RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

Plastikpartikel als Auslöser einer symptomatischen Atheromatose?

Weltweit ist die Produktion von Plastik weiterhin am ­Zunehmen, auch wenn man hofft, bis ins Jahr 2050 diesen Trend brechen zu können. Plastik wird in der Umwelt zu Mikro- und Nanoplastik-Partikeln (abgekürzt MNPs) degradiert, die dann via orale Einnahme, per Inhalation oder transkutan auch durch Menschen aufgenommen werden. In dieser Studie ging man der Frage nach, inwiefern diese MNPs eine Progressionsrolle in der Atheromatose haben. Die Studienpopulation umfasste 257 Patientinnen und Patienten mit asymptomatischer Carotisstenose, die einer Endarterektomie unterzogen wurden. Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 34 Monate postoperativ. In den Carotisexzisaten wurden bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten histologisch und biochemisch MNPs und einer ihrer Metaboliten (Polyvinylchlorid) nachgewiesen. Der Verlauf dieser Individuen lässt aufhorchen: Sie hatten über eine Periode von weniger als 3 Jahren ein 4,5-fach erhöhtes Risiko eine symptomatische Manifestation einer kardiovaskulären Erkrankung, d.h. einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt zu erleiden oder an irgendeiner Ursache zu versterben, als die Individuen mit fehlendem Nachweis von MNPs! Die statistische Stringenz war mit einem p < 0.001 eindrücklich. Vorerst handelt es sich um eine Assoziation und keine Kausalität, aber es wird interessant sein, die pathogenen Mechanismen dieser MNPs genau anzuschauen. Sind sie ein weiterer kardiovaskulärer Risikofaktor, beschleunigen sie also die Atherombildung oder führen sie zu vermehrter Instabilität und damit erhöhter Rupturneigung vorbestehender Plaques?

NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMoa2309822, verfasst am 12.03.2024

Umweltrückstände als endokrine Toxine, die sogenannte «endocrine disruptors»

Nochmals eine Geschichte zu neuzeitigen Umweltgiften: Vielleicht haben Sie gelesen, dass am Engadiner Skimarathon vom 10. März 2024 die Gewinnerin des Damenrennens wegen Nachweis von Fluor in der Form von Polyfluoralkyl Verbindungen auf dem Skibelag disqualifiziert wurde. Diese Substanzen fördern anscheinend die Gleiteigenschaften der Skis vor allem bei weichem, eher höher viskösem Schnee. Dies ist typischerweise beim schweren Neuschnee der Fall, wie er im Engadin an besagtem Wochenende reichlich gefallen ist (1). Eine eben erschienene umfassende Review fasst das gegenwärtige Wissen über die gesundheitsschädigenden Effekte von Polyfluoralkyl Verbindungen und anderer Folgemetaboliten fossiler Brennstoffe zusammen. Sie lässt verstehen, warum solche Substanzen auch verboten gehören. Endokrine Störungen sind als toxische Folgen prominent vertreten (2).

1. https://www.nzz.ch/sport/weitere-sportarten/engadin-skimarathon-siegerin-wegen-fluorwachs-disqualifiziert-ld.1821530, 2. NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMra2300476, verfasst am 12.03.2024

Wird man eine Alzheimererkrankung in frühen, asymptomatischen Stadien diagnostizieren können?

Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass typische Amyloidkonstellationen (Amyloid Beta42 zu Amyloid Beta 40 Quotient u.a.m.) in der Rückenmarkflüssigkeit und charakteristische Positronenemissionstomographie (PET) Befunde bei der Alzheimererkrankung schon viele Jahre vor dem Auftreten einer kognitiven Einschränkung nachweisbar sind. Dies gilt sowohl für genetisch bedingte als auch sporadische ­Alzheimerformen. Eine bemerkenswerte Studie in einer kognitiv normalen Han-chinesischen Population hat diese bis zu 20 Jahre systematisch regelmässig nachuntersucht. 648 Patientinnen und Patienten in dieser Population entwickelten eine Alzheimer­erkrankung und wurden mit 648 Studienteilnehmenden, die kognitiv normal geblieben waren, verglichen. Alle 2-3 Jahre waren die Studienteilnehmenden in beiden Gruppen ­kognitiv, bildgebend und mit einer Liquoruntersuchung kontrolliert worden. Die charakteristischen Tau- und Amyloidproteine im Liquor begannen sich schon mindestens 15 Jahre vor der Alzheimerdiagnose und dann progredient zu verändern. Das MRI-mässig gemessene Volumen des Hippocampus begann 10 Jahre vor der Diagnose abzufallen. Das sind sehr interessante Befunde, die die Möglichkeit einer Früherkennung ergeben, die wichtig für die Lebensplanung, aber auch belastend sein kann. Ebenfalls wären die Befunde Basis einer Frühintervention, sofern entsprechend wirksame Methoden oder Medikamente verfügbar werden. ­Spekulieren lässt sich darüber, inwiefern westliche Ethikkommissionen repetitive Liquorpunktionen zugelassen hätten. Wirklich interessant wird diese Studie, falls die nun verfügbaren hochsensitiven Blut­analysen von neurodegenerativen Biomarkern die gleiche prognostische Aussagekraft aufweisen werden.

NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMoa2310168, verfasst am 12.03.2024

Kosten, Nutzen und Gewinne bei onkologischen Medikamenten

Diese Analyse der von der Europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMA) zwischen 1995 und 2020 zugelassenen onkologischen Medikamente könnte zu gesundheitspolitischen Emotionen führen.

Das globale, aber schwergewichtig westliche Marktvolumen dieser Medikamente betrug 2020 167 Milliarden Dollar, mit einem prognostizierten Anstieg bis 2025 auf 269 Milliarden Dollar. Dies bei weiterhin geographischen Unterversorgungen, aber einer klaren Tendenz, dass immer mehr und auch ältere Patientinnen und Patienten behandelt werden können. Die Tendenz, dass neuere Medikamente häufig (viel) teurer sind als etablierte, ist ebenso ein wichtiger Teilfaktor. Bezüglich Zusatznutzen macht die Studie eindrücklich klar, dass vor allem Medikamente, die in einem abgekürzten Verfahren (also nicht in einem ordentlichen Verfahren) zugelassen wurden, signifikant weniger bis auch keinen Nutzen für die Patienten aufweisen. Dies, weil die Abkürzungen naturgemäss bedeuten, dass die Evidenzbasis eingeschränkt ist. Die Zulassung erfolgt dann auf Grund hoch geschraubter Erwartungen und wohl auch auf Druck von Interessensgruppen. Interessant ist auch, wie schnell der Verkauf dieser Medikamente die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen amortisiert. Die medianen Entwicklungskosten pro Medikament betrugen geschätzt knapp 700 Millionen Dollar. Nach medianen nur 3 Jahren überstiegen die Einnahmen bereits die Entwicklungskosten. 8 Jahre nach der Markteinführung lagen die kumulativen Einnahmen (median) pro Medikament bei knapp 4 Milliarden, überstiegen also die Entwicklungskosten bereits um deutlich mehr als das 5-fache. Nachdenklich macht, dass sich die beschleunigte Zulassung mit überdurchschnittlich vielen Medikamenten ohne echten Zusatznutzen für die Patientinnen und Patienten (gemäss Evidenz nach der Zulassung) trotzdem und durchaus als lohnende Investition zeigt. Man kann folgern, dass abgekürzte oder an Bedingungen geknüpfte Zulassungen unter strengen Bedingungen Sinn machen können, dass aber in der untersuchten Periode viele enttäuschte Erwartungen geschürt und unnötige Nebenwirkungen und Kosten induziert wurden.

BMJ 2024, doi.org/10.1136/bmj-2023-077391, verfasst am 08.03.2024

Grenzgebiete der Medizin

Gefährliches Halbwissen

In der Medizin selber, aber auch in den gesellschaftlichen und politischen Diskussionen geht es primär darum, seine eigenen Grenzen zu sehen und sich so dem Rat Erfahrener, respektive sich anderen Meinungen und Ansichten zu öffnen. Wie verhalten sich Wissen und Selbstbewusstsein zueinander? Man möchte annehmen, dass eine lineare Beziehung bestünde, d.h. je höher der Wissensstand, desto stärker wird das Selbstbewusstsein, etwas zu wissen oder gar zu verstehen. Vielleicht stimmt dies, aber nicht bei der Mehrheit der Bevölkerung. Durch Verwendung von mehr als 90’000 Fragekatalogen zu wissenschaftlichen Themen in Europa und den USA wurde versucht, das Selbstbewusstsein über das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten zu parametrisieren. Dabei wurde namentlich die Differenz zwischen falschen Antworten und Antworten wie «Ich weiss es nicht» als Mass für ein hohes oder zu hohes Selbstbewusstsein genommen. Dabei wurde evident, dass keine Linearität zwischen Wissensstand und Selbstbewusstsein nachweisbar war. Der Grund ist, dass bei der Mehrheit der getesteten Personen bei zunehmendem Wissen das Selbstbewusstsein (oder die Überzeugung «es zu wissen») überproportional zunimmt, die Individuen sich also unkritischer geben und sich in falscher Sicherheit fühlen. Die Studie wurde grossenteils noch vor dem auf Smartphones jederzeit abrufbaren Internet durchgeführt. Wir befürchten, dass die schnelle, meist aber oberflächliche Internetabfrage, diese Diskrepanz noch akzentuiert hat.

