Therapie des Eisenmangels in der Schwangerschaft

schaft. Wegen der hohen Prävalenz und der Möglichkeit der Intervention lohnt es sich, Eisenmangel zu detektieren und zu behandeln. Die meisten Frauen verfügen nicht über ausreichende Eisenreserven bei einer Schwangerschaft, um den perinatalen Eisenbedarf für Mutter und Fötus zu decken. Durch die Eisenhandlung können zahlreiche Symptome bei der Mutter behandelt werden und das Kind kann quasi in utero vor schweren Konsequenzen geschützt werden. Die primäre Intervention bei isoliertem Eisenmangel ist orales Eisen, das allerdings eine hohe Unverträglichkeit bei geringer Wirksamkeit aufweist. Parenterales Eisen zeichnet sich durch eine hohe Wirksamkeit bei im Allgemeinen guter Verträglichkeit aus. Bei der Diagnostik des Eisenmangels hat sich ein Ferritingrenzwert von < 30 μg/L als guter Schwellenwert zur Detektion des Eisenspeichermangels durchgesetzt. Ein Hämoglobinwert < 110 G/L im ersten und dritten Trimenon und < 105 G/L im zweiten Trimenon kann als Anämie angesehen werden.

Iron deficiency and/or iron deficiency anemia complicate nearly 50 % of pregnancies globally, negatively impacting both maternal and fetal outcomes. Iron deficiency can cause a range of symptoms that range from aggravating to debilitating including fatigue, poor quality of life, pagophagia and restless leg syndrome. Iron deficiency and iron deficiency anemia are also associated with maternal complications including preterm labor, increased rates of cesarean delivery, postpartum hemorrhage and maternal death. Fetal complications include increased rates of low birth weight and small for gestational age newborns. Prenatal maternal anemia has also been associated with autism spectrum disorders in the neonate, although causation is not established. Deficiency in the newborn is associated with compromised memory, processing, and bonding, with some of these deficits persisting into adulthood. Despite the prevalence and consequences associated with iron deficiency in pregnancy, data show that it is routinely undertreated. Due to the physiologic changes of pregnancy, all pregnant individuals should receive oral iron supplementation. However, the bioavailability of oral iron is poor and it is often ineffective at preventing and treating iron deficiency. Likewise, it frequently causes gastrointestinal symptoms that can worsen quality of life in pregnancy. Intravenous iron formulations administered in a single or multiple dose series are now available. There is increasing data suggesting that newer intravenous formulations are safe and effective in the second and third trimesters and should be strongly considered in pregnant individuals without optimal response to oral iron repletion.
Keywords: Iron, Iron Deficiency, Anemia (Anaemia), symptoms, pregnancy, iron treatment, iron therapy

Einleitung

Eisenmangel ist der weltweit am häufigsten auftretende Mikronährstoffmangel und folglich ist die Anämie in der Schwangerschaft vor allem auf Eisenmangel zurückzuführen. Gemäss WHO-Daten führen Eisenmangel und Anämie bei etwa 30–60 % der Schwangerschaften weltweit zu Komplikationen. Während der Schwangerschaft leiden fast 75 % der Schwangeren unter Eisenmangel im dritten Trimester, wenn man einen cut off Wert von Ferritin < 30 µg/L zu Grunde legt. Trotz der hohen Prävalenz und den negativen Auswirkungen des Eisenmangels und der Anämie auf die mütterliche und fetale Morbidität, wird Eisenmangel oft nicht ausreichend diagnostiziert und behandelt (1–3).

Die Diagnose und Behandlung der Eisenmangelanämie in der Schwangerschaft ist zwar relativ einfach, wird aber häufig übersehen und/oder von den betreuenden Gynäkologinnen nicht optimal gehandhabt. Ein Problem bei der Labordiagnose des Eisenmangels in der Schwangerschaft ist der fehlende Konsens in der Literatur, da die vorliegenden Studien uneinheitliche Ferritingrenzwerte für die Bestimmung von Eisenmangel verwenden. Eisenmangelanämie in der Schwangerschaft wird meist definiert als Serum Ferritin < 15–30 µg/L und einem Hämoglobin < 110 G/L, wobei der Wert < 110 G/L nicht den physiologischen unteren Schwellenwert des Hämoglobins im zweiten Trimester von 105 G/L berücksichtigt. Die Verwendung eines Ferritingrenzwertes von < 30 µg/L erhöht die Sensitivität der Erfassung des Eisenmangels, es fehlen jedoch Untersuchungen zu schwangerschaftsspezifischen Grenzwerten (5, 10, 11).

Die Ursachen des Eisenmangels sind bekanntermassen vielfältig und abhängig von sozio-ökonomischen Faktoren, Ernährungsgewohnheiten, Alter und Herkunft der Schwangeren, vorbestehendem Eisenmangel und Komorbiditäten, vor allem gastro-intestinalen Erkrankungen wie Zöliakie oder Morbus Crohn. 30–50 % der Frauen weisen bereits vor der Konzeption einen Eisenmangel auf (6–8).

Folgen von Eisenmangel und Anämie für die Schwangere und den Fetus

Eisenmangel kann asymptomatisch sein oder belastende Symptome hervorrufen. Dazu gehören Müdigkeit, Reizbarkeit («Brain fog»), Atemnot, Kopfschmerzen, Haarausfall, Konzentrationsschwäche, verminderte körperliche Leistungsfähigkeit und Restless-Leg-Syndrom. Diese Symptome werden sowohl von den Schwangeren als auch von den Gynäkolog/-innen oft als normal abgetan, da sie auf physiologische Veränderungen in der Schwangerschaft zurückgeführt werden können. Der isolierte oder latente Eisenmangel (ohne Anämie) kann die mütterliche Morbidität erhöhen, da das Risiko für eine Anämie, Plazentahypertrophie und Hypothyreose erhöht ist (13, 16, 17, 19, 23, 26).

Daneben ist das Risiko für vorzeitige Wehen und Frühgeburtlichkeit erhöht (9). Eine peripartale Eisenmangelanämie geht mit einem erhöhten Risiko an postpartaler Depression, verminderter Lebensqualität, postpartaler Anämie und Bluttransfusion einher (21). Schwerer Eisenmangel erhöht nachweislich die fötale und neonatale Morbidität. Erkenntnisse aus Tiermodellen deuten darauf hin, dass Eisenmangel in kritischen Phasen der fötalen Entwicklung zu Veränderungen des Hirnstoffwechsels, der Neurotransmission, der Epigenetik und der Myelinisierung führt, die sich beim Neugeborenen auswirken. Neuere klinische Studien zeigen, dass diese Folgen auch beim Menschen auftreten und beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Eisenmangel und Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeitsdefizit bei Jugendlichen besteht. Mütterlicher Eisenmangel führt zu niedrigen fötalen und neonatalen Eisenspeichern mit den entsprechenden Folgen (14,15,18, 27–31) (Abb. 1).

Screenig des Eisenmangels

Es besteht kein Konsens über Screening-Protokolle oder die routinemässige Durchführung eines Screenings auf Eisenmangel in der Schwangerschaft. Nur wenige Organisationen unterstützen ein Screening auf isolierten Eisenmangel, da es nur wenige Studien gibt, die eine Risikoverbesserung durch eine Behandlung belegen. In England wird seit kurzem ein risikobasiertes Screening empfohlen, bei Frauen mit Anämie in der Vorgeschichte, Multipara, Mehrlingsschwangerschaft, kurzem Schwangerschaftsintervall, Vegetarierinnen, Frauen mit hohem Blutungsrisiko bei der Geburt und Frauen, die Bluttransfusionen ablehnen. Das American College of OBGYN (ACOG) empfiehlt ein Screening auf Anämie und die generelle Eisensupplementierung bei Schwangeren. Die Ferritintestung soll gemäss ACOG nur bei einer Anämie durchgeführt werden, mit einem Schwellenwert von < 30 µg/L (WHO < 15 µg/L!) (Practice Bulletin 233, August 2021). Im Expertenbrief der SGGG (Nr. 77) empfehlen wir die Bestimmung von Hämoglobin und Ferritin im ersten Trimester und bei etwa 24–28 SSW zur Erfassung von Eisenmangel und Anämie bei den Schwangeren.

Behandlung

Mehrere nationale Guidelines empfehlen die generelle orale Eisensupplementierung bei Schwangeren (ACOG, Centers of Disease Control, WHO). Diese kann täglich oder alternierend alle zwei Tage erfolgen. Es konnte gezeigt werden, dass eine zweitägliche orale Eiseneinnahme die Eisenresorption bei erniedrigter unerwünschter Nebenwirkungsrate erhöht (4, 22). Es sollte die möglichst niedrigste Eisendosierung oral gewählt werden (etwa 30 mg elementares Eisen/ Dosis), da hohe Dosierungen zu einem Therapieabbruch bei bis zu 70 % der Frauen führen, aufgrund der gastrointestinalen Nebenwirkungen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass orales Eisen im ersten Trimester die einzige Behandlungsoption darstellt. Es sind zahlreiche orale Eisenpräparate vorhanden; generell gilt, dass Eisen-II-Salze eine höhere Rate an UWR aufweisen als beispielsweise Eisen-III-Komplexe. Gemäss Studien zeigen die sogenannten Eisen-Bisglycinate (Aminoeisenverbindung) eine gute Resorption und Wirksamkeit bei geringer UWR-Rate auf (16, 25). Ab dem zweiten Trimester stehen bei der Therapie der Eisenmangelanämie intravenöse Eisenpräparate zur Verfügung, die sich in der Schwangerschaft als sicher und wirksam erwiesen haben. Im Gegensatz zu oralem Eisen eignet sich nur intravenöses Eisen zur Therapie schwerer Eisenmangelzustände und Anämien, insbesondere, wenn wir eine Wirksamkeit in kurzer Zeit erwarten (24, 25, 42–49). Die Dosierungen entsprechen denen von nicht schwangeren Frauen.In den meisten Fällen können in der Schweiz heute hoch dosierte Einzeldosierungen verwendet werden, was aufgrund der Einfachheit der Anwendung und der Effektivität auch zu einer hohen Patientinnen-Zufriedenheit führt. Die häufigsten verwendeten parenteralen Eisenpräparate weltweit sind Eisen-Saccharat, Eisen-Dextran mit niedrigem Molekulargewicht (LMWD, Cave: NICHT hochmolekulares Dextran!). Eisen-Carboxymaltose (FCM), Ferumoxytol und Eisen-III-Derisomaltose (24, 25). In Bezug auf die allergischen Reaktionen und andere unerwünschte Nebenwirkungen sind die Präparate vergleichbar. In Vergleichsstudien zwischen parenteralem und oralem Eisen ist die Rate an UNW bei den oralen Präparaten im Allgemeinen höher. Vor allem aufgrund der gastro-intestinalen Nebenwirkungen. Eisencarboxymaltose hat gemäss vorliegenden Studien die höchste Rate an induzierter Hypophosphatämie nach Infusion, wobei schwere Hypophosphatämien nach Einzeldosierungen selten sind. In einer kürzlich publizierten Studie von der Klinik für Geburtshilfe der Universität Genf zeigte sich bei 3/22 Schwangeren eine Hypophosphatämie nach Eisencarboxymaltose vs 1/22 Schwangeren unter oralem Eisen (13 vs. 4 %). Der Unterschied war nicht signifikant und die Neugeborenen zeigten keine Hypophosphatämie in der Eisencarboxymaltose Gruppe (49). Die in der Schweiz empfohlenen und meist angewendeten Präparate sind in Tab. 1 aufgeführt. Bei der i.v. Eisentherapie sollen generell und speziell in der Schwangerschaft die von SWISSMEDIC empfohlenen Richtlinien eingehalten werden. Ebenso sind Kontraindikationen wie erstes Trimester, akute bakterielle Infektion und Status Anaphylaxie oder schwerer allergischer Reaktion nach i.v. Eisengabe zu beachten. Das Risiko einer anaphylaktischen Reaktion ist bei den neuen Eisenpräparaten unter 1 : 1000 einzuschätzen.


Indikationen für den Einsatz von parenteralem Eisen sind kein oder ungenügendes Ansprechen auf orales Eisen (Hb Anstieg
< 10G/L innert 14 Tagen), Unverträglichkeit und Non Compliance bei oraler Eiseneinnahme, gestörte Eisenresorption (bariatrische Eingriffe, chronische Darmerkrankungen, Zöliakie), schwere bestehende oder fortschreitende Anämie (vor allem
< 90 G/L), Notwendigkeit der raschen und effizienten Anämie Korrektur bei Risikofaktoren der Schwangeren (Plazenta praevia, hohes Blutungsrisiko, Gerinnungsstörungen, Ablehnung von Fremdblut, Status nach Atonie u.a.m) (42, 43, 48).

Die parenteralen Eisenpräparate werden auch vor allem zur Behandlung der postpartalen Anämie (Hb < 100G/L) in der Schweiz standardmässig im Wochenbett verwendet.

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Christian Breymann

Gyn & Perinatal Zürich
Ärztezentrum Seefeld Hirslanden
Seefeldstrasse 214
8008 Zürich

C Breymann hält Vorträge und Fortbildungen für CLS-Vifor Schweiz und CLS- Vifor International und Pierre Fabre/ Robapharm Schweiz. Er ist ebenfalls an Publikationen über die jeweiligen Eisenpräparate beteiligt.

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REM-Schlaf-Verhaltensstörung – mehr als eine einfache Parasomnie

Einführung

Der Traumschlaf oder Rapid-Eye-Movement-Schlaf (REM-Schlaf), benannt nach schnellen horizontalen Augenbewegungen, ist ein wesentlicher Bestandteil des Nachtschlafes. Die durchschnittliche Schlafdauer bei Erwachsenen liegt bei 7,5 bis 8 Stunden und gliedert sich in 90-minütige Schlafzyklen. Der Tiefschlaf dominiert die erste Hälfte des Nachtschlafes und ist entscheidend für Regeneration und Regulation von Körperfunktionen, während der REM-Schlaf die zweite Hälfte dominiert und für Gedächtniskonsolidierung und emotionale Regulation wichtig ist (1–4).

