Medikamentöse Osteoporose­behandlung – sinnvoll bei allen Hochbetagten?

Osteoanabol wirkende Osteoporosemedikamente wurden besser verfügbar. Das osteoanabole Therapieprinzip weisst eine stärkere, schneller einsetzende frakturreduzierende Wirkung auf als die antiresorptiven Präparate. Auch wurde neu erkannt, dass die Bedeutung einer ersten Fragilitätsfraktur als Risikofaktor zeitabhängig ist: Je weniger Zeit seit der ersten Fraktur vergangen ist, umso höher ist das dadurch bedingte Re-Frakturrisiko. Patient_innen, die älter als 65 Jahre alt sind und deren Index-Fragilitätsfraktur weniger als zwei Jahre her ist, werden deshalb in einer eigenen Kategorie «Imminent Fracture Risk» gruppiert. Diese Neuerungen wurden durch eine Aktualisierung der Osteoporosetherapieleitlinie umgesetzt. Demnach soll Patient_innen in der Risikokategorie «Imminent Fracture Risk» möglichst schnell eine osteoanabole Osteoporosetherapie angeboten werden, um möglichst viele Frakturen zu vermeiden. Einer allzu strikten Umsetzung dieses Algorithmus bei hochbetagten Frakturpatient_innen stehen wir kritisch gegenüber. Eigene Daten deuten nämlich darauf hin, dass über 30 % dieser Subpopulation den Effekt einer neu begonnenen Osteoporosetherapie gar nicht erleben. Wir propagieren eine klinisch basierte Indikationsstellung zur Osteoporosetherapie. Hierfür schlagen wir eine für osteologische Zwecke modifizierte «Question Surprise» vor. «Würde es mich überraschen, wenn ich die/den gleichen/n Patientin/Patienten in einem Jahr erneut wegen einer Fraktur behandeln müsste?» Wird die Frage mit «Nein» beantwortet, dann könnte diese/r Patient/in ein/e Kandidat/Kandidatin für eine spezifische Osteoporosebehandlung sein.

Osteoporose und deren korrekte Behandlung sind Gegenstand zahlreicher Publikationen: Was gibt es Neues?

Über eine Vitamin-D-Supplementierung, die richtige Dosierung und allfällige Spiegelbestimmungen ist in den letzten Jahren viel und kontrovers geschrieben worden. Deshalb beschreiben wir diesbezüglich in diesem Artikel am Ende bei den «Key Messages» lediglich unser eigenes Vorgehen. Hier soll vielmehr der Fokus auf einer korrekten Indikationsstellung für die spezifische Therapie einer Osteoporose bei hochbetagten Frakturpatientinnen und -patienten liegen.
Mit dem humanisierten Sklerostinantikörper Romosozumab (Evenity®) ist ein neuer Wirkstoff mit grossem Wirkpotenzial für die Osteoporosetherapie verfügbar geworden. Die Kontraindikation bei Vorliegen eines kardiovaskulären Ereignisses in der Anamnese sowie die Notwendigkeit zur einmal monatlichen s.c.-Injektion sind allerdings Schwachstellen im Hinblick auf eine Anwendung bei betagten Frakturpatientinnen und -pa­tienten. Fast gleichzeitig wurden durch den Wegfall des Patentschutzes Generika des bislang einzigen osteoanabolen Medikaments Teriparatid (Forsteo®) mit deutlich geringeren Behandlungskosten pro Monat verfügbar. Mit Abaloparatid wurde im Dezember 2022 ein weiteres osteoanabol wirkendes Molekül für die Therapie in der EU zugelassen [1], und in der Schweiz wurde das Zulassungsverfahren im Dezember 2022 eröffnet. Den genannten Medikamenten haftet allerdings allesamt der Nachteil an, dass sie eine s.c.-Injektion erfordern. Damit ist der Kreis möglicher Anwender unter hochbetagten Frakturpatient-innen natürlicherweise begrenzt. In Summe kann trotzdem festgehalten werden, dass die osteoanabolen Osteoporose-Therapieoptionen erweitert worden sind.
Schon lange bekannt und deshalb auch im FRAX-Algorithmus berücksichtigt ist die Tatsache, dass eine Fraktur in der Anamnese als Hauptrisikofaktor für das Erleiden von weiteren Frakturen zu betrachten ist. Die aktuelle ­Datenlage zeigt, dass dieser Effekt in den ersten beiden Jahren nach Erleiden der «Index-Fragilitätsfraktur» am stärksten ausgeprägt ist [2]. Auch aufgrund dieser Erkenntnis wurde zuletzt das Konzept des «Imminent ­Fracture Risk» neu in die Behandlungsalgorithmen und Therapieleitlinien eingeführt und mit einer breiten Therapieindikation verknüpft: Möglichst jede_r betagte Frakturpatient_in soll zeitnah zur Index-Fragilitätsfraktur eine spezifische Osteoporosetherapie erhalten [3]. Im Fall einer vertebralen oder anderen typischen Osteoporosefraktur sogar primär eine osteoanabole. Mit diesem Vorgehen soll das Ziel erreicht werden, eine möglichst grosse Zahl von Frakturen zu vermeiden, weil eine im Sinne der Frakturvermeidung effektive Therapie in der Phase mit dem höchsten Refrakturrisiko durchgeführt wird. Diese Empfehlung wird auch von der Schweizer Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO) als der nationalen Fachorganisation mitgetragen [3].
Für Personen, die aufgrund ihres Alters und des Allgemeinzustandes das Ende eines geplanten Therapieintervalls mit grosser Wahrscheinlichkeit erleben, ist diese Empfehlung sicher als evidenzbasiert zu betrachten. Dass spezifische Osteoporose-Medikamente bis ins hohe Alter wirken, wurde gezeigt [4]. Unter Wirkeintritt verstehen wir in diesem Zusammenhang den Zeitpunkt, ab welchem sich die Refrakturrate in der placebokontrollierten Studie beim Verumarm im Vergleich zum Placeboarm erkennbar vermindert. Und das findet – je nach Molekül und Anwendungsform unterschiedlich – jedoch nicht vor dem Ablauf von 12 Monaten seit Therapiebeginn statt [4].
In der Patientenpopulation «hochbetagte Frakturpa­tient_innen» fällt eine markante Übersterblichkeit im ­Vergleich zur naturgemäss ohnehin schon hohen Mortalität der altersentsprechenden Referenzpopulation auf [5]. In Kombination könnten diese Fakten – also Übersterblichkeit und Latenz bis zum Wirkeintritt – dazu führen, dass die erhoffte frakturvermeidende Wirkung einer neu begonnenen Osteoporosebehandlung von betagten Frakturpatient_innen gar nicht mehr erlebt wird. Ist dieses Szenario eher theoretischer Natur oder klinisch relevant? Und wie kann man diese komplexen Zusammenhänge in ein «Shared Decision Making» einfliessen lassen?

Indikationsstellung für eine medi­kamen­töse Osteoporose­therapie aufgrund eines indi­vi­duellen Gesprächs mit der/m Patientin/Patienten und/oder mit Angehörigen

Hierfür scheint uns eine neue Art der Darstellung erforderlich, mit der die Situation der individuellen Patientin/des individuellen Patienten reflektiert wird.
Auf der horizon­talen Achse ist die Zeit (Jahre) abgetragen. Auf der vertikalen Achse ist die Gesamtrisikoexposi­tion für das Erleiden einer weiteren Fragilitätsfraktur ­abgetragen. Unter Risikoexposition soll das im Verlauf aufgetretene Gesamtrisiko verstanden werden, dem der/die Patient_in beginnend vom Zeitpunkt t0 ausgesetzt war (Abb. 1).
Der/die Patient_in habe zum Zeitpunkt t0 eine erste Fragilitätsfraktur erlitten. Diese muss in Zukunft – neben möglichen anderen Risikofaktoren – bei der Berechnung des Gesamtrisikos für das Erleiden von weiteren Fragilitätsfrakturen in Betracht gezogen werden. Der Risikobeitrag durch die erste Fragilitätsfraktur ist gemäss jüngsten Untersuchungen in den ersten beiden Jahren höher – die Kurve der Gesamtrisikoexposition steigt deshalb auch in den ersten beiden Jahren nach der ersten Fraktur schneller an –, um danach etwas abzuflachen (rote Kurve).
Die Gesamtrisikoexposition kann vermindert werden, wenn nach der ersten Fragilitätsfraktur – leitliniengerecht – mit einer systemischen Osteoporosetherapie begonnen wird [6].

