Einhaltung der Leitlinien der Europäischen ­Gesellschaft für Urologie

Harnwegsinfektionen (UTIs) sind bakterielle Infektionen der Blase und der damit verbundenen Strukturen (1). Klinisch werden Harnwegsinfektionen als unkompliziert oder kompliziert klassifiziert. Unkomplizierte Harnwegsinfektionen, unterschieden in untere (Zystitis) und obere (Pyelonephritis), betreffen in der Regel gesunde Personen ohne strukturelle oder neurologische Anomalien des Harntrakts. Die häufigsten Risikofaktoren sind Geschlechtsverkehr, die Verwendung von Spermiziden, ein neuer Sexualpartner, eine Mutter mit einer Vorgeschichte von Harnwegsinfekten, Harnwegsinfekte in der Kindheit, und die Behandlung einer asymptomatischen Bakteriurie (2). Frauen sind aufgrund der Lage der Harnröhre, die eine bakterielle Besiedlung begünstigt, am stärksten betroffen. Komplizierte Harnwegsinfektionen stehen in Zusammenhang mit Faktoren wie Harnwegsobstruktion, Harnverhalt durch neurologische Erkrankungen, Immunsuppression, Nierenversagen, Nierentransplantation, Schwangerschaft und das Vorhandensein von Fremdkörpern wie Steinen, Kathetern oder anderen Drainagevorrichtungen. Unkomplizierte und komplizierte Harnwegsinfektionen werden am häufigsten durch uropathogene Escherichia coli verursacht (3).Harnwegsinfektionen (HWI) haben erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patienten und die Gesellschaft.

Die Antibiotikatherapie ist der primäre Ansatz für die Behandlung von Harnwegsinfektionen; sie stösst jedoch bei der Vorbeugung von rezidivierenden Harnwegsinfektionen (rUTIs) an ihre Grenzen und erhöht zudem das Risiko der Entwicklung multiresistenter Mikroorganismen. Ein narrativer Überblick und Bericht über ein Expertentreffen befasste sich mit der Adhärenz zu den internationalen Leitlinien und der Glykosaminoglykan-Behandlung von Harnwegsinfektionen (4).

Das Ziel dieses Artikels war es, die Leitlinien der European Association of Urology für die Behandlung von Harnwegsinfektionen/rUTIs, den Grad der Einhaltung dieser Empfehlungen und die verfügbare Evidenz zur Verwendung von Glykosaminoglykanen (GAGs) als mögliche alternative Behandlung zur Prävention von rUTIs zu diskutieren.

Evidenzerhebung

Dieser narrative Review und Expertenbericht basiert auf einer Literaturrecherche zu den derzeit verfügbaren UTI-Leitlinien, den Ergebnissen einer Umfrage unter 227 Urologen und der Meinung eines Expertengremiums auf dem Gebiet der UTIs.

Zusammenfassung der Evidenz

Die Ergebnisse der Literaturrecherche zeigen, dass die Einhaltung der Leitlinien generell nicht optimal ist. Die Umfrage zeigte, dass Antibiotika nach wie vor eine der Behandlungsmöglichkeiten für ­Harnwegsinfektionen sind. Die meisten Urologen sind sich jedoch des Problems der Antibiotikaresistenz bewusst und bevorzugen alternative Methoden zur Prophylaxe von Harnwegsinfektionen. In Anbetracht der alternativen Methoden kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die GAG-Therapie bei der Vorbeugung von rUTIs sehr wirksam ist.

Schlussfolgerungen

Die Einhaltung der internationalen Leitlinien ist wichtig, um die klinische Praxis anzupassen und die Ausbreitung der Antibiotikaresistenz zu verhindern. Die Umfrage zeigt auf, dass der Missbrauch und die Überdosierung von Antibiotika ein grosses Problem darstellen; eine Analyse der klinischen Daten bestätigt, dass die GAG-Therapie ein wertvoller therapeutischer Ansatz ist, um das Wiederauftreten von Harnwegsinfektionen zu verhindern und das Auftreten von Antibiotika­resistenzen zu ­begrenzen.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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1. Bono MJ, Reygaert WC. Urinary tract infection. Treasure Island, FL: StatPearls Publishing LLC; 2021.
2. Cai T. Recurrent uncomplicated urinary tract infections: definitions and risk factors. GMS Infect Dis 2021;9:Doc03.
3. Geerlings SE. Clinical presentations and epidemiology of urinary tract infections. Microbiol Spectr 2016;4.
4. Bonkat G et al. Adherence to European Association of Urology Guidelines and State of the Art of Glycosaminoglycan Therapy for the Management of Urinary Tract Infections: A Narrative Review and Expert Meeting Report Eur Urol Open Science 2022; 44: 37–45.

Vitamin K – das multifunktionelle Vitamin

Vitamin K ist bekanntlich ein wesentlicher Faktor der Blutgerinnung. Daher auch der Name Vitamin K, der sich von dem deutschen Begriff für Gerinnung (Koagulation) ableitet. Nährstoffe und Vitamine, darunter Vitamin D, Vitamin C und seit kurzem auch Vitamin K, spielen aber auch eine wichtige Rolle bei der Erhaltung einer optimalen Knochengesundheit, insbesondere bei älteren Erwachsenen (1). In jüngster Zeit ist das Interesse an Vitamin K gestiegen. Epidemiologische Studien deuten nämlich darauf hin, dass ein Vitamin-K-Mangel mit mehreren Krankheiten in Verbindung gebracht wird, darunter Osteoporose und Atherosklerose (2).

Vitamin K ist keine einzelne Verbindung, sondern ein Begriff für viele ähnliche Verbindungen, die die physiologische Funktion dieses Vitamins haben. Sie haben eine gemeinsame Struktur, den 2-Methyl-1,4-Naphthochinon-Kern, der auch als Menadion bekannt ist. Die einfachste Form, die nur diesen Kern enthält, wird als Vitamin K3 bezeichnet. Im Gegensatz zu den natürlichen Formen ist K3 hydrophil und wird nicht über die Nahrung aufgenommen. Es fungiert jedoch als Zwischenprodukt im menschlichen Stoffwechsel (3).

Mit der Nahrung aufgenommenes Vitamin K stammt entweder aus pflanzlichen Quellen (in Form von Vitamin K1, bekannt als Phyllochinon [Phytomenadion, Phytonadion]) oder häufiger aus tierischen Quellen in Form von Vitamin K2 (Menachinon, allgemein abgekürzt als MK). Vitamin K4 wird mit anderen synthetischen Formen von Vitamin K in Verbindung gebracht. Dabei kann es sich um eine reduzierte Form von Vitamin K3 (Menadiol) oder seine Esterformen (z. B. Diacetat-Vitamin K3) handeln.

Vitamin K2 und Knochengesundheit

Vitamin K2, die aktivierte Form von Vitamin K, soll die Heilung von Knochenbrüchen fördern, eine therapeutische Wirkung auf Osteoporose haben und die Knochenresorption hemmen (4,5). Jüngste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Vitamin K die Osteoblastogenese und Osteoklastogenese über den Nuklearfaktor κB (NF-κB) reguliert. Die NF-κB-Signalübertragung übt zwei Funktionen aus: Einerseits stimuliert sie die Entwicklung und Resorption von Osteoklasten, andererseits hemmt sie die Differenzierung und Aktivität von Osteoblasten. Vitamin K2 verhindert die NF-κB-Aktivierung auf eine γ-Carboxylierung-unabhängige Weise, was zur Knochenbildung führt, und die Knochenresorption verringert (6). Ein hoher Nutzen der K-Vitamine in der Primärprävention und Therapie scheint nicht nur bei Knochen- sondern auch bei Gefässkrankheiten vorzuliegen (7).