Verhaltensauffälligkeiten in diesen Schlafstadien werden als Parasomnien bezeichnet. Im Tiefschlaf können Schlafwandeln sowie Nachtschreck auftreten, als NREM-Parasomnien bezeichnet, im REM-Schlaf kann es zur REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD) mit dem Ausagieren von Träumen kommen. Normalerweise schützt die Muskelhypotonie im REM-Schlaf vor unwillkürlichen Bewegungen, diese wird durch ein noradrenerges und serotonerges System im Gehirn reguliert. Bei RBD ist diese Regulation gestört, was oft mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson zusammenhängt, aber auch ein symptomatisches Auslösen durch Antidepressiva mit serotonergem oder noradrenergem Wirkmechanismus (u.a. SSRI, SNRI) erklären kann.

Äthiopathogenese und Formen der RBD

Die REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD) wurde 1986 erstmalig von Carlos Schenck und Mark Mahowald beschrieben:

Deren vier über 50-jährige Patienten erlebten lebhafte, emotionale Träume und führten diese im Schlaf aus, was zu Verletzungen führte. Ihre Träume beinhalteten aggressive Szenarien und waren gut erinnerlich. Diese Erstbeschreibung ist typisch und weiterhin gültig (5).

Bei einer isolierten RBD (iRBD) tritt die Störung ohne erkennbare zentrale Nervensystemerkrankung auf. Heute weiss man, dass es sich um ein frühes Stadium einer Alpha-Synukleinopathie handelt, also einer Gruppe neurodegenerativer Erkrankungen, zu denen die Parkinson-Krankheit (PD), die Demenz mit Lewy-Körpern (DLB) und die Multisystematrophie (MSA) gehören (6).

Die sekundäre RBD kann als Symptom einer schon manifes­ten Alpha-Synukleinopathie oder anderen neurologischen Erkrankungen auftreten. Beispiele hierfür sind Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) wie die Narkolepsie (7), die Multiple Sklerose (8) oder auch das seltene Anti-IgLON5-Syndrom (9). Auch läsionelle Affektionen des zentralen Nervensystems, wie sie im Rahmen eines Schlaganfalls, einer Hirnblutung oder infektiösen Erkrankung auftreten, kommen als Ursache infrage (10, 11).

Die symptomatische Form der RBD kann im Rahmen von Alkoholintoxikation oder -entzug sowie unter Barbituraten und Benzodiazepinen auftreten. Ein Auslösen durch Antidepressiva mit serotonerger oder noradrenerger Wirkung ist ebenfalls häufig. Unklar ist, ob die antidepressive Medikation die Entwicklung einer beginnenden, noch subklinischen, isolierten REM-Schlaf-Verhaltensstörung beschleunigen oder diese sogar auslösen kann (12).

Eine Unterkategorie der symptomatischen Form stellt die Pseudo-RBD im Rahmen einer obstruktiven Schlafapnoe (OSA) dar. Ursächlich konnte ein Zusammenhang mit Entsättigungen und den resultierenden Arousal-Reaktionen gezeigt werden. Diese führen im REM-Schlaf durch dessen Diskontinuität durch Arousal und damit gestörter Muskelhypotonie zum Ausagieren der Träume (13, 14).

Viele Patient/-innen weisen eine gemischte Ätiologie, d.h. mehrere Ursachen der RBD auf. Auch nach Korrektur der RBD-provozierenden Faktoren (OSA, Medikamente etc.) zeigen sie weiterhin eine RBD-Symptomatik, sodass mindestens anteilig eine neurodegenerative Ursache der Symptomatik angenommen werden muss.

Die isolierte RBD (iRBD)

Epidemiologie der iRBD
Die Prävalenz der iRBD liegt bei 0.4–0.5 % der erwachsenen Bevölkerung und steigt auf 1–2 % bei den über 60-Jährigen an (15, 16). 80 % der Betroffenen sind Männer, was durch die mildere und somit seltener diagnostizierte Symptomatik bei Frauen erklärt werden kann (17, 18). Bei sekundären Formen der RBD, z. B. bei manifesten Alpha-Synukleinopathien, ist die Geschlechterverteilung ähnlich.

Klinische Manifestation der iRBD
Das Ausagieren von Trauminhalten ist das Leitsymptom der iRBD. Typische Träume beinhalten Angriffssituationen, in denen der Patient oder die Patientin sich selbst oder andere verteidigt, oft gegen unbekannte Menschen oder Tiere wie Hunde, Schlangen oder Löwen. Sportliche Aktivitäten wie Fussball oder Boxen können ebenfalls geträumt und ausgelebt werden (17). Diese Bewegungen können zu Verletzungen führen, beispielsweise durch Kollisionen mit Möbeln oder durch Greifen nach dem Bettpartner im Traum.

Verletzungen sind oft der Anlass für eine ärztliche Konsultation. Begleitend zur iRBD können Symptome wie reduzierte Geruchswahrnehmung und Konstipationsneigung auftreten. Subtile extrapyramidale Symptome wie eine Hypomimie oder reduzierte Geschwindigkeit alternierender Bewegungen können früh manifest werden und durch gezielte Untersuchung (TAP-Test) identifiziert werden. Zusätzlich können bereits früh neuropsychiatrische Auffälligkeiten wie Apathie, Ängstlichkeit oder depressive Symptome bestehen (19).

Äthiopathogenese der iRBD
Grundlage des neurodegenerativen Prozesses der iRBD ist die Aggregatbildung von Alpha-Synuklein zu sogenannten Lewy bodies (Abb. 1), was zu Funktionsverlust und im Verlauf Untergang der betroffenen Nervenzellen führt (20). Der Auslöser und Grund der Aggregatbildung dieses ursprünglich funktionellen intrazellulären, vesikulären Transportproteins sind nicht bekannt (16).

Die im Rahmen der frühen Entwicklung zur Alpha-Sy­nukleinopathie auftretende zeitgleiche Beteiligung des en­terischen Nervensystems und des Riechhirns bis zu 10 Jahre vor der iRBD-Symptomatik führte zur Dual-Hit Hypothese (21):

Zum einen kommt es ausgehend vom Riechhirn im Verlauf zu einer Ausbreitung der Lewy bodies über die Temporallappen und Basalganglien und später auch auf den Neokortex; zum anderen kommt es aufsteigend vom enterischen, vegetativen Nervenplexus zu einer Beteiligung des Hirnstamms mit dem typischen Auftreten von RBD-Symptomen. Diese Ausbreitungsdynamik im zentralen Nervensystem wurde bereits 2003 von Braak et al. beschrieben und publiziert(22) (Abb. 1).

Verlauf der isolierten REM-Schlaf-Verhaltensstörung (iRBD)
Longitudinale Studien zeigen, dass Patient/-innen mit iRBD ein jährliches Risiko von 6.3 % haben, eine manifeste Alpha-Synukleinopathie (PD, DLB, MSA) zu entwickeln (19). Bei gleichzeitig eingeschränkter Riechleistung und subtilen motorischen Symptomen steigt dieses Risiko auf 15.5 % pro Jahr (6).

Eine internationale Analyse ergab eine Konversionsrate von 73.5 % nach 12 Jahren ab Diagnosestellung (19). Einige wenige Patient/-innen bleiben auch nach 20 Jahren im Stadium der iRBD mit nur leichten motorischen Symptomen, die nicht die Diagnosekriterien einer manifesten Alpha-Sy­nukleinopathie erfüllen. Die Faktoren, die zu einem langsamen Krankheitsverlauf beitragen, sind noch unbekannt und Gegenstand aktueller Forschung (23).

Diagnostische Abklärung und Differenzialdiagnostik

Die Abklärung einer möglichen iRBD ist wichtig aufgrund des nächtlichen Verletzungsrisikos durch Ausagieren von Träumen und weil es sich um das Frühstadium einer neurodegenerativen Erkrankung handelt.

Die meisten Patient/-innen suchen ihren Arzt erstmalig nach eingetretener Eigen- oder Fremdverletzung auf. Zu diesem Zeitpunkt bestehen die Symptome in der Regel bereits einige Jahre. Validierte Fragebögen wie der REM Sleep Behavior Disorder Screening Questionnaire aus Marburg (RBDSQ [24]) oder die Einzelfrage des Innsbrucker RBD- Inventars (25): «Treten oder schlagen Sie im Schlaf um sich, weil Sie im Traum das Gefühl haben, Sie müssten sich verteidigen?» wie auch die Einzelfrage der internationalen RBD Study Group (26): «Hat man Ihnen jemals gesagt oder vermuten Sie selber, dass Sie Ihre Träume ausagieren, wenn Sie schlafen (z. B. Boxübungen ausführen, mit den Armen um sich schlagen, Laufbewegungen machen etc.)?» erlauben ein gutes Screening bei RBD-Verdacht.
Bei einem positiven Screening ist eine Zuweisung in ein neurologisch-schlafmedizinisches Zentrum empfohlen. Die fachspezifische Anamnese ist wichtig zur differenzialdiagnostischen und ätiologischen Einordnung der RBD-verdächtigen Symptome:

Das vorwiegende Auftreten der Symptome in der zweiten Nachthälfte deutet auf die Assoziation mit REM-Schlaf und damit RBD hin. Im Falle des Auftretens in der ersten Nachthälfte ist eine Assoziation mit Tiefschlaf im Sinne einer NREM-Parasomnie wahrscheinlicher. Stereotype Bewegungen während des Schlafes weisen auf eine schlafgebundene, hypermotorische Epilepsie (SHE) hin (27).

RBD-Symptome im zeitlichen Zusammenhang mit der Einnahme von Noxen oder Antidepressiva oder klinische Symptome einer Schlafapnoe weisen in Richtung einer symptomatischen Form der RBD (14, 28, 29).
Das Fehlen solcher Hinweise bei ansonsten typischen Symp­tomen spricht für eine iRBD. Die klinische Untersuchung spielt eine wichtige Rolle, um den klinischen Status quo zu bestimmen.

Klinisch besonders relevante Aspekte:
Extrapyramidale Symptome wie Tremor, Rigor und Hypokinese (Unified Parkinson’s Disease Rating Scale [UPDRS]) (30) können bereits in sehr leichter Ausprägung vorliegen.

Kognitive Defizite können klinisch und mithilfe des MoCA® (31), vegetative Prodromal-Symptomatik wie orthostatische Hypotonie und Konstipation sollten mittels Schellong-Test und klinisch-anamnestisch evaluiert werden.

Eine Hyposmie empfehlen wir mittels Riechtestung, z. B. mit Sniffin’ Sticks®, zu objektivieren.

Der apparative Goldstandard zur Schlafuntersuchung ist die Video-Polysomnographie (vPSG) mit dem Ziel, eine iRBD von einer häufigen OSA-induzierten, symptomatischen RBD abzugrenzen, aber auch, die Differenzial­dia­gnosen der Non-REM-Schlaf Parasomnien und der schlafgebundenen Epilepsie abzuklären.

Mittels der vPSG können das neurophysiologische Korrelat der iRBD: «REM-Schlaf ohne Muskelatonie» und komplexe Handlungen während des REM-Schlafes, obligate Diagnosekriterien der International Classification of Sleep Disorders 3 (Tab. 1, [32]) nachgewiesen werden. Bei Verdacht auf eine sekundäre Ursache der RBD mit der Frage nach vaskulären oder entzündlichen Veränderungen im Hirnstamm ist eine zerebrale MRT erforderlich.

Die nuklearmedizinische Dopamintransporter-Szintigraphie (DaTSCAN®) ist ein funktionelles bildgebendes Verfahren (33). Im Stadium der iRBD kann bereits eine signifikante Verminderung der Dopamintransporteraktivität im Bereich des Nucleus caudatus und des Putamen als Korrelat des neurodegenerativen Prozesses vorliegen (34). Bei deutlich pathologischen Befunden kann der Verdacht auf eine bevorstehende Phänokonversion zu einer manifesten Alpha-Synukleinopathie resultieren (34). In der Schweiz wird diese Untersuchung im Rahmen einer iRBD-Abklärung derzeit nicht von den Krankenkassen übernommen.

Die Durchführung einer 14-tägigen Aktigraphie kann sowohl bei der Erstuntersuchung als auch im Verlauf zusätzliche relevante Informationen über die Schlaf-Wach-Verteilung, die zirkadiane Amplitude und die Stabilität dieser Parameter von Tag zu Tag liefern. Bei regelmässiger Wiederholung können Veränderungen dieser Parameter im Langzeitverlauf Hinweise auf eine beginnende motorische Beeinträchtigung geben (35).

Klinische Verlaufskontrollen empfehlen wir einmal jährlich inklusive der Wiederholung des spezifischen extrapyramidal-motorischen Tests (UPDRS III [30]).

Ein DaTSCAN® oder ein FDG-PET, beides spezifische funktionelle bildgebende Verfahren, können ein Fortschreiten der Alpha-Synukleinopathie dokumentieren (36). Sie sind jedoch nicht Bestandteil der klinischen Routine. Zukünftig werden weitere Technologien in Form von tragbaren Beschleunigungsmessern, Druckmatten, Smartphones, Tablets und darin integrierte Algorithmen zur Bewegungs- und Schlafanalyse eingesetzt werden, um iRBD zu identifizieren, zu dokumentieren und im Langzeitverlauf zu beobachten (37).

