Journal Watch von unseren Experten

COPD und Asthma

Frühe Diagnose und adäquate Behandlung samt Patientenschulung hat positive Effekte für Patienten und auf die Gesundheitskosten

Hintergrund: Es gibt klare Hinweise, dass bei vielen Menschen – die Zahl ist von Land zu Land unterschiedlich – die Diagnose eines Asthma bronchiale oder einer chronisch obstruktiven Bronchitis (COPD) nicht oder erst sehr spät gestellt wird. Die Frage ist, ob eine frühe Diagnose für die Patienten einen Vorteil bringt.

Die Identifikation von Patienten mit einem undiagnostiziertem Asthma oder einer nicht diagnostizieren COPD ermöglicht eventuell präventive Massnahmen (Umwelt, Lebensstil), eine Behandlung, um Symptome zu lindern, oder die Wahrscheinlichkeit zukünftige Exazerbationen und Hospitalisationen zu verringern.

Das Ziel dieser Studie war, Menschen mit Atemwegssymptomen mit nicht diagnostiziertem Asthma oder COPD zu identifizieren. Ein weiteres Ziel war zu untersuchen, ob eine frühe Diagnose eines Asthma oder einer COPD und eine entsprechende Therapie die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen für Lungenerkrankungen verringert und die Gesundheit verbessert.

Einschlusskriterien: • Eine Liste mit Telefonnummern in einem definierten Umkreis eines Studienzentrums wurde erstellt; nach dem Zufallsprinzip wurden Nummern angerufen und es wurde gefragt, ob eine Person im Haushalt lebt, die älter als 18 Jahre ist und respiratorische Symptome hat (Dyspnoe, pfeifende Atmung, vermehrte Sputumproduktion, Husten). Alle Personen, die diese Kriterien erfüllten, wurden von der Studienkoordination kontaktiert und alle, die einverstanden waren, füllten einen «Asthmafragebogen» und teilweise auch den COPD-Fragebogen aus. • Patienten mit einem Score von 6 oder mehr im Asthma-Fragebogen oder mit einem Score von 20 oder mehr im COPD-Fragebogen wurden für eine Spirometrie in eines der Studienzentren eingeladen. • Aufgrund der anerkannten Kriterien wurden die Ergebnisse der Spirometrie als Asthma, COPD oder normal klassifiziert.

Ausschlusskriterien: • Patienten mit bekannten Lungenerkrankungen, andere schwere Krankheiten.
Studiendesign und Methode: «Case-finding» Studie (um Patienten zu identifizieren) und randomisierte Studie
Studienort: 17 Orte in Kanada
Interventionen: • Gruppe 1: Behandlung durch einen Pneumologen und «Asthma und COPD educator», behandelt entsprechend den Guidelines (z.B. Medikamente, Aktionsplan, Inhalationsinstruktion) • Gruppe 2: Behandlung bei Grundversorgern, «usual care». • Teilnehmer beider Gruppen erhielten eine Rauchstoppberatung.

Outcome: Primärer Outcome • Inanspruchnahme medizinischer Leistungen wegen Lungenkrankheiten im Jahr nach der Randomisierung.
Sekundäre Outcomes • Krankheitsspezifische Lebensqualität (erfasst mit St. George Fragebogen). • Rauchstopp nach einem Jahr (bestätigt mit Cotinintest)

Resultat: • Über eine Million Personen erhielten einen Telefonanruf, fast 50’000 Personen über 18 Jahre hatten respiratorische Symptome, bei 2857 Patienten wurde eine Spirometrie durchgeführt, bei 595 Patienten wurde ein Asthma oder eine COPD diagnostiziert und 508 Patienten konnten randomisiert werden. • Das mittlere Alter betrug etwa 63 Jahre, etwa 60 % waren männlich; jeweils die Hälfte der Patienten hatten ein Asthma oder eine COPD. Etwa die Hälfte waren Ex-Raucher, ein Viertel waren immer noch Raucher.
• Während der Studienperiode von einem Jahr wurde bei 92 % in der Interventionsgruppe und bei 60 % in der «usual care» Gruppe eine krankheitsspezifische Therapie begonnen. • Die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen war in der Interventionsgruppe deutlich geringer als in der Vergleichsgruppe (0.53 versus 1.12 Ereignisse – Inanspruchnahmen – pro Jahr). • Die Hospitalisationsrate war insgesamt gering, aber in der Interventionsgruppe lag sie um ein Drittel tiefer als in der «usual care»-Gruppe. Die Häufigkeit von Konsultationen einer Notfallstation oder beim Grundversorger waren in der Interventionsgruppe tiefer als in der Vergleichsgruppe. • Auch die Lebensqualität und der Anstieg von FEV1 waren in der Interventionsgruppe, verglichen mit «usual care», höher. • 14 % der Raucher in der Interventionsgruppe und 9 % in der «usual care» Gruppe gaben das Rauchen auf.

Kommentar: • Diese Studie liefert klare Hinweise, dass Menschen mit Atemwegsproblemen (die auf ein Asthma oder eine COPD hinweisen) von einer frühen Diagnose – Asthma oder COPD – und einer fachärztlich geleiteten Therapie mit einer professionellen «Schulung», verglichen zu «usual care», deutlich profitieren. • Die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen (Arztbesuche, Notfallkonsultationen und Hospitalisationen) ist in der Interventionsgruppe deutlich tiefer als in der «usual care»-Gruppe. • Eine frühe Diagnosestellung und adäquate Therapie von Asthma und COPD wäre ein guter Parameter für die Qualitätssicherung in der Medizin.

Prof. em. Dr. med. Johann Steurer

Literatur: Aaron S.D. et al. Early Diagnosis and Treatment of COPD and Asthma – A Randomized, Controlled Trial. N Engl J Med. 2024; 390: 2061-2073.

Blutuntersuchung zur Frühdiagose des Morbus Parkinson

Die Parkinson-Krankheit ist die weltweit am schnellsten zunehmende neurodegenerative Erkrankung mit weltweit etwa 10 Millionen Patienten. Pathophysiologisch wird eine vermehrte Ablagerung von Alpha-Synuclein in Hirnzellen postuliert, welche in histologischen Präparaten als Lewy-Körperchen sichtbar werden. Die Erkrankung beginnt in den dopaminergen Zellen und breitet sich langsam über das Gehirn aus. Die Diagnose der Erkrankung kann heute in einer Liquorprobe durch einen «seed amplification assay» bestätigt werden, der die pathologische Aggregation von Alpha-Synuclein im Labor imitiert.

Die Autoren validierten einen gezielten Multiplex-Massenspektrometrie-Assay für Blutproben von kürzlich diagnostizierten motorischen Parkinson-Patienten (n = 99), prämotorischen Personen mit isolierter REM-Schlafverhaltensstörung (zwei Kohorten: n = 18 und n = 54 longitudinal) und gesunden Kontrollpersonen (n = 36). Bekanntlich schreitet der Morbus Parkinson vom prämotorischen Stadium (gekennzeichnet durch nicht-motorische Symptome wie REM-Schlafstörung) zum behindernden motorischen Stadium fort. Die Expression von acht Proteinen – Granulin-Vorläufer, Mannan-Bindungslektin-Serin-Peptidase-2, Endoplasmatisches Retikulum-Chaperon-BiP, Prostaglandin-H2-D-Isomerase, Intercellular-Adhäsionsmolekül-1, Complement C3, Dickkopf-WNT-Signalweg-Inhibitor-3 und Plasma-Protease-C1-Inhibitor – führte mit einem maschinellen Lernmodell dazu, dass alle Parkinson-Patienten genau identifiziert werden konnten. Zudem klassifizierte das Modell 79 % der prämotorischen Personen bis zu 7 Jahre vor dem motorischen Beginn. Diese acht Biomarker korrelieren auch mit der Schwere der Symptome.

Fazit: Diese acht spezifischen Serum-Proteine weisen auf molekulare Ereignisse in frühen Stadien des Morbus Parkinson hin und könnten helfen, eine Frühdiagnose des Morbus Parkinson zu stellen und klinische Studien zur Verlangsamung/Vorbeugung der motorischen Parkinson-Krankheit im Frühstadium durchzuführen.