Vitamin K2 und Atherosklerose

Trotz der jüngsten medizinischen Fortschritte sind Atherosklerose und damit Gefässerkrankungen nach wie vor die häufigste Todesursache weltweit. Atherosklerose ist ein aktiver Prozess und resultiert aus dem Ungleichgewicht zwischen kalkfördernden und -hemmenden Faktoren (8). In den letzten zwei Jahrzehnten wurde eine Reihe von Proteinen entdeckt, die Kalzium-Ionen binden können, und die meisten von ihnen haben ein gemeinsames Merkmal, nämlich die gamma-Carboxyglutaminsäure-reiche Domäne (Gla). Da die Gla-Reste durch ein Enzym, das Vitamin K als Kofaktor verwendet, biologisch aus proteingebundenen Glutaminsäureresten umgewandelt werden, werden alle diese Proteine als Vitamin-K-abhängige Proteine bezeichnet. Das Matrix Gla Protein MGP ist ein Vitamin-K-abhängiges Protein, das nachweislich eine Rolle beim Schutz vor ektopischer Verkalkung spielt (9). Die Carboxylierung des zirkulierenden MGP spiegelt dessen Fähigkeit wider, die Verkalkung in Gefäßen zu hemmen und das Risiko für koronare Herzkrankheit und Sterblichkeit zu mindern (10,11). Eine neuere Metaanalyse kommt zur Schlussfolgerung, dass die Vitamin-K-Einnahme mit einem geringeren Risiko für koronare Herzkrankheit und Gesamtmortalität assoziiert ist (12). Dagegen konnten grosse randomisierte klinische Studien keine positive Wirkung der Vitamin-D3-Supplementierung bei der Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigen (13,14). Vitamin-K-Supplementierung kann diese unerwünschte Wirkung von überschüssigem Vitamin D auf die Verkalkung ausgleichen, wie durch einen geringeren Kalzium- und Phosphorgehalt in Aorta und Niere gezeigt wurde (15). Der Promotor des MGP-Gens enthält ein Vitamin-D-Response-Element, das die Expression von MGP nach der Einnahme von Vitamin D um das Zwei- bis Dreifache erhöht (16,17). Die Hochregulierung von MGP durch Vitamin D benötigt Vitamin K zur vollständigen Aktivierung von MGP für optimales Funktionieren. Dies bedeutet, dass die Kombination von Vitamin K und Vitamin D Schutz vor fortschreitender Gefäßverkalkung, kardiovaskulären Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Gesamtmortalität bieten könnte (17).

INTRICATE (konzentrierte Zunahme von Vitamin K2 und D3)

Die INTRICATE (18) ist eine Proof-Of-Concept-Studie, die den Einfluss einer kombinierten Vitamin-K2- und Vitamin-D3-Supplementierung auf die Mikroverkalkung bei Karotis-Atherosklerose mittels hybrider Natrium-[18F] Fluorid-Positronenemissions-Tomographie (PET)/Magnetresonanztomographie (MRI) untersuchen soll. Probanden mit asymptomatischer Erkrankung der Halsschlagader auf mindestens einer Seite des Halses werden in die Studie aufgenommen. Der primäre Endpunkt ist die Veränderung des Na[18F] F-PET/MRI (Ausgangswert vs. nach 3 Monaten) in der Behandlungsgruppe im Vergleich zur Placebogruppe. Sekundäre Endpunkte sind Veränderungen der Plaque-Zusammensetzung und der Blut-Biomarker. Die Ziele der INTRICATE-Studie sind: Untersuchung der therapeutischen Wirkung der kombinierten Einnahme von Vitamin K2 und D3 auf die verte-brale Knochenmineraldichte bei postmenopausalen Frauen mit Osteopenie und Osteoporose.

Es gibt Hinweise darauf, dass Kalzium nicht nur für die Entwicklung einer maximalen Knochenmasse wichtig ist, sondern auch zur Verringerung des Knochenschwunds bei Frauen nach der Menopause. Man geht davon aus, dass Vitamin D und Kalzium (und möglicherweise Vitamin K) für die Vorbeugung von Knochenschwund und Knochenbrüchen von entscheidender Bedeutung sind. Entsprechend fanden Matsunaga und Mitarbeiter eine synergistische Wirkung von Vitamin D und K bei der Verringerung des Knochenverlusts bei ovarektomierten Ratten (18).

Fazit

Vitamin K ist bekannt als wesentlicher Faktor in der Blutgerinnung. Vitamin K zeigt aber auch einen hohen Nutzen in der Primärprävention von Knochen. Es soll die Heilung von Knochenbrüchen fördern, eine therapeutische Wirkung auf Osteoporose haben und die Knochenresorption hemmen. Vitamin K scheint aber auch einen Nutzen in der Primärprävention von Gefässkrankheiten zu haben.

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Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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1. Booth SL. Vitamin K status in the elderly. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2007;10:20-23
2. Fusaro M et al.. Vitamin K effects in human health: New insights beyond bone and cardiovascular health.. Journal of Nephrology 2020; 33:239–249
3. Shearer M, Newman P.. Recent trends in the metabolism and cell biology of ­vitamin K with special reference to vitamin K cycling and MK-4 biosynthesis.
J Lipid Res .2014;55:345–362
4. Orishige H. Clinical evaluation of menaquinone versus alfacalcidol in the ­treatment of osteoporosis: a doubleblind, controlled Phase III clinical trial.
Clin Eval 1992;20: 45–100.
5. Akiyama Y. Research on the mechanism of inhibitory action of vitamin K2
on bone resorption in cultured organ culture. J Jpn Soc Bone Min Metab
1991;9: 239.
6. Yamaguchi M., Weitzmann M.N. Vitamin K2 stimulates osteoblastogenesis and suppresses osteoclastogenesis by suppressing NF-B activation. Int. J. Mol. Med. 2011;27: 3–14.
7. Vermeer C et al. Beyond deficiency : potential benefits of increased intakes of vitamin K for bone and vascular health. Eur J Nutr 2004; 43: 1-11
8. Johnson RC, Leopold JA and Loscalzo J. Vascular calcification: pathological mechanisms and clinical implications. Circ. Res. 2006;99: 1044-1059.
9. Price PA et al. Matrix GLa protein, a new gamma-carboxyglutamic acid-­containing protein which is associated with the organ matrix of bone. Biochem Biphys Res Commun 1983;117: 765-771.
10. Luo, Get al. Spontaneous clacification of arteries and cartilage in mice lacking matrix GLA protein. Nature 1997, 386, 78-81
11. Schurgers, L et al. Matrix Gla-protein: the calcification inhibitor in need of vitamin K. Thromb Haemost 2008;100:593-603
12. Chen HG et ak, Association of vitamin K with cardiovascular events and ­all-cause mortality. A systematic review and meta-analysis. Eur J Nutr 2019; 38: ­2191-2205
13. Scragg, R.; et al. Effect of Monthly High-Dose Vitamin D Supplementation on Cardiovascular Disease in the Vitamin D Assessment Study. JAMA Cardiol.2017, 2, 608.
14. Manson, J.E et al. Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and ­Cardiovascular Disease. N. Engl. J. Med. 2019; 380: 33–44.
15. Seyama, Yet al. Effect of vitamin K2 on experimental calcinosis induced by ­vitamin D2 in rat soft tissue. Int. J. Vitam. Nutr. Res. 1996; 66: 36–38.
16. Fraser JD, Price PA. Induction of matrix gla protein synthesis during prolonged 1,25-Dihydroxyvitamin D3 treatment of osteosarcoma cells. Calcif. Tissue Int. 1990, 46, 270–279
17. Arbou, NC et al. Transcriptional control of the osteocalcin gene by
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Biochim. Biophys. Acta Gene Struct. Expr. 1995, 1263, 147–153
18. Matsunaga S et al. The effect of vitamin K and D supplementation on ­ovariectomy-induced bone loss. Calcif Tissue Int 1999;65:285–9.