Behandlung

Die Behandlung einer RBD ist wichtig, um Verletzungen zu vermeiden. Eine sichere Bettumgebung mit Kissen und Entfernung gefährlicher Gegenstände sind empfohlen. Im Fall einer symptomatischen RBD sollten auslösende Faktoren wie auslösende Medikamente abgesetzt werden und eine relevante Schlafapnoe behandelt werden. Sollte eine sekundäre, noch unbekannte Ursache vorliegen, muss diese entsprechend abgeklärt und behandelt werden.
Bei anhaltenden Symptomen, nach Korrektur aller potenziell symptomatischen Auslöser und in Abwesenheit einer sekundären Ursache muss von einer neurodegenerativen Ursache (iRBD) ausgegangen werden und eine medikamentöse Behandlung begonnen werden:

Zwei Präparate stehen zur symptomatischen Behandlung der iRBD zur Verfügung: Clonazepam und Melatonin. Beide reduzieren die Häufigkeit und Intensität der Symp­tome. Clonazepam (0.5–1 mg) wirkt sofort, kann aber Nebenwirkungen wie erhöhte nächtliche Sturzgefahr und Tagesschläfrigkeit haben (38). Melatonin wirkt nach 3–4 Wochen nach regelmässiger Einnahme 1 Stunde vor dem Zubettgehen und hat ein günstiges Nebenwirkungsprofil (39). Die Behandlung beginnt in der Regel mit 2 mg und kann bis 10 mg gesteigert werden.

Eine randomisierte Studie aus 2022 verglich Clonazepam mit Melatonin bei iRBD-Patient/-innen: Clonazepam zeigte bessere Symptomkontrolle, aber der Wirkungseintritt von Melatonin könnte aufgrund der Studiendauer von 4 Wochen nur unvollständig erfasst worden sein. Ein Therapieversuch mit Melatonin ist aufgrund des vorteilhaften Nebenwirkungsprofils gerechtfertigt und empfohlen.

Eine kausale Therapie zur Verlangsamung des neurodegenerativen Prozesses gibt es bisher nicht. In der Parkinson-Forschung (PASADENA-Studie) werden Immuntherapien untersucht, die sich derzeit in den Phasen 1 und 2 befinden (40, 41). Erste Wirksamkeitsuntersuchungen zeigen eine Reduktion des Alpha-Synukleins im Serum und Post-hoc- Analysen eine Verlangsamung der Zunahme der motorischen Symptome.

Ausblick

Der Einsatz neuer technischer Methoden zur Diagnostik und Langzeitbeobachtung der iRBD wird zunehmend wichtiger. Im Fokus der Forschung sind Technologien zur frühzeitigen Erkennung motorischer Symptome durch Messung der Bewegung und Aktivität wie Beschleunigungs- und Aktivitätsmessgeräte, die auch im Sport- und Freizeitbereich verwendet werden (Smart-Tracker [37, 42]). Smartphone-basierte Stimmanalysen können ebenfalls zukünftig zur Frühdetektion der für Parkinson typischen reduzierten Stimmmodulation beitragen (43). Diese neuen Technologien können helfen, ideale Biomarker zu identifizieren, die den Krankheitsverlauf und das Konversionsrisiko abbilden (6). Die Kenntnis dieser Biomarker kann in Zukunft gezielt beitragen, den Einsatz krankheitsmodulierender Therapien zu ermöglichen, die das Auftreten von Parkinson, Multisystematrophie oder Demenz mit Lewy-Körpern verzögern oder sogar verhindern können.

Abkürzungen
DaTScan® Dopamintransporter-Szintigraphie
DLB Demenz mit Lewy bodies
FDG-PET Fluoro-Desoxyglukose-Positronen-Emissions Tomographie
iRBD Isolated REM Sleep Behavior Disorder / Isolierte REM-Schlaf-Verhaltensstörung
MoCA® Montreal Cognitive Assessment / Montrealer kognitiver Bewertungstest
MSA Multisystematrophie
RBD REM Sleep Behavior Disorder / REM-Schlaf-Verhaltensstörung
REM Rapid-Eye-Movement schnelle Augenbewegung
SNRI Serotonin Noradrenaline Reuptake Inhibitors / Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer
SSRI Selective Serotonin Reuptake Inhibitors / Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
UPDRS Unified Parkinson’s Disease Rating Scale
vPSG Video-Polysomnographie

Historie
Manuskript eingereicht: 10.09.2024
Angenommen nach Revision: 17.12.2024

Dr. med. Carolin Schäfer

Universitätsklinik für Neurologie
Schlaf-Wach-Epilepsie Zentrum
Inselspital
3010 Bern, Schweiz

carolin.schaefer@insel.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Die isolierte REM-Schlaf-Verhaltensstörung (iRBD) ist nicht nur eine Parasomnie, sondern auch ein frühes Stadium einer Alpha-Synukleinopathie, zu der die Parkinson-Erkrankung, Lewy-Body-Demenz und Multisystematrophie gehören. Lebhafte Träume und deren Ausagieren sind die Leitsymptome der iRBD.
Bei Verdacht auf RBD sollte eine neurologisch-schlafmedizinische Abklärung erfolgen. Die klinische Untersuchung umfasst die Suche nach Frühsymptomen einer Alpha-Sy­nukleinopathie, einschließlich Riechverlust, orthostatischer Hypotonie und Obstipation.
Eine Video-Polysomnographie ist obligatorisch, um eine iRBD von der symptomatischen RBD durch eine Schlafapnoe auszuschliessen und die fehlende Muskelatonie und Bewegungen im Schlaf zu dokumentieren.
Die symptomatische Behandlung der iRBD erfolgt mit Clonazepam und Melatonin, um Verletzungsrisiken zu reduzieren.
Das Ziel der Forschung ist die Identifizierung von Biomarkern des Krankheitsverlaufs und der Konversion der iRBD zur Alpha-Synukleinopathie. Neue Technologien können helfen, den Krankheitsverlauf zu dokumentieren und Risikopatienten zu identifizieren.
Eine krankheitsmodulierende Therapie ist noch nicht verfügbar, eine solche kann zukünftig das Fortschreiten der Krankheit bremsen und die Lebensqualität der Patienten verbessern.

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Demenz und assistierter Suizid

Die ethischen Fragen im Zusammenhang mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid bei Menschen mit Demenz sind komplex. In erster Linie geht es darum, sich mit ihren Anliegen auseinanderzusetzen und ihre ­Motive und Einstellungen zu Leben und Tod zu verstehen. Eine Bitte um assistierten Suizid kann im Vorgriff auf den kognitiven Verfall geäussert werden, die Durchführung erfordert jedoch Urteilsfähigkeit. Falls gewünscht, können im Rahmen einer Vorausplanung Alternativen für den Fall von Komplikationen und diesbezügliche Präferenzen besprochen werden. Es wird ein interdisziplinärer Ansatz in der geriatrischen Palliative Care empfohlen, um eine Versorgung anzubieten, die den Zielen des Patienten entspricht und seine Entscheidungen am Lebensende
respektiert.

The ethical issues surrounding requests for assisted suicide from people with dementia are complex. First and foremost, we need to address their concerns and explore their motivations and attitudes towards life and death. A request for assisted suicide may be expressed in anticipation of cog- nitive decline, but its realization requires decision-making capacity. If desired, advance care planning can help discuss and determine alternatives in the event of complications and related preferences. An interdisciplinary approach to geriatric palliative care is recommended in order to provide goal-concordant care and to respect the person’s end-of-life decisions.
Key Words: Dementia, assisted suicide, decision-making capacity, advance care planning

Einführung

In diesem Artikel möchten wir einige aktuelle ethische Fragen zum assistierten Suizid bei Menschen mit Demenz ansprechen. Wie so oft bei schweren und unheilbaren Krankheiten sind die Präferenzen von Menschen, die mit der Diagnose Demenz konfrontiert werden, sehr unterschiedlich und hängen von ihren Werten und Einstellungen zu Leben und Tod ab. Manche können sich zunächst nicht vorstellen, mit kognitiven Beeinträchtigungen zu leben, zeigen aber später Anzeichen von Lebensfreude. Andere zeigen Anzeichen von existenzieller Not, Sinnlosigkeit oder Angst vor kognitivem Verfall, was dazu führen kann, dass sie nach der Diagnose einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen. Für manche Menschen geht es, wie im Fall von Gunter Sachs, auch darum, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten und ein Lebensende zu vermeiden, das sie nach ihrer Werteskala als unwürdig empfinden (siehe Kasten).


Für medizinisches Fachpersonal ist die Äusserung eines Todeswunsches oder sogar die Bitte um Beihilfe zum Suizid eine Herausforderung, die Kommunikationsfähigkeit, aktives Zuhören und Respekt vor den Werten anderer erfordert (2). Care-Fachkräfte haben die ethische Verpflichtung, zu versuchen, ihre Patienten als Menschen zu verstehen und ihre Leiden und deren mögliche Ursachen zu berücksichtigen. Eine multiprofessionelle und interdisziplinäre Beurteilung ermöglicht ein besseres Verständnis der Herausforderungen, die sich aus jeder Situation ergeben, indem Spezialisten aus den Bereichen Medizin, Krankenpflege, Psychologie, Seelsorge, Geriatrie, Psychogeriatrie und Palliative Care, manchmal aber auch Ethiker und Juristen einbezogen werden.

Wie der Fall von Gunter Sachs zeigt, ist ein Sterbewunsch zu Beginn einer Demenz oft durch die Angst vor einem düsteren Zukunftsbild motiviert: die Befürchtungen, völlig abhängig zu werden, seine Identität und Persönlichkeit zu verlieren, eine Belastung für die Angehörigen zu sein, unter Schmerzen oder anderen unerträglichen Symptomen zu leiden und schliesslich die Befürchtungen, sein Leben nicht mehr kontrollieren zu können und sein Leben aufgrund eines Verlusts der Urteilsfähigkeit nicht mehr beenden zu können (3). Eine systematische Literaturrecherche hat ergeben, dass Demenz an sich kein Risikofaktor für Suizid ist, aber bestimmte Untergruppen ein erhöhtes Risiko aufweisen können, z. B. jüngere Patienten, solche mit Komorbiditäten, Depressionen, semantischer Demenz oder in der Anfangsphase nach Bekanntgabe der Diagnose (4).

Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen

In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar, sofern die helfende Person keine selbstsüchtigen Beweggründe hat (Art. 155 Schweizerisches Strafgesetzbuch, StGB). Die Tötung auf Verlangen ist jedoch verboten (Art. 114 StGB), im Gegensatz zu einer wachsenden Zahl anderer Länder (Niederlande, Belgien, Luxemburg, Kanada, Australien, Spanien, Portugal). Beim assistierten Suizid behält die sterbewillige Person die letzte Kontrolle über die Handlung: Sie muss die tödliche Substanz trinken oder die Infusion starten. Die Hilfe zum Suizid ist nur erlaubt, wenn der Suizid freiwillig erfolgt und die Person in Bezug auf diese Handlung noch urteilsfähig ist. Um die Freiwilligkeit zu gewährleisten, muss jeder Druck, jede Manipulation, Täuschung oder Nötigung von innen oder aussen ausgeschlossen sein. Die Urteilsfähigkeit lässt sich in vier Teilfähigkeiten untergliedern: das Verstehen von Informationen, die in verständlicher Form gegeben werden, die Einschätzung der eigenen Situation und der Handlungsfolgen, das Abwägen von Gründen und schliesslich die geäusserte persönliche Entscheidung (5). Die Beurteilung dieser Fähigkeit ist jedoch komplex, wenn es um assistierten Suizid geht, und die Literatur zeigt, dass es eine grosse Unsicherheit und Vielfalt bei diesen medizinischen Beurteilungen gibt (6).

Die Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften «Umgang mit Sterben und Tod», die von der FMH als Standesordnung angenommen wurde, stellt zusätzliche Bedingungen (7): Der Arzt muss bescheinigen, dass die Person unerträglich leidet, was durch eine Diagnose oder Prognose objektiviert werden muss. Ausserdem müssen Alternativen zum assistierten Suizid erklärt, erörtert und vorgeschlagen worden sein. Nach dieser Richtlinie darf der Arzt keine Beihilfe zum Suizid leisten, wenn der Suizidwunsch «ein aktuelles Symptom einer psychischen Störung darstellt» (7).

Alternativen und ethische Herausforderungen

Aus ethischer Sicht ist es eine grosse Herausforderung, die Autonomie und Würde von Menschen mit Demenz und die daraus resultierenden Entscheidungen am Lebensende zu respektieren (8). Um eine fundierte Entscheidung treffen zu können, muss die urteilsfähige Person vor allem umfassend und objektiv über die Prognose der Krankheit, ihre gesundheitlichen und lebensbeendenden Folgen, die Optionen des Pflegeprojekts sowie die Risiken und Vorteile dieser Optionen informiert werden.

Die Patienten müssen auch über die verschiedenen legalen Möglichkeiten der Leidenslinderung und Sterbebegleitung, insbesondere der Palliativmedizin, informiert werden. Wie alle medizinischen Massnahmen sollten auch lebensverlängernde Massnahmen (z.B. Antibiotika) bei Demenz nur dann eingeleitet werden, wenn sie dem autonomen Willen der Person entsprechen. Um diese Autonomie entsprechend der individuellen Werteskala bestmöglich zu respektieren, ist es von grösster Bedeutung, diese Gespräche bereits in der Frühphase der Erkrankung führen zu können («Relationale Autonomie»). Es wird empfohlen, dass der Patient seine Wünsche, Wertvorstellungen und Therapieziele im Vorfeld mit seinen Angehörigen, Ärzten und Pflegenden bespricht, idealerweise im Rahmen eines Advance Care Planning (ACP), das von einer qualifizierten Fachperson begleitet wird, die diese Gespräche moderiert und dokumentiert (9, 10). In diesem Prozess hat der Patient auch die Möglichkeit, eine Person seines Vertrauens als vorsorgeberechtigte Person zu benennen und eine Patientenverfügung zu verfassen. Letztere ermöglicht es dem Patienten zu entscheiden, in welchen Situationen er im Falle seiner Urteilsunfähigkeit auf Behandlungsmassnahmen verzichten möchte. Man kann sein künftiges, urteilsunfähiges Ich nicht zum Suizid verpflichten (wie im Film «Still Alice» gezeigt), und wenn man es könnte, wäre es ein unfreiwilliger Suizid, der verhindert und nicht unterstützt werden sollte.