Nature Human Behaviour 2023, doi.org/10.1038/s41562-023-01677-8, verfasst am 12.03.2024

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

SMOB-Empfehlungen zur Priorisierung der Therapie mit 2,4 mg Semaglutid

Hintergrund

Die derzeitige begrenzte Verfügbarkeit des GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1 RA) Wegovy® (2.4 mg Semaglutid) erfordert eine Priorisierung, bezüglich welche Patientengruppe als erste, zweite usw. behandelt werden sollte. Um die Ärztinnen und Ärzte dabei zu unterstützen, hierbei sinnvolle und (so weit wie möglich) evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen, geben wir die folgenden Empfehlungen für den Priorisierungsprozess.

Allgemeine Empfehlungen:

1. Alle Patient/-innen mit kompliziertem Übergewicht oder Adipositas sollten eine multimodale, individuelle Lebensstilberatung erhalten, welche von einer Ernährungsberater:in oder anderen qualifizierten medizinischen Fachkraft durchgeführt wird, um die Einhaltung einer gesunden, ausgewogenen Ernährung und mindestens 150 Minuten körperlicher Aktivität pro Woche zu unterstützen.

2. Allen Patient/-innen mit einem BMI ≥35 kg/m2 oder einem BMI ≥30 kg/m2 mit unkontrolliertem Typ-2-Diabetes (T2DM), definiert durch einen HbA1c-Wert von ≥ 8 % über einen Zeitraum von ≥ 12 Monaten, welche gemäss den SMOB-Richtlinien (1) für eine bariatrische Operation qualifizieren, muss eine bariatrische Operation und Überweisung an eine auf bariatrisch-metabolische Chirurgie spezialisierten Ärzt:in angeboten werden, um chirurgiespezifische Informationen zu erhalten.

3. Patient/-innen mit T2DM sollten gemäss den SGED-Empfehlungen (2) behandelt werden, die den Einsatz von GLP-1 RA in einem frühen Stadium der Erkrankung vorsehen. Wir halten jedoch fest, dass die gewichtsreduzierende Wirksamkeit der aktuell erstattungsfähigen Maximaldosis von Semaglutid für die Behandlung von T2DM, d. h. Ozempic® 1 mg s.c. pro Woche und in oraler Form von 14 mg Rybelsus®, geringer ist als die gewichtsreduzierende Wirksamkeit von 2.4 mg s.c. pro Woche (Wegovy®) und somit die Diabetes-Präparate nicht den vollen Nutzen in Bezug auf die Gewichtsreduktion bieten. Für Patient/-innen mit Übergewicht/Adipositas und T2DM stellt Tirzepatid (Mounjaro®) die wirksamste pharmakotherapeutische Option zur Reduzierung des Körpergewichts und zur Verbesserung der Blutzuckerkontrolle dar (3). Bislang wird die Behandlung von Patient/-innen mit T2DM mit Mounjaro® jedoch noch nicht von der obligatorischen Krankenversicherung erstattet. Zudem gibt es im Gegensatz zu Semaglutid bislang zur Behandlung mit Tirzepatid von Patient/-innen mit T2DM keine kardiovaskulären Endpunktdaten.

4. Alle Patient/-innen, für die eine GLP-1 RA Pharmakotherapie zur Behandlung von Übergewicht/Adipositas gemäss der von der Swissmedic zugelassenen Indikation in Frage kommen, müssen über folgende Punkte informiert werden:

a) Aufgrund der Chronizität der Krankheit muss die Medikation über einen langen Zeitraum fortgesetzt werden, da ein Absetzen der Medikation hochtwahrscheinlich zu einer Wiederzunahme des Körpergewichts und einer Verschlechterung des damit verbundenen Gesundheitszustands führt (4-6).
b) Da die Kosten für die Behandlung von kompliziertem Übergewicht und Adipositas mit Wegovy® derzeit nur zeitlich begrenzt auf 3 Jahre von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen werden, müssen die Kosten für eine langfristige medikamentöse Behandlung von Patient/-innen selbst getragen werden.

5. Patient/-innen, welche bereits erfolgreich mit einem GLP-1 RA basierten Medikament behandelt werden, einschliesslich denen, die Saxenda® einsetzen (das in naher Zukunft nicht mehr für Erwachsene erhältlich sein wird), und denen, die zu Beginn einer “off-label”-Behandlung mit Ozempic® oder Rybelsus® die von der Swissmedic definierten Indikationskriterien für Wegovy® erfüllten, sollten eine Weiterbehandlung erhalten und auf Wegovy® umgestellt werden.

6. Die von der Swissmedic definierten Indikationskriterien für das Körpergewichtsmanagement-Medikament Wegovy® sollten prinzipiell eingehalten werden. Die eingeschränkte Verfügbarkeit von 2.4 mg Semaglutid (Wegovy®) macht jedoch eine Priorisierung der Behandlung innerhalb dieser Patientengruppe notwendig. Daher empfehlen wir hier drei verschiedene Stufen von Priorisierungskategorien.

Ausblick

Da davon ausgegangen wird, dass die Verfügbarkeit von 2.4 mg Semaglutid (Wegovy®) kontinuierlich zunehmen wird, gehen wir davon aus und unterstützen, dass mit der Zeit auch Patient/-innen einer niedrigeren Prioritätskategorie eine pharmakologische Behandlung erhalten können.

Abschliessende Erklärungen:

Wir appellieren an alle Ärztinnen und Ärzte, unsere Empfehlungen zur Prioritätensetzung zu berücksichtigen, damit die begrenzten Ressourcen von Semaglutid (Wegovy®) denjenigen Patient/-innen zugewiesen werden können, die wahrscheinlich am meisten von dieser Pharmakotherapie profitieren und nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen das beste Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweisen.

Übergewicht/Adipositas ist eine chronische, rezidivierende, multifaktorielle Krankheit. Vor diesem Hintergrund fordern wir, dass die Pharmakotherapie von kompliziertem Übergewicht und Adipositas nicht von den individuellen finanziellen Ressourcen abhängen darf. Die Kostenübernahme einer zeitlich uneingeschränkten Anti-Adipositas-Pharmakotherapie ist daher ein wichtiges Ziel für die Zukunft und bedarf dringend einer klaren Regelung.
Wir betonen, dass die bariatrisch-metabolische Chirurgie ein wesentlicher Bestandteil der Therapie schwerer Adipositas bleibt, da sie aktuell nach wie vor die effektivste und nachhaltigste Behandlungsoption darstellt.

Wir sind davon überzeugt, dass die Zukunft des Gewichtsmanagements bei Adipositas neben individueller Verhaltens- und Ernährungsberatung ein modularer Ansatz sein wird, bei dem Pharmakotherapie und bariatrisch-metabolische Chirurgie je nach den pathophysiologischen Gegebenheiten, Komorbiditäten und persönlichen Präferenzen der einzelnen Patient/-innen optimal eingesetzt oder sogar kombiniert werden.
Alle behandelten Patienten sollten unabhängig von der eingesetzten therapeutischen Massnahme von einem qualifizierten Behandlungsteam kontinuierlich betreut werden.

Prof. Dr. med.Bernd Schultes 1, Prof. Dr. med. Marco Bueter 2,3
Dr. med. Lucie Favre 4,5,6, Prof. Dr. med. Katharina Timper 7,8
for the collaborative task force “prioritization of anti-
obesity pharmacotherapy” of the Swiss Society for the
Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB)

Affiliationen :
1 Metabolic Center St. Gallen, friendlyDocs Ltd., St. Gallen, Switzerland.
2 Department of Surgery, Spital Männedorf, Männedorf Switzerland
3 Department of Surgery and Transplantation, University Hospital Zurich, University of Zurich, Zurich, Switzerland
4 Faculty of Biology and Medicine, University of Lausanne, Lausanne, Switzerland
5 Service of Endocrinology, Diabetes and Metabolism, Lausanne University Hospital, Lausanne, Switzerland.
6 Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, CHUV, Division of Endocrinology, Diabetology and Metabolism, Lausanne University Hospital, Lausanne, Switzerland
7 Endocrinology, Diabetes and Metabolism Clinic, University Hospital Basel, Basel, Switzerland
8 Department of Biomedicine, University of Basel, Basel, Switzerland

Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

1. SMOB.ch – Richtlinien [Internet]. [cited 2024 Jan 3]. Available from: https://www.smob.ch/de/richtlinien
2. Gastaldi G, Lucchini B, Thalmann S, Alder S, Laimer M, Brändle M, et al. Swiss recommendations of the Society for Endocrinology and Diabetes (SGED/SSED) for the treatment of type 2 diabetes mellitus (2023). Swiss Med Wkly. 2023 Apr 1;153(4):40060.
3. Frías JP, Davies MJ, Rosenstock J, Pérez Manghi FC, Fernández Landó L, Bergman BK, et al. Tirzepatide versus Semaglutide Once Weekly in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2021 Aug 5;385(6):503–15.
4. Rubino D, Abrahamsson N, Davies M, Hesse D, Greenway FL, Jensen C, et al. Effect of Continued Weekly Subcutaneous Semaglutide vs Placebo on Weight Loss Maintenance in Adults With Overweight or Obesity: The STEP 4 Randomized Clinical Trial. JAMA. 2021 Apr 13;325(14):1414–25.
5. Wilding JPH, Batterham RL, Davies M, Van Gaal LF, Kandler K, Konakli K, et al. Weight regain and cardiometabolic effects after withdrawal of semaglutide: The STEP 1 trial extension. Diabetes Obes Metab. 2022 Aug;24(8):1553–64.
6. Aronne LJ, Sattar N, Horn DB, Bays HE, Wharton S, Lin WY, et al. Continued Treatment With Tirzepatide for Maintenance of Weight Reduction in Adults With Obesity: The SURMOUNT-4 Randomized Clinical Trial. JAMA. 2024 Jan 2;331(1):38–48.
7. Lincoff AM, Brown-Frandsen K, Colhoun HM, Deanfield J, Emerson SS, Esbjerg S, et al. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Obesity without Diabetes. N Engl J Med. 2023 Dec 14;389(24):2221–32.
8. Kosiborod MN, Abildstrøm SZ, Borlaug BA, Butler J, Rasmussen S, Davies M, et al. Semaglutide in Patients with Heart Failure with Preserved Ejection Fraction and Obesity. N Engl J Med. 2023 Sep 21;389(12):1069–84.
9. Sharma AM, Kushner RF. A proposed clinical staging system for obesity. Int J Obes (Lond). 2009 Mar;33(3):289–95.