Dabei gilt es zu beachten:

  • Die Risikoreduktion fällt umso deutlicher aus, je effektiver der frakturreduzierende Effekt des eingesetzten Medikaments ist.
  • Es wird eine Latenzzeit von einem Jahr ab Therapie­beginn bis zum Einsetzen der Medikamentenwirkung im Sinn einer Reduktion des Refrakturrisikos angenommen.

Die Latenzzeit beginnt, nachdem die Medikamenteneinnahme begonnen und kontinuierlich fortgesetzt wurde. Diese Überlegungen sind grundsätzlich korrekt, wenn der/die Patient_in das gesamte geplante Therapieintervall erlebt, beziehungsweise wenn sie/er über diese ganze Zeit eine gute Compliance aufweist.
Gerade mit hochbetagten Patient_innen muss aber auch das in Abbildung 2 dargestellte Szenario diskutiert werden.
Je grösser die Gebrechlichkeit, umso grösser das ­Risiko, dass die betroffene Person möglicherweise stirbt, bevor das Therapieintervall beendet ist. Wegen der Latenz bis zum Wirkeintritt einer spezifischen Osteoporosetherapie könnte beim Tod der behandelten Person kurz nach Therapiebeginn die Situation entstehen, dass die erhoffte Wirkung nicht mehr erlebt wird. Ist dieses Ereignis eher theoretischer Natur oder klinisch relevant?
Um diese Frage zu beantworten, untersuchten wir anhand der bereits laufenden Qualitätssicherungsmassnahme über unseren «Fracture Liaison Service», wie häufig das oben beschriebene Szenario in einem Real World Setting auftritt [7, 8].
Von Januar 2021 bis Juni 2022 wurden alle Personen über 65 Jahre erfasst, die wegen einer Fraktur stationär behandelt wurden. Es waren 1381 Teilnehmende mit einem mittleren Alter von 83 Jahren. Ausgeschlossen wurden lediglich Patient_innen mit einem Hochenergietrauma als Unfallursache oder isolierte Finger, Zehen oder Schädelfrakturen ebenso wie Frakturen aufgrund von Knochenmetastasen.
Nachdem für 373 Teilnehmende die Resultate der 1-Jahres-Follow-up-Untersuchung vorliegen, zeigte sich der folgende Trend: Zwar erleiden tatsächlich 10 % der Patient_innen «at imminent fracture risk» schon im Folgejahr eine weitere Fraktur. Dagegen starben aber auch mehr als 30 % im gleichen Zeitraum!

Welche konkreten Handlungsanweisun­gen können daraus gezogen werden?

Weil diese Daten im Rahmen eines Qualitätssicherungsprogramms prospektiv gewonnen wurden, sind wir überzeugt, dass die genannten Prozentzahlen die Realität widerspiegeln.
Der FRAX-Algorithmus wird fortlaufend an neue Erkenntnisse angepasst [9, 10, 11]. In Zukunft werden mit lernenden Systemen sicher noch Softwaretools entwickelt [12], die uns Kliniker auch bei so komplexen Aufgaben wie einer individualisierten Indikationsstellung zur Osteoporosetherapie noch besser unterstützen. Bis es aber so weit ist, sind pragmatische Lösungen gefragt, um die neuen, intensiven Osteoporosemedikamente denjenigen Patient_innen zukommen zu lassen, die am meisten davon profitieren.
In der Palliativmedizin stehen Kolleginnen und Kollegen vor der noch viel schwierigeren Entscheidung: Soll eine kranke Person palliativ behandelt werden, ja oder nein? Dahinter verbirgt sich eine Frage, die nicht beantwortet werden kann: Wie lange hat dieser Mensch noch zu leben? Dieses Dilemma wird umgangen mit der «Question Surprise» [13] der Palliativmediziner_innen: «Würde es mich überraschen, wenn diese Person innerhalb der nächsten 12 Monate sterben würde?» Durch diesen Kunstgriff wird eine statistische, prozentuale Angabe in eine binäre «Ja oder Nein»-Entscheidung umgesetzt, ohne dass für diese «Konversion» ein fixer Schwellenwert angegeben werden muss.

Prinzipien der Palliativmedizin angewendet auf die Osteoporosetherapie

Die Problemstellung ist ähnlich gelagert wie die oben aufgeführte Situation in der Palliativmedizin: Das errechnete 10-Jahres-Frakturrisiko (FRAX) in Prozent muss in eine Therapieentscheidung «Ja oder Nein» umgesetzt werden. Für Patient_innen, die das Ende eines geplanten Therapiezyklus erleben, ist der Schwellenwert in Leitlinien festgelegt und bekannt. Für hochbetagte Frakturpatient_innen kann dieser wegen des relevanten, bei der Festlegung der Schwelle zur Therapieindikation nicht berücksichtigten Mortalitätsrisikos aber nicht einfach übernommen werden. Die Mortalität ist zwar z.B. im FRAX dahingehend berücksichtigt, dass die 10-Jahres-Frakturwahrscheinlichkeit im hohen Alter wieder sinkt – damit ist aber nicht abgebildet, dass die Wahrscheinlichkeit, den Therapieeffekt zu erleben, genauso absinkt.
Deshalb modifizieren wir die aus der Palliativmedizin bekannte «Surprise»-Frage für osteologische Zwecke wie folgt: «Würde es mich überraschen, wenn ich diese Person innerhalb des nächsten Jahres wegen einer weiteren Fraktur behandeln müsste?» Auf diese Art wird die gerade bei Hochbetagten relevante Frage nach der Restlebens­erwartung zwanglos mit dem errechneten Frakturrisiko verknüpft. Dadurch wird eine Risikoangabe in Prozent wie sie vom FRAX-Algorithmus erhalten werden kann, in eine binäre, d.h. «Ja oder Nein»-Antwort auf die Frage zur Therapieindikation umgewandelt [14]. Die Antwort auf die oben gestellte Frage kann uns helfen zu bestimmen, in welche Richtung wir unsere Therapieempfehlung formulieren sollen.

Prof. Dr.  Norbert Suhm

Leitender Arzt
Orthopädie und Traumatologie
Universitätsspital Basel
4031 Basel
Schweiz

norbert.suhm@usb.ch

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie
Manuskript akzeptiert: 15.02.2023

Danksagung
Wir danken AgNovos Healthcare, USA, für die finanzielle Unterstützung bei der Durchführung der Qualitätssicherungsmassnahme. Wir bedanken uns bei Frau Irina Fischer für das Korrekturlesen und die Unterstützung beim Editieren. Wir bedanken uns bei Mr. James Pilachowski für die digitale Umsetzung der Abbildungen.