ACP ermöglicht es auch, andere mögliche Optionen zu prüfen, z. B. solche, die sich auf die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr beziehen. Solange eine Person urteilsfähig ist, ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit eine legitime Entscheidung am Lebensende, die das Leben verkürzen kann (11). Es ist jedoch ethisch umstritten, ob eine Person im Voraus verlangen kann, im Falle einer fortgeschrittenen Demenz keine Getränke und Nahrung mehr angeboten zu bekommen, insbesondere wenn sie Anzeichen dafür zeigt, dass sie trinken und essen möchte – ein Angebot menschlicher Fürsorge, das durch das bioethische Prinzip des Wohltuns gestützt wird (12, 13). Die orale Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung ist keine medizinische Behandlung, sondern eine zwischenmenschliche Hilfeleistung, ebenso wie der Schutz vor Kälte. Ihr Abbruch kann nicht im Voraus verordnet werden, da dies einem unfreiwilligen (mangels Selbstbestimmung) assistierten «Suizid» gleichkäme, der weder rechtlich noch ethisch vertretbar ist (13, 14).

Die vermutete Demenz von Gunter Sachs wurde nicht diagnostiziert, und er war für seine depressiven Episoden bekannt. Es wäre angebracht gewesen, ihn von einem medizinisch-pflegerischen Team begleiten zu lassen und ihn durch eine offene Kommunikationskultur in einer Gesellschaft zu unterstützen, die sich verpflichtet, die Entscheidungen am Lebensende aller Menschen zu respektieren, wer auch immer sie sein mögen.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Übersetzung aus la gazette médicale 02/2025

Dr. med. Rachel Rutz Voumard

Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

Dr. med. Eve Rubli Truchard

– Chaire de soins palliatifs gériatriques, Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL

– Service de gériatrie et réadaptation gériatrique CHUV-UNIL

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox

– Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

– Chaire de soins palliatifs gériatriques,
Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL,

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Menschen mit Demenz können existenzielles Leid, Sinnverlust oder Angst vor dem Risiko eines kognitiven Rückgangs ausdrücken, was insbesondere nach der Mitteilung der Diagnose den Wunsch nach einem frühen Tod begründen kann.
  • Es ist von grösster Bedeutung, sich ihre Sorgen anzuhören, sie über den Krankheitsverlauf zu informieren, Behandlungsmöglichkeiten zu besprechen und Therapieentscheide zu planen.
  • Wenn eine Person mit Demenz sich der möglichen Alternativen bewusst ist, ist sie eher in der Lage, existenzielle Entscheidungen über ihr Leben und ihren Tod zu treffen.

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2. Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie (FGPG), Grundsatzpapier „Sterbewünsche in der palliativen Geriatrie“. FGPG Berlin 2023, https://www.fgpg.eu/wp-content/uploads/2023/05/GSP-05_Sterbewuensche-Druck.pdf (accédé le 19.8.2024)
3. van Rickstal R, De Vleminck A, Chambaere K, Van den Block L. People with young-onset dementia and their family caregivers discussing euthanasia: A qualitative analysis of their considerations. Patient Educ Couns 2023; Oct:115:107882. doi: 10.1016/j.pec.2023.107882
4. Schmid J, Jox R, Gauthier S, Belleville S, Racine E, Schüle C, Turecki G, Richard-Devantoy S. Suicide and assisted dying in dementia: what we know and what we need to know. A narrative literature review. Int Psychogeriatr 2017;29(8):1247-59.
5. Appelbaum PS. Assessment of Patients’ Competence to Consent to Medical Treatment. New Engl J Med 2007 ;357 :1834-40.
6. Mangino DR, Nicolini ME, De Vries RG, Kim SYH. Euthanasia and Assisted Suicide of Persons With Dementia in the Netherlands. Am J Geriatr Psychiatry 2020;28(4):466-77.

Update sexuell übertragbare Infektionen

Ein neues nationales Programm sagt HIV, Hepatitis und anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STI) den Kampf an. Um die Ziele bis 2030 zu erreichen, werden klassische Präventionsmassnahmen wie Information und Beratung der sexuell aktiven Bevölkerung und das Kondom durch biomedizinische Massnahmen, sprich den Einsatz von Medikamenten und Impfungen, ergänzt. Aber auch die sekundäre Prävention, das Erkennen und Behandeln und damit Verhindern von weiteren Infektionen hat einen hohen Stellenwert zum Erreichen der Ziele. Neue Diagnosemethoden wie die Multiplex-PCR sowie Resistenzentwicklungen gegen Antibiotika erfordern ein regelmässiges Auffrischen des Wissens über STIs. In diesem Artikel geben wir eine Übersicht über Neuerungen, die entweder bereits jetzt relevant sind oder in Zukunft werden, und wollen Ihnen damit den Zugang zum Thema STIs in der Praxis vereinfachen.

A new national program is fighting HIV, hepatitis and other sexually transmitted infections (STI). In order to achieve the goals by 2030, traditional prevention measures such as information and advice for the sexually active population and condoms will be supplemented by biomedical measures, i.e. the use of medication and vaccinations. However, secondary prevention, the detection and treatment and thus prevention of further infections, is also very important for achieving the goals. New diagnostic methods such as multiplex PCR and the development of resistance to antibiotics mean that knowledge about STIs needs to be regularly refreshed. In this article, we provide an overview of innovations that are either already relevant or will become relevant in the future and aim to simplify your access to the topic of STIs in practice.
Key Words: sexually transmitted infections (STI), prevention, HIV, hepatitis

Hintergrund

Im November 2023 verabschiedete der Bund das neue nationale Programm (NAPS): «Stopp HIV, Hepatitis B-, Hepatitis C-Virus und sexuell übertragene Infektionen» (1). Bis 2030 soll es keine weiteren Übertragungen von HIV und dem Hepatitis B- und C-Virus mehr geben. Damit schliesst sich die Schweiz dem internationalen Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und den vereinten Nationen (UNAIDS) an (2). Für HIV scheinen wir auf dem richtigen Weg zu sein. Die Zahl der Neudiagnosen sinkt. Bezüglich der drei meldepflichtigen bakteriellen sexuell übertragbaren Infektionen (STI) Syphilis, Neisseria gonorrhoea (NG) und Chlamydia trachomatis (CT) sieht es jedoch anders aus (3). Hier wäre schon ein Rückgang der Neudiagnosen ein Erfolg, denn die Meldezahlen steigen seit Jahren. Um die Ziele des NAPS zu erreichen, sind daher auch die Grundversorger gefragt. Der Umgang mit diesen Erkrankungen in der Praxis ist anspruchsvoll. Neben guten Kommunikationsfähigkeiten braucht es den Durchblick bei wechselnden Test- und Behandlungsstrategien.

Von den über 30 Krankheitserregern, welche ausschliesslich oder hauptsächlich durch Sexualkontakte übertragen werden, sind nicht alle gleich relevant (4). In diesem Artikel wollen wir Ihnen daher eine Übersicht über Neuerungen sowie ein Auffrischen von wichtigem Wissen zu denen für die Praxis relevanten Erregern geben.

Prävention

Sie erinnern sich vielleicht noch an die «Stop Aids»-Kampagne der 80er Jahre. Seitdem hat sich einiges getan in der Prävention. Beschränkte sich früher die Prävention auf Verhaltensänderungen mit dem Ziel der Monogamie, Abstinenz und vor allem der Anwendung von Kondomen, gab es in den letzten 15 Jahren entscheidende Entwicklungen. Heute akzeptieren wir, dass nicht alle Menschen sich immer in jeder Situation an unsere Empfehlungen halten können. Daher werden die oben genannten Präventionsziele heute individuell mit biomedizinischen Präventionsmassnahmen ergänzt. Gemeint sind hierbei präventiv eingesetzte Medikamente wie die HIV Prä- und Postexpositonsprophylaxe, das «Test-and-Treat»-Konzept oder Impfungen für manche STIs sowie individuelle Beratungen und Schutzkonzepte, zum Beispiel abrufbar unter dem Safer-Sex-Check (Abb. 1).

Kondome

Aufgrund ihrer sehr guten Schutzwirkung auf das HI-Virus standen Kondome 40 Jahre im Zentrum der Präventionskampagnen weltweit. Hierbei wurde oft die Tatsache ausgeblendet, dass der Schutz, insbesondere bei bakteriellen STIs, welche in der Regel Schmierinfektionen sind, weit unter dem für HIV liegt. Wie hoch die Wirkung der Kondome auf bakterielle STIs wirklich ist, ist schwer zu sagen; beinahe alle Studien hierzu weisen methodische Schwächen auf (5). Klar ist aber, dass das Kondom, um zu wirken, auch im entscheidenden Moment getragen werden muss. Gerade beim Oralverkehr, welcher zwar kein Risiko für HIV, jedoch aber für bakterielle STIs darstellt, ist das selten der Fall.

Test-and-Treat

In den letzten 15 Jahren wurde daher viel Hoffnung auf das sogenannte «Test-and-Treat»-Konzept gesetzt. Das Konzept beruht auf der Erkenntnis, dass die meisten bakteriellen STIs asymptomatisch verlaufen (6). Die Personen, die Sie mit Symptomen in der Praxis sehen, bilden also nur die Spitze des Eisberges. Würden nun alle Personen, die ein Risiko für eine STI haben, regelmässig getestet, würde man zwar zunächst einen Anstieg an Diagnosen erwarten, durch die Unterbrechung der Infektionsketten sollte es nach einer gewissen Zeit aber zu einer Abnahme der Diagnosen kommen (7). Bei HIV ist diese Strategie durchaus erfolgreich. Auch wenn HIV nicht heilbar ist, so kann doch das Virus unter einer gut behandelten antiretroviralen Therapie nicht mehr weitergegeben werden (8). Bei der Syphilis sehen wir ebenfalls zumindest ein Plateau der Neudiagnosen (3). Bei CT und NG hingegen konnte weltweit noch kein Rückgang beobachtet werden. Der Anstieg in den aktuellen Meldezahlen des Bundesamtes für Gesundheit ist in erster Linie auf die Bemühungen zurückzuführen, dieses Ziel zu erreichen, indem mehr Personen ohne Symptome getestet werden. Aktuell wird daher viel in der Wissenschaft diskutiert, in welcher Form dieses Prinzip bei CT und NG weitergeführt werden soll (9). Für den Einzelnen oder die Einzelne mag der Nutzen jedoch durchaus gegeben sein, um beispielsweise mit einer besseren Sicherheit in eine neue Beziehung zu gehen.
Unbestritten ist bisher der Nutzen der Partner-Notifikation und gegebenenfalls Behandlung, wenn eine STI diagnostiziert wurde. Hier kann auch in Absprache mit dem Patienten eine Blindtherapie indiziert sein. Wichtig ist, dass Sie Ihre Patient/-innen über die Vor- und Nachteile einer eventuell unnötigen Antibiotikagabe aufklären und – falls sie sich für einen Test entscheiden – auf das diagnostische Fenster achten (bei CT und NG 14 Tage).

Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass das «Test-and-treat»-Konzept nur für die Infektionen mit HIV, Syphilis, CT und NG gilt. Bei anderen Erregern, wie beispielsweise Mycoplasma genitalium oder Ureaplasmen, ist das Screening von asymptomatischen Personen nicht empfohlen, da diese selten zu Symptomen und so gut wie nie zu Komplikationen führen, die Behandlung aber sehr belastend sein kann (10). Hier gilt der Grundsatz «Primum non nocere!» Wir raten daher auch von der Verwendung von Multiplex-PCR, welche fünf oder mehrere Erreger gleichzeitig suchen, insbesondere bei asymptomatischen Personen, ab.

Prophylaktische Gabe von Antiinfektiva und Impfungen

Aufgrund des ausbleibenden Effektes des «Test-and-treat»-Konzepts wurde nach neuen Präventionsstrategien gesucht. Impfungen gibt es bereits gegen HPV und Hepatitis B. Zu erwähnen ist zudem die Impfung mit dem Pocken-Impfstoff Jynneos®, welcher auch eine Wirkung auf das Mpox (ehemals Affenpocken) Virus zeigt und daher für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) und trans Personen mit wechselnden Sexualpartnern empfohlen ist. Die Impfung wird für diese Gruppen von den Krankenkassen übernommen und erfolgt je nach Kanton an speziellen Impfstellen. Gegen Syphilis, Gonokokken und Chlamydien stehen leider noch keine Impfungen zur Verfügung, auch wenn Studien hierzu laufen. Retrospektive Studien von Personen, die eine Impfung gegen einen den NG verwandten Erreger, den Meningokokken Gruppe B (Bexsero), erhalten haben, zeigen eine 40 % Reduktion von NG (11). Neueste, prospektive Studien konnten diesen Effekt jedoch leider nicht bestätigen (12). Aktuell gibt es daher keine offizielle Empfehlung für Risikopersonen, diese Impfung off-label zum Schutz von NG anzubieten.

Neben Impfungen wurde auch das Prinzip der Chemo-prophylaxe untersucht. Bei HIV kennen wir dieses Prinzip schon eine Weile und seit dem 01. Juli 2024 kann die HIV-Präexpositonspophylaxe (PrEP) für bestimmte Risikogruppen durch die Krankenkassen vergütet werden. Voraussetzung ist, dass man zu den vom Bund vorgegebenen Gruppen gehört und die verschreibenden Ärzte und Ärztinnen Teil des SwissPrEPared Programms sind (13). Mehr zur PrEP und zur Teilnahme am Programm finden Sie unter www.swissprepared.ch.