Schlafstörungen und Depression – Besonderheiten im Alter

Depressionen sind neben demenziellen Erkrankungen und Angsterkrankungen die häufigsten alterspsychiatrischen Erkrankungen; auch Schlafstörungen sind im Alter ein häufiges Symptom. Depressionen können sich bei älteren Menschen durch atypische Symptome äussern, sodass Altersdepressionen nicht gleich erkannt werden. Oftmals stehen körperliche Beschwerden, Schmerzen, allgemeines Unwohlsein und kognitive Störungen im Vordergrund und nicht die Hauptsymptome der Depression. Insbesondere die Abgrenzung einer Depression im Alter von einer depressiven Symptomatik im Rahmen einer beginnenden Demenz ist aufgrund der kognitiven Störungen bei Altersdepression meist schwierig. Schlafstörungen können ein Symptom der Altersdepression sein. Es können aber auch weitere Ursachen einer Schlafstörungen im Alter zugrunde liegen, und damit unabhängig von einer Depression sein. Unerkannt und unbehandelt erschwert dies die Behandlung der Depression erheblich.

Depression is the most common psychiatric disorders in old age, alongside dementia and anxiety; sleep disorders are also a common symptom in old age. Depression can manifest in older people through atypical symptoms, which means that old-age depression is not immediately recognized. Physical complaints, pain, general malaise and cognitive disorders are often the main cognitive disorders and not the main symptom of depression. In particular, the differentiation of depression in old age from depressive symptoms in the context of incipient dementia is usually difficult due to the cognitive disorders in old-age depression.
Key Words: Old age, depression, symptoms, cognitive disorders

Ursachen der Altersdepression

An der Entstehung einer Depression im Alter können somatische und psychische/psychosoziale Faktoren beteiligt sein.

Hierzu zählen das Nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, das Auftreten von körperlichen Erkrankungen mit Angst vor Autonomieverlust, Rollenwechsel (Beruf, Pensionierung, Familie – Auszug der Kinder verbunden mit einer persönlichen Neuorientierung für die Zeit der Pensionierung), Verlusterlebnisse, Veränderungen/Reduktion des sozialen Netzwerks, Wegzug/Tod von engen Freunden und Angehörigen, aber auch der Verlust des sozialen Netzwerks am Arbeitsplatz.

Um eine wirksame spezifische und individuell ausgerichtete Therapie zu planen, ist es wichtig, die Depression in ihrer Ausprägung und Intensität zunächst zu erkennen und zudem die möglichen, an der Entstehung und Aufrechterhaltung beteiligten Faktoren (körperliche und psychosoziale Faktoren) zu erfassen.

Diagnostik

Die Diagnostik der Altersdepression erfordert somit eine breite psychopathologisch-psychosoziale wie auch körperliche Abklärung, einschliesslich somatischer Untersuchungen und der Bestimmung von Laborparametern und einer Bildgebung (MRI). Die aktuell vorliegenden Behandlungsempfehlungen, die auch für die Differenzialdiagnostik für eine beginnende Demenz massgebend sind, hat die Schweizer Gesellschaft für Alterspsychiatrie vorgelegt (1). Ergänzend können Ratingskalen wie z.B. die Geriatrische Depressions-Skala (GDS) zur Bestimmung der Intensität der Depression herangezogen werden.

Zur Diagnostik gehört zwingend die Abklärung und Einschätzung der Suizidalität, die sowohl im Alter als auch bei Depressionen deutlich erhöht ist. Die Suizidalität ist anzusprechen und in ihrer Intensität zu erfassen. Die Einschätzung und Besprechung der Suizidalität erfordert eine gewisse klinische Erfahrung, zudem können auch hier ergäneznd Ratingsskalen angewendet werden (1, 2).

Therapie der Altersdepression

Die Therapie der Altersdepression sollte sich, wie schon bei der Diagnostik beschrieben, ebenfalls an den Behandlungsempfehlungen der Schweizer Gesellschaft für Altersdepression orientieren (1). Grundsätzlich gilt, dass bei sekundären Depressionen, die im Rahmen einer anderen Grunderkrankung auftreten (z.B. Schilddrüsenfunktionsstörung), zunächst die Grunderkrankung behandelt werden muss; ggf. muss jedoch – auch bei Vorliegen einer anderen Erkrankung – parallel eine Mitbehandlung des depressiven Zustandsbildes oder einzelner Symptome (z.B. Schlafstörungen, Unruhe) erfolgen. Bei leicht ausgeprägten Depressionen ist eine alleinige Psychotherapie zu bevorzugen, bei mittelgradigen Depressionen kann entweder medikamentös oder psychotherapeutisch oder auch kombiniert behandelt werden; bei schweren Depressionen ist immer eine Kombination aus medikamentös, antidepressiver Therapie und Psychotherapie anzuwenden. Hinzu kommen weitere adjuvante nicht-medikamentöse Therapien wie Lichttherapie, körperliche Aktivität und Sporttherapie sowie Ergo- und Kunsttherapie.

Die Behandlung der Depression sollte v.a. bei älteren Menschen spätestens nach einem (spätestens zwei) erfolglosen Therapieversuch(en) durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie durchgeführt werden, da meist eine ganzheitliche «psychosomatische Sichtweise» mit der Anwendung spezifischer psychotherapeutischer Strategien für die Behandlung notwendig ist.

Psychotherapie

Die Psychotherapie bei älteren Menschen muss sich an den Inhalten und Themen, die als Belastungsfaktoren für die Entstehung von Depressionen im Alter beschrieben sind (s.o.), orientieren. Ein wichtiger Aspekt ist hier, dass auch für ältere, z.T. für hochbetagte Patienten, eine Zukunftsperspektive entwickelt werden kann, auch wenn die Zeit für diese Zukunft bei älteren Menschen wesentlich kürzer ist als im jüngeren Alter. Ein anderer wichtiger Aspekt, der in der Psychotherapie aufgegriffen werden sollte, bezieht sich auf das Thema «Akzeptanz». Hier geht es darum, die aktuelle Situation, z.B. das Vorliegen einer (meist chronischen) körperlichen Erkrankung mit eingeschränkter Mobilität und Autonomie oder auch beklagte Fehler aus früheren Lebensphasen, die nicht mehr zu korrigieren sind, zu akzeptieren. Erst dann kann an Möglichkeiten zur weiteren Gestaltung der Zukunft und der Verbesserung der Lebensqualität gearbeitet werden.

Die meisten positiven Befunde liegen für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), für die interpersonelle Therapie (IPT) und die psychodynamische Fokaltherapie vor. Für die Verfahren der dritten Welle wie ACT, CBASP, MBCT ist die Datenlagen für die Anwendung im Alter noch gering. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Therapieverfahren im Einzelfall angewendet, nicht wirksam sind (1).

Medikamentöse Behandlung

Ist eine medikamentöse Behandlung notwendig, sind grundsätzlich alle zugelassenen Antidepressiva wirksam. Bereits bei einer leichten bis mittelgradigen Depression mit ausgeprägten Schlafstörungen können Antidepressiva angewendet werden, insbesondere dann, wenn eine Psychotherapie nicht möglich ist (z.B. keine Verfügbarkeit, ausgeprägte kognitive Störungen). Die Auswahl der Antidepressiva richtet sich in diesem Fall in erster Linie nach dem Nebenwirkungsprofil und ggf. gleichzeitig vorliegender Komorbidität. Es gilt bei der medikamentösen Behandlung älterer Menschen grundsätzlich «start low, go slow». Dennoch sollte eine ausreichende Dosierung des Medikaments angestrebt und erreicht werden, die anhand von Blutspiegelkontrollen evaluiert werden kann. Auf Medikamente mit anticholinergen Nebenwirkungen sollte verzichtet werden.

Therapieresistenz

Falls eine Therapieresistenz vorliegt, sollten die in den Schweizer Behandlungsempfehlungen für Altersdepression bzw. unipolare Depression genannten Schritte (Umstellung, Kombination, Augmentation, zusätzliche biologische Verfahren) zum Einsatz kommen (1, 3).

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass wenn durch das Auftreten von Nebenwirkungen bei einer Substanz eine Dosiserhöhung nicht möglich ist, eine Kombination mit einem zweiten Antidepressivum in ebenfalls niedriger bis mittlerer Dosierung helfen kann und Nebenwirkungen minimiert werden können. Die Behandlung einer therapieresistenten Altersdepression sollte durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie erfolgen.Auch persistierende Schlafstörungen können ein Grund für mangelndes Ansprechen auf eine antidepressive Behandlung sein.

Schlafstörungen im Alter

Schlafstörungen können – wie bereits erwähnt – ein Symptom der Depression sein. Es gibt aber viele weitere Gründe, die für Schlafstörungen, insbesondere im Alter, verantwortlich sein können.