KD Dr. med. Marcel Weber

Literatur: Hällqvist J et al. Plasma proteomics identify biomarkers predicting Parkinson’s disease up to 7 years before symptom onset. Nat Commun 2024;15(1):4759-76.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38890280/

Gesunde Ernährung verlangsamt das Tempo des ­biologischen Alterns und schützt vor Demenz

Von n=1644 eingeschlossenen Teilnehmern (Alter 69.6, 54 % weiblich) der Framingham Cohorte entwickelten n=140 eine ­Demenz und n=471 starben über 14 Jahre Nachbeobachtung. Gesunde Ernährung hiess in dieser Studie langfristige Einhaltung der Mediterranean-DASH-Intervention für neurodegenerative Verzögerungsdiät (MIND, 15 Nahrungsmittelgruppen, über 4 Konsultationen von 1991–2008). Das Alterungstempo wurde anhand von Blut-DNA-Methylierungsdaten gemessen, die 2005–2008 mit der epigenetischen Uhr DunedinPACE gesammelt wurden. Demenz und Mortalität wurden anhand von Studien­aufzeichnungen in den Konsultationen 2005–2008 bis 2018 erfasst.

Ein höherer MIND-Score war mit einem langsameren DunedinPACE und einem geringeren Risiko für Demenz und Mortalität ­verbunden. Langsameres DunedinPACE korrelierte mit einem geringeren Risiko für Demenz und Mortalität. In der Mediationsanalyse machte das langsamere DunedinPACE 27 % der Diät-Demenz-Assoziation und 57 % der Diät-Mortalitäts-Assoziation aus.

Fazit: Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein langsameres Alterungstempo einen Teil des Zusammenhangs zwischen gesunder Ernährung und einem verringerten Demenzrisiko erklärt. Die Beachtung des Alterungstempos kann die Demenz­prävention beeinflussen. Dennoch bleibt ein grosser Teil der Assoziation zwischen Ernährung und Demenz ungeklärt. Es ist denkbar, dass es direkte Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gehirnalterung gibt, welche nicht mit anderen Vorgängen erklärbar sind.

KD Dr. med. Marcel Weber

Literatur: Thomas A. et al. Diet, Pace of Biological Aging, and Risk of Dementia in the Framingham Heart Study. Ann Neurol 2024;95:1069
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38407506/

Kombinationstherapie von GLP1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Hemmern

Bei einem 67-jährigen Patienten ist seit 5 Jahren ein Typ 2 Diabetes mellitus bekannt. Zusätzlich hat der Patient in seiner persönlichen Anamnese eine koronare Dreigefässerkrankung mit mittelschwer eingeschränkter Ejektionsfraktion und einen Zustand nach Seminom vor 30 Jahren. Der Diabetes wird mit Basalinsulin (Levemir, 20 E täglich) und NovoRapid zu den Mahlzeiten behandelt (insgesamt ca. 7 E täglich). Aufgrund von gastrointestinalen Nebenwirkungen setzte der Patient Metformin ab. Wegen einer Herzinsuffizienz besteht zudem eine Therapie mit einem SGLT2-Hemmer (Forxiga).
Der Blutzucker ist gut eingestellt, das HbA1c beträgt 6.5%. Aufgrund der koronaren Dreigefässerkrankung wurde eine Therapie mit einem GLP1-Rezeptoragonisten (Ozempic, Semaglutid) angedacht.

Wichtiges aus der persönlichen Anamnese

Als Folgekomplikation seines Diabetes leidet der Patient unter einer koronaren Herzkrankheit, und es liegt zudem eine Herzinsuffizienz vor. Zu seinen kardiovaskulären Risikofaktoren zählen eine arterielle Hypertonie, eine Dyslipidämie, das Übergewicht sowie eine positive Familienanamnese.

Verlauf

Nach der Einführung von Ozempic konnte der Patient 3 kg Gewicht verlieren. Zudem war die Gabe von NovoRapid zu den Mahlzeiten nicht mehr erforderlich. Auch die Dosis von Levemir konnte schrittweise reduziert werden: ohne Ozempic spritzte der Patient noch 20E Levemir, mit Ozempic 0.25mg/Woche 12E Levemir, mit Ozempic 0.5mg/Woche 8E Levemir und mit 1,0 mg Ozempic/Woche konnte Levemir gänzlich gestoppt werden. Das HbA1c blieb stabil um 6.5%.

Schlussfolgerungen

Unter Ozempic kam es zwar nicht zu einem starken Gewichtsverlust, aber zu einer sehr guten Blutzucker-Kontrolle, was ein Absetzen der Insulintherapie ermöglichte. Die Kombinationstherapie GLP1-Rezeptoragonisten/ SGLT2-Hemmer ist aufgrund der koronaren Herzkrankheit, des kardiovaskulären Risikoprofils sowie der Herzinsuffizienz besonders vorteilhaft für den Patienten. Zu erwähnen ist, dass der SGLT2-Hemmer speziell unter der Indikation «Herzinsuffizienz» verschrieben wurde, wodurch eine zusätzliche Kostengutsprache für Ozempic nicht erforderlich war.

Frage

► Wie ist bei einer Kombinationstherapie von GLP1-Rezeptoragonisten/SGLT2-Hemmern vorzugehen,
da diese nicht automatisch von den Krankenkassen vergütet wird?
► Wie ist vorzugehen, wenn Ozempic aufgrund eines aktuellen Lieferengpasses in Apotheken nicht verfügbar ist?
► Welche besonderen Aspekte müssen bei der Verwendung von Rybelsus (orales Semaglutid) berücksichtigt werden?

Vorgeschlagene Massnahmen und Therapie

► Der SGLT2-Hemmer kann nebst der Indikation «Diabetes» auch aufgrund von Herzinsuffizienz oder Niereninsuffizienz verschrieben werden.
► Als Alternative kann Semaglutid in oraler Form (Rybelsus) verschrieben werden, bei dem kein Lieferengpass besteht. Für Patienten, die bereits eine Dosierung von 1 mg Ozempic verwenden, könnte direkt die Höchstdosis von Rybelsus, 14 mg einmal täglich, verordnet werden. Dies entspricht ungefähr der wöchentlichen Dosierung von 0,5 mg Ozempic.
► Aufgrund der schlechten Bioverfügbarkeit muss Rybelsus nüchtern eingenommen werden, und zwar 30 Minuten vor der ersten Mahlzeit und anderen oralen Medikamenten.
► Weiteres: Die Statin-Therapie sollte mit Ezetimib ergänzt werden bei einem Ziel-LDL von <1.4mmol/l.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Claudia Cavelti-Weder

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Management von Panikattacken in der Praxis

Neben Insomnie und Depressionen zählen Angststörungen zu den häufigsten psychischen Krankheiten der Bevölkerung und kommen auch in der allgemeinmedizinischen Praxis häufig vor. Auch wenn sich die Diagnose einer Panikattacke aus der typischen Klinik ergibt, ist es wichtig, andere somatische Erkrankungen auszuschliessen. Im folgenden Artikel werden die gängigsten Therapieempfehlungen vorgestellt und Wege aufgezeigt, mit denen der Ausstieg aus dem «Teufelskreis der Angst» möglich ist.

Alongside insomnia and depression, anxiety disorders are among the most common mental illnesses in the population and are also frequently encountered in general medical practice. Even if the diagnosis of a panic attack is based on the typical clinical picture, it is important to rule out other somatic illnesses. The following article presents the most common treatment recommendations and shows ways of breaking out of the “vicious circle of anxiety”.
Key Words: anxiety disorders, panic attack, psychophysiological model, cognitive-behavioral therapy, self-soothing techniques.

Einleitung

Angststörungen zählen neben Insomnie und Depressionen zu den häufigsten psychischen Krankheiten der Bevölkerung und kommen auch in der allgemeinmedizinischen Praxis häufig vor. Die Lebenszeitprävalenz von Angststörungen liegt bei 15 – 20%, während die Lebenszeitprävalenz für die Panikstörung im Speziellen bei 1.5 – 3% liegt (1, 4). Angststörungen präsentieren sich oft durch physische Symptome. Am eindrücklichsten ist die Panikattacke. Dabei kommt es oft völlig unvorhersehbar zu einem plötzlichen Anfall von Angst mit vegetativen Symptomen wie z.B. Herzklopfen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühlen, Schwindel und Entfremdungssymptomen (Derealisation oder Depersonalisation). Die Panikattacke nimmt einen Crescendo-förmigen Verlauf, wobei der Patient zunehmend Angst bekommt, zu sterben oder die Kontrolle zu verlieren (z.B. wahnsinnig zu werden oder in Ohnmacht zu fallen). Eine Panikattacke dauert oft nicht länger als 10-20 Minuten und ist grundsätzlich selbstlimitierend. Sekundär entsteht aber eine Furcht vor einer erneuten Panikattacke: Die «Angst vor der Angst». Wenn situationsungebundene Panikattacken wiederkehrend auftreten mit angstfreien Intervallen, dann spricht man von einer Panikstörung, wie sie in ICD-10 F41.0 definiert ist.