Journal Watch von unseren Experten

Praktische Strategien für den Umgang mit Übergewicht bei Typ2 Diabetes

Das Phänomen der Fettleibigkeit, das als wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung und das Fortschreiten von Typ-2-Diabetes gilt, ist ein komplexes und vielschichtiges Problem, das einen umfassenden und koordinierten Ansatz erfordert, um effektiv verhindert und behandelt zu werden. Obwohl neuartige pharmakologische Massnahmen zur Bekämpfung von Fettleibigkeit eine noch nie dagewesene Wirksamkeit erreicht haben, bleibt ein gesunder Lebensstil für den langfristigen Erfolg jeder therapeutischen Intervention unerlässlich.

Eine aktuelle Übersichtsarbeit empfiehlt praktische Vorschläge zum Gewichtsmanagement aus einer ganzheitlichen und personenzentrierten Perspektive. Sie umfasst evidenzbasierte Empfehlungen für unterstützende Kommunikation, gemeinsame Entscheidungsfindung sowie ernährungsphysiologische und pharmakologische Therapien zur Erzielung einer nachhaltigen Gewichtsabnahme. Die Übersichtsarbeit diskutiert auch neurometabolische, psychologische und iatrogene Barrieren und klinische Trägheit, die zum Mangel an Adipositas-Behandlung beitragen, und schlägt Wege vor, wie diese Probleme in der Klinik angegangen werden können.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

Rodbard H W et al. Practical strategies to manage obesity in type 2 diabetes. Diabetes Obes Metab 2024 Mar 2 doi:10.1111/dom.15556 online ahead of print.

GLP-1-Agonisten und SGLT-2-Inhibitoren haben zusammen einen grösseren kardiorenalen Nutzen

GLP1-Rezeptor-Agonisten und SGLT-2-Hemmer verringern das Risiko kardiovaskulärer und renaler Ereignisse bei Patienten mit Typ-2-Diabetes (T2DM). Diese modernen Antidiabetika werden zunehmend in Kombination eingesetzt, wenn eine vorherige Therapie mit anderen blutzuckersenkenden Medikamenten ungenügend ist resp. wenn ein hohes kardiovaskuläres Risiko vorliegt. Ob der kombinierte Einsatz dieser Medikamentenklassen zu einer Verbesserung der kardiovaskulären (cv) und renalen Ergebnisse führt, verglichen mit der einer der beiden Medikamentenklassen allein, ist noch unklar.

In dieser Populationsbasierten Kohortenstudie mit 15 638 Patienten mit T2DM und einem BMI ≥ 30kg/m² in 81% und verschiedenen kardiovaskulären Erkrankungen war die Kombination aus GLP1-RA und SGLT2-H. mit einem geringeren Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse und schwere Nierenereignisse im Vergleich zu einer der beiden Wirkstoffklassen allein assoziiert. Die kardiovaskulären Events wurden um 30%, die Nierenereignisse um 57% gesenkt. Verglichen mit dem SGLT2-H. war die Kombination mit einem 29% tieferen Risiko für cv Ereignisse assoziiert; schwere Nierenereignisse hatten ein breites Konfidenzintervall (HR 0,67).

Diese Ergebnisse unterstreichen den potenziellen Nutzen einer Kombination dieser beiden wirksamen Medikamentenklassen zur Vorbeugung von kardiovaskulären und renalen Ereignissen bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes. Weitere Studien, einschliesslich randomisierter kontrollierter Studien, werden benötigt, um die vielversprechenden Ergebnisse zu bestätigen.

Dr. med. Urs Dürst

Simms-Williams N. et al., GLP-1 Agonists and SGLT-2 Inhibitors Together Have Greater Cardiorenal Benefits, BMJ 2024;385: e078242 http://dx.doi.org/10.1136/ bmj-2023-078242

Hyperurikämie-Behandlung reduziert kardiovaskuläre Ereignisse

Epidemiologische Studien haben seit Jahren gezeigt, dass ein hoher Harnsäurespiegel mit einem erhöhten Risiko für koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck und andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergeht. Weniger klar war, ob eine harnsäuresenkende Behandlung mit Xanthinoxidase-Hemmern wie Allopurinol dieses Risiko minimiert. Die hier zusammengefassten Studien zeigen, dass eine harnsäuresenkende Behandlung bei Hypertonikern mit Hyperurikämie eine signifikante Senkung des systolischen und diastolischen Blutdrucks bewirkt. Eine harnsäuresenkende Behandlung hat eine positive Wirkung auf die Senkung des systolischen Blutdrucks und auf schwerwiegende unerwünschte kardiovaskuläre Ereignisse bei Patienten mit früheren kardiovaskulären Erkrankungen gezeigt. In Bezug auf die kardiovaskuläre Sicherheit ist der neuere Xanthinoxidase-Hemmer Febuxostat dem altbewährten Allopurinol nicht unterlegen, und das Risiko von Tod oder schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen ist bei Febuxostat nicht erhöht.
Fazit: Die Hyperurikämie stellt, genau wie die Hypercholesterinämie, ein bewiesener kardiovaskulärer Risikofaktor dar und muss intensiv behandelt werden, mit einem Ziel-Harnsäure-Serumwert <360 umol/L, besser noch im Bereich von 300 umol/L.

 KD Dr. med. Marcel Weber

Sosa F. Impact of Hyperuricemia and Urate-Lowering Agents on Cardiovascular Diseases. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38529322

Erhöhen Antidepresiva (SSRIs) das Blutungsrisiko bei antikoagulierten Patienten?

Frage

Führt die Einnahme von SSRIs bei Patienten mit oralen Antikoagulatien bei Vorhofflimmern (VHF) zu mehr Blutungen?

Hintergrund

Die weltweite Verordnung von Antidepressiva steigt kontinuierlich. In den USA geben 19% der Über-60-Jährigen an, in den letzten 30 Tagen ein Antidepressivum genommen zu haben. Unter den Antidepressiva dominieren die selektiven Serotonin Re-Uptake Hemmer oder SSRI. Daten aus Beobachtungsstudien deuten darauf hin, dass es unter SSRIs zu vermehrten Blutungen kommt, verantwortlich dafür wird eine Thromozytenaggregationshemmung der SSRIs gemacht.

Einschlusskriterien

Alle Erwachsenen Personen (>18 Jahren) mit Vorhofflimmern, diagnostiziert zwischen 1998 und 2021, die neu ein orales Antikoagulanz, OAK in Form eines Vitamin K-Antagonisten oder eines direkten oralen Antikoagulanz, DOAK, erhielten.