Schlafregulation

Um Schlafstörungen zu verstehen, ist eine Kenntnis der Schlafregulation notwendig.
EEG-Ableitungen während des Schlafs geben uns einen Hinweis auf die elektrophysiologische Aktivität während der Nacht. Die Analyse dieser Ableitungen zeigt einen Wechsel aus NonREM-Schlaf und REM-Schlaf (Schlafzyklus), mit tiefem NonREM-Schlaf zu Beginn der Nacht und leichtem NonREM-Schlaf gegen Ende der Nacht (in späteren Schlafzyklen). An diese Schlafphasen assoziiert findet sich auch eine regelhafte Freisetzung verschiedener Hormone, die jeweils ein charakteristisches Muster aufweist (4, 5) (Abb. 1).

Eine Erklärung für die Schlafregulation liefert das Zwei-Prozess-Modell (6). Der Schlaf ist an den durch die Sonne vorgegebenen Hell-Dunkel-Rhythmus des 24-Stunden-Tages gekoppelt und unterliegt somit einem circadianen Rhythmus. Dieser wird durch einen endogenen Schrittmacher im Zwischenhirn (nucleus suprachiasmaticus) gesteuert (=Prozess C – circadian). Gleichzeitig beeinflusst – unabhängig vom Hell-Dunkel-Rhythmus der Sonne – die Länge der vorangehenden Wachzeit unseren Schlaf, indem der Schlafdruck zunimmt (Prozess S – Schlafdruck), (Abb.2). Je länger man wach ist, umso tiefer ist der Schlaf in der folgenden Nacht (Schlafdruck-Prozess S). Dem tiefen NonREM-Schlaf wird eine körperliche und psychische Erholungsfunktion wie auch eine Gedächtnis-fördernde Funktion zugeschrieben, u.a. aufgrund der reduzierten Aktivität cortikaler neuronaler Aktivität sowie der veränderten Aktivität bestimmter Hormone und des Immunsystems. Der REM-Schlaf ist von der Variation der vorherigen Wachzeit weniger stark beeinflusst, sondern eher an den circadianen Rhythmus gekoppelt (5).
Aufgrund der in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse, ist es wichtig, bei der Behandlung einen gesunden, natürlichen Schlaf, mit ausreichend Tiefschlaf und stabilen REM-Schlafphasen anzustreben.

Im Alter findet sich physiologischerweise eine kürzere Schlafzeit und ein insgesamt leichterer Schlaf, zudem verändert sich auch die circadiane Komponente der Schlafregulation (Prozess C) mit dem Alter, u.a. mit einem früheren Anstieg des Cortisols in der 2ten Nachthälfte (4, 5 7) (Abb. 1).

Gründe für Schlafstörungen im Alter

Neben diesen physiologischen Veränderungen, die zu einem leichteren Schlaf mit abgeschwächtem circadianem Rhythmus für Körperkerntemperatur, Melatonin und des Cortisols mit einer Phasenvorverschiebung (Phase advance) um ca. eine Stunde führen, finden sich als Folge dieser altersbedingten Veränderungen des Schlafs und der schlafassoziierten hormonellen Sekretion (insbesondere auch Cortisol) eine erhöhte Anfälligkeit für Störungen des Schlafs durch exogene Faktoren (Stressoren) im Alter. Diese Stressoren, die diesbezüglich im Alter eine Rolle spielen können, sind analog den Belastungen, welche auch für die Altersdepression genannt wurden (s.o.). Sie können – als altersspezifische Stressoren – bedingt durch den leichteren Schlaf bei älteren Menschen schneller und intensiver zu einer ausgeprägten Insomnie führen (5).

Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer Insomnie spielen gerade im Alter körperliche Erkrankungen. Hier sind insbesondere die spezifischen Schlafstörungen des Restless Leg Syndroms (unruhige Beine) wie auch der schlafbezogenen Atemstörungen (Atemaussetzer, Schlaf-Apnoe) zu nennen, die beide mit zunehmendem Alter häufiger auftreten und meist über einen längeren Zeitraum, trotz bereits bestehende Schlafstörung, unerkannt bleiben.
Als spezifische Schlafstörung ist hier auch die REM-Schlafverhaltensstörung zu erwähnen, die mit motorischen Bewegungen während des REM-Schlafs meist in der zweiten Nachthälfte einhergeht und mit einer neurodegenerativen Erkrankung aus dem Kreis der Synnucleinopathien (M. Parkinson, Lewy-Körper-Demenz) assoziiert sein kann und ebenfalls im Alter häufiger auftritt (8).

Zu diesen primären Schlafstörungen kommen eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen, die sich negativ auf den Schlaf auswirken können. An erster Stelle sind unterschiedliche Schmerzsyndrome zu nennen, aber auch kardiovaskuläre, pulmonale und urogenitale Erkrankungen wie auch deren medikamentöse Behandlung mit z.T. schlafstörenden Substanzen (z.B. Theophylinpräparate am Abend zur Behandlung von Asthma) (9). Im Fall von bestehenden somatischen (aber auch psychischen) Komorbiditäten ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den medizinischen Disziplinen (Schlafmediziner, Internist, Neurologe, weitere) angezeigt, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Die Therapie der sekundären Schlafstörung erfordert eine möglichst optimale Behandlung der Grunderkrankung, wie auch der medikamentösen Einstellung der Patienten unter Berücksichtigung der schlafstörenden Eigenschaften mancher somatischer Medikamente.

Schlafstörungen im Alter – Diagnostik

An erster Stelle ist abzuklären, ob die Schlafstörung, die der Patient berichtet, überhaupt Krankheitswert besitzt oder ob es sich nur um ein fehlerhaftes Schlafverhalten oder um eine Schlafwahrnehmungsstörung handelt. Hierzu können neben einer vertieften Eigen- und Fremdanamnese, Schlaftagebücher und die Aktigraphie eingesetzt werden. Ist auf phänomenologischer Ebene eine Schlafstörung festgestellt worden, geht es dann um die Ursachensuche. Hier müssen zunächst die oben beschriebenen somatischen Gründe (somatische Komorbiditäten, potenziell schlafstörende Medikamente) und psychische Ursachen (Belastungsfaktoren, psychische Erkrankungen) entdeckt bzw. ausgeschlossen werden.

Da dieser umfassende diagnostische Prozess in einzelnen Fällen lange dauern kann, bis eine gewisse Klarheit herrscht, ist es oft notwendig, die Insomnie bereits parallel symptomatisch zu behandeln.

Dies ist auch dadurch gerechtfertigt, dass -selbst wenn eine Ursache gefunden und diese behandelt wird- oftmals eine zusätzliche spezifische Behandlung der Insomnie notwendig ist.

Für die Behandlung der Insomnie stehen medikamentöse und nicht-medikamentöse Optionen zur Verfügung (9).

Therapie der Insomnie im Alter (Tab.1)

Nicht-medikamentöse Massnahmen

Zu den nicht-medikamentösen Massnahmen zählen zur Stärkung des Prozess C konstante Schlaf- und Wachzeiten, ggf. kombiniert mit Schlafrestriktion und limitiertem Mittagsschlaf (Stärkung des Prozess S).

Der individuell angepasste Einsatz von Lichttherapie (wirkt auf Prozess C) sowie alle Massnahmen der Schlafhygiene (beide Prozesse betroffen) sind weitere, nicht-medikamentöse Therapiemöglichkeiten, die direkt auf diese beiden Prozesse der Schlafregulation einwirken. Körperliche Aktivität im Sinne von sportlicher Betätigung mittlerer Intensität hat ebenso eine unterstützende positive Wirkung, wie aktivierende kreative und geistig stimulierende Therapien (Ergo-, Kunsttherapie), die auch zur Stabilisierung des circadianen Rhythmus eingesetzt werden können, indem sie immer zu festen Zeiten am Tag durchgeführt werden. Gerade in kürzlich veröffentlichten, kontrollierten Studien stellt sich zunehmend der positive Effekt von körperlicher Aktivität und Sport auf die Besserung von Schlafstörungen und Depressionen heraus. Besonders wirksam waren Programme mit mittlerer Intensität und einer Frequenz von drei «Trainings»-Einheiten pro Woche über drei bis sechs Monate. Über 50% der dort untersuchten Studien zeigten positive Wirkungen auf Schlafstörungen wie auch auf eine Verbesserung der Depression insgesamt (10).

Im Alter sollten sportliche Aktivitäten und Programme bei Vorliegen einer Depression oder/und Insomnie in Absprache mit und Supervision durch die behandelnden Ärzte angewendet werden.

Medikamentöse Behandlung

Bei Schlafstörungen sollten immer zunächst nicht-medikamentöse Methoden eingesetzt werden, manchmal ist es jedoch unumgänglich, auch schlaffördernde Medikamente einzusetzen. In erster Linie, jedoch nur für den kurzzeitigen Einsatz, stehen hier Benzodiazepin Hypnotika sowie Benzodiazepin Analoga (die Z-Substanzen wie Zolpidem) zur Verfügung. Sie sind für die Behandlung der Insomnie zugelassen, sollten aber v.a. im Alter aufgrund des Nebenwirkungsprofils (v.a. Sturzgefahr, kognitive Störungen, Toleranz und Abhängigkeitsproblematik) sehr zurückhaltend gegeben werden (Tab. 2).

Ist eine längere medikamentöse Behandlung der Insomnie (bei primärer oder auch bei sekundärer Insomnie) nötig, können Substanzen aus der Klasse der Antidepressiva oder der Antipsychotika gegeben werden.

Beim Einsatz dieser Substanzen im Alter bestimmt auch hier v.a. das Nebenwirkungsprofil der jeweiligen Substanz die Auswahl. Grundsätzlich sollten im Alter keine Substanzen eingesetzt werden, die anticholinerge Nebenwirkungen (u.a. Mundtrockenheit, Harnverhalt, Obstipation, Akkommodation und kognitive Störungen) aufweisen; bei vorhandenen Komorbiditäten ist v.a. auf das Potenzial zur Auslösung von extrapyramidal motorischen Störungen (EPMS), QT-Zeit Verlängerung und der Induktion einer diabetogenen Stoffwechsellage bzw. eines metabolischen Syndroms zu achten.