Panikattacken können auch im Rahmen anderer Angststörungen auftreten, so z.B. bei Phobien, also objekt- oder situationsbezogenen Ängsten. Beispiele sind die Agoraphobie (d.h. die Furcht vor Orten oder Situationen, in denen eine Panikattacke unangenehme Folgen hätte), die Soziale Phobie (d.h. die Furcht sich zu blamieren) oder spezielle Phobien, wie die Höhenangst, Blutphobie oder Tierphobien. Im Gegensatz zu der Panikstörung kann bei Phobien der Auslöser, also das Objekt der Furcht, gemieden werden, was allerdings zu Aufrechterhaltung und Ausweitung der Phobie führt. Schliesslich seien noch die Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) genannt, bei denen Panikattacken durch traumaassoziierte Stimuli getriggert werden. In Abbildung  1 sind algorithmisch die wichtigesten Angststörungen nach ICD-10 zusammengefasst.

Obwohl sich die Diagnose einer Panikattacke aus der typischen Klinik ergibt, ist es natürlich wichtig, andere somatische Erkrankungen auszuschliessen (Tab. 1). Zu diesen Differentialdiagnosen zählen Lungenerkrankungen wie Asthma und COPD, Herz-Kreislauferkrankungen einschließlich Angina pectoris und Myokardinfarkt, neurologische Zustände wie Migräne und Multiple Sklerose, endokrine Störungen wie Hyperthyreose und Hypoglykämie, sowie weitere Krankheitsbilder wie periphere Vestibularisstörungen. Auch Medikamentennebenwirkungen müssen in Betracht gezogen werden.

Psychophysiologisches Teufelskreismodell der Panikattacke

Panikattacken beginnen typischerweise mit einer auffälligen physiologischen (z.B. Herzklopfen, Schwitzen, Schwindel) oder psychischen (z.B. Gedankenrasen. Konzentrationsprobleme) Veränderung (2), die durch diverse Auslöser wie emotionale Erregung, körperliche Erschöpfung, Koffeinzufuhr oder Umgebungseinflüsse hervorgerufen werden kann. Solche Veränderungen werden vom Betroffenen sensitiv wahrgenommen und als gefährlich bewertet. Typische Panikgedanken sind z.B. «Hilfe, ich sterbe» oder «Ich werde in Ohnmacht fallen». Diese Kognitionen lösen eine Reaktion von starker Angst aus, die wiederum zusätzliche vegetative Stresssymptome nach sich zieht, welche wiederum die angstvolle Wahrnehmung und die katastrophisierenden Gedanken verstärken. Damit entsteht ein Teufelskreis, der die Crescendo-Dynamik der Panikattacke erklärt (Abb. 2).

Es ist essentiell, zwischen internen, physiologischen Vorgängen und deren Wahrnehmung zu unterscheiden. Im Angstmodus nimmt der Patient physiologische Veränderungen hypervigilant wahr, und bewertet diese weitaus drastischer, als sie objektiv sind. Zum Beispiel könnten Palpitationen im Liegen lediglich aufgrund einer verbesserten Wahrnehmung in dieser Position bemerkt werden. Eine Tachykardie wird vom Patient häufig massiv überschätzt.

Es ist empfehlenswert im Anschluss an eine Panikattacke mit dem Patienten seine individuelle Körperwahrnehmung, die angstvollen Gedanken und die vegetativen Körperreaktionen zu erfragen und damit individuell und überzeugend ein Verständnis für den Teufelskreis der Panikattacke zu vermitteln (Abb. 2).

Behandlungsempfehlungen

Allgemeine Massnahmen

Wenn ein Patient im Rahmen einer Panikattacke ärztliche Hilfe sucht, erwartet er eine Notfallbehandlung, da er subjektiv von einer lebensbedrohlichen Situation ausgeht. Einerseits geht es dann darum, dem Patienten Sicherheit zu vermitteln und ihn zu beruhigen. Oft reicht schon das Sicherheit signalisierende Umfeld einer Arztpraxis oder einer Krankenhausumgebung aus. Bei akuter Angst wirken das kompetente, verständnisvolle Gespräch und die Aufklärung darüber, dass eine Panikattacke spontan ohne Lebensgefahr vorübergeht (2). Bei Hyperventilation hilft eine Anleitung zur Bauchatmung. Bewährt hat sich auch die Tüten-Rückatmung, also dass der hyperventilierende Patient seine eigene Ausatemluft wieder einatmet bis die Hyperventilationssymptome verschwunden sind. Durch diese einfache aber effiziente Massnahme gewinnt der Patient an Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen.

Medikamente

In der akuten Panikattacke kann auch ein kurzwirksames Benzodiazepin verabreicht werden (z.B. Lorazepam Expidet), das wegen seiner starken Lipophilie und der Möglichkeit der Sublingualgabe rasch wirkt (1, 3). Dennoch ist zu bedenken, dass die pharmakologische Wirkung bei der peroralen Medikation häufig erst nach spontanem Abklingen der Panikattacke einsetzt. Das Medikament hat als Sicherheitssignal einen starken Placebo-Effekt. Wegen des Gewöhnungs- und Abhängigkeitspotenzials sollten Benzodiazepine nur in der Akutphase oder zu Beginn bis zum Einsetzen der Wirkung einer anderen Therapie eingesetzt werden. Ihre Anwendung sollte immer in ein psychotherapeutisches Gesamtkonzept integriert sein.

Sollte über die akute Panikattacke hinaus eine länger bestehende Angststörung wie eine Panikstörung vorliegen, sollten Benzodiazepine nicht als Dauermedikation gegeben werden. Gemäss aktueller Behandlungsleitlinien werden bei Panikstörungen, Sozialer Phobie, Generalisierter Angststörung (GAS) oder PTSD Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) empfohlen (wie Escitalopram, Sertralin oder Paroxetin) (1, 3). Beim Eindosieren dieser Antidepressiva muss aber auf die Wirklatenz von mehr als einer Woche hingewiesen werden, und darauf, dass zu Beginn einer SSRI-Therapie die Angstsymptomatik verstärkt werden kann. Daher muss die Therapie mit der kleinstmöglichen Dosis begonnen werden. Evtl. auch überlappend mit dem Einsatz eines Benzodiazepins.

Kognitiv-Verhaltenstherapeutische Strategien

Grundlage der Behandlung bildet die Vermittlung eines glaubwürdigen Erklärungsmodells für die Panikattacke (2). Dies trägt zur Wirksamkeit und Akzeptanz der therapeutischen Maßnahmen, zur Generalisierung des Therapieerfolgs und zur Prophylaxe von Rückfällen bei. Eine weitere wichtige Funktion des Erklärungsmodells liegt in der Bereitstellung einer Alternative zu der Befürchtung vieler Patienten, an einer (unerkannten) schweren körperlichen oder psychischen Krankheit zu leiden. Viele Patienten reagieren auf das Erklärungsmodell mit Erleichterung, da sie endlich eine Erklärung für ihre Symptome bekommen. Bisher wurde ihnen in der Regel vermittelt, dass sie gesund seien und es keinen Grund für ihre Beschwerden gäbe. Ein plausibles Erklärungsmodell bietet der o.g. Teufelskreis der Angst (Abb. 2).

Selbstberuhigungsstrategien

Dem psychophysiologischen Teufelskreismodell zufolge kann der Panikanfall auf verschiedene Arten beendet werden: Entweder durch Veränderung der subjektiven Bewertung des wahrgenommenen Körpersymptoms (z.B. «ein mässig erhöhter Puls spricht für Aufregung oder Anstrengung und wird mich nicht umbringen»), durch bewusste Verhaltensveränderungen («statt spontan zu hyperventilieren atme ich bewusst ruhig und gleichmässig»), oder durch Ablenkung der Achtsamkeit auf neutrale Reize (2). In Tabelle 2 sind verschiedene Selbsthilfetechniken dargestellt, welche eine akute Panikattacke abkürzen können. Jeder Erfolg des Patienten, aus einer Panikattacke selbständig auszusteigen, stärkt ihn nachhaltig im Hinblick auf weitere Attacken. Es liegt allerdings auf der Hand, dass diese Techniken am besten im freien Intervall eingeübt werden müssen, um dann bei akutem Bedarf zur Verfügung zu stehen.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Thorsten Mikoteit

Psychiatrische Dienste Solothurn
Kliniken für Psychiatrie
Psychotherapie und Psychosomatik
Weissensteinstrasse 102
4503 Solothurn

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Bei einer akuten Panikattacke ist zunächst einmal der Patient zu beruhigen. Akut medizinische Differentialdiagnosen müssen ausgeschlossen werden. Wenn sich die Diagnose einer Panikattacke bestätigt, hilft es, dem Patienten die Wechselwirkungen zwischen Körperwahrnehmungen, Gedanken und Angstreaktion aufzuzeigen.
◆ Wenn der Patient verstanden hat, dass die Panikkognitionen unverhältnismässig sind, können als Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Teufelskreis der Angst selbstberuhigende Atemübungen oder Achtsamkeitsübungen helfen.
◆ Ein schnellwirksames Benzodiazepin sollte, wenn überhaupt, nur kurzfristig gegeben werden. Nachhaltiger sind die oben genannten Selbst­hilfestrategien.
◆ Sind die Kriterien für eine der oben genannten Angststörungen nach ICD-10 erfüllt, sollte die Überweisung an einen Facharzt in Erwägung gezogen werden.

1. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e.V. (DGPM). (2021). S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen (Version 2.0). https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-028
2. Margraf, J., & Schneider, S. (2017). Panik: Angstanfälle und ihre Behandlung (2. überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
3. Bandelow, B. Allgulander, C. Baldwin, DS. et al. (2023). World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) guidelines for treatment of anxiety, obsessive-compulsive and posttraumatic stress disorders – version 3. Part I: anxiety disorders. World J Biol Psychiatry. 24(2):79–117. doi: 10.1080/15622975.2022.2086295
4. Mikoteit, T., & Hatzinger, M. (2006). Angststörungen: Diagnostik, ätiopathogenetische Modelle und Therapieansätze. Schweiz Z Psychiatrie Neurol 3: 11-19.
5. Rufer, M. (2020). Teufelskreis der Angst. Göttingen: Hogrefe Verlag. Abgerufen am 28.02.2024, von https://www.hogrefe.com/de/thema/teufelskreis-der-angst

Primärer Hyperaldosteronismus

Der primäre Hyperaldosteronismus ist die häufigste endokrine Hypertonie und mit einer Reihe von Folgeerkrankungen assoziiert. Die Prävalenz steigt mit der Schwere einer arteriellen Hypertonie an. Ein Screening kann grosszügig indiziert werden. Ein vollständiger Abklärungsgang ist allerdings aufwendig. Somit ist im Einzelfall auch die pragmatische Behandlung mit Spironolacton eine Option. Der initiale Labortest ist die Aldosteron-Renin-Ratio, die durch mehrere Faktoren beeinflusst wird. Bei bestätigter Diagnose ist die Frage zu klären, ob der Aldosteron-Exzess von einer oder beiden Nebennieren kommt. In den meisten Fällen ist dafür eine selektive Blutabnahme aus den Nebennierenvenen nötig. Bei Dokumentation eines lateralisierten Hyperaldosteronismus ist die Chirurgie Therapie der Wahl, andernfalls muss medikamentös behandelt werden mit einem Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonisten wie Spironolacton. In beiden Fällen gelingt meist eine substanzielle Verbesserung der Hypertonie und die Senkung der mit dem Hyperaldosteronismus assoziierten Morbidität und Mortalität.

Primary aldosteronism is the most common endocrine hypertension and is associated with a number of sequelae. Prevalence increases with the severity of arterial hypertension. Screening may be generously indicated. However, a complete diagnostic workup is elaborate. Thus, in individual cases, pragmatic treatment with spironolactone is an option. The initial laboratory test is the aldosterone-renin ratio, which is influenced by several factors. Upon confirmed diagnosis, the question arises whether the aldosterone excess comes from one or both adrenal glands. In most cases, selective blood sampling from the adrenal veins is necessary. In case of lateralized hyperaldosteronism, surgery is the therapy of choice; otherwise, medical treatment with a mineralocorticoid receptor antagonist such as spironolactone must be pursued. In both cases, a substantial improvement in hypertension and a reduction in morbidity and mortality associated with hyperaldosteronism is usually achieved.
Key Words: sekundäre Hypertonie, Hyperaldosteronismus-Screening, Aldosteron-Renin-Ratio, Aldosteron-Lateralisation

Die Bedeutung von Aldosteron aus einem evolutionären Blickwinkel war die Sicherstellung einer ausreichenden Salzversorgung in einem ursprünglich sehr salzarmen Umfeld. Die Ernährung des Menschen hat sich über die Zeit erheblich gewandelt, die Salzzufuhr liegt in den entwickelten Industrieländern vielfach bei deutlich mehr als 4g pro Tag. Zur Aufrechterhaltung des Volumenstatus und Blutdrucks ist der Mensch vor diesem Hintergrund heute weit weniger auf Aldosteron angewiesen (1). Hingegen ist ein Aldosteronüberschuss ein immer häufigeres Problem.

Pathophysiologie

Die Aldosteron-Produktion in der Zona glomerulosa der Nebennierenrinde ist im Wesentlichen reguliert durch die Konzentration von Angiotensin II und Kalium. Bei Abfall von extrazellulärem Volumen und damit renaler Perfusion wird die Renin-Sekretion stimuliert, was die Kaskade über Angiotensin I und II zu Aldosteron in Gang setzt. Aldosteron führt zur Salz- und Wasser-Rückresorption. Diese Renin-abhängige Aldosteronwirkung ist entscheidend für die Sicherung des Volumenstatus und Blutdrucks. Hyperkaliämie führt ebenfalls zu einer Aldosteron-Stimulation, dieser Renin-unabhängige Mechanismus wird aber meist überlagert durch die Volumen- und Salz-Regulation (1).
Ein Aldosteron-Exzess – unabhängig von Renin und nicht reguliert durch Volumen- und Salzhaushalt – führt in letzter Konsequenz zu arterieller Hypertonie und Hypokaliämie. Im frühen Stadium einer solchen Dysregulation kann allerdings die Volumenexpansion kompensiert werden. Primärer Hyperaldosteronismus ist in dem Sinn ein Kontinuum, das von nicht-supprimierbarem Aldosteron und normalem Blutdruck über sog. «low renin hypertension» mit milder Hypertonie und normalem Kalium bis zu schwerer / resistenter Hypertonie und Hypokaliämie reicht. Parallel dazu steigt das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Herz- und Niereninsuffizienz (Abb. 1).

Seit der Erstbeschreibung des primären Hyperaldosteronismus durch Jerome Conn im Jahr 1954 (2) hat sich das Verständnis und die Bedeutung der Erkrankung stark gewandelt. Von einer seltenen Entität ist es zur häufigsten sekundären Hypertonie «aufgestiegen». Die Prävalenz liegt zwischen 5 und 15% bei Personen mit arterieller Hypertonie (3), bei sog. therapierefraktärer Hypertonie findet man Zahlen bis 30% (4). Diese Angaben schwanken erheblich, nicht nur abhängig von der untersuchten Population, sondern auch von den verwendeten Grenzwerten. Die klassische Unterteilung zwischen unilateralem Aldosteron-produzierendem Adenom («Conn-Adenom») und bilateralem idiopathischen Hyperaldosteronismus wird durch neue molekulare und genetische Erkenntnisse modifiziert (5). Somatische Mutationen in Genen, die in der Zona glomerulosa der Nebennierenrinde exprimiert werden, führen zur Aldosteron-Überproduktion; nur selten handelt es sich um Keimbahn-Mutationen, die einen autosomal-dominanten Familiären Hyperaldosteronismus zur Folge haben. Histopathologisch finden sich Cluster von Aldosteron-produzierenden Zellen, die oftmals somatische Mutationen tragen (6, 7). Damit wird eine gewisse Lateralisierung auch bei bilateralem Hyperaldosteronismus verständlich und illustriert den Hyperaldosteronismus ebenso als Kontinuum zwischen streng unilateraler und bilateraler Erkrankung, was für Diagnostik und Therapie bedeutsam ist.

Morbidität

Schon lange bekannt ist die Assoziation mit Komorbiditäten, die zumindest teilweise über die direkten Hypertonie-Folgen hinausgehen. Die Inzidenz von Herzinfarkt, Schlaganfall, Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz und Niereninsuffizienz ist deutlich höher bei Personen mit primärem Hyperaldosteronismus im Vergleich zu Personen mit essentieller Hypertonie von gleichem Ausmass (8, 9). Dieses Exzess-Risiko kann bei erfolgreicher Therapie (operativ wie medikamentös mit Mineralokortikoid-Rezeptorantagonisten) gesenkt werden, womit die Bedeutung einer frühzeitigen Erkennung und Behandlung unterstrichen wird. Zusätzlich gibt es eine Assoziation von Aldosteron-Exzess und metabolischem Syndrom und Adipositas (10), was die hohe Koinzidenz mit obstruktiver Schlafapnoe erklären könnte (11). Darüber hinaus wird auch eine Assoziation mit Osteoporose beschrieben (12), sogar ein erhöhtes Risiko für Depression und Demenz wurde beobachtet (13).