ORCID
Norbert Suhm
https://orcid.org/0000-0001-8258-9944

  • Die Verfügbarkeit osteoanaboler Osteoporosetherapien wurde verbessert.
  • Deren Anwendung wird u.a. für Personen empfohlen, die in die Fraktur-Risikogruppe «Imminent Fracture Risk» fallen, d.h. für Personen im Alter von > 65 Jahren, die eine vertebrale oder sonstige Major Fragilitätsfraktur vor weniger als zwei Jahren erlitten haben.
  • Die Latenz bis zum Wirkeintritt einer neu begonnenen spezifischen Osteoporosetherapie beträgt je nach Medikament und Applikationsform bis zu 12 Monate. Bei der Indikationsstellung zur spezifischen Osteoporosetherapie bei hochbetagten Frakturpatient_innen könnte deshalb bei bis zu 30 % der Betroffenen der Fall eintreten, dass der erhoffte Therapieeffekt nicht mehr erlebt wird.
  • Die Beantwortung der für osteologische Zwecke modifizierten «Question Surprise»: «Wäre ich überrascht, wenn ich diese/n Patientin/Patienten während des nächsten Jahres wegen einer weiteren Fraktur behandeln müsste?» könnte hilfreich sein, um diejenigen Hochbetagten zu identifizieren, die von einer Osteoporosebehandlung wirklich profitieren würden, d.h., bei einer Nein-Antwort könnte das Pendel eher in Richtung einer Therapieindikation ausschlagen.
  • In diesem Fall sollte dann allerdings die Wahl tatsächlich eher auf eine intensive, osteoanabole Therapie fallen, denn eine jährliche Refrakturrate von über 10 % in dieser Subpopulation muss ernst genommen werden.
  • Unabhängig von der Entscheidung betreffend eine spezifische Therapie der Osteoporose versuchen wir bei jeder/m, hochbetagten Frakturpatientin/-patienten die Osteoporose-Basisprophylaxe sicherstellen zu können. Dazu gehört eine Vitamin-D-Supplementierung mit 800IE bis 1000IE täglich oder ein entsprechendes wöchentliches bis monatliches Aequivalent. Bei der Applikationsfrequenz berücksichtigen wir unter anderem den Aufwand für das Tropfenzählen bei der täglichen Gabe, insbesondere bei institu­tionalisierten Personen. Bei Neubeginn der Vitamin-D-Supplementierung geben wir einmalig die Lade-Dosis von 20 000IE. Vitamin-D-Spiegelbestimmungen führen wir bei diesem Vorgehen keine durch.
  • Calciumsupplemente setzen wir eher zurückhaltend ein. Stattdessen versuchen wir eine ausreichende tägliche Aufnahme über die Ernährung zu erreichen beziehungsweise über den Calciumgehalt des konsumierten Mineral-(Trink)-Wassers.

1. Siebebnand S. Neues Osteoporose-Mittel in der EU zugelassen. Pharmazeutische Z. 2013. https://www.pharmazeuti
sche-zeitung.de/neues-osteoporose-mittel-in-der-eu-zuge
lassen-137603/; letzter Zugriff: 22.02.2023.
2. Roux C, Briot K. Imminent fracture risk. Osteoporos Int. 2017;
28:1765–1769. DOI 10.1007/s00198-017-3976-5.
3. Ferrari S, Lippuner K, Lamy O, et al. 2020 recommendations for osteoporosis treatment according to fracture risk from the Swiss Association against Osteoporosis (SVGO). Swiss Med Wkly. 2020;150:w20352.

4. Rizzoli R, Branco J, Brandi M-L, et al. Management of osteoporosis of the oldest old Osteoporos Int. 2014;25:2507–2529. DOI 10.1007/s00198-014-2755-9.
5. Li N, Hiligsmann M, Boonen A, et al. The impact of fracture liaison services on subsequent fractures and mortality: a systematic literature review and meta-analysis. Osteoporos Int. 2021;32:1517–1530. https://doi.org/10.1007/s00198-021-05911-9.
6. Ayers C, Kansagara D, Lazur B, Fu R, Kwon A, Harrod C. Effectiveness and Safety of Treatments to Prevent Fractures in People With Low Bone Mass or Primary Osteoporosis: A Living Systematic Review and Network Meta-analysis for the American College of Physicians. Ann Intern Med. 2023;176(2):182–195. DOI: 10.7326/M22-0684.
7. Geiger I, Kammerlander C, Höfer C, et al. Implementation of an integrated care programme to avoid fragility fractures of the hip in older adults in 18 Bavarian hospitals – study protocol for the cluster-randomised controlled fracture liaison service FLS-CARE. BMC Geriatr. 2021;21(1):43. DOI: 10.1186/s12877-020-01966-1.
8. Javaid MK, Sami A, Lems W, et al. A patient-level key performance indicator set to measure the effectiveness of fracture liaison services and guide quality improvement: a position paper of the IOF Capture the Fracture Working Group, National Osteoporosis Foundation and Fragility Fracture Network. ­Osteoporos Int. 2020;31(7):1193–1204. DOI: 10.1007/s00198-020-05377-1.
9. Kanis JA, Johansson H, Harvey NC, et al. The use of 2-, 5-, and 10-year probabilities to characterize fracture risk after a recent sentinel fracture. Osteoporosis Int. 2021;32:47–54.
10. Järvinen TL, Jokihaara J, Guy P, Alonso-Coello P, Collins GS, Michaëlsson K, Sievänen H. Conflicts at the heart of the FRAX tool. CMAJ. 2014;186(3):165–167. DOI: 10.1503/cmaj.121874.
11. Vandenput L, Johansson H, McCloskey EV, et al. Update of the fracture risk prediction tool FRAX: a systematic review of potential cohorts and analysis plan. Osteoporos Int. 2022;33(10):2103–2136. DOI: 10.1007/s00198-022-06435-6.
12. Blaker K, Wijewardene A, White E, et al. Electronic search ­programs are effective in identifying patients with minimal trauma fractures. Osteoporos Int. 2022;33(2):435-441. DOI: 10.1007/s00198-021-06105-z.
13. Downar J, Goldman R, Pinto R, Englesakis M, Adhikari NK. The “surprise question” for predicting death in seriously ill ­patients: a systematic review and meta-analysis. CMAJ. 2017;189(13):E484-E493. DOI: 10.1503/cmaj.160775.
14. Morgott M, Heinmüller S, Hueber S, Schedlbauer A, Kühlein T. Do guidelines help us to deviate from their recommendations when appropriate for the individual patient? A systematic ­survey of clinical practice guidelines. J Eval Clin Pract. 2020;26(3):709–717. DOI: 10.1111/jep.13187.

Kein Stadt-Land Gefälle bei Hodenkrebs im Kanton Bern

Hodenkrebs stellt eine in hohem Masse heilbare Erkrankung bei Männern dar. Ältere Berichte weisen auf ein Stadt-Land Gefälle mit weiter fortgeschrittenen Erkrankungen und schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Gebieten hin. In einer Patientenkohorte von 296 Männern mit Hodenkrebs des Inselspitals Bern fanden wir im Zeitraum 2010-2020 keine klinisch relevanten Unterschiede in Präsentation, Therapie und Behandlungsergebnis abhängig von der Wohnregion der Patienten.

Einführung

Hodenkrebs kann seit der Einführung Cisplatin-basierter Chemotherapien selbst in den weit metastasierten Tumorstadien geheilt werden. [1] Das häufigste Frühsymptom ist eine tastbare Verhärtung oder eine Vergrösserung des Hodens, die schmerzhaft oder schmerzlos sein kann und von den meisten Betroffenen selbst bemerkt wird. Verwechslungen mit einer Epidydimitis sind häufig. Sofern die Diagnose frühzeitig gestellt wird, kann bei einer auf den Hoden beschränkte Erkrankung die alleinige Entfernung des befallenen Hodens ausreichend sein. Metastasierte Patienten und Patienten mit primär extragonadalen Tumoren benötigen in der Regel eine Chemotherapie mit drei bis vier Zyklen Cisplatin-basierter Chemotherapie. Weniger häufig wird in der Schweiz eine Bestrahlung oder eine primäre Resektion von abdominellen Lymphknotenmetastasen eingesetzt. [2]
Allerdings berichteten Hölzel et al 1991 in einer viel beachteten Veröffentlichung von einem erheblichen Stadt-Land Gefälle mit schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Regionen in Deutschland selbst 10 Jahre nach Zulassung von Cisplatin. [3] Wir stellten uns die Frage, ob ein solches Stadt-Land Gefälle in der Schweiz heute noch existiert. Zu diesem Zweck untersuchten wir eine Kohorte konsekutiver Patienten, die in den Jahren 2010 bis 2020 am Inselspital Bern diagnostiziert und behandelt wurden, hinsichtlich Tumorgrösse und Stadium bei Primärpräsentation sowie Behandlungserfolg abhängig von der Wohnregion der Patienten.