Es sollten nach Abklärung des Nebenwirkungsprofils und möglicher Komorbiditäten im Alter v.a. Substanzen eingesetzt werden, die keine grossen Änderungen der Schlafarchitektur induzieren und am besten eine Tiefschlafzunahme und keine REM-Schlaf-Suppression bewirken (wie z.B. Trazodon, Agomelatin, Mirtazapin oder aus der Klasse der Antipsychotika v.a. Quetiapin und Pipamperon) (Tab. 2), wobei sich der Einsatz dieser Substanzen –wie oben erwähnt – am Nebenwirkungsprofil orientiert und durch das Vorliegen möglicher Komorbiditäten limitiert ist (5).

Oft vergessen wird der Melatonin-Agonist Circadin, der für Schlafstörungen im Alter zugelassen ist und der mit zunehmendem Alter abnehmenden Stärke des Prozess C entgegenwirkt.

Als neue Behandlungsoption steht seit Ende letzten Jahres der Orexinrezeptor-Antagonist Daridorexant zur Verfügung. Er führt zu einer Verbesserung des Ein- und Durchschlafens, einer Zunahme von Tief- und REM-Schlaf und zeichnet sich v.a. durch eine gute Verträglichkeit, ohne körperliche Abhängigkeit aus, sodass er gerade für ältere Patienten eine ernstzunehmende Behandlungsoption ist (11).

Die Behandlung von Schlafstörungen im Alter besteht jedoch nie in einer alleinigen medikamentösen Behandlung; es sind immer nichtmedikamentöse Behandlungselemente einzubeziehen. Nach einer sorgfältigen Diagnostik und Schlafanamnese ist die Behandlung dann personalisiert auf die beim einzelnen Patienten vorliegende Konstellation zu planen und durchzuführen mit dem Ziel einer vollständigen Behandlung der Schlafstörung und einer Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit.

Notwendigkeit der Prävention

Eine unbehandelte Insomnie hat sowohl ein erhöhtes Risiko für das Auftreten körperlicher Erkrankungen, v.a. cerebro-, cardiovaskulärer und metabolischer (Diabetes Typ II, metabolisches Syndrom) Erkrankungen, als auch psychischer Erkrankungen wie v.a. Angststörungen, kognitive Störungen und Depressionen zur Folge. Daher ist die zeitnahe und konsequente Behandlung von Schlafstörungen mit Krankheitswert zwingend notwendig.

Das Risiko für das Auftreten von Schlafstörungen im Alter kann reduziert werden durch die Einhaltung eines regelmässigen Tag-Nachtrhythmus mit festen Schlafzeiten (in der Regel Bettzeit nicht vor 22.30 Uhr) und mit festen und regelmässigen Zeiten der Nahrungsaufnahme. Ein Mittagsschlaf kann erlaubt werden, jedoch maximal eine halbe Stunde und nicht mehr nach 15 Uhr.

Hinzukommen Massnahmen zum Erhalt der körperlichen und geistigen Fitness und die Einhaltung schlafhygienischer Massnahmen. All diese verhaltensorientierten Massnahmen spielen bei der Prävention von Schlafstörungen und Depressionen eine grosse Rolle und können von älteren Personen auch selbst durchgeführt werden.

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PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter

Chefarzt Psychiatrie St. Gallen Nord
Zürcherstrasse 30
9500 Wil

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Polyzythämie oder Erythrozytose – Ursachen und diagnostisches Vorgehen

Polyzythämie wird durch einen Anstieg der Hämoglobinwertes (Hb), des Hämatokrits (Hkt) oder Anzahl der roten Blutkörperchen (RBC) über dem Referenzbereich definiert und ist abhängig vom Alter, Geschlecht und Wohnhöhe (üblicherweise ab >1500 m ü.M.). Polyzythämie wurde bei ca. 0.2% aller hospitalisierten Patienten beschrieben (1) und wird in JAK2-mutierte (JAK2-positive) Polyzythämie, welche Polyzythämia vera (PV) genannt wird, sowie JAK2-unmutierte (JAK2-negative) Polyzythämie, welche sekundär, hereditär oder idiopathisch sein kann, eingeteilt.

Polycythaemia is defined by an increase in haemoglobin (Hb), haematocrit (Hct) or red blood cell (RBC) count above the reference range, and is dependent on age, gender and altitude (usually >1500 m above sea level). Polycythaemia has been described in approximately 0.2% of all hospitalised patients (1) and is divided into JAK2-mutated (JAK2-positive) polycythaemia, which is called polycythaemia vera (PV), and JAK2-unmutated (JAK2-negative) polycythaemia, which can be secondary, hereditary or idiopathic.
Key Words: Polycythaemia, haemoglobin, haematocrit, red blood cell¸ JAK2

JAK2-mutierte (JAK2-positive) Polyzythämie: Polyzythämia Vera (PV)

Die PV ist eine hämatologische, klonale Erkrankung, welche zu der Gruppe der myeloproliferativen Neoplasien (MPN) gehört. Die PV-Patienten haben ein deutlich erhöhtes Risiko für venöse und arterielle thromboembolische (auch lebensbedrohliche) Ereignisse. Zudem besteht bei ihnen ein Risiko für die Entwicklung einer Myelofibrose, einer Form der MPN mit einer ungünstigeren Prognose. In seltenen Fällen kann die Erkrankung auch in eine akute myeloische Leukämie (AML) fortschreiten. Gemäss der Klassifikation der Tumorerkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie dem Internationalen Consensus der Klassifikation (ICC) der MPN aus dem Jahr 2022 gibt es klare diagnostische Kriterien für die PV (Tab. 1).

Die JAK2-Mutationen können primär aus dem peripheren Blut getestet werden. Ein erniedrigter Epo-Spiegel ist für PV typisch.

Eine Knochenmarkpunktion (KMP) ist hilfreich, um den Typ der MPN zu charakterisieren und das Vorliegen einer Fibrose, die prognostische Relevanz hat, zu prüfen. Mittels KMP werden Knochenmarkaspirat und Biopsie gewonnen. Wichtige Aspekte bei der Beurteilung sind die gesteigerte Zellularität, eine trilinäre Myeloproliferation, die Morphologie der Megakaryopoese, das Vorhandensein einer Fibrose, sowie eventuelle Vermehrung der Blasten. Die Flowzytometrie ist nicht zwingend nötig, könnte aber dazu beitragen, eine Zunahme der Blasten auszuschliessen. Die konventionelle Zytogenetik ist bei der Diagnosestellung empfohlen, das Material kann jedoch eventuell für spätere Testung asserviert werden. Aufgrund des im Allgemeinen indolenten Verlaufs der PV gehört eine erweiterte molekulare Untersuchung derzeit nicht zur Routine einer Abklärung. Dies ist jedoch in den Fällen mit grenzwertigem Erscheinungsbild, bei denen die Unterscheidung zu anderen MPN schwierig ist, oder bei denen der Verdacht auf ein Fortschreiten der Krankheit besteht, angezeigt. Die erweiterte Charakterisierung erfolgt mittels Next Generation Sequencing (NGS). Es wird ein der Fragestellung entsprechendes Panel eingesetzt. Diese Untersuchung ist jedoch in der Regel mit höheren Kosten verbunden und bedarf einer Zustimmung der Krankenkasse mit einer Kostengutsprache. Der Nachweis zusätzlicher Mutationen kann prognostisch wichtig sein.

Ein Thrombophilie-Screening bei stattgehabter Thrombose kann erwogen werden. Die Testung für Cholesterin (LDL und HDL), Triglyceride, Glucose sowie HbA1c, zur Einschätzung nicht-MPN-bedingter kardiovaskulärer Risikofaktoren sollte erfolgen. Die Optimierung dieser Risikofaktoren ist strikt empfohlen.
Die Diagnose einer PV hat erhebliche therapeutische Konsequenzen, da aufgrund des erhöhten thromboembolischen Risikos der Hkt <45% gehalten werden soll. Die Behandlung hängt vom Alter und der Vorgeschichte stattgehabter Thrombosen ab, die das Risiko für weitere thromboembolische Komplikationen und die richtige Behandlung der Krankheit bestimmen. Die Behandlung umfasst Aderlässe, Thrombozytenaggregationshemmer d.h. Acetylsalicylsäure (ASS) und zytoreduktive Therapie mit Hydroxyurea oder pegyliertem Interferon alpha (Peg-IFN-alpha) (Tab. 2).

Die Hauptziele der Behandlung sind:
1. Reduktion des thromboembolischen Risikos
2. Kontrolle der klinischen Symptome
3. Vermeidung der späten Komplikationen wie
Myelofibrose oder AML

JAK2-unmutierte (JAK2-negative) Polyzythämie: sekundär, hereditär, idiopathisch

Mit der Entdeckung von JAK2-Treibermutationen im Jahr 2005 und breit verfügbaren Methoden zur Testung stellt die PV meist keine diagnostische Schwierigkeit mehr dar. Eine diagnostische Herausforderung ist dagegen die JAK2-unmutierte d.h. JAK-2 negative Polyzythämie, welche eine heterogene Gruppe von Entitäten umfasst.

In der Universitätsklinik der Hämatologie des Inselspitals Bern wurde eine Studie durchgeführt, in welcher die Epidemiologie, Ursachen und die Komplikationen der JAK2-unmutierten Polyzythämie analysiert wurden (1). In dieser Studie wurden alle Patienten, d.h. ca. 730’000, welche am Inselspital über fast 11 Jahre (Oktober 2008 – Juli 2019) in Behandlung waren, untersucht, und davon ca. 1’400 Patienten, welche die Hb/Hkt WHO Kriterien für PV erfüllt haben, identifiziert. Hiervon wurden 95 Fälle der JAK2-mutierten Polyzythämie d.h. PV, und 294 Fälle mit JAK2-unmutierter Polyzythämie festgestellt. Die Resultate der Studie werden in diesem Artikel diskutiert.