Screening

Trotz der relativ hohen Prävalenz und vermeidbaren Folgen bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung wird der primäre Hyperaldosteronismus weiterhin selten gesucht und spät erkannt (14). Vor diesem Hintergrund wird die Diskussion über das Screening geführt. In praktisch allen akzeptierten Guidelines wird eine Abklärung bei schwerer oder resistenter Hypertonie empfohlen mit zusätzlichen Faktoren wie Hypokaliämie oder OSAS (Tab. 1). De facto findet ein Screening am häufigsten im Kontext eines Nebenniereninzidentaloms statt (mit entsprechend geringer Ausbeute). Ein universelles Screening aller Personen mit arterieller Hypertonie, wie von verschiedenen Experten immer wieder propagiert, würde eine grosse logistische Herausforderung bedeuten, die unser Gesundheitssystem in der Schweiz wohl nicht leisten könnte. Noch eher denkbar wäre ein Screening jeweils bei Neudiagnose einer Hypertonie, zumal dann noch ohne Medikation die Interpretation der Laborwerte deutlich einfacher ist. Das Problem von Grenzbefunden bei nicht allgemein akzeptierten Diagnosekriterien und komplexer Abklärung bliebe freilich auch dann.

Als Standardtest zum Screening ist die Bestimmung der Aldosteron-Renin-Ratio (ARR) etabliert (15, 16). Die Beeinflussung beider Hormone und damit der Ratio durch zahlreiche Faktoren ist erheblich. Dazu gehören analytische Aspekte (immunologische vs. spektrometrische Messung, Bestimmung von Renin-Aktivität vs. -Konzentration), v.a. aber präanalytische Faktoren. In erster Linie sind das Medikamente, die Renin bzw. Aldosteron verändern (Tab. 2). Die Ratio kann in solchen Fällen falsch-positiv oder falsch-negativ ausfallen. Ideal ist die Umstellung der antihypertensiven Medikation auf solche, die die ARR vergleichsweise wenig tangieren (Kalzium-Antagonisten, Doxazosin, Moxonidin), nicht immer ist dies praktikabel. Allerdings können gelegentlich nach einer solchen Umstellung bessere Blutdruckwerte beobachtet werden als befürchtet, da die Adhärenz zur vorherigen Therapie sicher teilweise nicht optimal war. Konkret sollen wenn immer möglich zumindest Betablocker und Diuretika zwei Wochen pausiert sein, Spironolacton sogar vier Wochen, bevor eine Messung der ARR erfolgt. Da auch Tageszeit und Position eine Rolle spielen, ist eine Bestimmung am Morgen und in sitzender Position empfohlen. Wegen dennoch grosser intraindividueller Schwankungen sollte mindestens zweimal gemessen werden, bevor ein primärer Hyperaldosteronismus weiter abgeklärt oder ausgeschlossen wird (17).

Der ARR cut-off ist Gegenstand vieler Diskussionen. Bei Anwendung von Immunoassays mit Aldosteron in pmol/l und direkter Renin-Konzentration in mU/l wird ein cut-off von 50 als optimal angesehen. Tiefere Werte haben eine höhere Sensitivität zu Lasten der Spezifität, bei höherem cut-off ist es umgekehrt. Die ARR hängt stark vom Renin ab; bei sehr tiefen Renin-Werten kann die ARR hoch sein trotz tiefen Aldosterons, eine Konstellation die mit einem primären Hyperaldosteronismus schlecht vereinbar ist. Von vielen Autoren wird deshalb ein erhöhtes Aldosteron für eine Verdachtsdiagnose verlangt, die Grenze dafür ist allerdings arbiträr. Ein nicht supprimiertes Renin (>10mU/l) ohne interferierende Medikation ist ebenfalls nicht vereinbar mit einem primären Hyperaldosteronismus. Eine alleinige Beurteilung der ARR – unabhängig davon welcher cut-off gewählt wird – ist jedenfalls nicht ausreichend, die Werte von Aldosteron und Renin müssen jeweils plausibel sein.

Bestätigung

Bei auffälligem Screening i.S. erhöhter ARR unter den o.g. Aspekten ist in den meisten Fällen ein Bestätigungstest erforderlich. Dieser basiert auf der Annahme, dass die Aldosteron-Produktion bei normaler Regulation unterdrückt werden kann. Dafür sind mehrere Tests möglich, am verbreitetsten ist der Salzbelastungstest, der zu einer Renin-Suppression und damit verringerten Aldosteron-Produktion führen müsste. Der Test kann mit oraler Salzzufuhr über mehrere Tage erfolgen, besser standardisiert ist die intravenöse Zufuhr: 2 L NaCl 0.9% über 4 Std., früher meist bei liegendem Patienten, heute überwiegend im Sitzen (18). Eine Aldosteron-Suppression <170pmol/l ist physiologisch, ein Wert >220pmol/l ist sehr suspekt auf einen primären Hyperaldosteronismus, es verbleibt ein Graubereich. Nicht nur dieser, sondern auch die Auswahl verschiedener möglicher Bestätigungstests illustriert den fehlenden Goldstandard. Unterschiedliche Tests, verwendete Assays und Grenzwerte führen zumindest bei mildem Hyperaldosteronismus zu grosser Variabilität und Interpretation der Resultate. Eine Standardisierung wäre für eine einheitliche Diagnose und bessere Behandlung nützlich (19).

Hingegen kann in eindeutigen Situationen – hohes Aldosteron, supprimiertes Renin, Hypokaliämie – auf einen Bestätigungstest verzichtet werden. Das gilt gleichermassen, wenn eine Weiterabklärung mit dem Ziel einer möglichen Operation ohnehin nicht in Betracht kommt. In solchen Fällen kann eine medikamentöse Behandlung mit einem Mineralokortikoid-Rezeptorantagonisten ohne Verzögerung gestartet werden.

Bildgebung und Sampling

Wenn betroffene Personen Kandidaten für eine Operation sind und diese auch wünschen, dienen die nächsten Abklärungsschritte dem Nachweis einer Lateralisation des Hyperaldosteronismus. Wie bereits erwähnt, ist die klare Abgrenzung von unilateraler und bilateraler Aldosteronquelle – dem früheren Konzept der Erkrankung als Adenom vs. Hyperplasie – nicht mehr immer möglich. Ein unilateraler Hyperaldosteronismus kann Ausdruck einer asymmetrischen multifokalen bilateralen Erkrankung sein. Auch diese Personen können von einer Adrenalektomie profitieren, auch wenn es danach nicht zu einer vollständigen «biochemischen Heilung» kommt.

Die Computertomographie dient einerseits dem Ausschluss eines Adrenocorticalen Karzinoms (als sehr seltene Ursache eines Hyperaldosteronismus), andererseits der anatomischen Vorbereitung des Nebennierenvenen-Samplings. Das MRT ist dem CT unterlegen und somit nur selten indiziert (20). Ein Nachweis eines Nebennierenadenoms entspricht nur bei jüngeren Personen (<35 Jahren) mit hinreichender Sicherheit einem Aldosteron-produzierenden Adenom, so dass in dem Fall direkt die Operation geplant werden kann. Man geht davon aus, dass ein Nebennieren-Inzidentalom in dieser Altersgruppe selten ist. In allen anderen Fällen braucht es das Nebennierenvenen-Sampling als Goldstandard zum Entscheid, ob eine einseitige oder beidseitige Quelle (Lateralisierung) des Hyperaldosteronismus vorliegt. Diese Untersuchung ist technisch anspruchsvoll, teuer und ebenfalls kaum standardisiert. Die Erfolgsrate ist in grossen Zentren bis >90% und hängt vollständig von der Erfahrung des interventionellen Radiologen ab (21). Eine Übereinstimmung des Sampling-Resultats mit dem CT-Befund – also z.B. Lateralisation nach links und Adenom links oder keine Lateralisation und kein Adenom – findet sich nur in gut der Hälfte der Fälle, entsprechend viele Ergebnisse sind «diskordant» (22). Zur Beurteilung, ob das Sampling erfolgreich ist, die Katheter also tatsächlich die beiden Nebennierenvenen erreicht haben, wird zunächst der Selektivitätsindex verwendet: Cortisol aus der Nebennierenvene muss mindestens doppelt so hoch sein wie aus einer peripheren Vene resp. der inguinalen Schleuse. Der Faktor liegt sogar bei 5, wenn die Untersuchung bei laufender ACTH-Infusion erfolgt, was ebenfalls je nach Zentrum unterschiedlich gehandhabt wird. Eine Cortisol-Schnellbestimmung erleichtert die Erfolgsbeurteilung, da das Resultat noch während des Samplings vorliegt und die Untersuchung ggf. wiederholt werden kann. Der Lateralisationsindex folgt in einem nächsten Schritt: der Quotient aus Aldosteron und Cortisol aus den beiden Nebennierenvenen muss um mindestens Faktor 4 verschieden sein, um eine Lateralisation anzuzeigen. Die Durchführung wie auch die Interpretation des Nebennierenvenen-Samplings ist komplex und kann in unterschiedlichen Zentren zu verschiedenen Diagnosen führen (23), was die Notwendigkeit einer Harmonisierung unterstreicht bzw. nach anderen diagnostischen Verfahren verlangt (funktionelle Bildgebung, Steroidprofile), welche allerdings noch nicht Eingang in die klinische Routine gefunden haben.

