Ein Mangel an Vitamin B12 (Cobalamin) kann verschiedene Organe wie das Knochenmark sowie das periphere und zentrale Nervensystem beeinträchtigen [1]. Die Anzeichen und Symptome eines Mangels sind unterschiedlich und meist unspezifisch. Nahrungsquellen für Vitamin B12 sind Lebensmittel tierischen Ursprungs wie rotes Fleisch, Leber, Fisch und Milchprodukte. Eine unzureichende Zufuhr von Vitamin B12 über die Nahrung (<4-5 µg/Tag) kann einen Vitamin-B12-Mangel verursachen. Die intestinale Absorption von Vitamin B12 erfordert außerdem die Freisetzung von Vitaminen aus Nahrungsproteinen, eine normale Sekretion und Funktion des intrinsischen Faktors sowie einen angemessenen Säuregehalt des Magens. Die Malabsorption von Vitamin B12 ist die Hauptursache für einen klinisch manifestierten Vitamin-B12-Mangel bei Erwachsenen. Perniziöse Anämie (Mangel an Intrinsic-Faktor oder Antikörper gegen Intrinsic-Faktor), atrophische Gastritis und andere Magen-Darm-Erkrankungen können eine B12-Malabsorption verursachen. Menschen mit einem durch Malabsorptionsstörungen verursachten Vitamin-B12-Mangel zeigen gastrointestinale Symptome (Episoden von Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Durchfall) [2], zusätzlich zu Symptomen wie Neuropathie, die durch den Mangel selbst verursacht wird [3]. Die Serumkonzentration von Vitamin B12 ist ein häufig verwendeter Marker für den Vitamin-B12-Status. Der größte Teil des Vitamin B12 im Blut ist an Haptocorrin gebunden, das für B12-abhängige enzymatische Reaktionen in den Zellen nicht verfügbar ist. Holotranscobalamin ist an Transcobalamin gebundenes Vitamin B12 und macht einen kleinen Teil des gesamten Serum-B12 aus, der biologisch aktiv ist. Ein Mangel an Adenosylcobalamin und Methylcobalamin führt zu erhöhten Plasmakonzentrationen von Methylmalonsäure bzw. Homocystein. Das zirkulierende Vitamin B12 ist möglicherweise nicht bei allen Patienten mit B12-Mangel erniedrigt (4). Die Verwendung von Stoffwechselmarkern für den B12-Status wie Methylmalonsäure und Homocystein zur Unterstützung der Diagnose eines klinisch manifesten Vitamin-B12-Mangels hat Vorteile, aber auch Nachteile (4, 5), wie z. B. die hohen Kosten der Messungen, die begrenzte Verfügbarkeit und die Auswirkungen der Niereninsuffizienz auf die Konzentrationen. Die Symptome eines Vitamin B12-Mangels können irreversibel sein, wenn sie nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden. Das Ziel einer kürzlich veröffentlichten Arbeit (6) war es, einen weithin akzeptierten Expertenkonsens als Leitfaden für die Praxis der Diagnose und Behandlung von B12-Mangel zu entwickeln.
Methoden
Die Autoren führten eine Übersicht über die seit Januar 2003 in PubMed veröffentlichte Literatur durch. Die Daten wurden für eine zweistufige Delphi-Befragung verwendet, um den Grad der Übereinstimmung unter 42 Experten zu untersuchen.
Ergebnisse
Die Erkennung der klinischen Symptome sollte bei der Diagnosestellung oberste Priorität haben. Es besteht Einigkeit darüber, dass die B12-Konzentration im Serum als Screening-Marker nützlich ist und Methylmalonsäure oder Homocystein die Diagnose unterstützen können. Der Lebensstil des Patienten, seine Krankheitsgeschichte und seine Medikation können Hinweise auf die Ursache des B12-Mangels geben. Unabhängig von der Ursache des Mangels wurde die anfängliche Behandlung mit parenteralem B12 als erste Wahl für Patienten mit akuten und schweren Manifestationen des B12-Mangels angesehen. Für die Langzeitbehandlung kann eine hochdosierte orale B12-Gabe in unterschiedlicher Häufigkeit in Betracht gezogen werden. Eine prophylaktische B12-Supplementierung sollte für bestimmte Risikogruppen in Betracht gezogen werden.
Schlussfolgerungen
Die vorliegende Studie gibt einen Überblick über konsistente Daten zur Diagnose und Behandlung von Vitamin-B12-Mangel. Im Rahmen der Delphi-Studie wurde ein solider Konsens zu verschiedenen Aspekten der Diagnose und Behandlung erzielt, um die medizinische Praxis zu unterstützen. Die Experten waren sich einig, dass die derzeitige Praxis in Bezug auf Ausbildung und Organisation geändert werden muss. Obwohl klinischen Symptomen mehr Gewicht beigemessen werden sollte, erkannten die Diskussionsteilnehmer die Notwendigkeit, die Serum-Vitamin-B12-Konzentration als kosteneffektiven Screening-Marker zu verwenden und zusätzlich einen Stoffwechselmarker zu messen. Die B12-Dosis und die Behandlungsschemata müssen je nach Schwere der Symptome und der Ursache des Mangels angepasst werden. Mehrere Themen bedürfen noch eingehender Untersuchungen, wie z. B. der klinische Nutzen einer prophylaktischen B12-Supplementierung bei einigen Risikogruppen.
Quelle: Obeid R et al. Diagnosis, Treatment and Long-Term Management of Vitamin B12 Deficiency in Adults: A Delphi Expert Consensus. J Clin Med. 2024 Apr; 13(8): 2176. Published online 2024 Apr 10. doi: 10.3390/jcm13082176
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen
riesen@medinfo-verlag.ch
1. Healton E.B. et al. . Neurologic aspects of cobalamin deficiency. Medicine. 1991;70:229–245. doi: 10.1097/00005792-199107000-00001.
2. Miceli E. et al. Common features of patients with autoimmune atrophic gastritis. Clin. Gastroenterol. Hepatol. 2012;10:812–814. doi: 10.1016/j.cgh.2012.02.018.
3. Misra U.K., Kalita J. Comparison of clinical and electrodiagnostic features in B12 deficiency neurological syndromes with and without antiparietal cell antibodies. Postgrad. Med. J. 2007;83:124–127. doi: 10.1136/pgmj.2006.048132.
4. Herrmann W., Obeid R. Utility and limitations of biochemical markers of vitamin B12 deficiency. Eur. J. Clin. Investig. 2013;43:231–237. doi: 10.1111/eci.12034.
5. Green R., et al. Vitamin B(12) deficiency. Nat. Rev. Dis. Primers. 2017;3:17040. doi: 10.1038/nrdp.2017.40
6. Obeid R et al. Diagnosis, Treatment and Long-Term Management of Vitamin B12 Deficiency in Adults: A Delphi Expert Consensus. J Clin Med. 2024 Apr; 13(8): 2176. Published online 2024 Apr 10. doi: 10.3390/jcm13082176
Die Präimplantationsdiagnostik ist ein noch junges, spannendes Gebiet. Auf den ersten Blick scheinen die gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Fortpflanzungsmedizin (FMedG) klar und sind doch beim näheren Betrachten unscharf.
Eine junge Frau ist heterozygote Trägerin einer MLH1-Mutation. Solche Mutationen sind für ein hochpenetrantes Lynch-Syndrom verantwortlich, welches mit einem Lebenszeitrisiko von über 75–85 % für Kolon- und/oder Endometriumkarzinom, sowie einem relevant erhöhten Risiko für weitere Karzinome einhergeht. Die Mutter der Patientin ist mit 46 Jahren an einem metastasierenden Kolonkarzinom verstorben; die Krankheitsgeschichte und der Verlust der Mutter sind für die Patientin prägend. Die empfohlenen häufigen Surveillance-Untersuchungen und die präsente Tumorangst bei einem ungewissen Restrisiko sind belastend. Diese Belastung möchte sie ihren Nachkommen möglichst nicht zumuten und entscheidet sich für eine In-vitro-Fertilisation (IVF) und eine gezielte Testung der Embryonen auf die für das Lynch-Syndrom bekannte Genmutation MLH1. Dieser Entscheid ist gut nachvollziehbar und international besteht ein breiter Konsens, dass P/LP-MLH1-Mutationen für eine PGT-M (Präimplantations-Gentest zur Erkennung von monogenen Krankheiten) qualifizieren. Wo liegt also das Problem?
Die gesetzlichen Bestimmungen in der Schweiz verlangen für eine PGT-M, dass es sich um eine vererbbare und schwere Krankheit handelt und diese vor dem 50. Altersjahr auftritt. Diese Bedingungen werden mit einem Lynch-Syndrom sicher erfüllt. Weiter verlangt das Gesetz, dass für die Krankheit keine wirksamen und zweckmässigen Therapieoptionen vorliegen. Dieser Punkt kann kontrovers diskutiert werden und zeigt die Unschärfe der gesetzlichen Vorgaben. Grundsätzlich gibt es wirksame und zweckmässige Vorsorgeuntersuchungen und Therapieoptionen für Tumorerkrankungen, allerdings wissen wir auch, dass diese aufwändig, für die Patienten belastend und leider nicht immer erfolgreich sind. Ähnlich verhält es sich mit den BRCA1/2-Mutationen, welche mit einem im Vergleich zur Normalbevölkerung massiv erhöhten Brust- und Ovarialkarzinom einhergehen. Mit dem Argument, dass eine sorgfältige Vorsorgeuntersuchung und rechtzeitige bilaterale Mast-/Salpingo-Ovarektomie eine wirksame und zweckmässige Therapieoption darstellt, wird teilweise dem Wunsch nach einer PGT-M aus rechtlicher und medizinethischer Sicht nicht entsprochen.
In den 2022 verfassten Richtlinien zur PGT-M der NEK (Nationale Ethikkommission) steht, dass eine Therapie zweckmässig ist, wenn die Risiken und Belastungen der Therapie für die von der schweren Krankheit betroffene Person und für das Paar zumutbar sind. Wer bestimmt, was und für wen und in welcher Situation zumutbar ist?