Sekundäre und idiopathische, JAK2-unmutierte Polyzythämie

Prinzipiell treten die erworbenen Formen der JAK2-unmutierten Polyzythämie am häufigsten im klinischen Alltag auf. Sie entstehen als Folge von übermässiger Epo-Produktion, entweder als physiologischer Ausgleich für unzureichende Sauerstoffversorgung des peripheren Gewebes (Lunge), Schlafapnoe, Rechts-Links-Herz-Shunts, Rauchen, inklusive Shisha (2), Höhenlage, Nierenarterienstenose und polyzystische Nierenerkrankung, oder als autonome Produktion von Epo durch Tumore oder die Einnahme von Anabolika (3).

Unsere Studie zeigt, dass die Männer der Kohorte der JAK2-unmutierten Polyzythämie stark überrepräsentiert waren (n=242, 82%).

Trotz der Verfügbarkeit molekularer Untersuchungen und anderer diagnostischer Methoden sind idiopathische Formen nach wie vor die häufigste Ursache in dieser Krankheitsgruppe, sodass bei 30 % dieser Patienten keine Ursache festgestellt wurde, gefolgt von Schlafapnoe und Rauchen (Tab. 3).

Bei jungen Patienten (< 30 J., n=56), liess sich eine Ursache der Polyzythämie nur bei ca. der Hälfte eruieren. Bei diesen Patienten blieb die Polyzythämie, trotz extensiver Diagnostik, unklar. Darüber hinaus sind bei jungen Patienten die Schlafapnoe (n=6, 11% aller jungen Patienten) und Rauchen (n=6, 11% aller jungen Patienten) die am häufigsten diagnostizierbaren Ursachen für JAK2-unmutierte Polyzythämie. Aus diesem Grund sollte die Schlafapnoe auch bei jungen Patienten aktiv gesucht werden.

Die sekundäre und die idiopathische Polyzythämie benötigen aus hämatologischer Sicht keine Therapie, da diese Patienten prinzipiell kein klar erhöhtes Risiko für Thromboembolien oder Transformation in eine andere Erkrankung haben. Die Ursache sollte therapeutisch angegangen werden.

Kongenitale Erythrozytose

Angeborene sekundäre Erythrozytosen sind selten und werden meist durch Keimbahnmutationen verursacht, einschliesslich Mutationen in Genen, die am Sauerstoff-Sensorweg und Hb-Bildung beteiligt sind, unter anderem abnormale Sauerstoffaffinität (4). Es sind mehrere Mutationen bekannt, welche eine kongenitale Erythrozytose verursachen können (Tab. 4).

Parameter, die für die Kategorisierung dieser Art von Polyzythämie wegweisend sind, umfassen den Epo-Spiegel im Serum und den P50-Wert. Ein niedriger P50-Wert (PO2 bei 50% Sättigung) in der Blutgasanalyse spiegelt eine hohe Hb-Sauerstoffaffinität wider (5). In unserer Erfahrung ist jedoch die Testung für Epo und P50 in der arteriellen (oder venösen) Blutgasanalyse, selten hilfreich in der Feststellung der Ursache der kongenitalen Erythrozytose, da die bestimmten Mutationen mit verschiedenen Mustern der Epo und P50 Werte verbunden sind (1).

Um die Mutation, welche für die kongenitale Erythrozytose verantwortlich ist, zu untersuchen, muss eine molekulare Testung durchgeführt werden. Diese kann vom peripherenBlut erfolgen und mit NGS durchgeführt werden. NGS ist eine molekulardiagnostische Methode, die erlaubt, mehrere Gene gleichzeitig zu untersuchen und auch vor einer KMP durchgeführt werden kann.

Am Inselspital wurde bereits im Jahr 2018, ein 13-Gen-NGS-Panel für die kongenitale Erythrozytose entwickelt (6). Dieses Panel wurde über die letzten Jahre um weitere Gene erweitert und aktuell werden 24 Gene untersucht (Tab. 5).

Es werden nur Genvarianten untersucht, die gemäß den internationalen Richtlinien als pathogen, wahrscheinlich pathogen oder als Varianten unbekannter Signifikanz (VUS) gelten.

Diese Untersuchung ist vor allem bei jungen Patienten oder Patienten mit positiver Familienanamnese indiziert und benötigt eine Kostengutsprache der Krankenkasse.

Die kongenitalen Erythrozytosen benötigen aus hämatologischer Sicht ebenfalls meistens keine spezifische Therapie und sind nicht mit erhöhtem Risiko für Thrombosen oder Transformation in eine andere Erkrankung verbunden. Die Ausnahme ist die Chuvah Erythrozytose (VHL-mutiert), da diese für eine Thrombosetendenz bekannt ist. Aktuell gibt es jedoch keine klare Therapieempfehlung. Mit der Zunahme der Testung für die kongenitalen Erythrozytosen sowie einer besseren Datenlage, können hoffentlich zukünftig die klaren Managementstrategien etabliert werden.

Diagnostisches Vorgehen bei Patienten mit Erythrozytose

Die Schrittempfehlungen für die Abklärung bei Patienten mit Erythrozytose/ Polyzythämie, die negativ für JAK2-Mutationen in Exon 14 und 12 ist, sind:
1. Genaue Anamnese und Vorgeschichte: Vorerkrankungen? Allgemeine Symptome? Rauchen? Medikamente (Androgen-, Epo-Einnahme)? Gezielte Anamnese bzg. Tumorerkrankungen? Nierentransplantation? Überprüfung früherer Blutbild-Werte: Hatte der Patient jemals normale Hb-/Hkt-Werte?
2. Zuweisung in die Pneumologie zur Abklärung der Schlafapnoe oder anderen Lungenerkrankungen (auch bei beschwerdefreien Patienten). Röntgenuntersuchung des Thorax, Lungenfunktionsprüfung erwägen. Messung von COHb.
3. Screening der kardialen Erkrankungen mit Echokardio­gramm sowie Elektrokardiogramm (EKG), wenn noch nicht erfolgt. Zuweisung Kardiologie erwägen.
4. Ultraschall Abdomen (Frage nach Hepatosplenomegalie, Lymphadenopathie, Tumormasse, Nierenarterien­stenose, Nierenzysten) und/oder gezielte Bildgebung zur Tumorabklärung je nach Symptomatik.
5. Altersentsprechendes Tumorscreening gemäss Standard.
In fast einem Drittel der Patienten bleibt jedoch die Ursache einer JAK2-unmutierten Polyzythämie trotz erweiterter Suche nach sekundären oder kongenitalen Ursachen unklar und wird als idiopathisch klassifiziert.

Unser vorgeschlagener Diagnosealgorithmus für JAK2-unmutierte Polyzythämie bei Erwachsenen ist in Abbildung 1 dargestellt.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Poly­zythämie und Erythrozytose wichtige Laborbefunde sind, welche eine weitere Abklärung triggern sollten.

Danksagung: Herzlichen Dank an die Jacques und Gloria Gossweiler Stiftung (www.jggf.ch), welche die Forschung über JAK2-unmutierte Polyzythämie im Rahmen des Fellowship-Preises 2020 für K. A. Jalowiec unterstützt hat.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Katarzyna Aleksandra Jalowiec, MSc
Dr. sc. nat. Naomi Porret
Prof. Dr. med. Sara Christina Meyer, PhD
Prof. Dr. med. Alicia Rovó
Universitätsklinik für Hämatologie und
Hämatologisches Zentrallabor
Inselspital, Universitätsspital Bern, Freiburgstrasse, 3010 Bern

Dr. med. Katarzyna Aleksandra Jalowiec, MSc

Universitätsklinik für Hämatologie und
Hämatologisches Zentrallabor
Inselspital, Universitätsspital Bern
Freiburgstrasse
3010 Bern

Dr. sc. nat. Naomi Porret

Universitätsklinik für Hämatologie und
Hämatologisches Zentrallabor
Inselspital, Universitätsspital Bern
Freiburgstrasse
3010 Bern

Prof. Dr. med. Alicia Rovó

Universitätsklinik für Hämatologie und
Hämatologisches Zentrallabor
Inselspital, Universitätsspital Bern
Freiburgstrasse
3010 Bern

Die Autorinnen haben keine Interessens­konflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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7. Marchetti, M. et al. (2022) Appropriate management of polycythaemia vera with cytoreductive drug therapy: European LeukemiaNet 2021 recommendations. The Lancet Haematology [online]. 9 (4), pp. e301–e311.
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Gelenkpunktion und Infiltration – Pro und Contra

Die Gelenkpunktion bzw. -Infiltration ist eine häufige medizinische Prozedur, die insbesondere von Rheumatologen durchgeführt wird. An Nummer eins steht das Kniegelenk, da es gross und gut erreichbar ist bzw. häufig von rheumatischen oder mechanischen Erkrankungen betroffen ist. Daneben werden die Schulter, Handgelenk, Hüfte, Sprunggelenk, aber auch kleinere Gelenke wie Fingergelenke am häufigsten punktiert bzw. infiltriert. Im folgenden Artikel soll auf einige Grundlagen sowie Kontroversen der Gelenkpunktion und Infiltration eingegangen werden.