Studiendesign und Methodik

Populationsbasierte Fall-Kontrollstudie (nested case-control study), auf der Basis der UK Clinical Practice Research Datalink, einer grossen Primary Care Datenbank, vergleichbar FIRE, die die Daten (Verschreibungen, Überweisungen, etc.) von fast 60 Millionen Patienten aus 2000 Hausarztpraxen umfasst. Als SSRI exponiert wurden alle Patienten definiert, die Citalopram, Escitalopram, Fluoxetine, Fluvoxamine, Paroxetine oder Sertraline einnahmen. Die Ergebnisse wurden für zahlreiche Faktoren korrigiert, unter anderem Rauchen, Alkoholkonsum, BMI, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, Leber- und Nierenerkrankungen, Anämie und weiteren. Korrigiert wurde auch für zahlreiche Medikamente, insbesondere solche, die das Blutungsrisiko beeinflussen können (Thrombozytenaggertaionshemmer, etc.)

Outcomes/Endpunkte

Als Endpunkt «Blutung» wurde eine Hospitalisation auf der Basis einer schweren Blutung (Hospitalisationsanlass) oder der Tod durch eine «major bleeding» gewertet. Antikoagulierte Patienten mit SSRI-Einnahme wurden dann mit antikoagulierten Patienten ohne SSRI Einnahme verglichen.

Resultate

Insgesamt traten relevante Blutungsereignisse («major bleedings») bei 42 190 Patienten auf (mittleres Alter 74.2, SD [9.3] Jahre, 59.8% Männer), die zu 1. 156.641 Kontrollen gematched wurden. Die gleichzeitige Einnahme von SSRIs und OAKs führte zu einem 33% höherem Blutungsrisiko als unter OAK alleine (Inzidenzverhältnis, inzidence rate ratio, IRR, 1.33; 95% CI, 1.24-1.42). Die Risikoerhöhung im Vergleich zu den Kontrollen war mit 74% zu Beginn der Therapie am höchsten (IRR, 1.74; 95% CI, 1.37-2.22 für die ersten dreissig Tage) und blieb für 6 Monate erhöht. Die Risikoerhöhung war unbeeinflusst durch Alter, Geschlecht, Blutungsanamnese, chronische Nierenerkrankung oder Potenz der SSRIs. Bei Vitamin-K-Antagonisten war die Risikoerhöhung (IRR, 1.36; 95% CI, 1.25-1.47) ausgeprägter als bei DOAKs (IRR, 1.25; 95% CI, 1.12-1.40).

Kommentar

• Diese sehr grosse, populationsbasierte Studie bestätigt frühere kleinere Studien, die bereits zeigten, dass die gleichzeitige Einnahme von SSRIs und oralen Antikoagulantien zu einem erhöhten Blutungsrisiko führt.
• Das Risiko scheint insbesondere initial, nach Beginn einer Therapie mit oralen Antikoagulantien erhöht
• Patienten sollten für diese Risikoerhöhung sensibilisiert werden und ein engmaschiges Monitoring erfolgen
• Die Studie belegt auch den hohen Nutzen von real-life Daten aus hausärztlichen Datenbanken, wie sie mit FIRE auch in der Schweiz zur Verfügung steht.

Prof. Dr. med. Thomas Rosemann

Rahman AA, Platt RW, Beradid S, Boivin J, Rej S, Renoux C. Concomitant Use of Selective Serotonin Reuptake Inhibitors With Oral Anticoagulants and Risk of Major Bleeding. JAMA Netw Open. 2024;7(3):e243208. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.3208

Mehr Krebsfälle aber auch mehr Leben!

Kurz vor seinem 90. Geburtstag antwortete der Doyen der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in einem aktuellen Interview auf die Frage, ob man sich ihn als einen glücklichen Menschen vorstellen dürfe: «Wider allen Erwarten halten sich meine zwei chronischen Leiden, ein Krebs und Diabetes, erstaunlich manageable, und das schon seit 2 Jahrzehnten. Wenn man das überlebt, kann man vielleicht noch etwas mehr überleben» (Schweiz am Wochenende vom 11.5.2024). Für Muschg war und ist dies weiterhin eine produktive und lebenswerte Zeit, und ja, es darf auch noch etwas mehr sein. Gerade hat er eine neue Erzählung geschrieben. Viele Betroffene können seine Erfahrung nachvollziehen und führen heute ein sogar besonders wertgeschätztes Leben.

Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in der Schweiz und die häufigste bei Frauen zwischen 25 und 84 und bei Männern zwischen 45 und 84 Jahren. Kürzlich veröffentlichte das Bundesamt für Statistik neue Krebsstatistiken. Es zeigt sich, dass die Krebsfälle bei Männern erstmals abnehmen, jedoch nicht bei Frauen. Besonders ausgeprägt ist der Rückgang der Mortalitätsrate bei Männern. Bei Frauen ist dieser Erfolg noch nicht zu verzeichnen. Hier sind wir alle gefordert, sowohl in unserer täglichen Arbeit mit den Patientinnen und ihren Familien, mit unseren Mitarbeiterinnen wie auch auf der gesundheitspolitischen Ebene.

Die starke Abnahme der Krebs-Mortalitätsrate bei Männern ist hauptsächlich auf die Reduktion tabakassoziierter Krebsfälle zurückzuführen. Neue Immuntherapien und Lungenkrebs-Screenings für Hochrisiko-Raucher könnten diesen positiven Trend weiter verstärken.
Pioniere in verschiedenen Kantonen begannen vor über 50 Jahren mit der Dokumentation von Krebsfällen, was regionale Versorgungslücken aufzeigte. Heute verfügen wir über ein nationales Krebsregister, das verlässliche Daten für die gesamte Bevölkerung liefert. Ein bedeutender Erfolg ist der im Frühjahr angenommene Nationale Krebsplan Schweiz (www.oncosuisse.ch), der durch eine koordinierte Strategie die Früherkennung, Prävention, Behandlungsqualität und Ausbildung verbessert und eine gerechtere Versorgung im ganzen Land ermöglicht.

Wir alle wissen um die enormen Kosten neuer Krebstherapien und es ist ein Gebot der Stunde, behandlungsbedürftige Krebsfälle wo möglich durch effiziente Prävention und Früherkennung zu verhindern. Laut BAG gehen über die Hälfte der Zunahme der totalen Medikamentenkosten in unserem Land auf Krebsmedikamente zurück. So sind die Kosten pro versicherte Person von knapp 60 CHF im Jahr 2015 auf über 140 CHF im Jahr 2023 angestiegen! Das Potential wird heute auf ca. 40% vermeidbare Krebstodesfälle geschätzt, eine unglaubliche grosse Zahl! Diese Vermeidung in 26 Kantonen mit kantonalen Strategien zu erreichen ist ineffizient und auch klar gescheitert. Deshalb hat das Bundesparlament endlich grünes Licht gegeben für eine Nationale Krebsstrategie der Schweiz. Die Krebsliga Schweiz und Oncosuisse mit all ihren Verbündeten haben mit dem Nationalen Krebsplan NKP 1 und NKP 2 und der Nationalen Strategie gegen Krebs NSK über die letzten Jahrzehnte unermüdlich dafür gekämpft und sind nun belohnt worden.