Aber auch bei den bakteriellen STIs bekommt dieses Konzept immer mehr Bedeutung. Studien mit einmalig 200 mg Doxycyclin bis zu 72 Stunden nach einer sexuellen Risikosituation konnten bei MSM beachtliche Effekte von bis zu 70 % Reduktion von Chlamydien- und Syphilis-Infektionen zeigen (12, 14). Bei Gonokokken, die eine rasante Resistenzentwicklung in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben, war der Effekt deutlich geringer oder nicht nachweisbar. Einige Länder haben daher die sogenannte Doxy-PEP bereits in ihre Empfehlungen für MSM und trans Personen aufgenommen, da hier aufgrund der engen sexuellen Netzwerke die Infektionen am meisten verbreitet sind. Die Eidgenössische Kommission für Fragen zu sexuell übertragbaren Infektionen (EKSI) arbeitet aktuell an einer Empfehlung für die Schweiz. Leider gibt es noch wenig Studien, die Daten zu dem Langzeitrisiko, insbesondere auf die Resistenzentwicklung und auf das Mikrobiom, untersucht haben (15).

Diagnostik

Immer wieder sehen wir in der klinischen Praxis verunsicherte Patienten und Patientinnen, bei denen Antikörper im Blut gegen CT oder NG bestimmt wurden. Diese Analysen haben ihre klinische Relevanz nur bei disseminierten Infektionen. Zur Ursache bei einer akuten Erkrankung wie einer Urethritis haben sie keinen Stellenwert. Zur Diagnostik einer genitalen Infektion eignet sich ein PCR-Test aus einem Abstrich oder eine Urinprobe. Zervikale und vaginale Abstriche sind gleichwertig. Der Abstrich aus der Harnröhre bei einem Penis muss nicht tief eingeführt werden, auch muss das Abstrichstäbchen nicht hin und hergedreht werden. Ein kurzes Einführen in die Harnröhre von < 1cm oder sogar ein Abstrich nur aus dem Meatus ohne Einführen ist ausreichend (16). Beim Abstrich aus dem Penis ist darauf zu achten, dass die Person 2 Stunden vorher nicht uriniert hat, damit die Erreger nicht ausgespült wurden. Bei einer Urinprobe sollte der Erststrahlurin aus dem gleichen Grund verwendet werden (17, 18).

Da diese Erreger aber auch auf anderen Schleimhäuten übertragen werden können, sollten vor allem bei asymptomatischen Personen ein Rachen- und je nach Sexualanamnese zusätzlich ein Rektalabstrich durchgeführt werden. Gerade bei MSM würde man bei einem reinen genitalen Screening bis zu 2/3 aller Infektionen verpassen. (19) Um Geld zu sparen, können die 3 Abstriche gepoolt werden, um nur eine PCR durchzuführen. Hierzu werden alle 3 Abstrichtupfer in ein Röhrchen mit Trägerlösung gegeben (19). Sprechen Sie aber vorher mit Ihrem Labor ab, ob Analysen an gepoolten Abstrichen angeboten werden. Bei MSM mit rektalen Beschwerden, insbesondere Schmerzen oder inguinaler Lymphknotenschwellung und positivem CT-Abstrich, sollte immer auch eine weitere Testung auf Lymphogranuloma venerum (LGV) (CT Serotypen L1-3) erfolgen, da diese eine längere Behandlung benötigen.

Bei der Syphilis erfolgt die Diagnose primär durch serologische Marker. Lediglich bei der frischen Syphilis, mit einem klassischen Ulcus, kann es Sinn machen, auch eine PCR aus einem Ulcus-Abstrich auf Treponema pallidum durchzuführen, da es aufgrund des diagnostischen Fensters zu falsch negativen Resultaten in der Serologie kommen kann. Bei Personen, welche noch nie eine Syphilis hatten, kann der Syphilis-Screening-Test oder Treponema-pallidum-Partikel-Agglutination-Test (TPPA) durchgeführt werden. Da dieser nach einer behandelten Syphilis lebenslang positiv bleibt, muss bei Verdacht eine Re-Infektion und zur Bestätigung eines positiven TPPA der Rapid Plasma Reagin (RPR) oder der Veneral Disease Research Laboratory (VDRL) Test gewählt werden (21). Die Interpretation, ob es sich um eine Sero-Narbe oder eine Re-Infektion handelt, kann schwierig sein. Insbesondere dann, wenn keine Vorwerte vorliegen. Bei der Anamnese sollte zudem immer nach neurologischen Symptomen, speziell nach Seh- und Hörstörungen, gefragt werden. Zudem soll bei Verdacht auch eine neurologische Untersuchung inklusive Lumbalpunktion mit der Frage nach intrathekaler Syphilis-Antikörperproduktion durchgeführt werden, um eine Neuro-Lues nicht zu verpassen. Bei Schwierigkeiten in der Interpretation sollte Rücksprache mit einem Facharzt oder einer Fachärztin für Infektiologie oder Dermatologie/Venerologie gehalten werden.

Behandlungen

In der Behandlung von CT/NG gab es in den letzten Jahren vor allem eine wesentliche Änderung. Auf den Einsatz von Makroliden (Azithromycin) soll aufgrund der raschen Resistenzentwicklung weitgehend verzichtet werden und nur noch bei Unverträglichkeiten auf die Erstlinientherapie ausgewichen werden. Die Erstlinientherapie besteht bei CT aus Doxycyclin 100 mg 2 x täglich für 7d (21d bei LGV) (18).

Bei NG wird keine duale Therapie aus Ceftriaxon und Azithromycin mehr empfohlen, sondern nur noch 1 g Ceftriaxon einmalig in Monotherapie (17). Diese kann intramuskulär (i.m.) oder intravenös (i.v.) erfolgen. Aufgrund der raschen Resistenzentwicklung empfiehlt es sich, immer auch eine kulturelle Testung der NG-Infektion anzustreben. Da diese aber oft nicht gelingt, soll sie die Therapie, vor allem bei symptomatischen Personen, nicht verzögern. Sie kann aber im Falle eines fraglichen Therapieversagens oder einer Ceftriaxon-Unverträglichkeit sehr hilfreich sein. Oft sind zudem die Kosten für die Resistenztestung ein Hindernis, gerade bei jungen Patient/-innen mit einer hohen Franchise.

Ein Test-of-Cure ist dann empfohlen, wenn von der Erstlinientherapie abgewichen worden ist oder die Symptome persistieren. Dieser sollte frühestens 14 Tage nach der Behandlung erfolgen, da die PCR in dieser Zeit noch falsch positiv sein kann.

In der Behandlung der Syphilis hat sich wenig geändert. Diese erfolgt weiterhin durch 2,4 Mio. IE Benzathin-Penicillin i.m. Da dieses in der Schweiz nicht verfügbar ist, muss es aus dem europäischen Ausland importiert werden (21). Dies sollte nicht zu einem Ausweichen auf die Zweitlinientherapie mit Doxycyclin führen, da hierunter öfters Therapieversagen beobachtet wurde. Falls Sie keinen Zugang zu Benzathin-Penicillin haben, überweisen Sie den Patienten/die Patientin lieber an ein infektiologisches oder dermatologisches Zentrum, welches das Medikament auf Lager hat. Für eine frische Syphilis (<12 Monate nach Infektion) reicht eine einmalige Gabe. Bei unklarem Infektionszeitpunkt oder >12 Monate seit der Infektion sollte diese insgesamt 3 x im Abstand von jeweils 7 Tagen durchgeführt werden. In der Praxis hat sich die Gabe von 50 mg Prednison vor der ersten Gabe zur Prophylaxe einer Jarisch-Herxheimer-Reaktion empfohlen, auch wenn die Evidenz hier nicht wissenschaftlich belegt ist. Ein Test-of-Cure ist bei der Syphilis spätestens nach 12 Monaten empfohlen, es empfiehlt sich, die Verlaufskontrolle bereits früher, nach 3 Monaten, zu machen. Auch wenn Therapieversagen selten sind, ist es sonst bei einer möglichen Re-Infektion oft sehr schwierig, die Werte zu interpretieren, wenn kein Nadir dokumentiert wurde. Eine Syphilis gilt als erfolgreich therapiert, wenn der RPR oder VDRL-Titer mindestens 4 log Stufen abgefallen oder negativ ist. Bei Menschen mit Immunschwäche, inklusive HIV und bei länger zurückliegender Infektion, kann diese Zeit gelegentlich auch länger dauern. Die Therapie einer Neuro-Syphilis erfolgt durch die intravenöse Gabe von 3–4 Mio. IE Penicillin G i.v. alle 4 Stunden für 14 Tage.

Andere bakterielle STIs

Andere bakterielle STIs spielen nur bei symptomatischen Patient/-innen eine Rolle und sollten nie als Screening abgenommen werden. Bei Patient/-innen mit Urethritis, Vaginitis oder Proktitis empfiehlt sich ein stufenweises Vorgehen. Zunächst sollte ein Abstrich auf CT/NG durchgeführt werden. Werden keine der beiden Erreger gefunden, kann weiter auf Mycoplasma genitalium und bei heterosexuellen cisgender Frauen Trichomonas vaginales getestet werden. Bei nicht spezifischen Symptomen wie Juckreiz darf auch mal abgewartet werden, ob die Symptome von selbst sistieren. Mycoplasma genitalium ist weitgehendst resistent auf die frühere Behandlungsempfehlung mit Azithromycin. Eine kulturelle Anzüchtung zur Resistenzbestimmung ist beinah unmöglich. Wenn also keine genetische Testung auf Makriolidresistenz vorliegt, sollte dieses nicht mehr eingesetzt werden. Auch bei einem auf Makrolide sensiblen Erreger sollte immer vorher 7d mit Doxycyclin behandelt werden, um den bakterial load zu reduzieren und dadurch Therapieversagen und weitere Resistenzentwicklung zu vermeiden (10).

Die Umsetzung des NAPS wird unsere praktische Arbeit in Hinblick auf die sexuelle Gesundheit unserer Patient/-innen in den nächsten Jahren verändern. Für das Ziel, der Beendigung der HIV-Epidemie bis zum Jahr 2030 und der Reduktion der anderen sexuell übertragbaren Infektionen müssen wir Ärzt/-innen, die Bevölkerung, aber auch der Bund, die Kantone und die Gemeinden gemeinsam arbeiten. Sie, liebe Leserinnen und Leser, spielen in der Praxis dazu eine wichtige Rolle. Bei jeder STI, die Sie diagnostizieren, sollten Sie vor allem bei MSM unbedingt auch an einen HIV-Test und ein Gespräch über Schutzmöglichkeiten wie die PrEP denken. MSM mit einer bakteriellen STI sind die Gruppe, mit dem statistisch höchsten Risiko sich in den nächsten Monaten mit dem HI-Virus zu infizieren (22). Setzen Sie nicht nur auf das Kondom in Ihrer Beratung, sondern passen Sie Ihre Empfehlungen individuell an Ihre Patienten/-innen an.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Benjamin Hampel

– Department of Public and Global Health, Epidemiology, Biostatistics and Prevention Institute, University of Zurich, Hirschengraben 84, 8001 Zurich

– Checkpoint Zürich, Limmatstrasse 25, 8005 Zürich

– Eidgenössische Kommission für Fragen zu sexuell übertragbaren Infektionen (EKSI)

Dr. med. Barbara Jakopp

– Kantonsspital Aarau, Abteilung für Infektiologie und Infektionsprävention, Tellstrasse 25, 5001 Aarau
– Eidgenössische Kommission für Fragen zu sexuell übertragbaren Infektionen (EKSI)

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Schweiz strebt an, bis 2030 keine neuen Übertragungen von HIV sowie Hepatitis B und C zu verzeichnen und unterstützt die globalen Ziele der WHO und UNAIDS.
  • Neben klassischen Präventionsmassnahmen wie Kondomen gewinnen biomedizinische Ansätze an Bedeutung. Dazu gehören HIV-Prä- und Postexpositionsprophylaxe (PrEP/PEP), Impfungen (z. B. gegen HPV und Hepatitis B) sowie angepasste Beratungskonzepte wie der «Safer-Sex-Check».
  • Das Konzept, durch regelmässige Tests asymptomatische Infektionen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, zeigt Erfolge bei HIV und Syphilis. Bei Gonorrhoe und Chlamydien konnte bisher jedoch kein Rückgang beobachtet werden, da viele Infektionen symptomfrei verlaufen und Resistenzen zunehmen.
  • Antikörpertests sollten bei der Diagnostik von CT und NG nicht verwendet werden. Stattdessen sollen PCR aus Urin oder Abstrichen aus der Genitalregion (urethral beim Mann, cervikal oder vaginal bei der Frau), sowie, je nach Sexualanamnese, auch aus dem Rachen und Rektum durchgeführt werden.
  • Der Einsatz von Azithromycin wird wegen Resistenzentwicklungen eingeschränkt. Stattdessen wird für Chlamydien Doxycyclin empfohlen, für Gonorrhoe Ceftriaxon in Monotherapie.