Joint punctures and infiltrations are frequent medical procedures, particularly carried out by rheumatologists. First and foremost is the knee, due to its large size and accessibility, as well as its frequent involvement in rheumatic or mechanical diseases. The shoulders, wrists, hips, ankles and small joints such as the finger joints are also often punctured or infiltrated. This article will look at some of the basic principles and controversies surrounding joint puncture and infiltration.
Key Words: joint infiltration, arthrocnetesis, arthritis

Technische Aspekte

Wir unterscheiden zwischen der diagnostischen Punktion, die am häufigsten durchgeführt wird, und der therapeutischen Punktion. Bei einem klaren klinischen Bild wie z.B. einer Chondrokalzinose und gutem Allgemeinzustand erfolgt die diagnostische Punktion und therapeutische Infiltration hier von Glucocorticoiden gleichzeitig. Der Ultraschall hat die Gelenkpunktion entschieden vereinfacht. Ein gut punktiertbarer Gelenkerguss ist gut durch eine hypoechogene Struktur erkennbar. In den wenigsten Fällen (z.B. im Hüftgelenk, bei bestimmten Bursae oder wenig Erguss) muss die Gelenkpunktion unter sonographischer Beobachtung erfolgen. Meist reicht eine entsprechende Markierung aus. Bei wenig Erguss kann übrigens die nicht-schallende oder nicht-punktierende Hand dazu genutzt werden, die Gelenkflüssigkeit von kontralateral in Richtung Schallkopf bzw. Nadel zu drücken. Ein willkommener Nebeneffekt ist die so durchgeführte «Gate Control», d.h. der Druck der Hand sendet schmerzhemmende Afferenzen in Richtung Rückenmark. Man kennt dies vom Reiben einer Körperstelle bei Schmerzen. Natürlich müssen die sterilen Kautelen eingehalten werden, zumindest die empfohlene No-touch Technik. Generell empfehlen wir, die Nadel mit einer Hand zu halten und damit während der Punktion einen Unterdruck zu erzeugen, um das Aspirat möglichst schnell und atraumatisch zu erhalten.

Pro Gelenkpunktion und Infiltration

1. Diagnostischer Nutzen

Klare Nummer eins ist der Ausschluss einer septischen bzw. bakteriellen Arthritis. Cave: Das Grampräparat hat eine Sensitivität von nur 50%. Der Goldstandard ist die Kultur. Bei bestimmten Fragestellungen, wie z.B. beim Nachweis der Borreliose oder Tropheryma whipplei wird eine PCR durchgeführt (1). Als häufige Ursache der Arthritis können in der Polarisationsmikroskopie Kristalle (z.B. Urat, Calciumpyrophosphat) nachgewiesen werden (Abb. 1). Die Zellzahl differenziert zwischen einem entzündlichen Status (>2000 Zellen pro mm3) und einem nicht entzündlichen Status, wie meistens bei der Arthrose. Eine aktivierte Arthrose sollte aus unserer Sicht zumindest einmal diagnostisch mittels Punktion abgeklärt werden. Durch die Injektion von Lokalanästhetika (oft gemischt mit Steroiden) kann abgeklärt werden, ob die Schmerzursache tatsächlich intraartikulär liegt und nicht extraartikulär. Letzteres ist in ca. 10% die Schmerzursache bei der Gonarthrose (z.B. Bursitiden).

2. Zielgerichtete Behandlung

Da das Medikament direkt in das betroffene Gelenk injiziert wird, kann es gezielt auf den problematischen Bereich wirken, ohne den Rest des Körpers zu beeinflussen und weniger mit anderen Medikamenten zu interagieren. Bei einer Monarthritis, z.B. reaktiv, bei einer rheumatoiden Arthritis oder auch bei einer aktivierten Arthrose kann die Entzündung so gezielt durch die Infiltration von Glucocorticoiden behandelt werden. Dies ist zwar nicht krankheitsmodifizierend, kürzt aber Schmerzen und Immobilität entschieden ab. In einer neuen Studie hat ein lang wirksames intraartikulär appliziertes Steroid eine signifikante Wirkung bei der Arthrose über 52 Wochen gezeigt (2). Bei der RA können Steroide auch adjuvant zur Basistherapie verwendet werden (3). Noch gibt es keine wirklichen «Disease-modifying Osteoarthritis Drugs». Die Hyaluronsäure wirkt über Ihren CD44-Rezeptor anti-entzündlich, dieser Effekt ist vielleicht sogar stärker als der rheologische Effekt als «Gelenkschmiere» (4). Das Platelet Rich Plasma (PRP) wird ebenfalls aufgrund der anti-entzündlichen und regenerativen Effekte eingesetzt. Allerdings fehlen für beide Medikamente nachhaltige Daten, um diese in die Routine einzusetzen. Bei Patienten mit kardiovaskulären, gastroenterologischen oder anderen Komorbiditäten kann die Gelenkinfiltration mit Glukokortikoiden oder Hyaluronsäure eine Alternative zu systemisch verabreichten Medikamenten sein, um Nebenwirkungen oder Interaktionen zu vermeiden.

Contra Gelenkinfiltration

1. Risiko von Infektionen:

Zwar ist das Risiko sehr gering, aber jede Gelenkinfiltration birgt die Gefahr einer septischen Arthritis. Risikofaktoren hierfür sind u.a. wiederholte Infiltrationen am selben Gelenk, Immunsuppression und mangelnde Hygiene. Dies muss immer in Abwägung mit dem möglichen Nutzen gestellt werden. Bei der diagnostischen Punktion stellt sich diese Frage meist nicht.

2. Mögliche Nebenwirkungen:

Bei der Infiltration von oberflächlichen Gelenken wie Fingergelenke kann es durch Steroide zu Hautatrophien und Depigmentierungen kommen (Abb. 2). Meist trifft dies 2-3 Monate nach der Infiltration auf und normalisiert sich innerhalb von bis zwei Jahren selbstständig (5). Dies kann auch bei tiefen Gelenken wie den Facettengelenken an der Lendenwirbelsäule passieren.

Nicht nur die orale, sondern auch die wiederholte intra­artikuläre Gabe von Depot-Steroiden kann zu einem Cushing, bzw. anderen Kortison-induzierten Schäden führen wie Osteoporose, Pergamenthaut, etc. Allerdings muss beachtet werden, dass die Alternative zur Gelenksinfiltration oft orale Entzündungshemmer sind, die bekannterweise auch Nebenwirkungen haben, die in den Kontext gestellt werden müssen.

3. Kurzfristige Lösung:

Oftmals bietet die Gelenkinfiltration nur eine temporäre Linderung, z.B. Steroide bei der aktivierten Arthrose oder Kristallarthritis. Die Ursache wird, abgesehen von der Harnsäuresenkung bei der Gicht, bislang nicht behandelt. Für den einzelnen Patienten kann aber bereits die kurzfristige Schmerzlinderung einen sehr grossen Wert haben.

4. Potentielle Schädigung des Gelenkgewebes:

Häufige Gaben von Glukokortikoiden, aber auch Lokalanästhetika können das Knorpelgewebe schädigen. Manche Zentren infiltrieren generell keine Lokalanästhetika mehr in das Gelenk (6). Allerdings beruhen diese Daten v.a. auf in vitro Experimenten und sind in klinischen Studien so nicht unbedingt nachvollziehbar.

5. Fragliche Evidenz für Viscosupplementation bei der Arthrose

Verschiedene Fachgesellschaften wie z.B. ACR raten aufgrund der Datenlage nicht zur intraartikulären Behandlung mit Hyaluronsäure (7). OARSI spricht sich für eine solche Behandlung bei Patienten mit Komorbiditäten aus, die nicht für eine NSAR-Behandlung oder intraartikuläre Steroide in Frage kommen (8).

Zusammenfassung und Ausblick

Die Gelenkinfiltration ist ein wichtiges diagnostisches Tool bei Gelenkerkrankungen und kann für viele Patienten mit Arthritis eine effektive Methode zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung sein. Dies gilt für kristallinduzierte Arthritiden, Arthrose, aber auch bei Arthritiden aus dem rheumatischen Formenkreis. Es ist jedoch wichtig, die potenziellen Risiken und Nebenwirkungen zu berücksichtigen und diese mit dem Patienten zu besprechen.
Bei der Behandlung der Arthrose sollte immer ein ganzheitliches Konzept vorliegen. Das heisst, biomechanische Faktoren müssen berücksichtigt werden und gleichzeitig, z.B. bei Malalignment, durch eine Orthese behandelt werden. Besonders bei chronischen Schmerzsyndromen und der Fibromyalgie ist bei der (repetitiven) Gelenkinfiltration Vorsicht geboten. Dies gilt insbesondere auch für die Infiltration der Wirbelsäule, z.B. der Facettengelenke. Neuere Therapieansätze bei der Arthrose einzelner Gelenke zielen durchaus auf eine intraartikuläre und nicht systemische Gabe ab. Es ist zu hoffen, dass aus diagnostischer Sicht neben der Zellzahl, Kristallanalyse und Bakteriologie auch neuere Biomarker der Synovialflüssigkeit erhältlich sind, z.B. um eine reaktive Arthritis von einer rheumatoiden Arthritis abzugrenzen oder die Prognose und das Ansprechen bei der rheumatoiden Arthritis besser vorherzusagen.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Thomas Hügle

Hôpital orthopédique CHUV
Avenue Pierre Decker
1011 Lausanne

Der Autor hat keine Interessens­konflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die Gelenkpunktion ist der direkteste Weg zur Diagnose einer
Kristall-induzierten Arthritis und zur Unterscheidung einer degenerativen von einer entzündlichen Arthrose.
◆ Insbesondere Monarthritiden können mit Glukokortikoiden anstelle einer systemischen Behandlung infiltriert werden.
◆ Bei Osteoarthritis sind Infiltrationen mit Glukokortikoiden bzw. von Hyaluronsäure von symptomatischer Bedeutung, obwohl sie den
radiologischen Verlauf nicht beeinflussen.