Aus meiner langjährigen internistischen Tätigkeit weiss ich, dass ein Mammakarzinom oder Colonkarzinom nicht immer langfristig beherrscht werden kann, dass häufige Vorsorgeuntersuchungen wie z.B. beim Lynch-Syndrom grosse Sorgen und Unsicherheiten auslösen können und dass eine elektive bilaterale Mastektomie für die betroffene Frau eine massive emotionale Belastung darstellt. In der Schweiz wird jeder einzelne Fall in einem individuellen PGT-M-Board behandelt und gegebenenfalls auch über den Aspekt der Zumutbarkeit einer Therapie entschieden. In den UK wird von der Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA) eine Liste mit über 600 Krankheiten/Mutationen geführt, welche für eine PGT-M qualifizieren, so dass vergleichbare Fälle gleich beurteilt werden. Und selbstverständlich gibt es auch Länder ohne jegliche Regulationen in Bezug auf die genetische Testung von Embryonen.
Die genetische Testung von Embryonen muss ein unbedingt wichtiges gesellschaftliches und politisches Thema bleiben. Eine Selektion von Embryonen mittels polygenetischer Testung (PGT-P) und Risikoscores sind bereits in diversen Ländern Realität und lassen aufhorchen. Auch mit der in der Schweiz erlaubten monogenetischen Testung müssen mit dem Wunschpaar sorgfältige Gespräche geführt werden und immer die Option offengelassen werden, dass nicht gleichzeitig auch eine Testung auf Aneuploidie (Abweichung der Chromosomenzahl) erfolgen muss. Aber es liegt mir sehr am Herzen, dass auch Gynäkologen, Onkologen und Internisten, welche die Belastung betroffener Patienten z.B. Lynch-Syndrom oder BRCA1/2-Mutation kennen, in die medizinethische Diskussion rund um Wirksamkeit und Zumutbarkeit einer Therapie miteinbezogen werden und möglichst eine einheitliche, transparente und rechtsgleiche Praxis in Bezug auf PGT-M in der Schweiz erreicht werden kann.
Dr. med. Vera Stucki-Häusler, Zürich
Dr. med.Vera Stucki-Häusler
Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. Vera Stucki-Häusler
Seestrasse 141
8703 Erlenbach
Das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH) ist eine einschneidende Diagnose für Jugendliche mit weitreichenden Konsequenzen. Das MRKH-Syndrom wird meist entdeckt durch das Ausbleiben der Menstruation in der Pubertät und wird in zwei Formen eingeteilt. Als Therapie gibt es die konservativen Dehnungsbehandlungen sowie chirurgisch-minimal invasive Techniken, welche unabhängig des operativen Ansatzes einer intensiven Nachsorge bedürfen.
Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser syndrome (MRKH) is a drastic diagnosis for young people with far-reaching consequences. MRKH syndrome is usually discovered due to the absence of menstruation during puberty and is categorised into two forms. There are conservative stretching treatments as well as surgically minimally invasive techniques, which require intensive aftercare regardless of the surgical approach.
Das MRKH-Syndrom ist eine Anomalie der Müller’schen Gänge. Diese zeichnet sich durch eine angeborene Aplasie des Uterus und der oberen 2/3 der Vagina aus bei einer phänotypisch weiblichen Person mit den Geschlechtschromosomen XX (1). Diese Malformation wurde bereits im 11. Jahrhundert von Albucassis und Avicenna beschrieben, jedoch ist das vollständige MRKH-Syndrom erst seit etwa 150 Jahren bekannt. Der Name wurde 1961 nach der Präzisierung der Definition durch Hauser und Schreiner von «uterus bipartitus solidus rudimentarius cum vagina solida» in Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom geändert, benannt nach den Erstbeschreibern (2). Das MRKH-Syndrom hat eine Inzidenz von 1:5’000, welche in zwei gross angelegten, europäischen epidemiologischen Studien erhoben wurde (3, 4).
Gemäss der ESHRE/ESGE-Klassifikation von 2013 wird die Anomalie als U5 C4 V4 klassifiziert (5). Die ESHRE/ESGE-Guidelines lassen alle Kombinationen von Müller’schen Anomalien klassifizieren (Abb. 1).
Embryologie und Genetik
In der Embryologie bildet sich der paramesonephrische Duct (Müller’scher Gang) ab der 5. / 6. Schwangerschaftswoche aus. Familiäre Konstellationen deuten auf eine monogenetische Ursache hin. Im Weiteren gibt es aber auch Hinweise auf polygenetische und multifaktorielle Faktoren als auch Umgebungsfaktoren sowie regulatorische Mechanismen, wo epigenetische und somatische Ereignisse eine Rolle spielen (6). In Tiermodellen wurden verschiedene Faktoren nachgewiesen. Die sich ständig entwickelnden Möglichkeiten genetischer Abklärung sind mit den Betroffenen zu besprechen und dürften das Wissen um mögliche Faktoren in Zukunft erweitern. Dies dürfte auch von Bedeutung sein, falls die Uterus-Transplantation in Zukunft für Betroffene zur Verfügung stehen wird.
Beim MRKHS werden zwei Formen unterschieden: Typ I, das isolierte Fehlen von Vagina und Uterus (ca. 60 % der Betroffenen) und Typ II, das atypische MRKHS mit asymmetrischer Hypoplasie einer oder beider Uterusknospen sowie Tubendysplasie zusätzlich zur Vaginalaplasie (ca. 40 % der Betroffenen). Diese Form ist mit weiteren Fehlbildungen verbunden, insbesondere im oberen Harntrakt und Skelettsystem. Eine schwerwiegende Form ist die MURCS-Assoziation (Müllerian-Renal-Cervicalthoracic-Somite abnormalities), bei der auch Herzanomalien und Hörverlust auftreten können.
Diagnostisches Work-up und Transition
Die meisten MRKH-Diagnosen werden zwischen dem Alter von 15 und 17 Jahren gestellt, wenn der Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin stattfindet. Die diagnostischen Schritte können von jugend-gynäkologisch geschulten PädiaterInnen oder GynäkologInnen eingeleitet werden (Tabelle 1). Nach einer wegweisenden Anamnese folgen Blutuntersuchungen zum Hormonstatus und die Bildgebung. In der Bildgebung hat sich das MRI etabliert, da es mögliche Zusatzanomalien oder kranialisierte Ovarien, welche bei fehlender Vagina sonographisch nicht einfach erhoben werden können, visualisieren lässt (7). Differentialdiagnostisch ist an XY DSD (disorder of sex differenciation) zu denken. Es handelt sich dabei um eine seltene angeborene Genitalfehlbildung beim männlichen Geschlecht. Eine ebenfalls XY-assoziierte Ausprägung kann das CAI-Syndrom sein (CAIS = complete androgen insensitivity syndrome, auch Morris Syndrome genannt), wo eine Mutation im Androgenrezeptor Gen vorliegt. Phänotypisch sind die Personen weiblich mit blind endender kurzer Vagina und wenig Schambehaarung.
Die Diagnose MRKH trifft die jungen Frauen in der Adoleszenz, einer vulnerablen Lebensphase. Die Diagnose kann Betroffene in eine ernsthafte Krise stürzen, sind doch die Identität, die Sexualität und die Reproduktion betroffen. Eine sensible psychologische Begleitung durch eine hierzu geschulte Person ist anzusprechen und zu empfehlen. Es liegen bei MRKH-Betroffenen häufiger Ängste, Depression und Minderwertigkeitsprobleme vor (8).
Therapie des MRKH
Der optimale Zeitpunkt für die Durchführung einer Neovaginoplastik liegt nach Abschluss der Pubertätsentwicklung vor, sofern eine ausreichende Östrogenproduktion gewährleistet ist und die Patientin den Wunsch nach sexuellen Aktivitäten äussert. Die erfolgreiche Umsetzung dieser Therapie erfordert die Einwilligungsfähigkeit und das Verständnis der Patientin, bei den Therapien einen aktiven Part einzunehmen, speziell was die Nachbehandlung mit Dilatationen betrifft. Auf diesen wichtigen Teil der Behandlung wird untenstehend weiter eingegangen. Die OP soll auf expliziten Wunsch der Betroffenen durchgeführt werden, denn eine vorzeitige Operation auf Wunsch der Eltern erhöht das Risiko von Misserfolgen, traumatischen Erfahrungen für die Patientin sowie die Notwendigkeit wiederholter Eingriffe zur Aufrechterhaltung der Vaginalintegrität, welche für ein späteres zufriedenstellendes Sexualleben ein entscheidender Faktor ist. Unabhängig davon, ob konservative oder operative Verfahren angewendet werden, erfordert die Durchführung der Vaginaldilatation im Verlauf beträchtliche Anstrengungen, insbesondere bei jüngeren Frauen, und eine mal-compliance kann den Therapieerfolg erheblich schmälern. Ziel ist eine Vaginallänge von mindestens 6.6 cm zu bekommen, da ab dieser Länge die sexuelle Zufriedenheit hoch war (9).
Nicht-invasive Therapie
Bei Patientinnen mit präsentem Scheidengrübchen und einem zentral gelegenen Meatus urethrae externus kann eine Dilatationstherapie angeboten werden. Die erste Beschreibung eines solchen Verfahrens erfolgte 1938 durch Frank und wurde dann durch Ingram weiterentwickelt. Die Therapie dauert 4–6 Monate, bis eine suffiziente Vaginallänge erreicht wird, welche penetrative Kohabitationen ermöglicht.
Täglich sollte für mindestens 30 Minuten ein Druck bzw. eine Dilatation des Vaginalgrübchens erfolgen. Hierzu sollte das Vaginalgrübchen nicht vernarbt sein. Dieses lange dauernde Verfahren hat Erfolgsquoten von bis zu 95 % und aufgrund der nicht-invasiven Natur der Methode wird sie z.B. in den USA als Methode der ersten Wahl angesehen (10). Es muss aber beachtet werden, dass die Therapie in ungefähr 15 % nicht erfolgreich ist, resp. abgebrochen wird.