 

Material und Methoden

Patienten wurden anhand von Operationsberichten, Anmeldungen bei Tumorkonferenzen und Verordnungen von Chemotherapien identifiziert. Die Behandlungen, der Behandlungserfolg und die Nachsorge wurde mittels Arztberichten nachvollzogen. Wo nötig wurden nachsorgende Praxen und Spitäler angeschrieben und zusätzliche Nachsorgeinformationen eingeholt. Die Stadieneinteilung erfolgte nach der Klassifikation der Union for International Cancer Control (UICC). Die prognostische Einteilung metastasierter Patienten erfolgte zusätzlich nach der Klassifikation der International Germ Cell Cancer Cooperative Group (IGCCCG). [4] Die Zuordnung der Patienten zu einer städtischen, intermediären oder ländlichen Wohnregion erfolgte über die Stadt/Land-Typologie 2012 des Bundesamtes für Statistik. [5] Die Darstellung der Überlebenswahrscheinlichkeiten erfolgte nach der Methode von Kaplan und Meier. Hierzu wurde das Programm STATA (StatCorp, College Station, Texas, USA, Version 16.1) eingesetzt. Das progressionsfreie Überleben wurde definiert als der Zeitraum zwischen der Erstdiagnose und dem Zeitpunkt des Auftretens eines Progresses oder dem Tod des Patienten, je nachdem welches Ereignis früher auftrat, das Gesamtüberleben als der Zeitraum von der Erstdiagnose bis zum Tod jedweder Ursache bzw. der letzten bekannten Nachbeobachtung. Patienten bei denen die Nachsorge nicht weiter eruiert werden konnte, wurden zum Zeitpunkt des letzten Patientenkontaktes zensiert. Der letzte Erfassungszeitpunkt für alle Patienten war der 31.12.2022.

Ergebnisse

Patientenkollektiv

Die Patientenkohorte umfasste insgesamt 296 Patienten. Details zu den Patientencharakteristika findet sich in Tabelle 1. Etwa die Hälfte der Patienten befanden sich in einem klinischen Stadium I mit auf den Hoden beschränkter Erkrankung. Die übrigen Patienten waren zum Diagnosezeitpunkt bereits metastasiert allerdings zumeist in einer günstigen Prognosegruppe nach der IGCCCG Klassifikation.

Durchgeführte Therapien

Gemäss internationalen Empfehlungen bestand die häufigste Behandlungsstrategie für Patienten im Stadium I in einer aktiven Überwachung, d.h. mit alleiniger regelmässiger Nachbeobachtung nach erfolgter Orchiektomie (Tabelle 2). Somit konnten 86/153 (56%) Patienten im Stadium I eine weitere Therapie nach Orchiektomie erspart werden. Insgesamt 37/153 (24%) Patienten rezidivierten aus einem Stadium I und wurden wie primär metastasierte Patienten behandelt. Primär metastasierte oder Patienten mit Rezidiv aus einem initialem Stadium I erhielten mehrheitlich eine Chemotherapie Cisplatin, Etoposid und Bleomycin.

Behandlungserfolg

Patienten wurden im Median 49 Monate nachbeobachtet (Interquartile Range 25-85 Monate). Zum Zeitpunkt der letzten Nachbeobachtung waren 272/296 (92%) Patienten krankheitsfrei und 21/296 (7%) Patienten waren verstorben, bei 3/296 (1%) war die Nachsorge abgebrochen. Die Todesursache war bei 12 Patienten die Tumorerkrankung, bei 4 Patienten verblieb die Todesursache unklar, 5 starben an anderen Ursachen. Die progressionsfreie Überlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug für die gesamte Kohorte 76% bzw. 73%, die Gesamtüberlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug 93% (Abbildung 1).

Vergleich der Regionen

Die Primärpräsentation abhängig vom Wohnort der Patienten ist in Tabelle 3 dargestellt. Somit wurden Patienten in ländlichen Regionen nicht mit weiter fortgeschrittenen Tumoren diagnostiziert als in städtischen Regionen. Die progressions-freie Überlebenswahrscheinlichkeit und die gesamte Überlebenswahrscheinlichkeit unterschieden sich ebenfalls nicht (Abbildungen 1 und 2).

Diskussion

Seit der Einführung von Cisplatin in die Behandlung vor ca. 40 Jahren wird die Mehrzahl der Männer mit Hodenkrebs geheilt. Seither haben sich die Behandlungsergebnisse kontinuierlich weiter verbessert. [6] Heutzutage können über alle Stadien hinweg mehr als 90% der Betroffenen mit einer Heilung ihrer Krebserkrankung rechnen. Allerdings weisen ältere Berichte darauf hin, dass Männer aus ländlichen Regionen mit weiter fortgeschrittenen Tumoren bzw. in höheren Tumorstadien diagnostiziert werden und insgesamt schlechtere Behandlungsergebnisse erfahren als Männer aus städtischen Regionen.

In einer Kohorte konsekutiver Patienten mit Hodenkrebs, die in den Jahren 2010-2020 am Inselspital in Bern diagnostiziert und behandelt wurden, fanden wir keine klinisch relevanten Unterschiede abhängig von der Wohnregion der Betroffenen. Dies kann im Gegensatz zu früheren Jahren einer besseren Körperwahrnehmung und an einem besseren Gesundheitsbewusstsein von Männern liegen, an einem verbesserten Wissen über Hodenkrebs unter Ärztinnen und Ärzten in ländlichen Regionen oder an einer schnelleren Überweisungspraxis an ein Hodenkrebszentrum wie das Inselspital Bern. Wesentliche Einschränkungen der Analyse sind ein Selektionsbias, da nur Patienten des Inselspitals Bern untersucht wurden und der retrospektive Studienansatz. Zudem ist die Zahl der Patienten aus intermedären und ländlichen Gebieten im Vergleich zum städtischen Einzugsgebiet deutlich geringer. Vor allem aber ist unklar, ob die Ergebnisse aus dem Kanton Bern auf andere Regionen der Schweiz oder an in der Behandlung von Hodenkrebs weniger erfahrene Krebszentren übertragbar sind. Diese Frage wird in weiteren Analysen untersucht werden.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
AFP Alpha-Fetoprotein
HCG Humanes Choriongonadropin
IGCCCG International Germ Cell Cancer Cooperative Group
UICC Union for International Cancer Control

Prof. Dr. med. Jörg Beyer

Universitätsklinik für Medizinische Onkologie
Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
Freiburgstrasse 41
3010 Bern

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

  • Historie
    Manuskript eingereicht: 06.06.2023
    Nach Revision angenommen: 05.09.2023

 

  • Männer mit Hodenkrebs können mehrheitlich geheilt werden
  • Es gibt im Kanton Bern keine klinisch relevanten Unterschiede bei Diagnose und Behandlungserfolg unter Männern aus städtischen oder ländlichen Regionen

1. Honecker F, Aparicio J, Berney D, et al. ESMO Consensus Conference on testicular germ cell cancer: diagnosis, treatment and follow-up. Ann Oncol 2018;29:1658-1768.
2. Beyer J, Berthold D, Bode PK, et al. Swiss germ-cell cancer consensus recommendations. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30023.
3. Hölzel D, Altwein JE. Hodentumoren. Ist der Rückgang der Mortalität in der Bundesrepublik Deutschland zu langsam erfolgt? Dtsch Ärztebl 1991;88:A-4123-4130.
4. The International Germ Cell Cancer Collaborative Group. International germ cell consensus classification: A prognostic factor-based staging system for metastatic germ cell cancers. J Clin Oncol 1997; 15: 594–603.
5. Bundesamt für Statistik, Räumliche Verteilung. Available at: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/raeumliche-verteilung.html (Letzer Zugriff: 26.11.2022).
6. Fankhauser CD, Sander S, Roth L, et al Improved survival in metastatic GCC. Ann Oncol 2018; 29: 347-351.