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8. Bannuru RR, Osani MC, Vaysbrot EE, et al. OARSI guidelines for the non-surgical management of knee, hip, and polyarticular osteoarthritis. Osteoarthritis Cartilage. Nov 2019;27(11):1578-1589. doi:10.1016/j.joca.2019.06.011

Update für Allgemeinmediziner/-innen: Eisen und hämatologische Parameter

Der folgende Bericht behandelt den Vortrag ‘Fer et paramètres hématologiques’, der im Rahmen des FOMF-Webinars am 6. Februar 2024 von Dr. med. Sophie Waldvogel, Genf, gehalten wurde.

Der Gesamtgehalt an Eisen beträgt bei Männern etwa 4 g und bei Frauen etwa 3 g. Die Mindestaufnahme über die Nahrung beträgt 10-15 mg Eisen, von denen 10% absorbiert werden, was etwa 1-2 mg der Eisenaufnahme ausmacht. Der Verlust über den Darm beträgt 1 bis 2 mg pro Tag. Eisen wird über den Blutverlust verloren. Der Menstruationsverlust beträgt etwa 30 mg pro Monat und 15 bis 20 mg Eisen werden für die Erythropoese verwendet (recycelt), wie Frau Dr. med. Sophie Waldvogel, Genf, feststellte. Eisen verteilt sich im Körper auf das zirkulierende Hämoglobin, das Knochenmark, das Myoglobin und andere Gewebe, das Transferrin, die Leber und das retikuloendotheliale System. Es werden ca. 180 x 109 Erythrozyten, ca. 5,4 g Hämoglobin und ca. 20 mg Eisen gebildet. Zwei Drittel des Eisens befinden sich in den Erythrozyten. Eisen kommt in geringeren Mengen auch in den Muskeln vor, im Myoglobin, und es wird in der Leber gespeichert. Die Leber kann in pathologischen Situationen mehrere Gramm Eisen speichern.

Hepcidin

Hepcidin, das 2001 entdeckt und in der Leber synthetisiert wird, bindet an Ferroportin, das normalerweise Eisen aus dem Zellinneren transportiert – Wenn Hepcidin an Ferroportin gebunden ist. Diese Zellen können das Eisen nicht mehr exportieren und geben es im Blut an das Transportprotein Transferrin ab. Hepcidin wird bei Entzündungen stark exprimiert. In der Routine wird Hepcidin nicht gemessen.

Erythroferron

Es wurde 2014 entdeckt und wird von den erythroiden Progenitoren synthetisiert. Es hemmt
die Expression von Hepcidin und steigt bei Hypoxie, Anämie und ineffektiver Erythropoiese an. Es wird ebenfalls nicht routinemässig bestimmt.
→ Wer hat das Sagen? Bei Anämie wird Erythroferron erhöht, Hepcidin gesenkt. Erythroferron trägt zur Erholung von der Anämie bei, indem es Hepcidin unterdrückt und die Verfügbarkeit von Eisen erhöht.
→ Wer hat das Sagen? Bei Entzündungen wird das Hepcidin erhöht und Eisen kann nicht mehr aus den Zellen exportiert werden.

Ferritin

Es ist eine Nanokapsel aus 24 Untereinheiten (schwer, leicht) und kann 4500 Eisenatome einschliessen. Es schützt die Zelle vor der Bildung von freien Radikalen. Ferritin ist ein intrazelluläres Molekül, das im Plasma zur Bestimmung des Eisenmangels verwendet wird.

Eisenmangelanämie

Sie ist definiert als Hämoglobin <12g/dl (Frau), <13g/dl (Mann (WHO)), Hypochromie, Mikrozytose, Retikulozyten <50g/L, Ferritin <30ng/ml, Sideropenie. Warum Frauen einen tieferen Referenzwert für Hämoglobin und Ferritin haben, bleibt kontrovers (Rushton DH et al. im BMJ: Why should women have lower reference limits for haemoglobin and ferritin concentrations than men. BMJ 2001;322:1355-1357).

Hypochromie

Eine kleine hypochrome Zelle kann uns einiges verbergen, so die Referentin. Erworben: Entzündungen, Nierenversagen, Hämoglobinurie nach Hämolyse. Angeboren: Matriptase-Mangel (IRIDA), sideroblastische Anämie, Hämoglobinopathie.

Differentialdiagnose: Thalassämie

Verhältnis MCV/MCH<1, Anisozytose: Verteilungsindex der roten Blutkörperchen <15%.
Diagnostische Tests: HbA2(β), HbF, Hb-Isoelektrofokussierung (HbC und E), Molekularbiologie (α), Ferritin (Hepcidin vermindert).
Mangel an TMPRSS6 IRIDA. Refraktäres Eisen, Eisenmangel, Anämie. Mutation von TMPRSS6 mit fehlender Kontrolle über den Hepcidintransport: konstitutive Expression.
Diagnostische Tests: ↑ Serumhepcidin, ↓ Transferrinsättigung und Molekularbiologie Prävalenz: ≈ 1 x104

Differentialdiagnose: Thalassämie

Eisen unterliegt zirkadianen Schwankungen. Sein Spiegel scheint in der Mitte des Tages ein Maximum und in der Mitte der Nacht ein Minimum zu erreichen. Sein intraindividueller biologischer Variationskoeffizient liegt bei 27%. Bei einer starken Hämolyse, sei sie intravasal in vivo oder in vitro, steigt der Eisenblutspiegel an. Die isolierte Messung des Serumeisens wird vor allem zur Berechnung der Transferrinsättigung (Serumeisen/Transferrin) verwendet.
Ferritin ist immer noch der beste Marker für die Diagnose einer Eisenmangelanämie, betonte die Referentin. Der Eisenstoffwechsel ist abhängig von Entzündungen und dem Leberstoffwechsel.

Ferritin erniedrigt ≤30ng/ml: Eisenmangel
30-50ng/ml: Funktioneller Eisenmangel. Zusätzliche Bestimmung von CRP(Entzündung) und ASAT (Leberstoffwechsel) ist gerechtfertigt.

Differenzialdiagnose: Entzündliche Anämie
Mechanismen: Lebensdauer der Erythrozyten, Proliferation der erythroiden Vorläuferzellen, Wirksamkeit von Erythropoietin, Anstieg des Hepcidins: Hypochromie und Mikrozytose (umgeleitetes verfügbares Eisen).

Eisenstatus

Es gibt verschiedene Muster der Eisenakkumulation, die von Alter, Geschlecht und Rasse abhängen. Laut der NHANES-Studie spiegeln die Serumferritin-Werte graduelle, bevölkerungsbezogene Unterschiede in den Eisenspeichern des Körpers wider. Bei Männern steigt Ferritin bis zum Alter von 60 Jahren an und sinkt danach, während bei Frauen ein Anstieg nach dem Alter von 40 Jahren zu verzeichnen ist.

Die Sprecherin zeigte, dass der Ferritinwert bei Blutspendern sinkt, was in der Gesamtpopulation keine Probleme bereitet.

Hämolyse:

► Intravasale Hämolyse: Hämoglobinurie und Eisenverlust (Defizit).
► Intramedulläre Hämolyse: (z. B. unwirksame Erythropiese bei Thalassämie): Anstieg von Erythroferron, Abnahme von Hepcidin, Anstieg der Eisenaufnahme.
Zur Erinnerung: 1 Transfusion = 250mg Eisen.

Vergleich der Methoden zur Messung von Ferritin

Alle gängigen Bestimmungsmethoden werden mit Hilfe von immunologischen Tests durchgeführt. Je nach Methode ist es möglich, dass bei ein und demselben Test ein Unterschied von bis zu 40ng/ml zwischen zwei Methoden (zwischen zwei akkreditierten Labors) besteht.

Daher: Bearbeiten Sie die Analysen im selben Labor. Vor allem die Wirksamkeit einer Behandlung für einen Patienten (Follow-up) sollte im selben Labor beurteilt werden, empfahl die Referentin.

Unerklärliche Müdigkeit und Anämie, Eisenzufuhr und kognitive Funktionen

Laut einer Studie aus dem Jahr 2003 (Verdon F et al. BMJ 2003;326(7399):1124) können nicht anämische Frauen, die unter unerklärlicher Müdigkeit leiden, von einer Eisensupplementierung profitieren. Die Wirkung kann auf Frauen mit niedrigen oder grenzwertigen Serumferritin-Konzentrationen beschränkt sein. Die Zufuhr von 260 mg elementarem Eisen über einen Zeitraum von 8 Wochen verbesserte das verbale Lernen und das Gedächtnis bei Mädchen im Teenageralter.

Transferrin

Der Transporter für Eisen3+- im Plasma. Es wird in der Leber synthetisiert und hat eine Halbwertszeit von 8 Tagen. Es ist zusammen mit der Sättigung nützlich, um eine Eisenüberladung (Hämochromatose) zu diagnostizieren.

Schlussfolgerungen And the winner is …

Ferritin bleibt der beste Indikator für den Gesamteisenspeicher, muss aber mit der gleichen Methode (gleiches Labor) gemessen werden.
Ferritin muss im Hinblick auf den Entzündungszustand sowie im Abstand zur intravenösen Behandlung interpretiert werden.

Bei Eisenmangel: Die Anämie ist ein Indikator für den Schweregrad des Mangels.

Bei Verdacht auf eine Eisenüberladung: Eine Eisenüberladung wird anhand der Transferrinsättigung interpretiert.
Achtung: Es gibt seltene Fälle eines erblichen Hepcidinüberschusses.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch