener Patienten z.B. Lynch-Syndrom oder BRCA1/2-Mutation kennen, in die medizinethische Diskussion rund um Wirksamkeit und Zumutbarkeit einer Therapie miteinbezogen werden und möglichst eine einheitliche, transparente und rechtsgleiche Praxis in Bezug auf PGT-M in der Schweiz erreicht werden kann.

Dr. med. Vera Stucki-Häusler, Zürich

Dr. med.Vera Stucki-Häusler

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Dr. med. Vera Stucki-Häusler
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