Therapie

Bei Diagnose eines lateralisierten Hyperaldosteronismus ist ein chirurgisches Vorgehen (Adenom-Exstirpation bzw. Adrenalektomie) Therapie der Wahl. Dadurch gelingt idealerweise die biochemische Remission, also Normalisierung der Aldosteron-Renin-Ratio, wie auch Senkung des Blutdrucks und der assoziierten Folgeerkrankung (24). Da nicht selten eine schon länger bestehende arterielle Hypertonie durch späte Diagnose des primären Hyperaldosteronismus oder auch eine zusätzliche essentielle Hypertonie-Komponente vorliegt, wird der Blutdruck nach chirurgischer Therapie nur in gut einem Drittel der Fälle vollständig normalisiert, zu einem grossen Teil aber substantiell verbessert (24).

Die Mehrzahl der Personen mit primärem Hyperaldosteronismus weist keine eindeutige Lateralisierung auf und sollte mit einem Mineralokortikoid-Rezeptorantagonist behandelt werden. Diese Therapie kann das Ergebnis der vollständigen Abklärung sein oder auch ein pragmatischer Entscheid zu einem früheren Zeitpunkt. Zur Verfügung stehen Spironolacton und Eplerenon, wobei letzteres in der Schweiz zur Behandlung von arterieller Hypertonie bzw. primärem Hyperaldosteronismus nicht zugelassen ist. Spironolacton kann v.a. wegen der antiandrogenen Nebenwirkungen bei Männern (insb. Gynäkomastie) problematisch sein, welche dosisabhängig bei bis zu 50% auftreten können (25). Der Wirkungseintritt von Spironolacton dauert mehrere Wochen, die Startdosis ist 25mg 1x tgl. Häufig ist eine Kombinationsbehandlung mit anderen Antihypertensiva nötig, wofür sich insb. Amilorid anbietet (in der Schweiz nur in Kombination mit Thiazid verfügbar). Eine Hyperkaliämie tritt im Gegensatz zur Herzinsuffizienz-Behandlung selten auf. Wenn wegen Unverträglichkeit von Spironolacton stattdessen Eplerenon eingesetzt wird, ist (neben einer Kostengutsprache) die Einnahme 2x pro Tag in höherer Dosis nötig, um einen vergleichbaren Effekt wie mit Spironolacton zu erreichen, was die Behandlung deutlich teurer macht. Das Ziel einer medikamentösen Therapie ist neben der Blutdrucksenkung jedenfalls auch die Korrektur des Hyperaldosteronismus, zu messen an der Renin-Suppression. Sofern ein Anstieg von Renin gelingt, kann die eingangs skizzierte Exzess-Morbidität und Mortalität des Hyperaldosteronismus vergleichbar einer Adrenalektomie reduziert werden (26).

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Dr. med. Tilman Drescher

Leitender Arzt Endokrinologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstr. 95
9007 St. Gallen

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Der primäre Hyperaldosteronismus als häufigste endokrine Hypertonie rechtfertigt ein grosszügiges Screening, in gewissen Fällen kann aber auch eine pragmatische Behandlung mit Spironolacton erfolgen.
◆ Bei einer ARR <20 oder einem Aldosteron <170pmol/l oder einem Renin >10mU/l ohne interferierende Medikation ist die Diagnose ausgeschlossen.
◆ Bei einer ARR >50 und Aldosteron >400pmol/l und Renin <10mU/l ohne interferierende Medikation ist die Diagnose sehr wahrscheinlich.
◆ Wenn eine Lateralisation des Hyperaldosteronismus nachgewiesen werden kann, profitieren die Personen von einem chirurgischen Vorgehen, ansonsten erfolgt die Behandlung mit einem Mineralokortikoidrezeptor-Antagonisten, in beiden Fällen mit dem Ziel der Normalisierung von Blutdruck, Kalium und Renin (d.h. Anstieg >10mU/l).

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Die leise Gefahr im Hintergrund: Es ist Zeit, systematisch an die Niere zu denken

Die chronische Niereninsuffizienz verursacht weltweit eine erhebliche Morbidität und ist einer der Gründe für eine erhöhte Mortalität. Dies ist in der Schweiz trotz des sehr guten Gesundheitssystems leider nicht anders. Prävalenzdaten zeigen, dass eine von zehn Personen hierzulande an einer chronischen Niereninsuffizienz leidet. Eine frühe Erkennung und Intervention kann das Fortschreiten der chronischen Niereninsuffizienz verlangsamen und Krankheitskomplikationen vermindern. Dadurch werden Folgekosten gesenkt und nicht zuletzt auch die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessert. Eine kürzlich veröffentlichte Auswertung zeigt jedoch, dass in der Primärversorgung in der Schweiz das Management der chronischen Niereninsuffizienz stark variiert. Entsprechende Weiterbildungsmassnahmen können helfen, um die beobachteten Abweichungen zu reduzieren.

Chronic kidney disease causes considerable morbidity worldwide and is one of the reasons for increased mortality. Unfortunately, this is no different in Switzerland despite the good healthcare system. Prevalence data show that one in ten people in our country suffers from CKD. Early detection and intervention can slow down the progression of CKD and reduce disease complications. This reduces follow-up costs and, not least, improves patients’ quality of life. However, a recently published evaluation shows that the management of CKD in primary care in Switzerland varies greatly. Appropriate further training measures can help to reduce the observed deviations.
Key Words: chronic kidney disease, early detection, albuminuria

Dieser Artikel entstand aus der Teilnahme der Autorinnen und Autoren an einem von der Firma AstraZeneca initiierten Round Table im Rahmen eines Projektes zur Steigerung des Bewusstseins für die chronische Niereninsuffizienz in der Grundversorgung. Die Prävalenz dieser Erkrankung nimmt zu, und es besteht die Notwendigkeit, dass die Grundversorgerinnen und -versorger eine führende Rolle bei ihrer Früherkennung übernehmen.

Die Leise Gefahr im Hintergrund

Die Prävalenz der chronischen Niereninsuffizienz (engl.: chronic kidney disease, CKD) ist in der Schweiz hoch und es wird aktuell prognostiziert, dass sie bis 2040 die fünfthäufigste Todesursache sein wird (1) – diese Tatsache hängt mit dem Älterwerden der Bevölkerung und dem Zunehmen von «Volkskrankheiten» wie Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie und Übergewicht zusammen.

Aktuell ist einer von zehn Erwachsenen in der Schweiz von CKD betroffen, doch neun von zehn Betroffenen wissen nichts von ihrer Erkrankung (2, 3, 4). Dies aufgrund der meist asymptomatisch und schmerzlos verlaufenden Niereninsuffizienz. Eine schweizerische, multizentrische Querschnittsstudie hat gezeigt, dass in der Hausarztpraxis sogar 23 Prozent der Patienten und Patientinnen von einer CKD betroffen sind (5).

Die Schweizerische Gesellschaft für Nephrologie (SGN) hat im November 2021 einen Pocketguide zur systematischen Früherkennung der CKD veröffentlicht (3). Dieser bietet eine einfache Übersicht, wie man bei der Früherkennung und Einteilung der CKD in der allgemeinen inneren Medizin vorgehen sollte. Es wird empfohlen, die Nierenwerte von Risikopatientinnen und -patienten regelmässig (mindestens einmal jährlich) zu überprüfen: speziell bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus, arterieller Hypertonie und kardiovaskulären Erkrankungen. Wichtig ist, dass man sowohl eGFR (geschätzte glomeruläre Filtrationsrate) als auch UACR (Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio) bestimmt. Beides sind diagnostische Kriterien für das Vorliegen einer CKD, d.h. eine CKD kann übersehen werden, wenn man nur die eGFR bestimmt. Zudem sind beide Parameter notwendig, um die korrekte Einteilung und Risikostratifizierung einer CKD vornehmen zu können (Abb. 1) (3).