1. Bundesamt für Gesundheit. Nationales Programm (NAPS) Stopp HIV, Hepatitis B-, Hepatitis C-Virus und sexuell übertragene Infektionen [Internet]. 2023. Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/nationales-programm-hiv-hep-sti-naps.html
2. Joint United Nations Programme on HIV/AIDS. The path that ends AIDS: UNAIDS Global AIDS Update 2023 [Internet]. 2023. Available from: https://www.unaids.org/en/resources/presscentre/pressreleaseandstatementarchive/2023/july/unaids-global-aids-update
3. Bundesamt für Gesundheit. Sexuell übertragene Infektionen und Hepatitis B/C in der Schweiz im Jahr 2022: eine epidemiologische Beurteilung. BAG-Bulletin. 2023 Nov 27;48.
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5. Koss CA, Dunne EF, Warner L. A systematic review of epidemiologic studies assessing condom use and risk of syphilis. Sex Transm Dis. 2009 Jul;36(7):401–5.
6. Braun DL, Marzel A, Steffens D, Schreiber PW, Grube C, Scherrer AU, et al. High Rates of Subsequent Asymptomatic Sexually Transmitted Infections and Risky Sexual Behavior in Patients Initially Presenting With Primary Human Immunodeficiency Virus-1 Infection. Clinical infectious diseases : an official publication of the Infectious Diseases Society of America. 2017/10/14 ed. 2018 Feb 10;66(5):735–42.
7. Jenness SM, Weiss KM, Goodreau SM, Gift T, Chesson H, Hoover KW, et al. Incidence of Gonorrhea and Chlamydia Following Human Immunodeficiency Virus Preexposure Prophylaxis Among Men Who Have Sex With Men: A Modeling Study. Clinical Infectious Diseases [Internet]. 2017;65(5):712–8.
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9. Vanbaelen T, Tsoumanis A, Florence E, Van Dijck C, Huis In ’t Veld D, Sauvage AS, et al. Effect of screening for Neisseria gonorrhoeae and Chlamydia trachomatis on incidence of these infections in men who have sex with men and transgender women taking HIV pre-exposure prophylaxis (the Gonoscreen study): results from a randomised, multicentre, controlled trial. Lancet HIV. 2024 Apr;11(4):e233–44.
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13. Bundesamt für Gesundheit. Referenzdokument «HIV-Präexpositionsprophylaxe (HIV-PrEP). 2023.
14. Molina JM, Charreau I, Chidiac C, Pialoux G, Cua E, Delaugerre C, et al. Post-exposure prophylaxis with doxycycline to prevent sexually transmitted infections in men who have sex with men: an open-label randomised substudy of the ANRS IPERGAY trial. Lancet Infect Dis. 2017/12/13 ed. 2018 Mar;18(3):308–17.
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18. Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie. Chlamydia/LGV [Internet]. 2024 [cited 2024 Nov 3]. Available from: https://ssi.guidelines.ch/guideline/2273/de
19. De Baetselier I, Osbak KK, Smet H, Kenyon CR, Crucitti T. Take three, test one: a cross-sectional study to evaluate the molecular detection of Chlamydia trachomatis and Neisseria gonorrhoeae in pooled pharyngeal, anorectal and urine samples versus single-site testing among men who have sex with men in Belgium. Acta clinica Belgica. 2018/11/13 ed. 2018 Nov 12;1–5.
20. Sultan B, White JA, Fish R, Carrick G, Brima N, Copas A, et al. The “3 in 1” Study: Pooling Self-Taken Pharyngeal, Urethral, and Rectal Samples into a Single Sample for Analysis for Detection of Neisseria gonorrhoeae and Chlamydia trachomatis in Men Who Have Sex with Men. Journal of clinical microbiology. 2016/01/01 ed. 2016 Mar;54(3):650–6.
21. Bundesamt für Gesundheit. Syphilis: aktualisierte Empfehlungen zu Diagnostik und Behandlung. BAG Bulletin. 2015 May 18;21.
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Das kardiovaskuläre-renale-metabolische Syndrom (CKM)

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache. Unter den kardiovaskulären (cv) Risikofaktoren nimmt Diabetes mellitus Typ II (T2DM) aufgrund der steigenden Prävalenz eine besondere Stellung ein. Koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinsuffizienz (HI) und chronische Niereninsuffizienz (CKD) sind deutlich erhöht. Der Begriff CKM bezeichnet ein komplexes Gesundheitsproblem, das auf den Wechselwirkungen zwischen Herzerkrankungen, Nierenerkrankungen, Diabetes und Adipositas beruht. Das Syndrom erhöht das Risiko für die Entwicklung und das Fortschreiten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und betrifft sowohl Risikopersonen als auch Personen mit bestehenden cv-Erkrankungen. Das Stadium zum Zeitpunkt der Diagnose kann Aufschluss über den Schweregrad der Erkrankung geben.

Cardiovascular disease (CVD) is the leading cause of death worldwide. Among the cardiovascular (CV) risk factors, diabetes mellitus type II (T2DM) occupies a special position due to its increasing prevalence. Coronary heart disease (CHD), heart failure (HF) and chronic kidney disease (CKD) are significantly increased. The term CKM describes a complex health problem resulting from the interaction between heart disease, kidney disease, diabetes and obesity. The syndrome increases the risk of developing and progressing cardiovascular disease and affects both those at risk and those with existing cardiovascular disease. The stage of the disease at the time of diagnosis may indicate the severity of the disease.
Key words: heart disease, kidney disease, diabetes and obesity, CKM-syndrome

Fallbeschreibung

Wir möchten einen 63-jährigen Hochrisiko-Patienten mit einer neuen moderaten Anstrengungsdyspnoe vorstellen. Er hat seit ca. 8 Jahren einen T2DM und eine CKD: G3aA3; Erstdiagnose vor 2 Jahren. Seit kurzem eine HI mit einer LV-EF von 53 % (HFpEF). Negative FA bez. koronarer Herzkrankheit, kein Nikotin. Die Details zum Fall vermittelt Abb. 1. Der Fall aus der Praxis soll auch die aktuellen Leitlinien zu den vorhandenen Krankheiten beleuchten. Der Patient hat mit drei kardiovaskulären Risikofaktoren und der Anstrengungsdyspnoe, nach den neuen ESC-Guidelines 2024 des CCS, ein moderates Risiko von 17 % für eine obstruktive KHK (1). In einer Koronar-CT-Untersuchung fand sich eine koronare diffuse 3-Gefässerkrankung mit zwei 50–60 % Stenosen am mittleren RIVA und an der proximalen CX. In einer Stressechokardiographie wurde eine koronare Ischämie ausgeschlossen. Die augenärztliche Kontrolle ergab eine leichte diabetische Retinopathie. Somit besteht wahrscheinlich eine diabetische Nephropathie. Der ABI betrug bei guten Fusspulsen bds 1.0 Die Transaminasen waren normal. Im erweiterten Echo nicht dilatierte, sklerosierte Aorta abdominalis, keine Lebersteatose, Nieren bds morphologisch normal.

Kommentar

Das BD-Ziel von 120–129 mmHg systolisch haben wir mit obiger dualer Fixkombinatio (ACE-H./ Kalziumantagonist) erreicht. Dies ergibt eine bessere Progressionshemmung bei proteinurischen Nieren und eine geringere Mortalität (2). Die Triglyceride sind trotz des T2DM bei unserem Patienten normal, das Non-HDL ist <2,2mmol/l, das LDL misst unter obiger Kombinationstherapie 1,4mmol/l.

Bei Hypertonikern, kardiovaskulären- und diabetischen Patienten ist der regelmässige Ausschluss einer CKD mit einer eGFR (EPI) von <60ml/min/1.73m2 und/oder einer Mikro-/Albuminurie mit Hilfe der Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) im Spontanurin (A2-A3 >30mg/g Kreatinin) über >3 Monate entscheidend. In der Praxis wird ein Screening bei Risikopatienten viel zu selten durchgeführt. Eine CKD erhöht das cv Risiko resp. die cv Events und die Mortalität. Die UACR ist ein unabhängiger Prädiktor der cv Mortalität über das gesamte Spektrum der Nierenfunktion, dies unabhängig von anderen cv Risikofaktoren. Eine UACR ≥10mg/g ist mit einer erhöhten cv Mortalität assoziiert (30mg/g= HR 1,77), bei der eGFR ist dies <60ml/min/1.73m2 der Fall (2).

Das Risiko für eine HI bei einem T2DM, auch nach Kontrolle aller RF, beträgt nach verschiedenen Studien 25–45 %; davon haben ¾ eine HFpEF. Vier von 10 Patienten mit einem T2DM und vier von 10 mit einer HI haben eine CKD. 20 % aller Hypertoniker, 50 % aller T2DM-Patienten und 40 % aller Patienten mit einer kardiovaskulären Vorerkrankung haben eine Albuminurie. 80 % aller Diabetiker erleiden im Laufe ihres Lebens ein kardiovaskuläres Ereignis oder eine CKD (2,3). Da bei unserem Patienten eine Endorganschädigung vorliegt, ist er ein Hochrisiko-Patient. Er hat auf Grund der eingeschränkten eGFR und der Albuminurie eine 5x erhöhte 10-Jahres-Mortalität und nach den KDIGO 2024 Risikokalkulationen ein Risiko von 16,5 % in 5 Jahren ein terminales Nierenversagen zu erleiden – ckdpcrisk.org/kidneyfailurerisk (4, 5).

Wir haben neben den Lebensstilinterventionen mit einem regelmässigen körperlichen Training, einer gesunden Ernährung, einem Gewichtsmanagement und der Reduktion der kardiovaskulären Risikofaktoren drei neue wirksame medikamentöse Therapieoptionen, welche das kardiovaskuläre und renale Risiko deutlich senken. Zusätzlich kommt es zu einer Progressionshemmung der CKD. So wurde u.a. auch aufgrund der «ESC-Guidelines 2023: Diabetes und Herz», am ERA-Kongress 2024 anlässlich der Präsentation der FLOW-Studie, eine 6-Säulen-Therapie vorgestellt (5,6):

Die bisherigen 3 Säulen bestehen aus einem ACE-Hemmer/ARB, einem Statin/±Ezetimib und Metformin. RAAS-H. sind seit Jahren der Hauptpfeiler der Therapie, um das kardiovaskuläre und renale Outcome zu verbessern (2).

ACE-H./ARB: bei Diabetes; Hypertonie (>130/80mmHg); CKD mit Albuminurie >30mg/g (A2); BD-Selbstkontrolle, 24h-BD; cave: maskierte Hypertonie; wenn möglich max. zugelassene Dosis. Bei Hypertonie Fixkombinationen mit CCB/Diuretika, BD <130/80 mmHg bei Proteinurie; i.R. MRA.

Ein klarer cv Benefit ist bei den Statinen nachgewiesen. Metformin hat nach einer Metaanalyse von 40 Studien bei einem T2DM und einer koronaren Herzkrankheit günstige Auswirkungen mit einer Mortalitätssenkung von 33 % und eine Verminderung der cv Ereignisse um 17 % (7). Es gibt aber keine grossen Endpunktstudien.

Die neuen 3 Säulen sind: ein SGLT2-H., ein nicht steroidaler Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonist (ns-MRA) und ein GLP-1 RA (5,6). Das Ziel ist eine kardio-renale Protektion: Verringerung der kardiovaskulären Endorganschäden, der Mortalität und eine Verlangsamung der CKD-Progression.

Daher wurde die bisherige Therapie in unserem Fall auf Grund des T2DM, der HI und der eGFR von 46ml/min/1.73m2 und der Albuminurie neu angepasst: Anstelle eines DPP-4 Hemmers wurde dieser durch einen SGLT2-H. ersetzt.

Ein SGLT2-Hemmer wird als Antidiabetikum in den verschiedenen internationalen Guidelines, auf Grund seiner kardio- und renoprotektiven Wirkungen, bei obigen Erkrankungen primär eingesetzt (5,6,8). SGLT2-H. bei T2DM ± Atherosklerose; HI; CKD eGFR ≥20ml/min/1.73m2; Fortsetzung SGLT2-H. bis zur Dialyse; evtl. mit Metformin sofern eGFR ≥30ml/min/1.73m2 (Dosisanpassung).

Beispielsweise konnte in der DAPA-CKD Studie der renale Endpunkt innert 2,4 Jahren um 39 % gesenkt werden bei einer NNT von 19 (9). In der EMPA-Kidney Studie bei diabetischer (31 %) und nicht diabetischer CKD wurde der renale Endpunkt (Abfall eGFR, end stage renal disease, renaler od. cv Tod) um 28 % über 2 Jahre gesenkt, bei einer NNT von 28 (10). Je nach Ausgangs-eGFR kann eine Nierenersatztherapie mit einem SGLT2-H. um viele Jahre verzögert werden. So z.B. bei einer eGFR von 85ml/min/1.73m2 um 26.6 Jahre, bei einer eGFR von 20ml/min/1.73m2 um 5.4 Jahre (11). Nach den KDIGO Leitlinien 2024 wird bei einer CKD ein SGLT2-H. eingesetzt bei einer ACR ≥200mg/g und oder einer eGFR <45ml/min./1.73m2 (5). Auch bei nicht albuminurischen Patienten haben diese nach einer gepoolten Analyse von DECLARE-TIMI 58 und DAPA-CKD eine positive Wirkung (HR 0,54); je höher die Proteinurie, desto grösser ist der Benefit. Es kommt zu einer Halbierung des GFR-Verlustes (12). Patienten mit einem initialen GFR-Dip haben den grössten Benefit. In den ESC-Guidelines 2023 (6) wird der SGLT2-H. bereits bei einer eGFR <60ml/min/1.73m2 eingesetzt. Eine CKD ohne Albuminurie findet man vor allem bei einer HI. Bei einer HI wird ein SGLT2-H. unabhängig von der LVEF und dem HbA1c als Klasse IA-Indikation gewertet (6,13).

Finerenon, ein nicht steroidaler Mineralokortikoid-Receptor Agonist, hat heute einen sicheren Stellenwert bei einem T2DM mit CKD und einer persistierenden Albuminurie ≥300mg/g bei eGFR: >60 (A3) oder >30mg/g bei eGFR: 25–60 ml/min/1.73m2 (A2) trotz RAAS-H., eGFR: ≥25ml/min/1.73m2. Das Serumkalium darf bei Therapiebeginn nicht ≥4,8 mmol/l betragen; engmaschige Kontrollen sind wichtig. Stopp bei ≥5,5mmol/l. Die zusätzliche Gabe eines SGLT2-H. wirkt hier günstig.

Finerenon verhindert eine profibrotische und proinflammatorische Genexpression und zusätzlich Verminderung des oxidativen Stresses und Reduktion einer Vasokonstriktion. Klinisch kommt es zu einer Abnahme einer CKD-Progression, einer Abnahme einer Proteinurie, einer BD-Senkung und einem verbesserten cv Outcome.