Radiologische Befunde von ingestierten Fremdkörpern bei Kindern: Praktische Erfahrungen und Überlegungen

Die Fremdkörperingestion durch Kleinkinder steigt seit Jahren an. Besonders problematisch sind dabei die Ingestionen von Batterien und Magneten.[1] Vor und während der Diagnose gibt es einige wichtige Schritte, welche beachtet werden sollten, damit eine korrekte Patientenbehandlung ermöglicht werden kann.

Problematiken

In ca. 80% der Fälle ist das Verschlucken eines Fremdkörpers kein Problem. Er wird durch die Speiseröhre aufgenommen, durchläuft den Verdauungstrakt und wird problemlos wieder ausgeschieden.[2] Kritisch wird es, wenn der ingestierte Gegenstand entweder:
• ein zu grosser Fremdkörper ist um den Magen-Darm-Trakt zu passieren
• ein scharfkantiger Fremdkörper ist
• eine Batterie ist
• aus mindestens zwei Magneten besteht [3]
Die Anzahl an Personen, welche jährlich das Krankenhaus wegen einer solchen problematischen Fremdkörperingestion aufsuchen, hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Besonders angestiegen sind diese Zahlen bei Kindern im Alter von sechs Monaten bis sechs Jahren. Eine Häufigkeitszunahme gab es vor allem bei der Ingestion von Magneten und Knopf-Batterien. Diese sind besonders problematisch, da sie zu einer Nekrose oder einer Darmperforation führen können, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird.[4] Knapp 70% der in Spitälern registrierten Fälle bedurften eines chirurgischen Eingriffs.[5] Die Lokalisierung der Fremdkörper wird mit der Hilfe von Röntgenaufnahmen und Computer-Tomographien durchgeführt.[3]

Erkennen von Fremdkörpern auf Röntgenaufnahmen

Ingestierte Objekte auf Röntgenaufnahmen zu erkennen kann schwierig sein. Viele Alltagsobjekte aus Holz, Kunststoff oder Aluminium, welche ein Kind verschluckt, sind nur sehr schlecht oder gar nicht erst auf Röntgenaufnahmen zu erkennen.[6] Um diffizil erkennbare Objekte doch entdecken zu können ist es ratsam, die Eltern oder die Betreuer des Patienten zu bitten, einen zum ingestierten Objekt vergleichbaren Gegenstand mitzubringen. So kann dieser ebenfalls geröntgt werden. Dieses Bild gilt für die Radiologinnen und Radiologen anschliessend als Referenz um den gesuchten Gegenstand im Röntgenbild zu finden.
Jedoch gibt es auch hierbei einige Einschränkungen. Schlecht erkennbare Gegenstände, wie zum Beispiel kleine Fischgräten oder Hühnerknochen, sind im Körper häufig zusätzlich durch dichte Organe, oder Knochen verdeckt und bleiben somit dem Auge vorenthalten.[7] Es kommt vor, dass ein Gegenstand auf dem Referenzbild gut erkennbar ist, beim Patienten auf den Röntgenaufnahmen jedoch nicht. Es gibt neben den klinischen Symptomen wie zum Beispiel starke Speichelbildung, Übelkeit, Schluckbeschwerden oder Atemnot sowohl direkte als auch indirekte Befunde im Röntgenbild, welche auf einen Fremdkörper hinweisen. Direkte Hinweise sind auf Röntgenbildern einfach ersichtliche, röntgendichte Objekte, wie zum Beispiel Münzen oder Batterien (Abbildung 2). Falls der Fremdkörper nicht röntgendicht ist, können indirekte Befunde wie zum Beispiel eine fokale Obstruktion einer Darmschlinge, eine Verlagerung vom Mediastinum oder die fehlende ‘Luftsäule’ in einem Bronchus auf einen nicht röntgendichten Fremdkörper hinweisen.

Indirekte Bildbefunde: Verirrte Möhre

Die Trachea endet in einer achsensymetrischen Gablung, die in die Pulmo dexter und Pulmo sinister übergeht. Sowohl die Trachea als auch die Lungenflügel und das Herz sind auf Röntgenbildern zu erkennen. Auf Abbildung 3a & 3b ist jedoch kein röntgendichter Fremdkörper zu finden. Die indirekten Bildbefunde deuten jedoch auf einen nicht-röntgendichten Fremdkörper im rechten Hauptbronchus hin. Bei der Inspiration sind das Herz und Mediastinum knapp rechts der Mittellinie; während der Exspiration verschieben sich die mediastinalen Strukturen deutlich nach links, mehr als üblicherweise gesehen wird. Das deutet auf ein ‘Airtrapping’ in der rechten Lunge hin, während die linke Lunge eine normale Variabilität der Belüftung bei Inspiration und Exspiration zeigt. Ein zusätzliches indirektes Zeichen eines Fremdkörpers ist das Fehlen der Luftsäule im rechten Hauptbronchus. Bei der Endoskopie wurde ein Teil einer Karotte im distalen, rechten Hauptbronchus gefunden. Diese Karotte hat zudem zu einem progressiven Airtrapping in der rechten Lunge geführt mit progredienter Atemnot. Die Karotte hat über einen ‘Ball-Valve’ Mechanismus bei jedem Atemzug Luft in der rechten Lunge passieren lassen, beim Ausatmen konnte die Luft jedoch nicht entweichen. Diese Situation hätte progressiv zu einer lebensbedrohlichen Situation führen können. Zeitgerechte Erkennung von indirekten Bildbefunden sind dementsprechend von eminenter Wichtigkeit.[8]

Ein genug grosses Blickfeld (Field of view)

Eine weitere Erklärung für ein unauffindbares Objekt mag banal klingen, ist in der Praxis aber eine immer wieder auftretende Problematik: ein zu kleiner oder ungenügender Untersuchungsbereich. Oft kommt es vor, dass lediglich Aufnahmen des Thorax und des Pharynx gemacht werden. Das mag eventuell bei erst kürzlich ingestierten Fremdkörpern ausreichend sein, handelt es sich jedoch um eine Ingestion, welche einige Stunden oder sogar Tage zurückliegt [9], so befindet der Fremdkörper sich eventuell bereits im Abdomen. Auf Abbildung 5 ist kein deutlicher Fremdkörper zu finden. Die Erklärung dafür ist simpel. Der Fremdkörper ist bereits weiter distal im Magen-Darm-Trakt und auf der Thorax-Aufnahme nur von geübtem Auge knapp am unteren Bildrand zu erkennen. Zudem ist die Münze partiell von der Röntgenschürze abgedeckt. Verschiebt man die Abdeckung, welche über der Pelvis liegt, etwas nach unten, wie in Abbildung 5 geschehen, so wird eine Münze sichtbar. Dieser Fall illustriert eindeutig, dass bei Röntgenaufnahmen zur Lokalisierung von Fremdkörpern immer vom Rachen bis zum Anus untersucht werden sollte. Es ist dringend zu empfehlen eine Aufnahme des ganzen Thorax, des Pharynx, des Abdomenbereichs und der Pelvis zu machen. Eventuell ist auch noch eine seitliche Aufnahme des Thorax notwendig, um den Gegenstand zu erkennen. Ein Röntgenbild ist jedoch nicht bei jedem Gegenstand ausreichend. Bei auf Röntgenaufnahmen nicht erkennbaren Fremdkörpern, kann ein CT (Computed Tomography) aufschlussreich sein, da auf dem Querschnitt der zu untersuchenden Körperregion das Objekt besser erkannt werden kann.