Analyse in der Hausarztmedizin zeigt grosse Abweichungen bei Nierenwert-Kontrollen

Eine kürzlich veröffentliche, retrospektive Analyse eines Kollektivs an Hausarztpraxen zeigt ein heterogenes Bild: Während bei den meisten Ärztinnen und Ärzten eine hohe Awareness bezüglich Nephrotoxizität von nichtsteroidalen Antirheumatika besteht, gibt es grosse Abweichungen, was die regelmässige Kontrolle der Nierenwerte von Individuen mit einem erhöhten CKD-Risiko betrifft. Darüber hinaus wird nur bei 18 Prozent der Betroffenen mit etablierter CKD innerhalb von 18 Monaten eine Albuminurie-Messung zum Monitoring durchgeführt (6). Diese Ergebnisse unterstreichen, dass es wichtig ist, das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Früherkennung der Nierenkrankheit in den Arztpraxen zu verbessern. Dadurch kann für viele Betroffene die Nierenfunktion erhalten und Gesundheitskosten eingespart werden (7, 8).

Weshalb die CKD unterdiagnostiziert ist und CKD-Patientinnen und -Patienten oft unterversorgt sind

Im Hinblick auf die chronische Nierenkrankheit sind das Wissen und das Interesse im Gesundheitssystem mangelhaft (9, 10). Die Nieren haben im Vergleich zu anderen Organen nicht denselben «Attraktivitätsfaktor». Jahrzehntelang gab es wenig therapeutische Verbesserungsmöglichkeiten zur Verlangsamung der Nierenkrankheit (11, 12). Daher überrascht es nicht, dass es an Bewusstsein und Wissen um die systematische Früherkennung der CKD in der ärztlichen Grundversorgung mangelt. In der Grundversorgung wird die regelmässige Abklärung der Nierenwerte bei Diabetes-Patientinnen und -patienten bereits gut umgesetzt, dies ist jedoch weniger der Fall bei Hypertonie-Betroffenen und bei Personen mit kardiovaskulären Erkrankungen (6).

Speziell die Durchführung des UACR-Tests zur quantitativen Bestimmung der Albuminurie ist wenig etabliert (6). Das führt dazu, dass viele Patientinnen und Patienten gar keine oder eine zu späte CKD-Diagnose bekommen. Oft ist die Nierenschädigung dann bereits fortgeschritten. Zudem kann ohne das Wissen über die quantitative Albuminausscheidung nicht die richtige Therapie gewählt werden.

Diese Faktoren zeigen, dass es wünschenswert wäre, routinemässige Abläufe zur CKD-Früherkennung in der Grundversorgung zu etablieren und zu konsolidieren.

Viele Menschen sind sich nicht bewusst, wie relevant eine gute Nierenfunktion ist

Viele Patientinnen und Patienten sind sich zudem nicht bewusst, wie relevant die Nierenfunktion ist: Sie sind oft gut informiert über ihre Blutzucker-, Blutdruck- und Cholesterinwerte – was «gesunde» Nierenwerte sind, wissen jedoch die allerwenigsten.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich eine chronische Niereninsuffizienz im frühen Stadium kaum durch Krankheitszeichen bemerkbar macht und meist völlig symptomfrei verläuft.

Das komplexe und fragmentierte Gesundheitssystem in der Schweiz erschwert es zudem, CKD-Betroffenen eine frühe Diagnose zu ermöglichen: Elektronische Informationssysteme zur Verwaltung der Patientendaten erlauben es meist nicht, systematisch nach Risikopatientinnen und -patienten zu suchen. Aus Datenschutzgründen sind auch «Alerts», welche zur Nierenkontrolle aufrufen, umstritten. Und darüber hinaus gibt es keine Qualitätsindikatoren oder Chronic-Care-Management-Tools, wie man sie bereits vom Diabetes mellitus oder anderen Fachbereichen kennt, die im Praxisalltag Unterstützung bieten könnten.

All diese genannten Faktoren zu erkennen, Lösungswege zu erarbeiten und umzusetzen, sind wichtige Schritte, um die Unterversorgung bei der CKD anzugehen.

Ein gezieltes Weiterbildungsprogramm zur CKD als Teamaktivität in der Hausarztpraxis

Eine Fokusgruppe aus Expertinnen und Experten der Nephrologie und der Grundversorgung hat zusammen mit AstraZeneca, Abbott und AxonLab ein Weiterbildungsprogramm entwickelt, das auf die Herausforderungen rund um die CKD-Früherkennung in der Hausarztpraxis eingehen soll.

Während des letzten Jahres erklärten sich 71 Arztpraxen bereit, bei diesem Programm mitzumachen. Ziel war es, die systematische Umsetzung der SGN-Empfehlungen zur Früherkennung der CKD (Pocketguide CKD) in der eigenen Praxis zu etablieren und während 2 Wochen regelmässig zu monitorisieren. Der Fokus lag dabei auf der routinemässigen Kontrolle der Nierenwerte eGFR undUACR bei der Risikopopulation, wie vom SGN-Pocketguide empfohlen, um eine korrekte CKD-Risikostratifizierung anhand der KDIGO-Heatmap durchführen zu können. Speziell bei der oft nicht üblichen Albuminurie-Messung und Bestimmung des UACR-Wertes wurden Hilfestellungen und Empfehlungen gegeben.

Das als «DenCKDran» bezeichnete Programm beinhaltete für das gesamte Praxisteam im Detail:

  • eine gezielte CKD-Schulung für das gesamte Praxisteam
  • eine individuelle Beratung der praxiseigenen Möglichkeiten zur CKD-Früherkennung inklusive Unterstützung rund um Laboranalysen und Laborgeräte sowie Informationen zur Rückvergütung der Labortests
  • eine Selbstüberprüfung mittels einer Umfrage, ob die Ziele zur systematischen CKD Früherkennung erreicht wurden, und ein Vergleich zum Schnitt aller Teilnehmenden.

In der systematischen Erhebung einfacher Datenpunkte während der zwei Wochen, in denen das Programm durchgeführt wurde, konnten folgende interessante Erkenntnisse gewonnen werden (13):

  • Jede vierte Person in der Hausarztpraxis gehört zur Risikogruppe für eine CKD.
  • Zwei Drittel der Risikogruppe konnten in den zwei Wochen systematisch auf ihre Nierenwerte getestet werden.
  • Bei jedem zehnten Risikopatienten respektive -patientin konnte eine potentielle CKD erkannt werden.

Was auffällt: Der in diesem Programm erhobene Anteil an Risikopatienten und Risikopatientinnen stimmt überein mit jenem in der Schweizerischen Querschnittsstudie zur CKD-Prävalenz in der Hausarztpraxis (5).

Trotz intensiver Weiterbildungsmassnahmen und Hilfestellungen wurde noch immer ein Drittel der Risikopopulation nicht wie empfohlen getestet. Eine systematische Erhöhung der Testrate in der Risikopopulation benötigt grosse Anstrengung.

Diese Resultate und das Feedback zeigen aber auch, dass sich eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik auszahlt. Die strukturierte Schulung, die über einen reinen «Frontalunterricht» hinausgeht, und die Inhalte wurden geschätzt, da das Thema CKD nicht oft besprochen wird.
Und die wichtigste Erkenntnis: Ein solches Programm bindet das gesamte Praxisteam mit ein und lässt es gemeinsam aktiv werden. Dadurch haben auch die medizinischen Praxisassistenten und -assistentinnen profitiert, was die Abläufe in der täglichen Praxis unterstützen konnte.
Man sieht, welchen grossen Einfluss die Grundversorgung potentiell auf die Nierengesundheit haben kann. Der Schlüssel zum Erfolg besteht darin, am Thema dranzubleiben, sich regelmässig weiterzubilden, sich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen und das ganze Praxisteam einzubinden.

Ein Fazit eines Teilnehmers: «In der hausärztlichen Praxis ist die Prävention wichtig. Mittels simpler Methoden kann die Nierenfunktion erfasst werden. Eine chronische Niereninsuffizienz kann positiv beeinflusst und dadurch der Verlauf verlangsamt werden.»

Eine solche einzelne Initiative zeigt jedoch auch, dass immer noch ein weiter Weg bleibt, um das Bewusstsein für die CKD in der Gesundheitsversorgung zu stärken und die systematische Früherkennung von CKD zur Routine werden zu lassen. Dazu bedarf es der Zusammenarbeit aller Akteure im Gesundheitswesen und eines stärkeren Bewusstseins für die chronische Niereninsuffizienz.