Die Studien FIDELIO-DKD und FIGARO-DKD zeigen eine Risikoreduktion bezüglich CKD-Progression bei weniger kardiovaskulären Events (14, 15). In der FIDELITY-Studie, welche diese beiden zusammenfasst, wurde über 4 Jahre der renale Endpunkt um 23 %, das Risiko der cv Morbidität (HI-Hospitalisationen) und cv Mortalität um 14 % gesenkt (16). Es kommt zu einer Reduktion der Niereninsuffizienz, dies vor allem durch einen signifikanten Abfall der Albuminurie. Bei beiden war die Wirksamkeit über ein breites eGFR-Spektrum nachweisbar. Dabei war die Sicherheit gewährleistet, auch bei Personen mit einer tiefen eGFR. Finerenon ist zugelassen bei einer eGFR: >25ml/min/1.73.m2. Eine Hyperkaliamie wurde in der FIDELITY Studie in 1.7 % nachgewiesen.

Die aktuelle FINEARTS-HF Studie bei einer HI (HFmrEF, HFpEF) mit einer LVEF ≥40 % zeigte mit und ohne T2DM bei 6016 symptomatischen, hovhrisiko und gut behandelten älteren Patienten, teils mit CKM, mit Finerenon bis 40mg/p.d. positive kardiale Resultate mit einer Reduktion des primär zusammengesetzten Ergebnisses, cv Tod und Gesamtverschlechterung der HI, um 16 % bei diesen kardio-renalen-metabolischen Patienten. Dies unabhängig vom HbA1c (17). Dies ist als klinisch hochrelevant einzuschätzen, da es bisher neben der Gabe von SGLT2-Inhibitoren keine prognoseverbessernde Medikation für Betroffene mit einer HFpEF und einer evtl. CKD gibt. Interessant ist, dass auch bei mit SGLT2-Inhibitoren vorbehandelten Studienteilnehmenden eine ähnliche Risikoreduktion zu beobachten war wie bei den nicht vorbehandelten Patienten.

Das ereignisfreie Überleben konnte um 3.1 Jahre verlängert werden – je jünger ein Patient, desto besser (18). Nach einer HI-Verschlechterung sollte die Substanz möglichst rasch verordnet werden. Auch war der Gesundheitszustand deutlich besser. Gleichzeitig zeigte eine Subanalyse eine signifikante Reduktion eines neuen T2DM von 25 %, in Kombination (bei 14 %) mit einem SGLT2-H. um 27 % (19). Im Gegensatz zu den bisherigen MRAs hat die Substanz eine höhere Wirkkonzentration an Niere und Herz.

In der FINE-HEART Analyse wurden die 3 genannten Finerenon Studien gepoolt mit 18 991 Patienten (mittleres Alter 67 ±10 Jahre, 35 % Frauen). Es zeigte sich eine deutliche Senkung der Nierenendpunkte (HR 0.80) und der ­HI-Hospitalisation (HR 0.83). Der cv Tod wurde nicht signifikant gesenkt (20). Aktuell läuft bezüglich UACR-Verbesserung auch eine Studie bei Typ1-Diabetes (FINE-One).

GLP1-RA reduzieren die arteriosklerotischen Endpunkte und das Gewicht. Indikation: bei T2DM ± Atherosklerose, CKD bei zu hohen Bz-Werten, trotz SGLT2-H./Metformin (eGFR ≥ 30 ml/min/1.73m2);

GLP-1 RA eGFR >15ml/min/1.73m2, evtl. weitere Bz senkende Medikamente. Gewichtsreduktion bis 15 %, zusätzliche Senkung des cv Risikos und Senkung einer Albuminurie durch GLP-1 RA. Je höher das atherosklerotische Risiko und je adipöser ein Pa-tient, desto eher Gabe eines GLP1-RA (6).

Die im Sommer 2024 publizierte Flow Studie zeigte, dass Sema-glutid 1.0mg sc./Woche bei einer diabetischen CKD bei 3160 Pa-tienten mit einem RAAS-Hemmer den renalen Endpunkt hochsignifikant um 24 % gesenkt hat mit einer NNT von 20 in 3 Jahren (21). In einer am ERA-Kongress am 24.5.2024 vorgestellten Metaanalyse von 8 Studien inkl. FLOW mit GLP1-RA bei T2DM und CKD wurde bez. Nierenendpunkt eine Risikoreduktion von 18 % nachgewiesen.

Bei Herzkreislauferkrankungen mit Übergewicht resp. Adipositas ohne einen T2DM konnte mit Semaglutid 2,4mg sc./Woche die kardiovaskuläre Mortalität, die nichttödliche Myokardinfarkt- und die Schlaganfallrate gesenkt werden – (HR 0.80) (22). Der mittlere Gewichtsverlust betrug über 33 Monate 9.4 %. Bei einer HFpEF mit Adipositas ohne und mit T2DM zeigen sich unter Semaglutid 2.4 mg sc./Woche ebenfalls positive Resultate mit Verringerung der HI-Symptome und der körperlichen Einschränkung und Verbesserung der Bewegungsfunktion bei deutlichem Gewichtsverlust von im Mittel 13.3 % ohne T2DM resp. 9.8 % mit T2DM. Durch die Reduktion des Fettanteils kommt es u.a. zu einer Verbesserung der Entzündung (CRP-Abfall 42 resp. 43.5 %), des prothrombotischen und metabolischen Milieus. Auch die Hämodynamik wird günstig beeinflusst. GI-NW traten in 9.5 % auf (23,24).

Es gibt auch einen additiven Effekt bei der Kombination SGLT2- H. und GLP1-RA. In einer Kohortenstudie war die Kombination aus GLP1-Rezeptor-Agonist/SGLT-2-Inhibitor im Vergleich zu beiden Arzneimittelklassen allein mit einem geringeren Risiko für schwerwiegende ­kardiovaskuläre Ereignisse und schwerwiegende renale Ereignisse verbunden (25). Bei Patienten mit T2DM und zumindest mässig erhöhter Albuminurie hat eine Kombinationsbehandlung von SGLT2i, GLP-1 RA und ns-MRA das Potenzial relevante Verbesserungen beim kardio-vaskulären und renalen ereignisfreien Überleben und beim Gesamtüberleben zu erzielen: Mace Reduktion für schwere cv Ereignisse (HR 0.65), HI-Hospitalisationen (HR 0.45), Verlangsamung Fortschreiten CKD (HR 0.42) (26). Die besprochenen neuen Medikamente wirken positiv auf den Metabolismus, den Entzündungszustand, den oxidativen Stress, die Insulinresistenz und die vaskuläre Dysfunktion (27, 28). In Zukunft werden noch mehrere weitere Substanzen (u.a. Tirzepatid ein dualer Agonist an GIP- und GLP-1-Rezeptoren) oder Alternativen dazu kommen. Die soeben publizierte SUMMIT-Studie ergab, dass Tirzepatid das Risiko des primären Endpunkts – einer Kombination aus Tod durch kardiovaskuläre Ursachen oder einer sich verschlimmernden HI – im Vergleich zu Placebo um 38 % reduzierte. Der Effekt wurde durch eine Verringerung der Verschlechterung der HI (HR 0,54) angetrieben, die als solche definiert wurde, die einen Krankenhausaufenthalt oder eine dringende intravenöse medikamentöse Therapie erfordern. Tirzepatid hatte auch signifikante Auswirkungen auf den Gesundheitszustand, die Belastungstoleranz und auf systemische Entzündungen. Diese hoch aktuelle Studie zeigt den kardiovaskulären Nutzen von Tirzepatid bei Patienten mit HFpEF und Adipositas (29).

Durch diese drei neuen Substanzen (ein SGLT2-H., ein ns-MRA und ein GLP-1 RA) kann beim kardio-renalen-metabolischen Syndrom eine hocheffektive, evidenzbasierte, multidisziplinäre, personenzentrierte Therapie nach den neuen Guidelines durchgeführt werden; waren doch bisher 1/3 aller Todesfälle in den USA auf ein CKM-Syndrom zurückzuführen. Bei unserem Pa-tienten sind, trotz des hohen cv Risikos mit einem CKM-Syndrom Stadium 4, aktuell die Kriterien für einen GLP1-RA nicht gegeben – gut eingestellter T2DM und BMI < 27 kg/m2.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Zweitabdruck aus info@herz+gefäss 05/2024

Dr. med. Urs N. Dürst

Zelglistrasse 17
8127 Forch

u.n.duerst@ggaweb.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Das CKM-Syndrom wird als eine systemische Störung definiert, die durch patho-physiologische Wechselwirkungen zwischen metabolischen Risikofaktoren, chronischer Nierenerkrankung und dem Herz-Kreislauf-System gekennzeichnet ist.
  • Die Kombination von SGLT2-H., GLP-1 RA und ns-MRA bietet signifikante Vorteile in Bezug auf kardiovaskuläre und Nierenereignis-freie Überlebenszeit sowie Gesamtüberlebenszeit bei Patienten mit T2DM und Albuminurie.
  • Die Implementierung der «sechs Säulen» der Therapie für T2DM und CKD – RAAS-Blockade, Metformin, Statin und neu SGLT2-H., GLP-1 RA und ns-MRA – wird individuell empfohlen, um signifikante Vorteile für Patienten mit hohem kardiovaskulärem und renalem ­Risiko zu bieten.

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2. Nephro Live 2024, 4.6. und Diabetes und Niere vom 4.7.2024, Streamed Up
3. Zhang R et al, Lifetime risk of cardiovascular-renal disease in type 2 diabetes: a population-based study in 473,399 individuals, BMC Med. 2022; 20(1) 63
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20. Vaduganathan, M.et al., Finerenone in heart failure and chronic kidney disease with type 2 diabetes: FINE-HEART pooled analysis of cardiovascular, kidney and mortality outcomes Nat Med (2024). https://doi.org/10.1038/s41591-024-03264-4
21. Perkovic V. et al., Flow Study, Effects of Semaglutide on Chronic Kidney Disease in Patients with Type 2 Diabetes, N Engl J Med 2024;391:109-121
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27. Ndumele CE. et al. Cardiovascular-Kidney-Metabolic Health: A Presidential Advisory From the American Heart Association, Circulation 2023;148(20):1606-35
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Anti-Amyloid-Therapien in der Alzheimerbehandlung: Licht und Schatten

Die Alzheimer-Krankheit ist eine schwere und häufige Erkrankung, bei der die derzeitigen Behandlungsmethoden nur symptomatisch wirken und den Krankheitsverlauf nicht beeinflussen. Im Juli 2023 und Juli 2024 wurden Behandlungen mit monoklonalen Antikörpern, die auf eines der an der Pathophysiologie der Krankheit beteiligten Proteine, das ss-Amyloid, wirken, von der FDA in den USA zugelassen und werden derzeit in der Schweiz geprüft. Diese Behandlungen, die einen statistisch signifikanten klinischen Nutzen gezeigt haben, sind mit Nebenwirkungen verbunden, die durch Ödeme oder Hirnblutungen gekennzeichnet sind und als ARIA für Amyloid Related Imaging Abnormalities bezeichnet werden. Eine strenge Auswahl der Patienten und eine sorgfältige Überwachung sind daher unerlässlich, um ein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis zu erzielen.

Alzheimer’s disease is a serious and common illness, and current treatments have only a symptomatic effect and have no influence on its progres- sion. In July 2023 and July 2024, monoclonal antibody treatments acting on one of the proteins involved in the pathophysiology of the disease, B-amyloid, were approved by the FDA in the United States and are currently being evaluated in Switzerland. These treatments, which have shown a statistically significant clinical benefit, are associated with side effects characterised by cerebral oedema or haemorrhage, known as ARIA for Amyloid Related Imaging Abnormalities. Careful patient selection and monitoring will therefore be essential if the benefit-risk ratio is to be favourable.
Key words: Alzheimer, Anti-Amyloid, ARIA

Einführung

Die Alzheimer-Krankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung des Gehirns und die häufigste Ursache für neuro-kognitive Störungen, die meist nach dem 65. Lebensjahr auftreten. Weltweit sind derzeit 50 Millionen Menschen von der Krankheit betroffen, davon etwa 25 000 in der französischsprachigen Schweiz. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung wird diese Zahl voraussichtlich weiter steigen, wobei bis 2050 mit 152 Millionen Patienten weltweit gerechnet wird. Die Alzheimer-Krankheit hat nicht nur Auswirkungen auf die Patienten selbst, sondern auch auf deren Familien, die Gesundheitssysteme, die psychosozialen Systeme und den Arbeitsmarkt, wobei die weltweiten Kosten auf 1 Billion US-Dollar pro Jahr geschätzt werden (1).

Zu den häufigen klinischen Erscheinungsformen der Krankheit gehören Amnesie, Sprache (primär progressive logopenische Aphasie) oder visuelle Formen (posteriore kortikale Atrophie). Diese behindernden Symptome führen zu einem fortschreitenden Verlust der Selbstständigkeit aufgrund progressiv globaler kognitiver Störungen und zu einer verkürzten Lebenserwartung. Nach der Erstbeschreibung im Jahr 1906 durch Alois Alzheimer wurde nachgewiesen, dass diese Erkrankung insbesondere durch die fortschreitende extrazelluläre Akkumulation von Beta-Amyloid-Proteinen in abnormaler Konformation und die intrazelluläre Akkumulation von Neurofibrillen aus phosphoryliertem Tau-Protein gekennzeichnet ist, was zu zellulärer Dysfunktion und neuronalem Tod führt. Die Symptome treten jedoch erst Jahre nach Beginn dieser Proteinveränderungen auf, die Synergien und Wechselwirkungen mit mikroglialer und vaskulärer Aktivität aufweisen.