Die zur Diskussion stehende nationale Präventionsstrategie ist de facto deckungsgleich mit z.B. auch kardiovaskulären, pneumologischen, diabetologischen, gynäkologischen oder auch orthopädischen präventiven Massnahmen, da es schlicht um die Förderung einer gesunde Lebensweise geht: also regelmässige Bewegung, Kontrolle des Körpergewichts, gesunde Ernährung sowie Nichtrauchen bzw. Rauchstopp und limitierter oder kein Alkoholkonsum als wichtigste Massnahmen, aber auch um protektive Impfungen wie gegen Hepatitis-B oder HPV.

Die Lebenserwartung in der Schweiz liegt gemäss Bundesamt für Statistik für Frauen bei 85,9 und für Männer bei 82,3 Jahren. Alterforscher gehen heute davon aus, dass eine Lebenserwartung von 90 Jahren für eine gut informierte Bevölkerung mit guter Gesundheitsversorgung ein realistisches Ziel ist. Da Krebs eine stark altersabhängige Inzidenz aufweist, werden wir in den nächsten 20 Jahren viele neue Krebsfälle erwarten müssen. Nun geht es darum, hier Prioritäten zu setzten und griffige nationale Strategien zu entwickeln. Wir sind gespannt, wie die Umsetzung der nationalen Strategie gegen Krebs erfolgen wird und welche Prioritäten hier vom Bund gesetzt werden. Hoffen wir, dass die Umsetzung erfolgreich sein wird und machen Sie bitte mit, wo immer sie einen Hebel haben. Viel unnötiges Leid und viele vorzeitig verlorene Lebensjahre könnten gerettet werden und das Ganze ist ein kosteneffizientes Unterfangen mit einem hohen «Return of Investment».

Prof. em. Dr. med. Thomas Cerny

Prof. em. Dr. med.Thomas Cerny

Rosengartenstrasse 1d
9000 St. Gallen

thomas.cerny@kssg.ch

«Nachwehen»: Hyperinflammatorisches Immunreaktionssyndrom PIMS-TS

Anamnese und Befunde

Spätabends brachten 2 Leiterinnen eines Skilagers eine 11-jährige Patientin auf die Notfallstation eines Regionalspitals. Sie wurde im Rollstuhl in die Koje geschoben, weil sie zu schwach zum Gehen war. Die Begleitpersonen berichteten über seit 2 Tagen stetig zunehmende Schwäche, Appetitlosigkeit und vermehrten Schlafbedarf. Am Eintrittstag einmalig Durchfall mit Einstuhlen und Einnässen. Die Patientin klagte über Bauchschmerzen, Übelkeit und einmaliges Erbrechen sowie Kopfschmerzen. Keine Dysurie. Fieber und Schüttelfrost in den vorangehenden Tagen wurden verneint, wobei im Skilager die Körpertemperatur nicht gemessen worden war.

Die Systemanamnese war sonst wenig ergiebig bis auf eine COVID-19-Erkrankung vor rund drei Wochen. Die Dia­gnose war mittels positiven Spucktests in der Schule gestellt worden. Der Krankheitsverlauf war milde über wenige Tage mit leichtem Fieber, Husten und Schnupfen mit kompletter Genesung. Die Umgebungsanamnese war positiv für eine Gastroenteritis-Exposition vor wenigen Tagen. Geimpft sei sie nach CH-Impfplan. Beide Eltern stammen aus Eritrea, die Reiseanamnese war unauffällig.

Status und Labor (Tabelle 1)

Auffällig tiefer BMI von 13.5 kg/m2. Blutdruck 102/70 mmHg, Puls 99 bpm, 97 % Sauerstoffsättigung bei Atemfrequenz von 15/min und 40.2° C Körpertemperatur. Bei der Lymphknotenpalpation fiel einzig submandibulär rechts eine druckdolente Schwellung auf (im Zentrumsspital später sonographisch als Lymphadenopathie identifiziert). Das Abdomen war weich, diffus druckdolent, v.a. periumbilikal betont, ohne tastbare Organomegalie oder Abwehrspannung. Neurologisch wirkte die Patientin in der Interaktion verlangsamt. Sie war somnolent, jedoch allseits orientiert. Die Meningismusprüfung war schmerzhaft, aber nicht eindeutig positiv. Die Sensibilität der Extremitäten war normal, die Kraft wurde bei M4 eingestuft, und die Hirnnervenprüfung war unauffällig. Das Gangbild war nicht prüfbar wegen allgemeiner Schwäche. Kardiopulmonale Untersuchung, Otoskopie, Integument und enoral, bis auf etwas trockene Schleimhäute mit unauffälligen Befunden.

Differenzialdiagnose

Die diffuse klinische Symptomatik war initial schwierig einzuordnen. Eine (beginnende) Meningitis/Enzephalitis war nicht sicher auszuschliessen. Im Labor fiel vor allem der deutlich erhöhte Kreatininkinasewert auf, welcher zusammen mit den erhöhten Entzündungsparametern differenzialdiagnostisch an eine Myositis oder Myokarditis im Rahmen einer systemischen Inflammation denken liess. Die dadurch ausgelöste Literaturrecherche führte bei bekannter kürzlicher COVID-19-Erkrankung zur Verdachtsdiagnose eines Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome Temporally Associated with SARS-CoV-2 (PIMS-TS). In Europa wird mehrheitlich der Begriff PIMS-TS ­verwendet, in der US-amerikanischen Terminologie meist die Bezeichnung MIS-C (Multisystem Inflammatory Syndrome in Children). PIMS-TS ist ein seltenes, aber mit hoher Morbidität einhergehendes, meist zwei bis sechs Wochen nach SARS-CoV-2-Infektion auftretendes hyperinflammatorisches Immunreaktionssyndrom mit Beteiligung verschiedener Organsysteme. Die vorangehende COVID-19-Erkrankung ist oft oligo- oder asymptomatisch. Das Syndrom betrifft vor allem Schulkinder (2, 10, 11). Häufigste klinische Zeichen sind hohes Fieber, gastrointestinale Symptome wie Abdominalschmerzen, Erbrechen und Diarrhoe, kardiovaskuläre Dysfunktion (eingeschränkte linksventrikuläre Funktion, Hypotonie, Schock) sowie neurologische Symptome wie Kopfschmerzen und Encephalopathie (1, 2, 4). Die Definitionskriterien umfassen diverse klinische und laboranalytische Parameter, welche je nach Verfasser (WHO, Centers for Disease Control and Prevention; Deutsche Gesellschaft Pädiatrische Infektiologie (DGPI); Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin) leicht variieren (4, 6, 7).

Differenzialdiagnostische Überschneidungen finden sich mit häufigeren anderen Systemischen Inflammatorischen Syndromen, so mit dem Kawasaki-Syndrom, dem toxischen Schocksyndrom (TSS) und dem Haemophagozytose Lymphohistiocytose Makrophagen Aktivierungssyndrom (SHLH/MAS).

Das Kawasaki-Syndrom ist die häufigste Ursache von in der Kindheit erworbenen Herzerkrankungen, wobei im Gegensatz zum PIMS-TS primär Vorschulkinder betroffen sind. Klinisch-pathologisch stehen ein Exanthem/Enanthem, cervikale Lymphknotenschwellung und die Bildung von Koronaraneurysmata im Vordergrund, im Labor finden sich eine neutrophile Leukozytose und Thrombozytose (1).