Frequent Flyer

Wichtig zu beachten ist ebenfalls, das sogenannte «Frequent Flyer» Phänomen. Dieses besagt, dass wenn beim Patienten bereits ein Fremdkörper gefunden wurde, die Wahrscheinlichkeit eines Weiteren signifikant erhöht ist. Besonders bei Patienten mit Verhaltensstörungen oder Entwicklungsrückständen ist dies der Fall, da sie oftmals zuvor bereits einen Fremdkörper unbemerkt verschluckt hatten. Primär sind solche Fälle bei Magneten ein grosses Risiko. Patienten verschlucken selten einen einzelnen Magneten, im Schnitt sind es gleich 6-7. Nun besteht die Gefahr einer Darmperforation. Diese wird durch zwei oder mehr Magneten auf beiden Seiten von benachbarten Darmschlingen verursacht. Daraus kann eine Hypomotilität, eine funktionelle Obstruktion oder sogar eine fokale Drucknekrose resultieren. Wird eine Darmperforation nicht rechtzeitig behandelt, kann sie tödlich enden.[4] [10] Neben Magneten geht von ingestierten Batterien die grösste Gefahr aus. Es ist wichtig, dass jede Batterie so schnell wie möglich aus dem Körper entfernt wird. Verbleibt eine Batterie länger innerhalb des Magen-Darm-Traktes besteht die Gefahr, dass die Batterie anfängt «auszulaufen», wobei eine ätzende Substanz austreten kann, welche wiederum eine Verletzung / Entzündung der Schleimhäute, inklusive möglicher Perforation, zur Folge hat. Zusätzlich können Batterien zu Mediastinitis oder Peritonitis führen. Deshalb ist es wichtig, jede Batterie schnellstmöglich zu entfernen.
MD, PD, FICIS, FACR Thierry A.G.M. Huisman

Edward B. Singleton Department of Radiology
Texas Children’s Hospital and Baylor College of Medicine
6701 Fannin Street, Suite 470
Houston, TX 77030, USA
Fax: +1 832 825-0160

huisman@texaschildrens.org

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie
Manuskript eingereicht: 05.06.2023
Manuskript akzeptiert: 04.09.2023

 

Es gibt vier essenzielle Takeaways für die Diagnostik von ingestierten Fremdköpern:
1. Patienten um einen Referenzgegenstand bitten
2. Auch nach indirekten Hinweisen Ausschau halten
3. Von Rachen bis Anus röntgen, wenn nötig CT durchführen
4. «Frequent Flyer», wenn ein Fremdkörper gefunden wird, einen Zweiten ausschliessen
5. Batterien und Magnete können zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen.

1. Litovitz T, Whitaker N, Clark L, White NC, Marsolek M. Emerging battery-ingestion hazard: Clinical implications. Pediatrics. 2010;125:1168-1177.
2. Ambe P, Weber SA, Schauer M, Knoefel WT. Swallowed foreign bodies in adults. Dtsch Arztebl Int. 2012;109(50):869-875.
3. Karsch-Völk, Marlies. Verschluckter Fremdkörper bei Kindern. München; Deximed 2020. https://deximed.de/home/klinische-themen/erste-hilfe-notfallmedizin/patienteninformationen/magen-darm-notfaelle/fremdkoerper-verschluckter-kind; letzter Zugriff: 16.01.2023
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8. Kenneth J, Ng C. Foreign body airway obstruction causing a ball valve effect. JRSM Short Rep. 2013;4(6).
9. Hess, Jacqueline. Wenn Kinder Gegenstände verschlucken. Magdeburg; Universität Magdeburg 2018. https://www.med.uni-magdeburg.de/Patienten+_+Gäste/Ratgeber+Gesundheit/Orale+Fremdkörperaufnahme.html; letzter Zugriff: 16.01.2023
10. Centers for Disease Control and Prevention (CDC). National estimates of the 10 leading causes of nonfatal injuries treated in hospital emergency departments, United States. 2013.

Akutes Koronarsyndrom: Diagnose und Behandlung

In der Schweiz sind jährlich rund 20 000 Personen von einem akuten Koronarsyndrom betroffen. Ein akutes Koronarsyndrom umfasst den ST-Hebungsinfarkt (STEMI), den Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und die instabile Angina pectoris. Die Diagnostik basiert auf der klinischen Präsentation, auf kardialen Biomarkern und dem EKG. Bei Patienten mit akutem STEMI gilt die Prämisse ‚Zeit ist Herzmuskel‘ und es gilt, die verschlossene Koronararterie so schnell wie möglich mittels perkutaner koronarer Intervention (PCI) wieder zu eröffnen. Bei Patienten mit NSTEMI oder instabiler Angina pectoris wird der Zeitpunkt der Koronarangiographie und ggf PCI nach vorgängiger Risikostratifikation festgelegt. Eine optimale Sekundärprävention und strikte Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren sind bei allen Patienten mit akutem Koronarsyndrom essenziell.

Einleitung und Übersicht

Das akute Koronarsyndrom (‘acute coronary syndrome’, ACS) umfasst die Entitäten ST-Hebungsinfarkt (STEMI), Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und die instabile Angina pectoris. In diesem Artikel fokussieren wir auf den Myokardinfarkt
Typ 1 (durch einen Plaque-Event verursacht) sowie den Myokardinfarkt Typ 2 (durch ein Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und -nachfrage verursacht). Auf MINOCA (myocardial infarction without obstructive coronary arteries) wird in diesem Artikel nicht näher eingegangen (1).
Die koronare Herzkrankheit stellt die häufigste Todesursache in der Schweiz dar. Seit 2002 ist die Zahl der Hospitalisationen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 12% angestiegen, was primär durch das Wachstum und das Älterwerden der Bevölkerung erklärt wird (2). Im Jahr 2021 erlitten 19‘145 in der Schweiz wohnhafte Personen einen Myokardinfarkt (2). Die Mortalität des ACS ist aufgrund der verbesserten Diagnostik und Therapie erfreulicherweise seit 2002 um 17% gesunken (2).