Derzeit zielen die Behandlungen für die Alzheimer-Krankheit hauptsächlich darauf ab, die Symptome zu lindern. Die beiden wichtigsten Medikamentenklassen sind Anticholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin und Rivastigmin, die den Acetylcholinspiegel im Gehirn erhöhen, und Memantin, das die Aktivität von Glutamat, den Neurotransmittern, die am Lernen und Gedächtnis beteiligt sind, reguliert. Diese Behandlungen bieten jedoch oft nur einen geringen Nutzen und verändern die Pathophysiologie der Krankheit nicht.
Aufgrund der Häufigkeit und Schwere dieser Krankheit versucht die Wissenschaft seit Jahrzehnten, Behandlungen zu entwickeln, die diese Krankheit behandeln oder ihren Verlauf deutlich verlangsamen können.

Anti-Amyloid-Behandlungen

Nach der Entdeckung der senilen Plaques und dem Vorschlag der Hypothese der Amyloidkaskade durch Hardy et al. im Jahr 1992 (2) wurden zahlreiche klinische Studien durchgeführt, um «disease-modifying»-Therapien zu entwickeln, die auf die an den Krankheitsmechanismen beteiligten Proteine abzielen. Seit den ersten vielversprechenden Ergebnissen bei Mäusen von Schenk et al. im Jahr 1999 wurden mehrere Versuche beim Menschen durchgeführt, die jedoch aufgrund von Komplikationen, ungeeigneten Zielstrukturen oder dem Fehlen pathophysiologischer Biomarker nicht erfolgreich waren. In der Folgezeit führten eine bessere Auswahl der therapeutischen Ziele, verbesserte diagnostische Methoden (insbesondere der Zugang zu Amyloid-PET und die Bestimmung von Proteinen im Liquor) und höhere Dosierungen zu einer schrittweisen Verbesserung der Ergebnisse, bis 2021 die erste Anti-Amyloid-Therapie, Aducanumab, zugelassen wurde (und 2024 wieder zurückgenommen wurde). Seitdem wurde 2023 ein zweites Medikament, Lecanemab, und im Juni 2024 eine weitere Behandlung, Donanemab, zugelassen. Die beiden letztgenannten Medikamente werden derzeit von den Regulierungsbehörden in der Schweiz geprüft. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung ist für die Beratung von Patienten und die Überwachung von Nebenwirkungen von entscheidender Bedeutung. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die Behandlungen, die sich im Zulassungsverfahren befinden, und diskutieren die erwarteten Vorteile und die damit verbundenen Risiken.
Bei diesen Molekülen handelt es sich um menschliche monoklonale Antikörper, die zielen selektiv auf Beta-Amyloid ab und induzieren eine mikrogliale Aktivierung, die zur Phagozytose und zum Abbau des toxischen Proteins führt. Obwohl diese Moleküle auf das gleiche Protein abzielen, verleihen ihre unterschiedlichen Wirkmechanismen Aducanumab eine höhere Affinität zu Oligomeren, Lecanmab mit Protofibrillen und Donanemab mit Amyloid-Plaque.

Nach einer Phase-2-Studie mit vielversprechenden Wirksamkeitsergebnissen wurde Aducanumab in zwei randomisierten klinischen Studien der Phase 3 (ENGAGE und EMERGE) mit über 3200 Patienten in 20 Ländern untersucht. Die Studien zeigten eine deutliche dosisabhängige Senkung der Amyloid- und Tau-Belastung sowie eine Verlangsamung des Rückgangs des CDR-Scores um 18 % über 18 Monate in der EMERGE-Studie und um 15 % über 18 Monate in der ENGAGE-Studie, wobei nur in der ersten Studie signifikante Ergebnisse erzielt wurden (3).

Ähnliche Ergebnisse wurden in den Phase-3-Studien CLARITY-AD und TRAILBLAZER-ALZ 2 mit Lecanemab bzw. Donanemab erzielt. Die erste Studie ergab eine Verlangsamung des kognitiven Verfalls um 27 % auf der CDR-SB-Skala nach 18 Monaten zwischen der Experimental- und der Placebogruppe, die zweite um 36 % auf der CDR-Skala und um 41 % beim Verlust der Selbstständigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens.

Neben der ähnlichen Wirkungsweise unterscheiden sich diese Behandlungen auch in der Art der Verabreichung. Lecanemab wird zweimal im Monat intravenös verabreicht. Donanemab wurde einmal im Monat intravenös verabreicht.

Diese Studien betrafen Patienten in frühen Stadien der Krankheit (MMSE > 22/30), mit einem gemeinsamen Phänotyp (Amnesie) und mit einer Pathophysiologie der pro- uvativen Alzheimer-Krankheit (Amyloid-positiv).

Diese positiven Ergebnisse für die primären Outcomes rechtfertigten die Zulassung durch die US-Behörden. Die klinische statistische Signifikanz und der pathophysiologische Proof of Concept sind unbestreitbar. Das klinische Ausmass des beobachteten Effekts und der langfristige Nutzen bleiben jedoch angesichts des Studiendesigns und der auf 18 Monate begrenzten Dauer bei einer wenig symptomatischen Population fraglich. Die ersten gemeldeten Ergebnisse der Erweiterungsphase und die günstigen Daten zu den Biomarkern der Krankheit (Tau-Protein) deuten auf einen langfristigen krankheitsmodifizierenden Effekt hin.

Dieser biologische Effekt wurde bei mehr als 30 % der behandelten Patienten mit klinischen und radiologischen Nebenwirkungen in Verbindung gebracht, die grösstenteils asymptomatisch waren.

Unerwünschte Wirkungen – ARIAs

Die wichtigsten Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Anti-Amyloid-Behandlungen sind die sogenannten «Amyloid Related Imaging Abnormalities», kurz ARIAs genannt. Diese Abnormitäten, die durch bildgebende Verfahren im Gehirn (MRT) festgestellt werden, werden durch die Behandlung zur Entfernung von Amyloid-Plaques begünstigt. Es gibt zwei Arten von ARIAs: ARIA-E, die durch vasogene Ödeme bedingte Anomalien aufweisen, und ARIA-H, bei denen es sich um Mikroblutungen oder oberflächliche Hämosiderose handelt. Obwohl die eigentliche Physiopathologie der ARIAs nicht bekannt ist, scheint die Schädigung der Gefässwandintegrität zu Beginn der Immunisierung (in den ersten 3–6 Monaten der Behandlung), die durch die Eliminierung der pathologischen Proteine durch die Antikörper verursacht wird, signifikant damit in Verbindung zu stehen.

Neben der Behandlung und einer prävalenten Amyloidangiopathie ist das Vorhandensein eines ε4/ε4-APOE-Protein-Allels der dritte Faktor, der das Risiko für ARIAs signifikant erhöht. Obwohl in den meisten Fällen asymptomatisch, können sich diese Anomalien durch ungewöhnliche Kopfschmerzen, Verwirrung oder Schwindel bemerkbar machen. In schwereren Fällen können sie zu fokalen neurologischen Zeichen, Bewusstseinsstörungen, epileptischen Anfällen oder zum Tod führen.

Seit ihrer Beschreibung in den Bapineuzumab-Studien von Sperling et al. im Jahr 2011 haben Expertenausschüsse Empfehlungen für die Nachsorge von Patienten, die mit Anti-Amyloid-Medikamenten behandelt werden, und für den Umgang mit möglichen ARIAs formuliert (4, 5).

Welche Empfehlungen zur Nutzung gibt es?

In der Schweiz werden derzeit Empfehlungen für eine angemessene Anwendung erarbeitet, die auf den Kriterien der CLARITY-Studie und den von Cummings 2023 veröffentlichten Empfehlungen basieren.

(6). Die Behandlungen werden in geeigneten Einrichtungen durchgeführt, die über das nötige Fachwissen und die technischen Voraussetzungen für die Durchführung und den Umgang mit möglichen Nebenwirkungen verfügen. Die wichtigsten Elemente, die Sie kennen sollten, sind die folgenden:

1. Auswahl der Patienten

In Frage kommen Patienten mit Alzheimer-Krankheit im Frühstadium und Amyloid-Biologie. Diejenigen mit dem höchsten Risiko für Behandlungskomplikationen, wie z. B. Patienten, die Antikoagulantien einnehmen, die einen ischämischen Schlaganfall innerhalb eines Jahres erlitten haben, die eine schwere Leukaroidose oder eine wahrscheinliche Amyloidangiopathie haben, sowie Patienten mit schweren somatischen oder psychiatrischen Komorbiditäten (z. B. Krebs oder instabile Organinsuffizienz) müssen entsprechend behandelt werden. Es wird geschätzt, dass weniger als 10 % der Alzheimer-Patienten, die in Gedächtniszentren behandelt werden, Zugang zu einer Behandlung haben werden (7).

2. Nachverfolgung von Patienten

Patienten unter Behandlung sollten regelmässig radiologisch mittels MRT überwacht werden und bei Symptomen, die auf eine ARIA hindeuten, sofort eine Bildgebung erhalten. Bei Auftreten einer leichten, asymptomatischen ARIA kann die Behandlung unter engmaschiger Überwachung fortgesetzt werden. In den anderen Fällen sollte die Behandlung ausgesetzt werden, wobei eine regelmässige radiologische Überwachung erfolgen sollte, bis die Anomalien und Symptome abgeklungen sind. Bei schweren Symptomen, Rezidiven oder schweren ARIAs sollte die Behandlung gemäss den Empfehlungen der Arbeitsgruppe ADRD Therapeutics (6) endgültig abgebrochen werden.

3. Umgang mit symptomatischen ARIAs

Bei ARIAs wird eine neurologische Beratung empfohlen, sowie gegebenenfalls eine Krankenhauseinweisung. Je nach Symptomen kann eine Behandlung mit Kortikoiden oder Antikonvulsiva in Betracht gezogen werden (6).

Schlussfolgerung

Anti-Amyloid-Therapien sind die ersten krankheitsmodifizierenden Therapien, die für die Behandlung der Alzheimer-Krankheit im Frühstadium zugelassen wurden, und bieten neue Hoffnung für diese häufige und schwere Krankheit, die Millionen von Familien auf der ganzen Welt betrifft. Trotz dieser Hoffnung sind die bislang beobachteten Vorteile in den ersten Studien jedoch relativ bescheiden und die Auswirkungen auf die Gesundheit sind noch nicht absehbar.

Die Nebenwirkungen können schwerwiegend sein. Eine sorgfältige Auswahl von Patienten mit einem günstigen Ansprechprofil und einem geringen Risiko von Nebenwirkungen sowie eine sorgfältige Nachsorge durch spezialisierte Zentren sind daher unerlässlich, um eine optimale Behandlung zu gewährleisten.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Übersetzung aus la gazette médicale 09/2024

Henri Perrin

Centre Leenaards de la mémoire
Abteilung für klinische Neurowissenschaften,
CHUV und UNILL
Chemin de Mont-Paisible 16
1011 Lausanne

Dr. med. Olivier Rouaud

Centre Leenaards de la mémoire
Abteilung für klinische Neurowissenschaften,
CHUV und UNILL
Chemin de Mont-Paisible 16
1011 Lausanne

Prof. Dr. med. Gilles Allali

Centre Leenaards de la mémoire
Abteilung für klinische Neurowissenschaften,
CHUV und UNILL
Chemin de Mont-Paisible 16
1011 Lausanne

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Breijyeh Z, Karaman R. Comprehensive Review on Alzheimer’ s Disease: Causes and Treatment. Molecules. 2020 Dec 8;25(24):5789. doi: 10.3390/molecules25245789. PMID: 33302541; PMCID: PMC7764106.
2. Hardy JA, Higgins GA. Alzheimer’ s disease: the amyloid cascade hypothesis. Science. 1992 Apr 10;256(5054):184-5. doi: 10.1126/science.1566067. PMID: 1566067.
3. Budd Haeberlein S, Aisen PS, Barkhof F, Chalkias S, Chen T, Cohen S, Dent G, Hansson O, Harrison K, von Hehn C, Iwatsubo T, Mallinckrodt C, Mummery CJ, Muralidharan KK, Nestorov I, Nisenbaum L, Rajagovindan R, Skordos L, Tian Y, van Dyck CH, Vellas B, Wu S, Zhu Y, Sandrock A. Two Randomized Phase 3 Studies of Aducanumab in Early Alzheimer’ s Disease. J Prev Alzheimers Dis. 2022;9(2):197-210. doi: 10.14283/jpad.2022.30. PMID: 35542991.
4. Cummings J, Aisen P, Apostolova LG, Atri A, Salloway S, Weiner M. Aducanumab: Appropriate Use Recommendations. J Prev Alzheimers Dis. 2021;8(4):398-410. doi: 10.14283/jpad.2021.41. PMID: 34585212; PMCID: PMC8835345.
5. Cummings J, Rabinovici GD, Atri A, Aisen P, Apostolova LG, Hendrix S, Sabbagh M, Selkoe D, Weiner M, Salloway S. Aducanumab: Appropriate Use Recommendations Update. J Prev Alzheimers Dis. 2022;9(2):221-230. doi: 10.14283/jpad.2022.34. PMID: 35542993; PMCID: PMC9169517.
6. Cummings J, wstolova L, Rabinovici GD, Atri A, Aisen P, Greenberg S, Hendrix S, Selkoe D, Weiner M, Petersen RC, Salloway S. Lecanemab: Appropriate Use Recommendations. J Prev Alzheimers Dis. 2023;10(3):362-377. doi: 10.14283/jpad.2023.30. PMID: 37357276; PMCID: PMC10313141.
7. Chiabotti PS, Rouaud O, Allali G. Reader Response: Eligibility for Anti-Amyloid Treatment in a Population-Based Study of Cognitive Aging. Neurology. 2024 May 14;102(9):e209375. doi: 10.1212/WNL.0000000000209375. Epub 2024 Apr 22. PMID: 38648577.