In Studien zur sexuellen Zufriedenheit zeigte die Dilatationsmethode zwar die niedrigsten Werten im FSFI-Score (25.7 Punkte) bei gleichzeitig kürzester mittlerer Vaginallänge von 6.7 cm (11, 12). Der Female Sexual Function Index (FSFI) misst die sexuelle Zufriedenheit anhand eines Scores mit Werten zwischen 0–36. Je höher die Punktzahl, umso grösser ist die sexuelle Zufriedenheit. Dabei ist zu erwähnen, dass bei den in diesem Artikel diskutierten Methoden die FSFI-Werte in Studien ähnlich waren, nämlich zwischen 25.7 und 29.9 Punkten. Bei der Dilatationsmethode wird die Neovagina mit normalem Vaginalepithel ausgekleidet und bietet ein normales vaginales Milieu.
Operative Techniken
Das Verfahren nach Wharton-Shears-George basiert auf dem schrittweisen Dilatieren der rudimentär vorliegenden Müller-Gänge mit Hegarstiften bis auf Grösse 14 in jedem Kanal. Dann wird durch Inzision zwischen beiden Hegarstiften und Präparation in die Tiefe eine Neovagina im Spatium vesikorektale kreiert. Begrenzende Strukturen sind die hintere Blasenwand und die vordere Rektumwand, welche auf Integrität am Ende des Eingriffs kontrolliert werden müssen. Ein perinealer Hautlappen kann in die Neovagina transplantiert werden, um die Epithelialisierung zu verbessern. Ein Vaginalstent beschichtet mit Östrogencrème wird für ungefähr eine Woche eingelegt und danach durch grössere Dilatatoren ersetzt.
Im Verlauf wird empfohlen täglich zu dilatieren, da das Gewebe zu schrumpfen neigt. Dies auf alle Fälle, bis regelmässige Kohabitationen aufgenommen werden. Die Neovagina wird innerhalb von mehreren Monaten vom Introitusbereich aus mit physiologischem nicht-verhorntem Vaginalepithel epithelialisiert und erreicht im Mittel eine Länge von 8.3 cm (13). Diese Methode hatte in Studien einen hohen FSFI-Score von 29.9 Punkten bei 289 Frauen.
Eine Kombination aus operativer Anlage einer Neovagina mit einem Dehnungsverfahren bietet die Methode nach Vecchietti. Hierbei wird ein Phantom in die Vaginalgrube eingelegt und daran angebrachte Fäden auf Höhe des Bauchnabels mittels Laparoskopie ausgeführt. Mit Hilfe einer Spannungsapparatur wird jeden Tag der Zug auf die Fäden erhöht und somit eine Vaginaldehnung von bis zu 1 cm/Tag erreicht. Ziel ist, eine Vaginallänge von 10-12 cm zu erhalten. Die Phase der raschen Vaginaldehnung erfolgt unter stationären Bedingungen bei liegender Epiduralanästhesie (EDA) zur Vermeidung von Schmerzen. Heutzutage werden walking-EDAs angelegt, um eine längere Immobilität zu vermeiden. Wie bei der Wharton-Shears-George-Methode erfolgt die Epithelisierung vom Introitus aus mit normalem Vaginalepithel.
Es wird nach Entfernung des Spannapparates in den ersten 3 postoperativen Monaten empfohlen, 24 Stunden pro Tag mit reichlich östrogenhaltiger Creme ein Phantom zu tragen. Sollte nach der Abheilungs-/Epithelialisierungsphase keine regelmäßige Kohabitation möglich sein, sollte das Phantom zumindest nachts für einige weitere Monate getragen werden, da sonst ein Risiko für eine sekundäre Schrumpfung der Neovagina besteht. Die Länge und Breite des Dobbies lassen wir am Universitätsspital Zürich nach Entfernung des Spannapparates individuell anpassen.
Auch zeigten Studien zur sexuellen Zufriedenheit normale Werte im FSFI-Score von 29.8, bei einer mittleren Vaginallänge 7.9 cm. Urologische Komplikationen bei der Anlage des Spannapparates traten in 2 % der Fälle auf (11).
Bei der Darmscheidenanlage wird ein Darmabschnitt (in der Regel Sigma oder Ileum) isoliert und für die Konstruktion eines Vaginalkanals verwendet. Die Darmscheidenanlage ist unter den bisher vorgestellten Methoden die aufwändigste Operation. Diese Technik ist besonders in der Kinderchirurgie eine etablierte Methode. Das Darmsegment wird sorgfältig vorbereitet, um die Blutversorgung und die Integrität der Schleimhaut sicherzustellen. Anschliessend wird es chirurgisch in die Beckenhöhle implantiert, um die Neovagina zu bilden. Im Laufe der Zeit heilt die Neovagina und passt sich der Funktion eines natürlichen Vaginalkanals an, wobei Studien die längste Vaginallängen zeigten im Vergleich zu den anderen beschriebenen Techniken von 12.9 cm mit einem FSFI-Score von 27.8 (12). Zu beachten ist, dass diese Technik die höchsten Dyspareunieraten aufweist und Stenosen in knapp 10 % der Fälle im Verlauf vorkommen. Vor geplanter Uterus-Transplantation sollten diese Verfahren nicht angewandt werden.
Komplikationen oder unerwünschte Begleiterscheinungen reichen von mukösem, teils übelriechendem Ausfluss bis hin zu Strikturen oder Nekrosen im Anastomosenbereich. Darmkrebsfrüherkennungsuntersuchungen sind nach dieser Methode empfohlen.
Copyright Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. Sören Lange
Oberarzt Klinik für Gynäkologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich
PD Dr. med. Cornelia Betschart Meier
Stellvertretende Klinikdirektorin
Klinik für Gynäkologie, USZ
Frauenklinikstrasse 10
8006 Zürich
cornelia.betschart@usz.ch
Die Autoren haben keine Interessenkonflikte angegeben.
Das MRKH-Syndrom ist eine seltene Anomalie der Müller’schen Gänge mit Anlagestörungen von Uterus und Vagina ohne chromosomale Anomalien.
Die Diagnose MRKH trifft die Patientinnen meist in einer vulnerablen Lebensphase und kann ernsthafte psychologische Folgen haben, weshalb eine sensible psychologische Begleitung essenziell ist.
Operative Verfahren ermöglichen die Rekonstruktion der Vagina, u.a. durch Dissektion des Spatium vesikorektale, durch kontinuierliche Dilatation des residuellen Vaginalgrübchens oder durch Anlage einer Darmscheide.
Gut angelegte Studien zum Vergleich verschiedener operativer Methoden fehlen.
1. Herlin MK, Petersen MB, Brannstrom M. Mayer-Rokitansky-Kuster-Hauser (MRKH) syndrome: a comprehensive update. Orphanet journal of rare diseases. 2020;15(1):214.
2. Hauser GA, Schreiner WE. (Mayer-Rokitansky-Kuester syndrome. Rudimentary solid bipartite uterus with solid vagina). Schweiz Med Wochenschr. 1961;91:381-4.
3. Herlin M, Bjorn AM, Rasmussen M, Trolle B, Petersen MB. Prevalence and patient characteristics of Mayer-Rokitansky-Kuster-Hauser syndrome: a nationwide registry-based study. Hum Reprod. 2016;31(10):2384-90.
4. Aittomaki K, Eroila H, Kajanoja P. A population-based study of the incidence of Mullerian aplasia in Finland. Fertil Steril. 2001;76(3):624-5.
5. Grimbizis GF, Gordts S, Di Spiezio Sardo A, Brucker S, De Angelis C, Gergolet M, et al. The ESHRE/ESGE consensus on the classification of female genital tract congenital anomalies. Hum Reprod. 2013;28(8):2032-44.
6. Cunha GR, Robboy SJ, Kurita T, Isaacson D, Shen J, Cao M, et al. Development of the human female reproductive tract. Differentiation. 2018;103:46−65.
7. Preibsch H, Rall K, Wietek BM, Brucker SY, Staebler A, Claussen CD, et al. Clinical value of magnetic resonance imaging in patients with Mayer-Rokitansky-Kuster-Hauser (MRKH) syndrome: diagnosis of associated malformations, uterine rudiments and intrauterine endometrium. European radiology. 2014;24(7):1621-7.
8. Heller-Boersma JG, Schmidt UH, Edmonds DK. Psychological distress in women with uterovaginal agenesis (Mayer-Rokitansky-Kuster-Hauser Syndrome, MRKH). Psychosomatics. 2009;50(3):277-81.
9. Callens N, De Cuypere G, Wolffenbuttel KP, Beerendonk CC, van der Zwan YG, van den Berg M, et al. Long-term psychosexual and anatomical outcome after vaginal dilation or vaginoplasty: a comparative study. The journal of sexual medicine. 2012;9(7):1842-51.
10. Edmonds DK, Rose GL, Lipton MG, Quek J. Mayer-Rokitansky-Kuster-Hauser syndrome: a review of 245 consecutive cases managed by a multidisciplinary approach with vaginal dilators. Fertil Steril. 2012;97(3):686-90.
11. McQuillan SK, Grover SR. Dilation and surgical management in vaginal agenesis: a systematic review. International urogynecology journal. 2014;25(3):299-311.
12. McQuillan SK, Grover SR. Systematic review of sexual function and satisfaction following the management of vaginal agenesis. International urogynecology journal. 2014;25(10):1313-20.
13. Walch K, Kowarik E, Leithner K, Schatz T, Dorfler D, Wenzl R. Functional and anatomic results after creation of a neovagina according to Wharton-Sheares-George in patients with Mayer-Rokitansky-Kuster-Hauser syndrome-long-term follow-up. Fertil Steril. 2011;96(2):492-7 e1.