Abkürzungen:
CKD: chronische Niereninsuffizienz, engl. chronic kidney disease
eGFR: geschätzte glomeruläre Filtrationsrate, engl. estimated glomerular filtration rate
KDIGO: Kidney Disease: Improving Global Outcomes
SGN: Schweizerische Gesellschaft für Nephrologie
UACR: Urin-Albumin-Kreatinin-Verhältnis, engl. urine albumin-creatinine ratio

Dr. med. Stephen Woolley 1*
Dr. med. Thaka Pathmanathan 2*
Dr. med. Levy Jäger 3
Thomas Hunziker 4
Dr. med. Aurelia Schnyder 5
PD Dr. med. Harald Seeger 6
Dr. med. Hans-Rudolf Räz 6,7
1 Arztpraxis Woolley, Wollerau
2 Arztpraxis Volketswil, Volketswil
3 Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital Zürich, Zürich
4 Verband Nierenpatienten Schweiz, Praz/Vully
5 Klinik für Nephrologie und Transplantationsmedizin, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
6 Nephrologie, Kantonsspital Baden AG, Baden
7 Doktorzentrum Mutschellen, Berikon
*Teilnehmende des DenCKDran-Weiterbildungsprogramms zur chronischen Niereninsuffizienz

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Stephen Woolley

Arztpraxis Woolley, Wollerau
Teilnehmer des DenCKDran-Weiterbildungsprogramms zur chronischen Niereninsuffizienz

Dr. med. Thaka Pathmanathan

Arztpraxis Volketswil, Volketswil

Teilnehmerin des DenCKDran-Weiterbildungsprogramms zur chronischen Niereninsuffizienz

Dr. med. Hans-Rudolf Räz

– Nephrologie, Kantonsspital Baden AG, Baden
– Doktorzentrum Mutschellen, Berikon

Dieser Artikel entstand aus der Teilnahme der Autor/-innen an einem von der Firma AstraZeneca initiierten Round Table im Rahmen eines Projektes zur Steigerung des Bewusstseins für die chronische Niereninsuffizienz in der Grundversorgung.

◆ Fast ein Viertel der Patientinnen und Patienten in der Schweizer Hausarztpraxis leiden an Niereninsuffizienz, ein Grossteil davon weiss nichts von der Erkrankung.
◆ Es besteht eine grosse Heterogenität bezüglich Früherkennung
und Management der chronischen Niereninsuffizienz in der
Hausarztmedizin.
◆ Gezielte Weiterbildungsmassnahmen für das ganze Praxisteam können helfen, diese Diskrepanzen zu verringern und die Früherkennung der chronischen Niereninsuffizienz in der Hausarztmedizin zu verbessern.
◆ Ein kürzlich veröffentlichter Pocketguide der Schweizerischen Gesellschaft für Nephrologie empfiehlt, die Nierenfunktion bei Patientinnen und Patienten mit arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus oder kardiovaskulären Erkrankungen mindestens einmal jährlich zu überprüfen. Dabei sollen sowohl die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) als auch das Urin-Albumin-Kreatinin-Verhältnis (UACR) bestimmt werden.

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Grenzen des elterlichen Vertretungsrechts bei der med. Behandlung von Kindern

Behandlung von Kindern

Die medizinische Behandlung minderjähriger Patienten erfolgt nach denselben Grundsätzen wie bei volljährigen Patienten. Sie haben das Recht auf eine kunstgerechte Behandlung, Wahrung des Berufsgeheimnisses und Datenschutz sowie Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes. Minderjährige haben grundsätzlich gesetzliche Vertreter. Ein Arzt muss aber vor jeder Behandlung abklären, ob der minderjährige Patient urteilsfähig oder urteilsunfähig ist.

Einschätzung der Urteilsfähigkeit

Die Urteilsfähigkeit wird vermutet, solange weder das Kindesalter noch andere Umstände gegen ihr Vorhandensein sprechen. Dabei zu berücksichtigen ist das Alter des Kindes, die Komplexität der in Frage stehenden Behandlung sowie der Gesundheitszustand und Entwicklungsstand des Kindes. Es gibt in der Schweiz keine definierte Altersgrenze. Je komplexer und schwerwiegender ein Eingriff ist, desto höher ist der Schwellenwert für die Urteilsfähigkeit anzusetzen. Der Arzt muss jene Entscheidung für jede Untersuchung und jeden Eingriff neu treffen und dokumentieren. Führt ein Arzt eine Behandlung auf Wunsch der Eltern trotz Protest des urteilsfähigen Kindes aus, riskiert dieser, dafür verurteilt zu werden.

Urteilsfähiges Kind

Ist ein Kind urteilsfähig, kann es allein über Durchführung einer oder Verzicht auf eine Behandlung entscheiden. Obwohl die Handlungsfähigkeit grundsätzlich erst ab dem 18. Lebensjahr gilt, gelten andere Richtlinien, wenn es um höchstpersönliche Rechte geht. Medizinische Behandlungen fallen genau in diesen Bereich der höchstpersönlichen Rechte, womit bei urteilsfähigen Minderjährigen die Handlungsfähigkeit gegeben ist. Der Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient kommt in diesem Fall ohne Genehmigung des gesetzlichen Vertreters zustande.

Urteilsunfähiges Kind

Ist ein Kind für urteilsunfähig erklärt worden, muss allein der gesetzliche Vertreter über die Behandlung aufgeklärt werden und trägt das Recht zur Entscheidung. Eltern sind die natürlichen gesetzlichen Vertreter ihres Kindes. Sie haben nach Art. 301 Abs. 1 und Art. 304 Abs 1 ZGB umfangreiche Vertretungsrechte, die auch bei medizinischen Behandlungen zum Zug kommen. Die Meinung des Kindes ist aber in jedem Fall zu berücksichtigen und es muss gemäss des hypothetischen Willens und objektiven Interesses des Kindes gehandelt werden. Das Kindeswohl ist im Kindesrecht immer das oberste Prinzip. Haben beide Elternteile das Sorgerecht, muss gemeinsam entschieden werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass immer zwingend beide Elternteile anwesend sein müssen. Gemäss Art. 304 Abs. 2 ZGB darf der gutgläubige Arzt davon ausgehen, dass jeder Elternteil im Einvernehmen mit dem anderen handelt. Bei sehr schwerwiegenden Eingriffen ist hier aber grosse Vorsicht geboten. Es wird angeraten, dass dann explizit das Einverständnis beider Elternteile eingeholt wird. Hat nur ein Elternteil das Sorgerecht, vertritt dieser das Kind alleine. Das andere Elternteil hat aber Recht auf Auskunft und Information. Falls die Eltern verhindert sind oder nicht in der Lage sind zu entscheiden, kann der Arzt in dringlichen Fällen medizinische Massnahmen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person ergreifen (Art. 379 ZGB).

Stiefeltern sind grundsätzlich nicht Inhaber der elterlichen Sorge, solange sie das Stiefkind nicht adoptiert haben. Trotzdem haben sie gemäss Art. 299 ZGB das Recht und die Pflicht, den leiblichen Elternteil zu vertreten, wenn es die Umstände erfordern. Sie sind in jedem Fall an den erklärten oder mutmasslichen Willen des Sorgerechtsinhabers gebunden.

Auch Pflegeeltern haben kein offizielles Sorgerecht. Sie sind aber berechtigt, die Eltern in der Ausübung der elterlichen Sorge zu vertreten, soweit es zur gehörigen Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich ist und die Inhaber der elterlichen Sorge nicht anderes angeordnet haben. Bei medizinischen Notfällen können sie in jedem Fall einwilligen, falls die Eltern nicht rechtzeitig erreichbar sind. Ausschlaggebend ist hier vor allem der unterzeichnete Pflegekindvertrag.

Gemäss Art. 296 Abs. 3 ZGB steht minderjährigen Eltern keine elterliche Sorge zu. In diesen Fällen ernennt die Kindesschutzbehörde einen Vormund. Diesem Vormund stehen dann die gleichen Rechte wie einem erwachsenen Elternteil zu. Auch der Vormund hat in jedem Fall für das körperliche und psychische Wohl des Kindes zu sorgen.

Quellen:
1. https://www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2011/114/de
2. https://www.skmr.ch/de/themenbereiche/kinderpolitik/artikel/kind_behandlung_medizinisch.html
3. www.swisslex.ch
4. Rechtliche Grundlagen im medizinischen Alltag FMH SAMW

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Prof. Dr. med. Dr. iur. Thomas D. Szucs

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Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.