Diagnostik des ACS

Das ACS stellt eine wichtige Differenzialdiagnose bei thorakalem Druckgefühl, thorakalem Brennen, in die Arme oder den Hals ausstrahlende Schmerzen oder auch eher atypischen thorakalen Symptomen und Dyspnoe dar. Dies ist insbesondere auch bei jüngeren Männern, Frauen oder Patienten ohne bekannte kardiovaskuläre Risikofaktoren, welche primär nicht als besonders gefährdet gelten, wichtig. Gerade bei Frauen, älteren Patienten oder bei Diabetikern muss ein ACS auch bei diffusen Symptomen wie abdominellen Beschwerden, Nausea, Erbrechen, Synkope oder allgemeiner Schwäche in Betracht gezogen werden. Es gilt zudem zu beachten, dass bis zu einem Drittel aller Patienten mit einem ACS ohne Thoraxschmerzen präsentieren (3).
Beim ACS gilt die Prämisse: ‘Zeit ist Herzmuskel’. Innerhalb von 10 Minuten sollte daher bei Patienten mit Verdacht auf ein ACS ein 12-Kanal-EKG geschrieben werden (Abbildung 2). Ein 12-Kanal-EKG erlaubt das sofortige Erkennen eines STEMIs. Zu den EKG-Kriterien eines STEMIs gehören ST-Hebungen >1 mm in zwei benachbarten Ableitungen. In den Ableitungen V2 und V3 werden ST-Hebungen >1.5 mm bei Frauen und >2 mm bei Männern über 40 Jahre und >2.5 mm bei Männern unter 40 Jahre als diagnostisch erachtet. Ein neu aufgetretener Links- oder Rechtsschenkelblock gelten als STEMI-Äquivalent (4, 5).
Sowohl beim STEMI wie auch beim NSTEMI können die ischämie-typischen EKG-Veränderungen auf das Infarkt-Gefäss hinweisen. Es gilt aber zu berücksichtigen, dass das initiale EKG in einem Drittel der Patienten nicht diagnostisch ist (6). Daher muss das EKG bei klinischem Verdacht in regelmässigen Abständen wiederholt werden. Sollte sich trotz suggestiver Symptomatik in den konventionellen EKG-Ableitungen keine klare Diagnose ergeben, müssen zusätzlich die rechtsseitigen und die posterioren Ableitungen aufgezeichnet werden.
Bei eindeutiger EKG-Diagnose eines akuten STEMIs sollte die Behandlung nicht durch weitere Diagnostik verzögert werden. Eine arterielle Blutuntersuchung mit Bestimmung insbesondere des Hämoglobins und der Elektrolyte erlaubt es, eine schwere Anämie oder Elektrolytstörung (z.B. Hyperkaliämie) auszuschliessen, welche in seltenen Fällen das Bild eines STEMIs imitieren können.
Kann ein akuter STEMI ausgeschlossen werden, erfolgt als nächster Schritt eine Blutentnahme mit Bestimmung der kardialen Biomarker. Nebst den kardialen Biomarkern sollte das Blutbild, die Gerinnung (insbesondere INR bei Patienten unter oraler Antikoagulation mit Marcoumar), die Nierenfunktion, Elektrolyte sowie die Schilddrüsenparameter bestimmt werden. Letztere sind wichtig zum Ausschluss von Krankheiten wie einer autoimmunen Hyperthyreose (früher Morbus Basedow) oder autonomer Schilddrüsenknoten. Hier kann die unkontrollierte Aufnahme von Jod (bei Applikation von jodhaltigem Kontrastmittel) eine thyreotoxische Krise verursachen.
Zur Diagnose eines Myokardinfarktes wird das ‘high-sensitivity’ Troponin verwendet, wobei Troponin T und Troponin I den gleichen Stellenwert aufweisen. Ein Wert gilt dann als erhöht, wenn er über der 99igsten Perzentile des oberen Referenz-Limits liegt, wobei sowohl der initial Wert als auch die Dynamik der Biomarker im Verlauf wichtig sind. Die Referenzwerte unterscheiden sich je nach verwendetem Assay. Die Guidelines der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zum Management von Patienten mit NSTEMI empfehlen, zur Diagnostik eines Myokardinfarktes einen 0/1-Stunden oder 0/2-Stunden Algorithmus (‘rule-in’ oder ‘rule-out’) zu verwenden (5, 7). Es gilt zu beachten, dass die Troponingrenzwerte einen hohen negativ prädiktiven Wert bei eher niedrigem positiv prädiktivem Wert aufweisen.(8) Ist die Diagnose initial unklar, empfiehlt es sich, bei Patienten mit hoher Vortestwahrscheinlichkeit eine weitere Troponin-Bestimmung nach drei Stunden sowie eine weitere Diagnostik mittels transthorakaler Echokardiographie durchzuführen. Bei ausgewählten Patienten mit niedriger Vortestwahrscheinlichkeit kann auch eine Herz-Computertomographie durchgeführt werden, um Stenosen in den epikardialen Herzkranzgefässen ausschliessen oder nachweisen zu können (9). Auch wenn zusätzliche kardiale Biomarker wie die Kreatin-Kinase (CK) und die Kreatin-Kinase CK-MB (‘muscle brain‘) nicht zwingend sind, können sie weitere hilfreiche Informationen zur Abschätzung der Dynamik eines Myokardinfarktes liefern.

Die Behandlung des STEMI

Das primäre Ziel bei der Behandlung eines Patienten mit einem STEMI ist das sofortige Wiedereröffnen des Infarktgefässes, um so den Myokardschaden möglichst gering halten zu können und die Mortalität zu reduzieren (4, 5). Die initiale medikamentöse Therapie besteht aus der Gabe von Aspirin (500 mg i.v. oder oral) und Heparin (5’000 Einheiten i.v.) und je nach Schmerzintensität zusätzlich Morphium. Eine Gabe von Nitroglycerin sollte insbesondere bei Vorliegen eines Rechtsherzinfarktes aufgrund der Neigung zu ausgeprägten Hypotonien nach Senkung der Vorlast vermieden werden. Die Applikation von Sauerstoff wird ausschliesslich bei einer peripheren O2-Sättigung <90% empfohlen (4, 5).
In den ESC Guidelines für die Behandlung von Patienten mit ACS wird die Wichtigkeit einer zeitnahen Revaskularisation betont (5). Sofern das Zeitintervall von der STEMI-Diagnose bis zur Revaskularisation unter 120 Minuten liegt, sollte eine perkutane koronare Intervention (PCI) angestrebt werden, was in der Schweiz aufgrund der nahen Distanzen gut möglich ist. Kann kein Herzkatheterlabor zeitnah erreicht werden, bleibt die Fibrinolyse die Therapie der Wahl. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über die Zeitintervalle, welche bei Patienten mit STEMI eingehalten werden sollten. Nach Diagnose eines STEMIs sollte die Zeit bis zur Reperfusion mittels PCI maximal 90 Minuten dauern, wenn die initiale Diagnose in einem Spital ohne Herzkatheterlabor gestellt wird (5, 10). Wird die Diagnose eines STEMIs in einem Spital mit Herzkatheterlabor gestellt, sollten nicht mehr als 60 Minuten bis zur Revaskularisation des Infarktgefässes vergehen (5).
Im Herzkatheterlabor erfolgt zuerst eine diagnostische Koronarangiographie, wenn möglich über einen radialen Zugangsweg (5). Aus Sicht der Autorinnen empfiehlt sich die Durchführung einer Lävokardiographie sowie die Messung der linksventrikulären Füllungsdrücke (LVEDP), um das Volumenmanagement von Anfang an optimal gestalten zu können. Die Lävokardiographie ermöglicht zudem, mechanische Infarktkomplikationen wie eine gedeckte Ventrikel-Ruptur, einen Infarkt-Ventrikelseptumdefekt oder einen Papillarmuskelabriss schnell erkennen zu können. Nach diagnostischer Koronarangiographie erfolgt die Behandlung des Infarktgefässes, meist mittels Implantation eines Stents. Bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt tritt in 5-10% ein kardiogener Schock auf, der Einsatz eines mechanischen Herzkreislauf-Unterstützungssystems (Impella, ECMO) muss hier sorgfältig abgewogen werden. Die Datenlage ist auf dem Gebiet noch unzureichend. Die kürzlich publizierte Comparison of Standard Treatment Versus Standard Treatment Plus Extracorporeal Life Support in Myocardial Infarction Complicated with Cardiogenic Shock (ECLS-SHOCK) Studie konnte keinen Mortalitätsbenefit eines mechanischen Herzkreislauf-Unterstützungssystems bei Patienten mit Herzinfarkt und kardiogenem Schock zeigen (11).
Bei der Hälfte der STEMI-Patienten zeigt sich eine koronare Mehrgefässerkrankung. Diese Patienten weisen neben der Infarkt-Läsion weitere Stenosen in Nicht-Infarktgefässen auf (12).Verschiedene randomisierte Studien konnten den Vorteil einer kompletten Revaskularisation, welche die interventionelle Behandlung aller relevanter Stenosen in Nicht-Infarkt-Gefässen beinhaltet, im Vergleich zu einer alleinigen Revaskularisation des Infarktgefässes belegen, darunter die Preventive Angioplasty in Acute Myocardial Infarction (PRAMI) Studie, die Complete revascularisation versus treatment of the culprit lesion only in patients with ST-segment elevation (DANAMI-3 PRIMULTI) Studie, die Complete Versus Lesion-Only Primary PCI Trial (CULPRIT) Studie, die Fractional Flow Reserve–Guided Multivessel Angioplasty in Myocardial Infarction (Compare-Acute) Studie und insbesondere die Complete versus Culprit-Only Revascularization Strategies to Treat Multivessel Disease after Early PCI for STEMI (COMPLETE) Studie (13-16).
Der optimale Zeitpunkt der Revaskularisation der Nicht-Infarkt-Läsionen bei STEMI-Patienten wurde in der kürzlich publizierten Immediate versus Staged Complete Revascularization with Multivessel PCI for ST-Segment Elevation Myocardial Infarction (MULTISTARS AMI) Studie untersucht (17, 18). Die Studie schloss 840 Patienten mit STEMI und koronarer Mehrgefässerkrankung ein, welche entweder in eine sofortige Behandlung der Nicht-Infarktgefässe oder eine zweizeitige Behandlung der Nicht-Infarktgefässe randomisiert wurden. MULTISTARS AMI zeigte erstmals, dass bei Patienten mit STEMI eine sofortige Revaskularisation der Nicht-Infarktläsionen einer zweizeitigen nicht unterlegen und mit einer niedrigeren Rate an Reinfarkten und erneuten Ischämie-bedingten Revaskularisationen vergesellschaftet ist. Die Immediate versus staged complete revascularisation in patients presenting with acute coronary syndrome and multivessel coronary disease (BIOVASC) Studie schloss ein breites ACS-Patientenkollektiv mit STEMI, NSTEMI oder instabiler Angina pectoris ein und zeigte bei diesen Patienten ebenfalls die Nicht-Unterlegenheit einer sofortigen Revaskularisation (19). Bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt und kardiogenem Schock zeigte die The Culprit Lesion Only PCI versus Multivessel PCI in Cardiogenic Shock (CULPRIT-SHOCK) Studie hingegen, dass eine alleinige Revaskularisation des Infarktgefässes einer kompletten Revaskularisation überlegen ist (20).