Zyklusstörungen sind häufige Anliegen in der gynäkologischen Praxis und können auf hormonelle Dysregulationen wie das polyzystische Ovarialsyndrom hinweisen. Die Hormonanalyse dient dazu, verschiedene Hormone wie die Gonadotropine (FSH, LH) Östradiol, Testosteron, Sexualhormon-bindende Globuline (SHBG), Dihydroepiandrosteron (DHEAS), Thyroidea-stimulierendes Hormon (TSH), Prolaktin und das Anti-Müller-Hormon (AMH) zu bewerten. Diese Parameter ermöglichen Einblicke in die ovarielle Funktion, den Menstruationszyklus und das endokrine Gleichgewicht der Patientin. Insbesondere bei Hinweisen auf Androgenisierung oder Hyperandrogenismus ist eine differenzierte Hormonanalyse von grosser Bedeutung. Die Identifizierung von Zyklusstörungen und Hormonungleichgewichten eröffnet die Möglichkeit zur gezielten Therapie, die von der hormonellen Regulation bis zur Behandlung spezifischer Symptome reichen kann. Ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Pathophysiologie und eine individualisierte Herangehensweise sind entscheidend, um die Gesundheit und das Wohlbefinden von Frauen mit Zyklusstörungen und Androgenisierung effektiv zu managen.
Menstrual disorders are common concerns in gynecological practice and can signal hormonal dysregulations such as polycystic ovary syndrome. Hormone analysis serves to assess various hormones including gonadotropins (FSH, LH), estradiol, testosterone, sex-hormone-binding globuline (SHBG), dehydroepiandrosteron (DHEAS), prolactine, thyroidea stimulating hormone (TSH) and anti-mullerian hormne (AMH). These parameters offer insights into ovarian function, the menstrual cycle, and the patient’s endocrine balance. A detailed hormone analysis is particularly crucial when there are indications of androgenization or hyperandrogenism. Identifying menstrual disorders and hormonal imbalances provides the opportunity for targeted therapy, ranging from hormonal regulation to treating specific symptoms. A comprehensive understanding of the underlying pathophysiology and an individualized approach are essential for effectively managing the health and well-being of women experiencing menstrual disorders and androgenization. Key words: Menstrual disorders, hormonal dysregulations, hormonal analysis
Hormonanalytik in der Praxis
Die Hormonanalytik spielt während der reproduktiven Phase einer Frau in der Diagnosestellung eine entscheidende Rolle. Sie ist unverzichtbar sowohl für das Monitoring des Menstruationszyklus als auch für die differenzierte Diagnose von Zyklusstörungen. Weitere häufige Anliegen wie Androgenisierungserscheinungen können oft nur durch endokrinologische Diagnostik geklärt werden.
Der vorliegende Artikel vermittelt die grundlegenden Prinzipien der Hormonanalytik, die in der täglichen Arbeit der gynäkologischen Praxis Anwendung finden.
Der weibliche Hormonhaushalt ist komplex und sollte nicht einseitig betrachtet werden. Daher sollten auch die Lebensumstände, Ernährungsgewohnheiten und die Einnahme von Medikamenten in die Diagnose miteinbezogen werden (1).
Physiologie
Die übergeordnete Funktionseinheit zur Steuerung des weiblichen Zyklus besteht aus dem Hypothalamus und der Hypophyse. Das Ovar fungiert als Zielorgan und bewirkt unter anderem durch die Produktion weiblicher Geschlechtshormone die charakteristischen Effekte des weiblichen Zyklus. Die Gonadotropine LH (Luteinisierendes Hormon) und FSH (Follikelstimulierendes Hormon) erfüllen bei beiden Geschlechtern eine zweifache Funktion: Sowohl die Produktion der Keimzellen als auch die Bildung und Ausschüttung von Sexualhormonen aus den Eierstöcken und Hoden werden durch die beiden Gonadotropine gesteuert.
Die Voraussetzung für einen normalen ovulatorischen Zyklus ist die pulsatile Sekretion von LH, die unter anderem durch die Ausschüttung von GnRH (Gonadotropin Releasing Hormone) und die Rückkopplung des Östradiols beeinflusst wird. FSH vermittelt die Umwandlung zu Östrogenen in den Granulosazellen. Gonadotropine werden ihrerseits durch positive und negative Feedback-Mechanismen der Steroide reguliert (2).
Vor dem Einsetzen einer regulären Menstruation und dem Beginn eines neuen Menstruationszyklus, falls keine Schwangerschaft eingetreten ist, erfolgt die Luteolyse des Gelbkörpers, gefolgt von einem darauffolgenden Abfall der Östradiol- und Progesteronspiegel.
Das Anti-Müller-Hormon und die Ovarreserve
Die Bedeutung des Anti-Müller-Hormons (AMH) im Zusammenhang mit der ovariellen Reserve nimmt eine besondere Stellung ein. Der Höchstwert im Lebensverlauf wird etwa im 25. Lebensjahr erreicht. AMH verringert die Anfälligkeit der Granulosazellen für FSH und blockiert somit die Rekrutierung von Follikeln aus dem Pool der primordialen Follikel sowie die Sekretion des dominierenden Follikels. AMH bestimmt in erheblichem Masse somit den Verbrauch von Follikeln (2).
Die AMH-Konzentration sinkt mit abnehmendem Follikelpool und somit mit einer altersbedingten Reduktion der Gesamtmasse an Granulosazellen. Eine AMH-Bestimmung ist daher sinnvoll, wenn Zyklusstörungen auftreten und das FSH auffällig hoch ist oder wenn eine Stimulation mit FSH-Medikamenten im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung geplant ist.
Basierend auf den Erkenntnissen lässt sich feststellen, dass die AMH-Werte nur dann eine valide Einschätzung der ovariellen Reserve und der Fertilität ermöglichen, wenn eine Subfertilität vorliegt, also wenn über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten aktiv eine Schwangerschaft angestrebt wurde. Die Messung von AMH bei Frauen ohne Kinderwunsch liefert keinen verlässlichen Hinweis darauf, ob der spätere Zeitpunkt für eine Schwangerschaft eher unter-, überdurchschnittlich oder altersgemäss sein wird (3,4).
Zur Beurteilung der ovariellen Reserve sind FSH, Östradiol (in der frühen Follikelphase) und das AMH geeignet. AMH wird als der aussagekräftigste Parameter für die Einschätzung der ovariellen Reserve betrachtet. Mit zunehmendem Alter nimmt der Follikelvorrat ab, was zu einem Rückgang des AMH-Werts führt. Ein AMH-Wert unterhalb der Nachweisgrenze bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass bereits die Wechseljahre eingetreten sind.
Selbst bei AMH-Werten unter-halb der Nachweisgrenze können noch ovulatorische Zyklen auftreten. Untersuchungen haben gezeigt, dass im Durchschnitt 5–6 Jahre nach dem Verlust der Nachweisbarkeit das Einsetzen der Menopause beobachtet wurde (3).
Zyklusdiagnostik
Für die Basisdiagnostik kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ein ovulatorischer Zyklus vorliegt, wenn die Patientin einen regelmässigen Menstruationszyklus angibt.
Eine Hormonanalyse kann dennoch im Rahmen des Zyklusmonitorings durchgeführt werden. Hierbei erfolgt die Basisbestimmung zur Erfassung der ovariellen Funktion zu Beginn des Menstruationszyklus in der Follikelphase (2.–5. Zyklustag). In dieser Phase sind üblicher-weise niedrige Östradiol- und Gonadotropinspiegel festzustellen.
Ein erhöhter FSH-Serumspiegel im Frühfollikelstadium (>12 U/l) deutet auf eine ovarielle Störung hin, deren Gründe weiter untersucht werden sollten.
Die Detektion eines LH-Peaks, der der Ovulation 18-24h vorausgeht, ist möglich, jedoch sind möglicherweise mehrere LH-Messungen erforderlich (5).
Klinisch hat sich die Einzelmessung von LH und Östradiol in der Zyklusmitte sowie die gleichzeitige sonographische Beurteilung der Endometriumdicke mit Grösse und Anzahl der Follikel als gängige Vorgehensweise etabliert. Als Alternative besteht die Möglichkeit, den LH-Peak durch den Gebrauch handelsüblicher, urinbasierter Ovulationstests mit akzeptabler Genauigkeit zu erfassen (6).
Die Lutealphase setzt nach der Ovulation ein, die durch den mitt-zyklischen Anstieg von LH ausgelöst wird. Durch die Freisetzung der Oozyte aus dem dominierenden Follikel entsteht das Corpus luteum. Neben Östrogenen, weiteren Hormonen und Wachstumsfaktoren sezerniert es vor allem Progesteron, das als Schlüsselhormon der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus fungiert.
Etwa 4-6 Tage nach der Ovulation wird im weiblichen Zyklus als der optimale Zeitpunkt für die Rezeptivität des Endometriums und eine erfolgreiche Implantation angesehen.
Gegen Ende der zweiten Zyklushälfte ist die Sekretion von Progesteron verstärkt mit der LH-Pulsatilität verbunden, was zu einer zunehmenden Schwankungsbreite der gemessenen Serumwerte für Progesteron führen kann. Aufgrund der variablen Ausschüttung von Progesteron im pulsierenden Rhythmus scheint ein einzelner, zu niedrig bestimmter Wert nicht geeignet zu sein, um eine Lutealphaseninsuffizienz zu dokumentieren.
Ein grundlegendes Problem in Bezug auf die Definition einer Lutealphaseninsuffizienz liegt daher in der fehlenden verlässlichen und validen diagnostischen Methode zur Beurteilung der Sekretionsleistung des Corpus luteum. Rein klinisch kann eine verkürzte zweite Zyklushälfte oder das Auftreten prämenstrueller Schmierblutungen sowie Spotting auf die Lutealphaseninsuffizienz hinweisen (2).
Hormonanalyse bei Zyklusstörungen
Die Beschreibung einer normalen Menstruation umfasst eine moderate Blutung von 3 bis 7 Tagen Dauer mit einem Blutverlust von unter 80 ml. Die Eumenorrhoe geht in der Regel mit minimalen Beschwerden einher und folgt einem Zyklus von 24 bis 35 Tagen.
Die Ursachen für Zyklusstörungen sind vielfältig. Hormonelle als auch organische Ursachen, (Stress, Polypen, Myome, Asherman-Syndrom, Essstörungen und Leistungssport) können unregelmässige Zyklen verursachen.
Eine eindeutige Indikation für eine umfassendere hormonelle Diagnostik liegt vor, wenn Zyklusstörungen auftreten, die sich als Unregelmässigkeiten im Menstruationsrhythmus oder im Menstruationstypus manifestieren können.
Diese Diagnostik sollte idealerweise zwischen dem 2. und 5. Zyklustag oder während der ovariellen Funktionsruhe (Amenorrhoe) durchgeführt werden. Relevante Parameter zur Untersuchung von Zyklusstörungen umfassen LH, FSH, Östradiol, Gesamttestosteron, Sexualhormon-bindendes-Globulin (SHBG), Dehydroepiandrosteron-Sulfat (DHEAS), Prolaktin und (Thyroidea stimulierendes Hormon) TSH, sowie den Ausschluss einer Schwangerschaft (6).
Präanalytik
Die Verwendung hormoneller Kontrazeptiva führte in verschiedenen Studien zu einer Senkung der AMH-Werte im Vergleich zu Frauen, die keine solchen Präparate einnehmen (bis zu 30 % niedrigere Werte) (7). Die Dosierung von Ethinylestradiol in den Präparaten hatte dabei keine Auswirkung. Nach dem Absetzen der hormonellen Kontrazeptiva wurde jedoch eine signifikante Zunahme der AMH-Spiegel festgestellt (8).
Auch andere Medikamente können einen Einfluss auf die Hormondiagnostik haben. Prolaktin ist ein typisches Beispiel eines hormonellen Parameters, der durch Medikamenteneinnahme beeinflusst wird. Insbesondere die Einnahme von Neuroleptika, Antidepressiva, Gastroprokinetika, aber auch einige Antihypertensiva führen zu erhöhten Prolaktinwerten im Serum und können so auch klinische Symptome (z. B. Galaktorrhö, Oligo-/Amenorrhö) bewirken (9) (siehe Tab. 1).
Diagnostik der Androgenisierung
Der Ausdruck Androgenisierung bezeichnet die serologischen oder phänotypischen Veränderungen einer Frau, die typischerweise zu männlich orientierten Merkmalen führen.
Zeichen der Androgenisierung, wie zum Beispiel vermehrter Haarwuchs im männlichen Muster (Hirsutismus), Akne, und androgenetische Alopezie (männlicher Haarausfall), mit oder ohne Zyklusstörungen gehören zu den häufigsten Gründen für eine gynäkologische Konsultation. Differenzialdiagnotisch müssen die funktionelle Androgenisierung (polyzystisches Ovarialsyndrom PCOS, Adrenogenitales Syndrom AGS), androgen produzierende Tumore und die pharmakologisch bedingte Androgeniserung (z.B. Anabolika) in Betracht gezogen werden.
Um eine Hyperandrogenämie oder einen Hyperandrogenismus differenzialdiagnostisch zu untersuchen, werden insbesondere folgende Hormone bestimmt:
Testosteron ist ein lipophiles Steroidhormon, das im Blutplasma zu etwa 60 % an SHBG und zu etwa 30–40 % an Albumin gebunden wird. Obwohl bisher kein guter Assay für die direkte Messung des freien Testosterons verfügbar ist, wird empfohlen, neben der Bestimmung des Gesamttestosterons auch den SHBG-Spiegel zu messen. Dies ermöglicht die Ableitung des Anteils des freien, also wirksamen Testosterons. Der freie Androgenindex (FAI) kann auf diese Weise ermittelt werden. Bei einem Anstieg der adrenalen Androgene wie DHEAS und Androstendion wird im Rahmen der differenzialdiagnostischen Untersuchung, insbesondere bei entsprechender klinischer Symptomatik, ein Cushing-Syndrom als mögliche Ursache für die Hyper-androgenämie ausgeschlossen. Hierfür erfolgt die Bestimmung von Cortisol. Bei nachgewiesener Erhöhung des Cortisols wird ein Dexamethason-Kurztest durchgeführt.
Auch sollte bei einem Anstieg der adrenalen Androgene ein möglicher Enzymdefekt in der Nebenniere durch eine frühzyklische Überprüfung von 17-Hydroxyprogesteron (17-OHP) ausgeschlossen werden. Bei erhöhten 17-OHP-Spiegeln (>2 ng/ml) wird ein ACTH-Stimulationstest durchgeführt. Bei auffälligem ACTH-Test erfolgt eine anschliessende molekulargenetische Diagnostik zur Präzisierung des Enzymdefektes.
Ein Testosteronspiegel von >1,5–2 ng/ml oder ein DHEAS-Spiegel von >7 μg/ml, zusammen mit schnell fortschreitenden Androgenisierungssymptomen, können auf das Vorliegen eines androgenbildenden Tumors hinweisen.
Wenn die Hyperandrogenämie oder der Hyperandrogenismus auf das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) zurückzuführen ist, wird in der Grunddiagnostik zusätzlich ein oraler Glukosetoleranztest (oGTT) empfohlen. Dies dient dazu, eine Insulinresistenz auszuschliessen, die bei mehr als 30% der Betroffenen nachgewiesen werden kann (6).
Zyklusstörungen spielen eine führende Rolle bei unerfülltem Kinderwunsch.
Ein unregelmässiger Zyklus oder eine Amenorrhoe deuten auf mögliche Störung der Follikelreifung oder Ovulation hin. Hormonveränderungen können auch die Lutealphase beinträchtigen.
Etwa 15% der Frauen mit einer Paarsterilität haben ihre Ursache in Anovulation oder einer Störung der Follikulogenese. Klinisch kann dies als primäre oder sekundäre Amenorrhoe auftreten.
Normogonadotrope Anovulationen werden sehr häufig durch PCOS verursacht.
Hypogonadotrope Anovulationen werden häufig durch eine hypothalamisch-hypophysäre Dysfunktion verursacht, die zum Beispiel auf einen niedrigen Body-Mass-Index (BMI) oder starke körperliche oder psychische Belastungen zurückzuführen sein kann.
Hypergonadotrope Anovulationen sind häufig ein Merkmal der prämaturen Ovarialinsuffizienz (9). Häufig gehen Zyklusstörungen mit Störungen des Prolaktinhaushalts einher. Ein erhöhter Prolaktinspiegel hemmt die Progesteronsekretion, was letztlich zu Zyklusstörungen und dem Ausbleiben der Ovulation führen kann.
Frauen mit PCOS haben ein erhöhtes Risiko für Endometriumhyperplasie aufgrund unregelmässiger oder fehlender Menstruationszyklen. Unbehandelte Zyklusstörungen bei PCOS können zu verschiedenen Komplikationen führen, darunter Sterilität, metabolische Störungen wie Insulinresistenz und Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und das Endometriumkarzinom.
In der Regel strebt man an, mindestens alle drei Monate eine Menstruation zu haben, um das Risiko einer Endometriumhyperplasie zu reduzieren. Dies kann durch Lebensstiländerungen, Medikamente zur Regulation des Menstruationszyklus und andere therapeutische Ansätze erreicht werden.
Auch bei postmenopausalen Frauen besteht eine Verbindung zwischen hohen Androgenspiegeln, Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes mellitus (10).
Das nicht-klassische adrenogenitale Syndrom (AGS) mit einer Minderung der Enzymaktivität von CYP21A2 manifestiert sich nicht mit offensichtlichen Genitalauffälligkeiten, Kortisol- oder Aldosteronmangel, wie es bei der klassischen Form des AGS der Fall ist. Stattdessen treten die Symptome des Androgenüberschusses normalerweise erst im späteren Alter auf.
Bei Frauen mit geringen Anzeichen von Androgenisierung können die Verwendung von oral kombinierten Kontrazeptiva gewählt werden. Als erste Wahl können Ethinylestradiol (EE)/Levonorgestrel (LNG) und als zweite Wahl antiandrogene Gestagene in Betracht gezogen werden.
Aufgrund der Zeit, die bis zum sichtbaren Therapieerfolg benötigt wird, empfiehlt es sich bei ausgeprägtem Hirsutismus, neben einer hochdosierten antiandrogenen Therapie auch eine gleichzeitige mechanische Haarentfernung wie Laserbehandlungen in Betracht zu ziehen.
Nach einer mechanischen Haarentfernung im Gesichtsbereich kann die Anwendung von Efflornithin (Vaniqua 11,5 % Creme) dazu beitragen, das Nachwachsen der Haare zu verlangsamen (11). Insgesamt unterstreicht die gezielte Hormondiagnostik die Bedeutung einer umfassenden und differenzierten Herangehensweise an die Untersuchung und Behandlung von Zyklusstörungen, insbesondere im Zusammenhang mit Androgenisierung und PCOS. Dies ermöglicht eine verbesserte Betreuung und optimale Gesundheitsergebnisse für betroffene Frauen.
Copyright Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. Hülya Gülmez
Abteilung für Reproduktionsmedizin und
gynäkologische Endokrinologie
Frauenklinik Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern 16
Die Autorinnen haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Die Hormondiagnostik sollte idealerweise zwischen dem 2. und 5. Zyklustag durchgeführt werden oder während der ovariellen Ruhephase (Amenorrhoe).
◆ Zu den bedeutenden Parametern für die Abklärung von Zyklusstörungen gehören TSH, LH, FSH, Östradiol, Testosteron, DHEAS, SHBG, Prolaktin und DHEAS.
◆ Die Messung des AMH bei Frauen ohne aktuellen Kinderwunsch gibt keine verlässliche Auskunft darüber, ob der spätere Zeitpunkt für eine Schwangerschaft eher unter-, über- oder altersgemäss sein wird.
◆ AMH ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Bestimmung eines Hormonspiegels nur dann sinnvoll ist, wenn das Ergebnis direkte Konsequenzen für die folgende Diagnostik oder Therapie hat.
◆ Frauen mit PCOS (Ausschlussdiagnose ) haben aufgrund unregelmässiger oder ausbleibender Menstruationszyklen ein erhöhtes Risiko für Endometriumhyperplasie. Es wird generell angestrebt, alle drei Monate mindestens eine Menstruation zu haben.
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11. Ludwig M. Gynäkologische Endokrinologie, 3. Auflage, 2019
Die Schweiz führt am meisten Hysterektomien im deutschsprachigen Europa durch. Weitaus am häufigsten ist der Uterus myomatosus als Hauptindikation zu erwähnen. Hauptsymptom ist die Abnorme Uterine Blutung nebst den Volumen-assoziierten Beschwerden abdominal. Um Hysterektomien zu vermeiden, gibt es neuere Therapie-Optionen, welche den Patientinnen aufgezeigt werden sollten. Dazu sollte neben der FIGO-Klassifikation, Grösse, Anzahl und Lokalisation berücksichtig werden. Ebenso macht es Sinn über eine «Prophylaxe» des (noch) asymptomatischen Uterus myomatosus nachzudenken.
Switzerland performs the most hysterectomies in German-speaking Europe. By far the most common indication is uterine myomatosus. The main symptom is abnormal uterine bleeding in addition to volume-associated abdominal complaints. In order to avoid hysterectomies, there are newer treatment options that should be explained to patients. In addition to the FIGO classification, size, number and localisation should be taken into account. It also makes sense to consider “prophylaxis” of the (still) asymptomatic uterus myomatosus. Key words: Myoma, hysterectomy, abnormal uterine bleeding, FIGO classification, asymptomatic uterus myomatosus
Prävalenz
Obwohl die Prävalenz von Myomen bei Schweizer Frauen und somit in einem mehrheitlich kaukasischen Kollektiv, nicht klar dokumentiert ist, wissen wir Folgendes.
– Leiomyome sind die häufigsten gutartigen Raumforderungen im weiblichen Becken (1, 2, 4).
– In einer Studie von 2010, Gruppe von Downes, welche in Spanien/Frankreich/UK/Deutschland/Italien bei über 1’700 Frauen durchgeführt wurde, zeigte sich eine Prävalenz von Myomen von 12–24 % (5).
– In einer weiteren Transvaginalsonographie-Studie fürs deutschsprachige Europa wurden bei 2’296 Patientinnen in 40.5 % der Fälle Myome diagnostiziert. Die höchste Prävalenz von 62.8 % wurde in der Altersgruppe 46–50 Jahren gefunden. In der Altersgruppe von 30–35-Jährigen fand man jedoch bereits eine Prävalenz von 21.3 % (20, 21).
– Leiomyome nehmen mit zunehmendem Alter der Patientin an Anzahl und auch an Grösse zu (1, 6, 7). Ein Wachstum nach der Menopause ohne Hormontherapie ist jedoch nicht mit einem Myom vergesellschaftet und sollte als neu entstandene Neoplasie abgeklärt und behandelt werden.
– Obwohl die Hysterektomierate im deutschsprachigen Europa in den letzten Jahren gesunken ist, führt die Schweiz im Vergleich zu Deutschland und Österreich am meisten Hysterektomien pro 100’000 Frauenjahre durch (Tabelle 1) (22). In der Schweiz ist die Hysterektomierate in den letzten Jahren nicht wesentlich gesunken.
– Gemäss Bundesamt für Statistik sind die folgenden Indikatio- nen die häufigsten für eine Hysterektomie (Abbildung 1, Abbil- dung 2.1). Myome sind somit die weitaus häufigste Ursache in der Schweiz für eine Hysterektomie (Abbildung 2.2).
Symptome
Die Zunahme des symptomatischen Uterus myomatosus ist erklärbar mit Zunahme von Anzahl und Grösse der Myome. Der Symptomatische Uterus myomatosus wird bei 54.3 % der Myom-Patientinnen gefunden, wobei die Abnorme Uterine Blutung (=AUB) mit 40.7 % DAS Hauptsymptom des Uterus myomatosus ist (20, 21). Daneben sind Dysmenorrhoe, Volumenprobleme abdominal, unerfüllter Kinderwunsch, Sarkom-Angst als zusätzliche Symptome zu erwähnen.
Diagnostik
Heutzutage stellen wir mit dem Transvaginalem Ultraschall sehr schnell die Diagnose Uterus myomatosus (8). Was einfach tönt, ist nicht immer so einfach. Schon nur die Einteilung in die FIGO-Klassifikation (Abbildung 3), ohne korrekte Darstellung des Endometriums, kann in gewissen Fällen schwierig sein. Hier hilft eine simple Hydrosonographie weiter. Schnell ist das Verhältnis von Myom zur Uteruswand ersichtlich und korrekt kann in die FIGO-Einteilung klassifiziert werden. Natürlich macht ein MRI in komplexen Fällen mit multiplen und/oder grossen Myomen Sinn, da die Eindringtiefe des Transvaginalen Ultraschalls seine Grenzen hat. Die FIGO-Klassifikation berücksichtigt jedoch nur die Lage des Myoms im Verhältnis zur Uteruswand. Grösse/Volumen, Anzahl und Lokalisation werden nicht berücksichtigt. Diese Kriterien sind jedoch wichtig zur Wahl der geeigneten Therapie.
Von Vorteil ist es nebst der FIGO-Klassifikation daher auch Lokalisation (z.B. Vorderwand, Tubenwinkel rechts, …) sowie Grösse/Volumen und Anzahl der Myome zu dokumentieren.
Wahl der Therapie-Optionen
Da nicht jedes Myom Symptome macht, sollte nur der Symptomatische Uterus myomatosus therapiert werden. Ohne Symptome macht in der Prämenopause eine sonographische Kontrolle 1–2/y Sinn. Ebenso könnten prophylaktische Optionen mit der Patientin besprochen werden (siehe weiter unten). Die Symptome können hauptsächlich in die Gruppen AUB und Volumen-assoziierte eingeteilt werden.
Therapie-Optionen der Myom-assoziierten AUB
In der AUB-Gruppe sollte nach Ausschluss einer Schwangerschaft und therapierter möglicher Anämie die PALM COEIN Klassifikation (Abbildung 3) beachtet werden; diese soll helfen, die Ursache der AUB abzuklären (28). Myome, welche eine AUB verursachen sind meist in den FIGO-Gruppen 0, 1, 2, 3 und 2–5 zu finden, da sie in direktem Kontakt mit dem Endometrium stehen.
Bevor eine operative oder interventionelle Therapie gewählt wird, sollten die medikamentösen und phytotherapeutischen Option angeboten werden. Sie können als präoperative Überbrückungs-Therapie oder langfristig angewendet werden, bis die Patientin in die Menopause eintritt (24).
– Eine Reservemedikation an starken Blutungstagen, wie die Tranexamsäure stellt eine gute Option dar, bei nicht stark störender AUB. 1 g per os alle 2 h bis die Blutungsstärke reduziert ist, max. 4g/Tag.
– Die Phytotherapie kann als nicht-hormonelle Therapie besprochen werden; hier an vorderster Front sind sicher die Mönchspfefferfrüchte zu erwähnen.
– Progesteron only Präparate und kombinierten Kontrazeptiva haben eine direkte Wirkung aufs Endometrium und können so die Blutungsstärke und Frequenz positiv beeinflussen; sie haben jedoch kaum direkte Wirkung auf das Myom selbst.
– Die GnRH-Analoga werden meist kurzfristig angewendet, aufgrund des Nebenwirkungsprofils mit klimakterischen Beschwerden; sie können mit einer Add-Back-Therapie kombiniert werden. Bei längerer Anwendung, mehr als 6 Monate, müssen sie zwingend mit einer solchen kombiniert werden (29). Zu den neueren GnRH-Antagonisten fehlen aktuell noch die Daten zur Langzeitanwendung, sie scheinen jedoch die AUB suffizient zu reduzieren (30, 31).
– Ist jedoch ein Myom FIGO 0/1/2 und kleiner als 5 cm die AUB-Ursache, lohnt es sich diese operativ anzugehen, bevor eine jahrelange medikamentöse Therapie die Lösung ist. Auf Grund der mechanischen Komponente, mit welcher diese Myome die AUB und/oder Dysmenorrhoe verursachen, ist die Entfernung dieser Myome schnell, zielführend und nachhaltig. Heute durch moderne Techniken wie die Bipolare Resektion oder die intrauterine Morcellation kann dieser Eingriff auch risikoärmer als früher durch-geführt werden (23). Bis 3 cm Grösse des intrauterin liegenden Myoms ist die Entfernung auch einzeitig möglich (23, 24). Sind diese Myome grösser als 3 cm sollte ein zweizeitiges Vorgehen in Betracht gezogen werden. Die medikamentöse Therapie mittels LNG-IUD macht bei diesen Myomtypen wenig Sinn, da die Einlage erschwert sein kann und die Expulsionsrate hoch ist.
– FIGO 2/3/4/2–5, welche eine AUB verursachen, können nebst den medikamentösen Therapien mit folgenden organerhaltenden Therapien behandelt werden: Radiofrequenzablation, UAE oder MRIgHIFU. Hier hat die transcervicale sonographisch kontrollierte Radiofrequenzablation (Sonata) sicher einen grossen Stellenwert, da sie als schnelle, sichere und suffiziente Methode gegenüber den anderen beiden Methoden Vorteile bietet (25, 26, 27). Die thermische Ablation dauert nur wenige Minuten pro Myom. Durch einen live-Ultraschall kann die Serosa identifiziert werden, sodass keine thermischen Schäden an Nachbarorganen entstehen (32). Durch diese Methode entsteht kein Postembolisationssyndrom, ist somit schmerzarm und die Patientin kann sofort ihre Alltagsaktivitäten aufnehmen. Die Sonata-Methode ist jedoch nur bei Myomen kleiner als 9 cm suffizient anzuwenden.
Therapie-Option der Myom-assoziierten Volumenbeschwerden
Handelt es sich um mehrere und grössere Myome, v.a. Typ 2–5, 4, 5, 6 und 7 steht die Volumenkomponente, und nicht die AUB, im Vordergrund. Möchten wir suffizient medikamentös das Volumen reduzieren, wären da nur die GnRH-Analoga oder Antagonisten zu erwähnen. Wegen des Nebenwirkungsprofils der GnRH-Analoga fallen sie als Langzeitbehandlung weg. Phytotherapeutika, welche suffizient Volumen reduzieren, sind kaum bekannt. Was die GnRH-Antagonisten bzgl. Volumenreduktion in der Langzeitbehandlung bringt, wird die Zukunft zeigen.
Bei den Myomen FIGO 5/6/7 ist die laparoskopische Myomenukleation meistens möglich, jedoch stellen grössere und mehrere Myome ein Problem dar, v.a. wenn das Cavum uteri nicht eröffnet werden sollte. In dieser Gruppe wären als weitere organerhaltende Therapien noch die UAE und das MRIgHIFU zu erwähnen. Die Sonata-Therapie passt gut zu den FIGO 2/3/4/2–5, bei welchen nebst der AUB, die Volumenkomponente im Vordergrund steht.
Zusammengefasst ist somit ersichtlich, dass es nebst der Hysterektomie verschiedene weitere Therapie-Optionen zur Behandlung des symptomatischen Uterus myomatosus gibt; es somit keinen Grund mehr geben sollte, dass auch in der Schweiz die Hysterektomierate zu sinken beginnt.
Mögliche Prophylaxe
In der «wait and see» Phase bei (noch) asymptomatischen Myomen oder nach Behandlung kann Folgendes als Prophylaxe in der Prämenopause verwendet werden. Die Progesteron-only Präparate scheinen einen protektiven Schutz gegen Myomwachstum zu sein (10, 14 – 16). Dazu gehören auch die LNG-IUD (17), falls diese korrekt eingelegt werden können. IUD sind sicher eine gute Wahl bei FIGO > 2, da sonst die Expulsionsrate steigt bei eher intracavitär liegenden Myomen.
Gut zu wissen:
MHT könnte ein Myom-Wachstum in der Postmenopause unter-stützen, jedoch sind Myome keine Kontraindikationen zum Start einer MHT (18, 19). Jedoch ist ein Myomwachstum in der Menopause ohne MHT sicher abklärungsbedürftig. Kombinierte Kontrazeptiva mit < als 35 mcg Ethinylestradiol/Tag scheinen keinen Einfluss auf Wachstum oder Entstehung von Myomen zu haben. Somit sind die kombinierten Kontrazeptiva keine Kontraindikation bei Myomen (9–13). Myome FIGO 5/6/7 berühren das Endometrium per definitionem nicht und verursachen kaum eine AUB. Also Vorsicht bei Erklärung der AUB mit einem Typ 5/6 oder 7 Myom. Ebenso machen diese Myome kleiner als 5 cm kaum Volumenbeschwerden im kleinen Becken; sind somit asymptomatisch.
Medizinische Leitung
Chesa Sana
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Verbindung zu Gynesonics und Gedeon Richter bzgl. Wissenschaftliche Tätigkeit, Fortbildungen, Kongresse; jedoch keine Tantiemen oder Patente.
◆ Die Schweiz führt im deutsprachigen Europa am meisten Hysterektomien durch. Hauptindikation dafür sind Myome.
◆ Myome sind die häufigsten gutartigen Raumforderungen im weiblichen Becken.
◆ FIGO-Klassifikation ist nicht genug als Dokumentation von Myomen. Grösse/Volumen und Lokalisation gehören dazu.
◆ Myom ist nicht gleich Myom.
◆ Eine Hysterektomie kann häufig umgangen werden.
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Für die Beurteilung der Sicherheit bei der medikamentösen Therapie von schwangeren und stillenden Frauen und ihren Kindern reicht die grobe Einschätzung von Teratogenität oder akuten UAW nicht aus. Es braucht hier ein differenziertes Wissen. Ebenso müssen Informationen über die notwendigen Dosierungsanpassungen während und nach der Schwangerschaft in der Praxis rasch und unkompliziert zur Verfügung stehen. Seit Jahren setzt die SAPP sich für die Schaffung eines national harmonisierten Arzneimittelverzeichnisses ein. Ein Update – vor dem Hintergrund der Lieferengpässe notwendiger denn je.
Prof. Dr. pharm. Ursula von Mandach, SAPPVerena Gotta, PhD FPH und SGKTP, Pädiatrische Pharmakologie, UKBBAndrea Burch, MSc, FPH Klinische Pharmazie, Kantonsapotheke Zürich
Pharmakotherapie und Dosierungsanpassungen in Schwangerschaft und Stillzeit
Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneimitteln können nicht einfach von nichtschwangeren Probandinnen auf schwangere oder stillende Frauen übertragen werden. Schwangere haben einen anderen Stoffwechsel, und auch Kinder durchlaufen prä- und postnatal mehrere unterschiedliche Stoffwechselphasen.
Die Schwangerschaft geht oft mit tieferen Arzneimittelplasmakonzentrationen und kürzeren Wirkzeiten einher. Vor allem Substanzen, die ausschliesslich unverändert renal ausgeschieden oder hauptsächlich über CYP450-Enzyme metabolisiert werden, erfordern möglicherweise während der Schwangerschaft, respektive postpartal eine Dosisanpassung (siehe Kasten). Obschon für eine Reihe von Medikamenten einzelne Untersuchungen zur Pharmakokinetik in der Schwangerschaft vorliegen, haben diese noch nicht immer Eingang in den Praxisalltag gefunden. Die von vielen Fachleuten vorgenommene simple Extrapolation der Dosierungen von nicht-schwangeren auf schwangere Frauen birgt das potenzielle Risiko einer Unterdosierung oder aber toxischen Effekten für die Mutter und den Fetus.Im Idealfall sollten als Voraussetzung für eine exakte Dosierung in Schwangerschaft und Stillzeit in vivo Pharmakokinetikbestimmungen in relevanten Verteilungsräumen bei Mutter (z.B. Plasma, Plazenta, Brust, Muttermilch) und Fetus bzw. Kind vorliegen. Solche Daten zu ermitteln, stösst an verschiedene Grenzen der Machbarkeit.
Die Pharmakometrie bietet hier mittels Modell-basierter Analysen verschiedene Möglichkeiten, quantitative Vorhersagen für das Verhalten von Wirkstoffen während der Schwangerschaft, bei Neugeborenen, Säuglingen und Kindern zu machen. Dabei können systemspezifische klinische Parameter (z.B. Organvolumen, Blutfluss, Plasmaproteinkonzentration, Hämatokrit, glomeruläre Filtrationsrate, Enzymaktivität usw.) und die bekannten Eigenschaften des Wirkstoffes (z.B. Molekulargewicht, Lipophilie, Affinität zu Enzymen usw.) in die Berechnungen miteinbezogen werden («Physiologiebasierte Modelle»). «Populationspharmakokinetische Modelle» erlauben mit wenigen Medikamenten-Konzentrationsbestimmungen in den genannten Verteilungsräumen die Pharmakokinetik in Schwangerschaft und Stillzeit mit inter-individueller Variabilität zu charakterisieren und allenfalls Hypothesen zur Dosisanpassung aufzustellen (siehe Abb. 1 und 2). Die Pharmakometrie ersetzt die Untersuchung von pharmakokinetischen Eigenschaften der Wirkstoffe in vivo in allen Kompartimenten nicht, aber sie liefert wertvolle Anhaltspunkte und erleichtert das Studiendesign.
Komplexität der Therapien bei Frühgeborenen am Beispiel der Induktion der Lungenreifung
Wie bei keiner anderen Altersgruppe sind bei der Therapie von Neugeborenen nicht nur die akuten Wirkungen, sondern besonders auch die zu erwartenden Langzeitfolgen von grosser Bedeutung.
Bei drohender Frühgeburt führt die pränatale Verabreichung von Kortikosteroiden (Betamethason oder Dexamethason) an die Mutter zu einer Reifung der fetalen Lungen und übrigen Organe. Die verabreichte Dosis von Kortikosteroiden hat sich seit den ersten Studien vor über 50 Jahren nicht geändert, obwohl es experimentelle Daten gibt, dass die aktuelle Dosis über dem idealen Bereich liegt.
Man beobachtet bei Frühgeborenen eine signifikante Reduktion des Atemnotsyndroms und anderer relevanter neonataler Komplikationen. Deshalb wird die Lungenreife mit fluorierten Kortikosteroiden bei drohender Frühgeburt vor 34 Schwangerschaftswochen empfohlen. Bei Spätfrühgeborenen müssen positive und negative Effekte gegeneinander abgewogen werden. Insbesondere gibt es noch keine guten Studien über die langfristige Entwicklung der Kinder. Wir warten gespannt auf die Resultate des 6-Jahres-Follow-up, welche bald zu erwarten sind.
Frühzeitige postnatale Applikation von Kortikosteroiden an das Frühgeborene ist mit einem erhöhten Risiko für schlechte neurologische Entwicklung assoziiert und muss sorgfältig indiziert werden.
Ähnlich wie Kortikosteroide wirkt sich auch die postnatale Gabe von Coffein günstig auf die Lungenfunktion aus. Nach der Therapie mit Koffein verläuft die zerebrale Entwicklung günstiger als unter Kortikosteroiden. Für die Applikation hoher Koffeindosen gibt es keine gute Evidenz und neurotoxische Effekte sind denkbar. Die Dosierung des Koffeins ist wegen der sich schnell verändernden Clearance in den ersten Lebenswochen nicht nur klinisch herausfordernd, sondern ein klassisches Beispiel für die Adaptation des Leber- und Nierenstoffwechsels bei Neugeborenen innerhalb oftmals weniger Tage, die wir wiederum auch bei der Dosierung berücksichtigen und praktisch umsetzen müssen. Mittels pharmakometrischer Modelle konnte jedoch ein Dosierungsschema vorgeschlagen werden, wie die maximale Koffeinplasmakonzentration von 15 mg/l im Laufe der ersten Lebenstage nicht überschritten werden sollte und trotzdem eine ausreichende Wirkung erzielt werden kann (siehe Abb. 1).
Prof. em. Dr. phil. Marcel Tanner, Swiss TPH, Universität BaselProf. Dr. med. Daniel H. Paris, Swiss TPH, Universität Basel
Probleme und medikamentöse Ansätze bei Schwangeren und ihren Neugeborenen in Entwicklungsländern
Frühgeburten sind weltweit gesehen die Hauptursache für die Morbidität und Mortalität von Schwangeren und ihren Kindern. Mehr als 90 % der Schwangerschaften werden in Gebieten mit endemischer Malaria ausgetragen und 2/3 der Frühgeburten finden in Afrika und Asien statt. Dies stellt uns vor grosse Herausforderungen, insbesondere auch im Zuge der rasanten Zunahme von Resistenzen gegenüber den bekannten Malaria-Medikamenten.
Wenn Kinder in abgelegenen Gebieten an Malaria erkranken, dauert es oftmals zu lange, bis ein Spital erreicht werden kann. Zudem verschlechtert sich die Bioverfügbarkeit von Malariamedikamenten bei Mangelernährung teilweise massiv. Hinzu kommt, dass für Kinder unter 5 kg keine orale Malariatherapie zugelassen ist. Die Verabreichung der üblichen Artemether-Lumefantrin-Dosierung im Verhältnis 1:6 führt bei Kindern zu 2–3-fach höheren Plasmakonzentrationen als der erwarteten sicheren Exposition (Artemether hat bei hohen Dosierungen hohes neurotoxisches Potential, basierend v. a. auf Tiermodellen). Mit Hilfe von physiologiebasierten Pharmakokinetik-Modellen wurde eine angepasste Dosierung gesucht (siehe Abb. 2), welche nun in der CALINA-Studie mit dispergierbaren Tabletten im Verhältnis 1:12 geprüft wird.
Im Sinne einer Überbrückung wegen der langen Anreisezeiten bis zur Einleitung einer adäquaten Anti-Malariatherapie wurde in der CARAMAL-Studie der Effekt einer einmaligen rektalen Verabreichung von Artesunat (10 mg/kg KG) bei Kindern unter 6 Jahren untersucht. Diese «Vor»behandlung konnte die Zahl der Todesfälle und dauerhaften Behinderungen um 51 % reduzieren. Trotz sehr guter Effizienz dieses Therapieansatzes unter kontrollierten Bedingungen war die effektive Wirksamkeit in der Bevölkerung unter realen Bedingungen schlecht – diese Studie zeigt dramatisch, wie sehr die Implementation einer neuen Therapie von zahlreichen Hindernissen und Verständnisschwierigkeiten auf den Überweisungswegen abhängig sein kann.
Eine weitere breit validierte Möglichkeit ist die präventive Verabreichung einer Behandlungsdosis von Sulphadoxin-Pyrimethamin (Fansidar®, in der CH a. H.) für Säuglinge parallel zu den Routine-impfungen, die einen präventiven Effekt entfalten (Intermittent Preventive Treatment in infancy = IPTi). Die Arbeiten zu Malaria, HIV und anderen prioritären Infektionskrankheiten in verschiedenen afrikanischen Ländern – in urbanen wie ländlichen Gebieten – haben gezeigt, dass die Verfügbarkeit von pädiatrischen Formulierungen sowie ein logistisch, wie zeitlich einfacher Zugang für Schwangere und Mütter zu diesen Medikamenten von ausschlaggebender Bedeutung sind und durch eine bessere Integration in die bestehenden Gesundheits- und Sozialstrukturen verbessert wird. Auch hier wird deutlich, dass die Wirksamkeit einer Therapie oder Präventionsmassnahme allein nicht genügt; ganzheitliche und systemische, individuell auf die lokale Bevölkerung zugeschnittene Ansätze inklusive leicht zugänglichen Informationen sind von zentraler und oft unterschätzter Bedeutung.
Medikamentenversorgung und Patientensicherheit – auch für Schwangere und Stillende?
Unter der Leitung von Dr. phil. II Stephanie Vollenweider diskutierten Nationalrätin Yvonne Feri, Dr. pharm. Enea Martinelli, dipl. pharm. Martine Ruggli, dipl. pharm. Monika Schäublin und lic. phil. Erika Ziltener über die aktuellen Herausforderungen für die sichere Arzneimitteltherapie von Schwangeren und Stillenden.
Bei Schwangeren und Stillenden sowie Kindern sind vielfältige Therapieanpassungen notwendig und oftmals muss auf Medikamente im off-label use zurückgegriffen werden. Für Kinder wurden solche Daten und Empfehlungen in der vom Bund beauftragten Datenbank SwissPedDose schweizweit harmonisiert und den Medizinalpersonen online zur Verfügung gestellt (siehe Kasten). Dieses Projekt hat sich bewährt und gilt auch im internationalen Vergleich als ein herausragendes Vorzeigebeispiel.
Im Praxisalltag wäre der Zugriff auf solche Daten während der Schwangerschaft und Stillzeit genauso wichtig. Die SAPP als interprofessionelles Netzwerk aus Medizin und Pharmazie setzt sich bereits seit 16 Jahren unermüdlich für die Erstellung solcher Therapieempfehlungen für Schwangere und Stillende ein. Dabei werden aktuelle Evidenz, nationale und internationale Richtlinien der jeweiligen Fachgesellschaften und Expertenmeinungen berücksichtigt und für die Anwendung in der Praxis aufbereitet. Ein Arzneimittelverzeichnis im Sinne einer harmonisierten Datenbank im kleineren Umfang mit harmonisierten Dosierungsempfehlungen für die Schwangerschaft und Stillzeit hat die SAPP bereits ohne Bundesauftrag umgesetzt (AmiKo, siehe oben). Damit sie jedoch einerseits umfangreicher und andererseits auch aktuell gehalten werden kann, wäre es essenziell, dass sie vom Bund getragen würde. Auch wären die technischen Tools von SwissPedDose vorhanden und könnten auf Schwangere und Stillende ausgeweitet werden.
Mit den Forderungen nach standardisierten Prüfkonzepten in der Schwangerschaft und Stillzeit bei einer nächsten Revision des HMG müssten auch entsprechende Anreize für Firmen geschaffen werden, damit sich solch aufwändige Studien für sie bezahlt machen. Bereits heute verschwinden viele althergebrachte Wirkstoffe vom Markt, weil die neuen Auflagen strenger sind und sich entsprechende Studien für die Firmen nicht mehr lohnen. Speziell für Schwangere und Stillende ist dies jedoch problematisch, da für diese Populationen gerne auf altbewährte Medikamente mit einer langjährigen Erfahrung bezüglich Sicherheit zurückgegriffen wird. Die Schaffung eines national harmonisierten Arzneimittelverzeichnisses wäre für die Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten ein wichtiges Instrument, um Medikamente inkl. allfälligen Ersatz bei Lieferengpässen für die Indikationen in der Geburtshilfe festzulegen und damit die Rahmenbedingungen für eine sichere Versorgung zu schaffen. Das entsprechende Tool sollte sowohl von Fachpersonen in ihren alltäglichen Instrumenten (z.B. Apotheken-IT) leicht und komplikationslos einsehbar aber auch von Patientinnen konsultierbar sein. In der Tat ist die Versorgungssicherheit für spezifische Patientenpopulationen nicht mehr gewährleistet. So ist beispielsweise Betamethason zur Induktion der Lungenreifung nicht verfügbar (Stand November 2023), so dass vermehrt auf Dexamethason zurückgegriffen wird, welches in der Folge auch nicht mehr erhältlich ist (Stand November 2023). Dexamethason ist trotz seiner Wichtigkeit in der Geburtshilfe nicht auf der Liste der lebenswichtigen Medikamente vermerkt (Verordnung über die Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel). Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass diese Liste unbedingt breiter gefasst sein muss und nicht nur auf Medikamente für die Akutmedizin wie Antibiotika, Opiate und Impfungen beschränkt bleiben darf.
Von 2016 bis 2022 haben sich die Lieferengpässe bei Arzneimitteln ungefähr verfünffacht und im 2023 nochmals überdurchschnittlich zugenommen. Für die Apothekenteams führt dies zu einem grossen Mehraufwand und für manche Substanzklassen lässt sich europaweit kein Ersatz finden.
Die Ursachen dieses globalen Phänomens sind komplex und vielschichtig (u.a. Auslagerung von Herstellungsprozessen nach Asien, aufwändige Zulassungsverfahren in der Schweiz, Anlegen von kantonalen Pflichtlagern anstelle von nationalen Strategien, fehlende Abkommen mit europäischen Partnerländern etc.).
Vor dem aktuellen Hintergrund stellt sich die Frage, ob das verfassungsmässig so festgelegte Modell, dass die Wirtschaft und die Kantone für die Versorgung mit Arzneimitteln zuständig sind und der Bund nur in Notlagen wie einer Pandemie eingreifen darf, überhaupt tauglich sei. Echte Versorgung kostet etwas und Wirtschaft und Kantone stossen zunehmend an ihre Grenzen. Bisher sind jedoch alle Vorstösse auf politischer Ebene an der fehlenden Mehrheitsfähigkeit gescheitert.
Schwangere und Stillende wurden schon vor hunderten – in manchen Kulturen vor mehreren tausenden – von Jahren als besonders vulnerable Population erkannt, für die es spezielle Massnahmen braucht. Es ist überfällig, dass die Wirtschaft, die involvierten Ämter und vor allem auch die politischen Stellen endlich die Dringlichkeit der Situation erkennen und gemeinsam und rasch die nötigen Schritte in die Wege leiten, damit Schwangere, Stillende und Neugeborene in der Schweiz auch in Zukunft Zugang zu einer sicheren Arzneimitteltherapie haben. Dies ist und bleibt auch klar ein Anliegen der Ethik und der öffentlichen Gesundheit, dem sich der Staat nicht entziehen kann.
Zweitabdruck aus pharmaJournal 02_2024
Korrespondenz-Adresse:
Dr. sc. nat. Barbara Lardi-Studler
Seeblickstrasse 11
8610 Uster
barbara.lardi@gmail.com
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Prof. Dr. pharm. Ursula von Mandach, Präsidentin
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