Patienten mit PIMS-TS benötigen in den meisten Fällen eine intensivmedizinische Behandlung zur Kreislaufstabilisierung und (seltener) zur Beatmung. Medikamentös wurden bisher, je nach Schweregrad, Kortikosteroide, Immunglobuline und Biologika (v.a. Interleukin-1- und -6-Antagonisten; TNF-alpha-Antikörper) eingesetzt. In der kürzlich publizierten Studie der Swissped RECOVERY Trial Group zeigte sich kein signifikanter Unterschied der Hospitalisationsdauer zwischen der Behandlung mit Methylprednisolon allein im Vergleich zur intravenösen Immunglobulingabe (8). Trotz hoher Morbidität ist die Mortalität bei adäquater Behandlung gering, und es resultieren – soweit bisher bekannt – in der Regel keine langfristigen Folgeschäden (3). Analog dem PIMS-TS/MIS-C wurde bei Erwachsenen das MIS-A (A = adults) beschrieben, welches insgesamt mit schlechteren Verläufen assoziiert ist (1–3).

Diagnose, Therapie und Verlauf

Die Patientin wurde zur Antipyrese und Analgesie (Ibuprofen), Volumensubstitution (Ringeracetat) und Überwachung stationär aufgenommen. In der Nacht war sie teilweise desorientiert, febril (max. 39.9° C) und leicht hypoton (minimal 80/48 mmHg), reagierte jedoch gut auf die etablierte Therapie.

Aufgrund der Gesamtkonstellation wurde rasch die Verdachtsdiagnose eines PIMS-TS mit kardialer, gastrointestinaler, zentralnervöser und hämatologischer Beteiligung gestellt. Zur Diagnosestellung wurden die Kriterien der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin verwendet (4). Im Folgelabor am nächsten Morgen erhärteten die erhöhten Werte von hs Troponin I und NT-proBNP, die charakteristische zunehmende Thrombo- und Lymphopenie und auch eine Hypochloridämie und Hypokalzämie die Verdachtsdiagnose (Tabelle 1). Eine transthorakale Echokardiographie zeigte einen kleinen Perikarderguss (Abbildung 1) und eine leichtgradig verminderte systolische linksventrikuläre Funktion (LVEF 52 %; Globaler Longitudinaler Strain –16 %).

Es erfolgte die notfallmässige Verlegung ins pädiatrische Zentrumsspital zur weiteren Diagnostik und Therapie. Dort wurde die Elfjährige auf die pädiatrische Intensivstation aufgenommen. Weitere Abklärungen zeigten zusätzlich einen Pleuraerguss, Aszites sowie eine Gerinnungsstörung (erhöhter Spontan-INR, erhöhte D-Dimere und Fibrinogen, verlängerte aPTT). Eine Liquorpunktion ergab eine geringe gemischte Pleozytose (56 Leukozyten/ul; davon mononukleär 32/ul und 24/ul polynukleär); Glukose, Laktat und Protein waren im Normbereich.

Die Diagnose eines PIMS-TS wurde bestätigt. Die Patientin wurde katecholamin- (Noradrenalin und Adrenalin) sowie sauerstoffbedürftig (Maske mit Reservoir) und verweilte drei Wochen im Akutspital, davon zwei auf der Intensivstation. Die medikamentöse PIMS-TS-Therapie bestand in der Gabe von Kortikosteroiden, Immunglobulinen und Interleukin-1-Rezeptorantagonisten (Anakinra). Bei fraglichem Meningismus und angesichts der Schocksymptomatik erfolgte eine initiale empirische antibiotische Therapie mit Ceftriaxon, und Aciclovir (kein Erregernachweis), im weiteren Verlauf bei Verdacht auf eitrige Peritonitis Behandlung mit Meropenem und Metronidazol (kein Erregernachweis). Da die Patientin bei Spitalaustritt noch sehr geschwächt war, folgte ein Rehabilitationsaufenthalt. Inzwischen hat sich die Patientin komplett erholt. Eine Diagnose in Bezug auf den tiefen BMI wurde im Verlauf der Hospitalisation und Rehabilitation nicht gestellt.

Diskussion

Schwere COVID-19-Verläufe bei Kindern sind selten. Auch das PIMS-TS als Folgeerkrankung ist selten (7 Fälle auf 100 000 Personen <19 Jahre; (11)) und dadurch wenig bekannt. Deshalb ist, vor allem ausserhalb pädiatrischer Zentrumsspitäler, die Früherkennung des Syndroms schwierig, aber für die Prognose wichtig (12).

Bekannte Risikofaktoren für einen schweren Verlauf mit IPS-Bedürftigkeit sind Alter (5–12 Jahre), Ethnie («non-Hispanic black»), männliches Geschlecht, Adipositas, Abdominalschmerzen, Dyspnoe, verminderte LVEF, Myokarditis und erhöhte Werte für CRP, Troponin, NT-proBNP, Ferritin, D-Dimere, Thrombo- und Lymphopenie (10, 11). Unsere Patientin wies in den ersten 12 Stunden der Hospitalisation alle diese Risikofaktoren auf mit Ausnahme des Geschlechts, einer Adipositas und der sich erst später entwickelnden Dyspnoe. Ein zusätzliches Risiko der Patientin könnte der tiefe BMI gewesen sein. Hierzu gibt es jedoch keine Literatur. Die reduzierte Nahrungs- und Trinkmenge in den 2 Tagen vor der Hos­pitalisation akzentuierten sicherlich diesen Wert. Eine vorbestehende Essstörung war nicht bekannt, und das übliche stabile ­Gewicht vor Krankheitsbeginn wie auch nach vollständiger Genesung lag ca. 2 kg höher und somit im Bereich der 3. Perzentile für ­Industrieländer, wobei verlässliche Daten für Kinder mit dem ethnischen Hintergrund der Patientin fehlen.

Hauptziel dieser Kasuistik ist, bei im Winter weiterhin hoher endemischer Inzidenz von COVID-19 (https://idd.bag.admin.ch/diseases/COVID/overview) die «klinische Awareness» für das PIMS-TS zu erhöhen, damit, wie in unserem Fall, mittels erweiterter Diagnostik eine zeitnahe Diagnosestellung und dadurch rasch adäquate Therapiemassnahmen eingeleitet werden können.

Daten von Luxemburg zeigen, dass die meisten PIMS-TS-Fälle während der Omikron-Welle auftraten, die relative Inzidenz pro SARS-CoV-2-Infektion war jedoch am höchsten während der Delta-Welle (9).

Eine Fall-Kontroll-Studie zeigte, dass 92 % von 304 Patienten mit PIMS-TS nicht SARS-CoV-2 geimpft waren (5). Von den Nichtgeimpften benötigten 44 % intensivmedizinische Unterstützung, von den Geimpften keiner. Ob dies bereits genügend Grund ist, eine Impfung auch für diese Altersgruppe zu empfehlen, bleibt angesichts der Seltenheit der Erkrankung offen. Hierzu braucht es mehr valable Daten.

Am wichtigsten für die Praxis ist die «klinische Aware-ness», aufgrund der Assoziation von klinischer Symptomatik, Laborbefunden und der Anamnese einer kürzlich durchgemachten COVID-19-Erkrankung an dieses Syndrom zu denken. Da in der aktuellen epidemiologischen Situation bei Symptomen eines viralen Infekts in der betroffenen Altersgruppe oft keine spezifische Diagnostik, im Speziellen kein SARS-CoV-2 Test mehr durchgeführt wird, sollte bei entsprechender klinischer Präsentation anamnestisch immer nach einem wenige Wochen vorausgehenden Infekt gefragt und differenzialdiagnostisch ein PMS-TS in Betracht gezogen werden.

Abkürzungen:
BMI
Body Mass Index
COVID-19
Corona Virus Disease 2019
LVEF
Left Ventricular Ejection Fraction (linksventrikuläre Auswurffraktion)
MIS-C
Multisystem Inflammatory Syndrome in Children
PIMS-TS
Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome Temporally Associated with SARS-CoV-2
SARS-CoV-2
Severe Acute Respiratory Syndrome Corona Virus type 2

Dr. med. Gian Flury

Medizinische Klinik, Ospidal CSEB
Via da l’Ospidal 280
7550 Scuol

gian.flury@cseb.ch

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

Historie:
Manuskript eingereicht: 19.02.2024
Nach Revision angenommen: 25.04.2024

• PIMS-TS ist ein seltenes, zwei bis sechs Wochen nach meist leichter COVID-19-Erkrankung auftretendes hyperinflammatorisches Immunreaktionssyndrom bei Kindern und Jugendlichen, welches, verzögert diagnostiziert, oft mit hoher Morbidität und Intensivbehandlungsbedürftigkeit einhergeht.
• Leitsymptome sind hohes Fieber, gastrointestinale Beschwerden (Bauchschmerzen, Erbrechen, Diarrhoe), kardiovaskuläre Dysfunktion (Hypotonie, Schock) und neurologische Auffälligkeiten (Kopfschmerzen, Encephalopathie). Diagnostisch wegleitend können erhöhtes Troponin und NT-proBNP sowie echokardiographische Befunde (verminderte linksventrikuläre Auswurffraktion, Perikard- und Pleuraergüsse) sein.
• Differenzialdiagnostisch ist an andere Systemische Inflammatorische Syndrome, wie das Kawasaki-Syndrom, das toxische Schocksyndrom (TSS) und das Haemophagozytose Lymphohistiocytose Makrophagen Aktivierungssyndrom (SHLH/MAS), zu denken.
• Dank intensivmedizinischer Behandlung mit Kreislaufsupport und Gabe von Methylprednisolon sind Mortalität und Langzeitfolgen gering.

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3. Feldstein LR, Tenforde MW, Friedman KG, et al. Overcoming COVID-19 Investigators. Characteristics and Outcomes of US Children and Adolescents With Multisystem Inflammatory Syndrome in Children (MIS-C) Compared With Severe Acute COVID-19. JAMA 2021; 325:1-14 . doi: 10.1001/jama.2021.2091. PMID: 33625505; PMCID: PMC7905703.
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6. WHO Team – WHO International; Publications / Scientific Brief Multisystem inflammatory syndrome in children and adolescents with COVID; WHO/2019- nCoV/Sci_Brief/Multisystem_Syndrome_Children/2020.1 (2020 May 15); (cited 2022 December 06) Available from: Multisystem inflammatory syndrome in children and adolescents with COVID-19 (who.int)
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Dysfunktionale Atmung

Dysfunktionale Atmung beschreibt eine Gruppe von chronischen Störungen des Atemmusters, die sowohl primär als auch in Zusammenhang mit kardiopulmonalen Erkrankungen vorkommen. Das Leitsymptom sind unspezifische Atembeschwerden. Daneben treten auch nicht-respiratorische Beschwerden wie thorakale Schmerzen, Schwindel oder Kribbelparästhesien auf. Die bekannteste Vertreterin der dysfunktionalen Atmung ist die chronische Hyperventilation, jedoch werden diverse weitere dysfunktionale Atemmuster beschrieben. Einen Goldstandard für die Diagnostik gibt es nicht. Häufig werden Fragebogen und funktionelle Untersuchungen zur Objektivierung der Atemstörung eingesetzt. Einen hohen Stellenwert hat dabei die Spiroergometrie. Die Behandlung besteht aus einer individuellen Atemphysiotherapie in Kombination mit einer guten Patientenedukation.

Dysfunctional breathing describes a group of chronic breathing disorders that occur either primarily and secondary to cardiopulmonary diseases. Key symptom is a non-specific breathlessness. Furthermore, non-respiratory symptoms such as thoracic pain, dizziness or tingling may occur. The most common form of dysfunctional breathing is known as chronic hyperventilation, but various other dysfunctional breathing patterns have been described. There is no gold standard for diagnosis. Questionnaires and functional examinations are frequently used to detect the breathing disorder. Thereby, cardiopulmonary exercise testing (CPET) plays an important role. The treatment consists of an individual respiratory physiotherapy in combination with a good patient education.
Dysfunktionale Atmung, chronische Hyperventilation, Nijmegen Questionnaire, Spiroergometrie

Einleitung und Definition

Der Überbegriff dysfunktionale Atmung beschreibt eine Gruppe von Atmungsstörungen, die zu chronischen Veränderungen des Atemmusters führen (1–5). Ein dysfunktionales Atemmuster kann auftreten, ohne dass eine organische Erkrankung zugrunde liegt. Eine solche primäre Störung liegt in etwa 10–20 % der Fälle vor (3, 6, 7). Häufiger tritt die dysfunktionale Atmung jedoch in Zusammenhang mit kardialen, pulmonalen oder neurologischen Erkrankungen auf (3, 6, 8, 9). Patient/-innen mit Asthma bronchiale sind besonders oft betroffen (bis zu 30 %). Auch bei der COPD tritt die Erkrankung gehäuft auf (1, 3, 8). Zuletzt ergaben sich zudem Hinweise, dass die dysfunktionale Atmung eine der Ursachen für die noch ungenügend verstandenen persistierenden Atembeschwerden nach COVID-19 Erkrankungen («long-COVID-19») sein könnte (10, 11) und auch beim post-Lungenembolie Syndrom wird eine dysfunktionale Atmung beschrieben (12).

Die bisher bekannteste Form der dysfunktionalen Atmung ist die chronische Hyperventilation. Oft wird die chronische Hyperventilation auch als Synonym für die dysfunktionale Atmung verwendet. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um eine von vielen Formen der Atmungsstörung (1). Eine einheitliche Definition und Klassifikation der dysfunktionalen Atmung gibt es bisher nicht. Die meisten bisherigen Klassifikations-Vorschläge basieren auf einer Beschreibung des Atemmusters. So definiert beispielsweise Boulding et al. fünf Formen der dysfunktionalen Atmung: Hyperventilation, periodisches tiefes Luftholen, thorakal-dominante Atmung, forcierte abdominale Exspiration und thorako-abdominale Asynchronie (1). Eine alternative Einteilung berücksichtigt zudem extrathorakale Erkrankungen. Die zwei Gruppen der thorakalen und extrathorakalen Erkrankungen werden zudem jeweils in funktionelle und strukturelle Ursachen eingeteilt (2, 3). Ein bekanntes Beispiel für eine Erkrankung aus der Gruppe der extrathorakalen, funktionellen Störungen ist die ILO (induzierbare laryngeale Obstruktion, früher vocal cord dysfunction) (3, 4) (Tab. 1).

Das Leitsymptom der dysfunktionalen Atmung sind unspezifische Atembeschwerden. Die Beschwerden können sowohl in Ruhe als auch unter Belastung auftreten. Oft wird ein «Lufthunger» beschrieben. Damit gemeint ist das Gefühl, trotz tiefer Einatmung nicht genügend Luft zu bekommen. Daneben erleben die Betroffenen auch verschiedene nicht-respiratorische Symptome, wie thorakale Schmerzen, Tachykardien, Schwindel, Kribbelparästhesien oder Fatigue. Die Beschwerden sind teilweise der respiratorischen Alkalose, die durch die chronische Hyperventilation entsteht, zuzuschreiben (1, 2, 4, 7).

Diagnosestellung

Die Diagnose der dysfunktionalen Atmung ist eine Ausschlussdiagnose. Eine sorgfältige Diagnostik ist deshalb sehr wichtig. Bei sekundären Formen der dysfunktionalen Atmung kann die Diagnose erst gestellt werden nach bestmöglicher Kontrolle der zugrundeliegenden Erkrankung. Es gibt bis heute keine validierte Untersuchungsmethode und keinen Gold-Standard für die Diagnosestellung der dysfunktionalen Atmung. Es wird deshalb eine multimodale Herangehensweise empfohlen, bestehend aus einer fundierten ­Anamnese, die ergänzt wird durch Fragebogen, der klinischen Untersuchung und funktionellen Tests (1, 2, 4, 13).

Es gibt verschiedene Fragebogen, die in der Diagnostik der dysfunktionalen Atmung eingesetzt werden. Der hierfür am häufigsten verwendete Fragebogen ist der Nijmegen Questionnaire (Tab. 2). Der Nijmegen-Fragebogen wurde ursprünglich als Screening-Tool für das Hyperventilationssyndrom bei Asthma bronchiale entwickelt und erfragt eine Liste von Symptomen und deren Häufigkeit, die bei der dysfunktionalen Atmung gehäuft auftreten (1, 14, 15).

Die funktionellen Untersuchungen haben zum Ziel, das dysfunktionale Atemmuster nachzuweisen. Die Lungenfunktionstestung fällt meist normal aus, sie ist aber wichtig für den Ausschluss anderer Dyspnoe-Ursachen und gehört deshalb dennoch zur Diagnostik dazu (3).
Ein einfacher diagnostischer Test, der auch in der Hausarztpraxis durchgeführt werden kann, ist der Hyperventilations-Provokationstest. Hier wird die/der Patient/-in angeleitet, für einen bestimmten Zeitraum (typischerweise 1–3 Minuten) so schnell und so tief wie möglich zu atmen. Treten dabei die gleichen Beschwerden auf, die der Patient im Alltag erlebt, ist das Vorliegen eines Hyperventilations-Syndroms sehr wahrscheinlich (3, 15). Ebenfalls einfach messbar ist die sogenannte «breath-holding time», die Zeitdauer, während der/die Patient/-in nach einer normalen Ausatmung die Atmung anhalten kann. Diese ist bei Patient/-innen mit dysfunktionaler Atmung typischerweise deutlich verkürzt (< 20 Sekunden vs. 45–90 Sekunden bei Kontrollpersonen) (1, 16).

Eine weitere Untersuchungsmethode ist das direkte Beobachten und die Palpitation der Thorax- und Abdomenbewegung (Manual Assessment of Respiratory Motion (MARM))(1, 3, 15, 17–19).

Einen hohen Stellenwert in der Diagnostik der dysfunktionalen Atmung hat zudem die Spiroergometrie. Bei der meist auf einem Fahrradergometer durchgeführten Untersuchung erfolgt im Anschluss an eine Ruhemessung eine Belastungstestung gemäss einem Rampenprotokoll mit kontinuierlich ansteigender Belastung. Idealerweise wird dabei die maximale Ausbelastung nach einer Belastungszeit von 8 bis 12 Minuten erreicht. Neben der Leistungsfähigkeit werden Parameter zum Sauerstoffverbrauch, der Herzleistung und dem Gasaustausch, sowie die Atemeffizienz und das Atemmuster erfasst (9, 13, 17). Die Spiroergometrie spielt dadurch eine wichtige Rolle in der primären Differenzierung der Atembeschwerden und ermöglicht gleichzeitig die direkte Objektivierung des dysfunktionalen Atemmusters. Im Vergleich zu anderen Untersuchungsmethoden hat die Spiroergometrie den Vorteil, dass die Atmung sowohl im Ruhezustand als auch unter Belastung beurteilt werden kann. Nicht alle Formen der dysfunktionalen Atmung können bereits im Ruhezustand nachgewiesen werden. Umgekehrt ist auch eine Normalisierung des Atemmusters unter Belastung möglich. Patient/-innen mit dysfunktionaler Atmung haben häufig bereits in Ruhe eine erhöhte Atemfrequenz mit dem typischen Bild eines irregulären und chaotischen Verlaufs der Atemfrequenz und des Atemzugvolumens unter Belastung (Abb. 1). Dies führt zu einer eingeschränkten Atemeffizienz mit oft schon im Ruhezustand erhöhten Atemäquivalenten für CO2. Je nach Form der dysfunktionalen Atmung können ausserdem eine Ruhe-Hypokapnie und ein tiefer endexspiratorischer CO2-Wert als Ausdruck der Hyperventilation nachgewiesen werden. (Tab. 3) Trotz des subjektiven Empfindens der respiratorischen Erschöpfung wird die Atemreserve bei Untersuchungsende typischerweise nicht ausgeschöpft (9, 13, 17, 20).

Behandlung

Ein wichtiger Bestandteil der Behandlung der dysfunktionalen Atmung ist die Aufklärung der Patienten/-innen über das Krankheitsbild. Das Wissen, dass keine lebensbedrohlichen Erkrankungen des Herzkreislaufsystems vorliegen, führt bei vielen Patienten/-innen bereits zu einer Verbesserung der Symptome (4, 15, 16). Die Therapie der Wahl ist dann eine individualisierte Atemphysiotherapie. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass dadurch eine langfristige Reduktion der Beschwerden und eine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden kann (4, 21, 22). Eine der etablierten Therapiemethoden ist die Atemphysiotherapie nach Buteyko, wobei eine Kombination aus konsequenter Nasen- und Bauchatmung und einer bewussten Entspannung und Verlangsamung der Atmung erlernt wird (1, 23, 24).

Patienten mit dysfunktionaler Atmung tendieren dazu, körperliche Aktivität zu vermeiden. Es ist deshalb zudem ein individuelles und kontrolliertes Training zu empfehlen, um der zunehmenden Dekonditionierung entgegenzuwirken (4).

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Pascale Huber

Universitätsspital Zürich
Klinik für Pneumologie
Rämistrasse 100
8091 Zürich

PD Dr. med. Mona Lichtblau

Universitätsspital Zürich
Klinik für Pneumologie
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Chronische Störungen des Atemmusters sind eine häufige Ursache von unspezifischen Atembeschwerden.
  • Wenn der Schweregrad einer Erkrankung das Ausmass der
    geschilderten Atembeschwerden nicht erklärt, sollte an eine
    dysfunktionale Atmung gedacht werden.
  • Die Spiroergometrie ist zentral in der Diagnostik der dysfunktionalen Atmung, da hiermit sowohl Differentialdiagnosen ausgeschlossen als auch das dysfunktionale Atemmuster direkt objektiviert werden kann.
  • Therapie der Wahl ist eine individuelle Atemphysiotherapie.

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