In der Akut-Phase eines Myokardinfarktes erfolgt eine konti­nu­ierliche Rhythmusüberwachung auf einer Überwachungs- oder Intensivstation, um Rhythmusstörungen schnell detektieren und behandeln zu können. Zudem sollte – sofern der Patient eine eingeschränkte linksventrikuläre Funktion hat und nicht Symptome einer akuten Dekompensation zeigt – mit einer Herzinsuffizienztherapie begonnen werden. Die Sekundärprävention ist – wie bei allen Patienten mit etablierter koronarer Herzkrankheit – bei Patienten mit einem STEMI von äusserster Wichtigkeit. Neben Lifestyle-Massnahmen, zu welchen auch der Rauchstopp gehört, ist eine hochdosierte Statintherapie indiziert. Wirksamkeit und Sicherheit hochdosierter Statintherapien wurden in zahlreichen randomisierten Studien belegt (21). Bei den angestrebten low-density lipoprotein (LDL) Cholesterin-Werten gilt ein Zielbereich von <1.4 mmol/l und eine Reduktion um mindestens 50% (22). Kann unter maximal tolerierter Statindosis keine ausreichende Senkung des LDL-Cholesterins erzielt werden, sollte eine Kombination mit Ezetimib erfolgen (22, 23). Wird auch mit dieser Therapie nicht der gewünschte Erfolg erzielt, ist eine Therapie mit einem Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 (PCSK9)-Hemmer indiziert (22, 24).
Nach dem Spitalaufenthalt ist bei Patienten mit STEMI eine ambulante oder stationäre Rehabilitation empfohlen. Es konnte gezeigt werden, dass hierdurch eine signifikante Reduktion der kardialen Mortalität erzielt werden kann (25).

Behandlung NSTEMI und instabile Angina pectoris

Die Grundpfeiler der Therapie sind bei Patienten mit NSTEMI und der instabilen Angina pectoris dieselben wie bei Patienten mit STEMI. Der Unterschied liegt insbesondere im Zeitpunkt der Durchführung der Koronarangiographie und ggf. PCI. Währenddessen beim STEMI eine sofortige PCI erfolgt, wird der Zeitpunkt der Koronarangiographie und ggf. PCI beim NSTEMI nach erfolgter Risikostratifikation individuell festgelegt. Gemäss Guidelines der ESC für die Behandlung von Patienten mit ACS wird bei Patienten mit einem NSTEMI und hohem Risiko eine Koronarangiographie und ggf. PCI innerhalb von 24 Stunden empfohlen, bei Patienten mit sehr hohem Risiko sollte diese sofort durchgeführt werden (5). Risiko-Scores wie der Global Registry of Acute Coronary Events (GRACE) Risk Score helfen hierbei, das Risiko abzuschätzen, zu quantifizieren und zu objektivieren (26, 27). Der GRACE Score enthält unter anderem Variablen wie das Alter, die Herzfrequenz, den systolischen Blutdruck, Zeichen einer kardialen Dekompensation oder das Vorliegen eines Herz-Kreislaufstillstandes bei Hospitalisation, das Vorliegen von ST-Strecken-Veränderungen im EKG sowie Laborwerte wie Kreatinin und Troponin. Es konnte auch gezeigt werden, dass der GRACE 2.0 Score die Mortalität bei Frauen klar unterschätzt. Der neu entwickelte GRACE 3.0 Score trägt diesem Umstand Rechnung und erlaubt eine verbesserte Risikostratifikation bei Frauen und Männern (28).
Eine optimale Sekundärprophylaxe und aggressive Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren ist bei allen Patienten mit koronarer Herzkrankheit – wie oben bereits beschrieben – sehr wichtig.

Duale antiaggregatorische Therapie (DAPT)

Bei Patienten mit ACS ist die Gabe eines P2Y12-Inhibitors indiziert mit entsprechender Ladedosis, wobei bei Patienten mit Myokardinfarkt Prasugrel und Ticagrelor in randomisierten Studien dem Clopidogrel überlegen waren und deshalb prioritär eingesetzt werden (5, 29, 30). Eine duale Thrombozytenaggregationshemmung (DAPT) ist grundsätzlich für ein Jahr nach ACS indiziert, kann aber je nach Blutungs- oder Ischämie-Risiko individuell verkürzt oder verlängert werden (Tabelle 1) (5, 31, 32). Eine gleichzeitige Therapie mittels Protononenpumper-Inhibitor wird für die Dauer der DAPT bei Patienten mit erhöhtem Risiko einer gastrointestinalen Blutung empfohlen (5).
Bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko kann die Dauer der DAPT auf 1 bis 3 Monate verkürzt werden (5). Der Ticagrelor with Aspirin or Alone in High-Risk Patients after Coronary Intervention (TWILIGHT) Studie folgend kann beispielsweise nach 3-monatiger DAPT auf eine Monotherapie mit Ticagrelor gewechselt werden (33). In die TWILIGHT Studie wurden Patienten 3 Monate nach erfolgreicher PCI eingeschlossen, wenn sie zusätzlich mindestens einen klinischen oder angiographischen Risikofaktor für ischämische Ereignisse oder Blutungen aufwiesen (33). Die Studie zeigte, das eine Monotherapie mit Ticagrelor nach 3-monatiger DAPT mit einem niedrigeren Blutungsrisiko vergesellschaftet war bei vergleichbarer Rate ischämischer Ereignisse (33). Eine Verkürzung oder De-Eskalation der DAPT von einem potenteren P2Y12 Hemmer auf Clopidogrel sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn im Verlauf keine erneuten ischämischen Ereignisse aufgetreten sind.
Patienten mit hohem ischämischem Risiko können von einer prolongierten Antikoagulation/Antiaggregation nach einer 12-monatigen DAPT profitieren, vorausgesetzt, es sind zwischenzeitlich keine Blutungsereignisse aufgetreten (Tabelle 2) (5). Somit sollte erst 1 Jahr nach ACS über eine mögliche Verlängerung der Antikoagulation/Antiaggregation entschieden werden. Verschiedene Therapie-Schemata wurden in randomisierten Studien untersucht. Die Prevention of Cardiovascular Events in Patients with Prior Heart Attack Using Ticagrelor Compared to Placebo on a Background of Aspirin–Thrombolysis in Myocardial Infarction (PEGASUS-TIMI) 54 Studie konnte zeigen, dass eine verlängerte Therapie mit Ticagrelor (in reduzierter Dosis von zweimal 60 mg täglich) die Rate an ischämischen Ereignissen signifikant reduziert, dies bei erhöhten Blutungsraten (32). In die Studie wurden Patienten mit stattgehabtem Myokardinfarkt (vor 1-3 Jahren) und mindestens einem weiteren Risikofaktor (Alter >65 Jahre, Diabetes mellitus, stattgehabte Myokardinfarkte, koronare Mehrgefässerkrankung oder chronische Niereninsuffizienz) eingeschlossen (32). Alternativ kann nach 12-monatiger DAPT – der (Cardiovascular Outcomes for People Using Anticoagulation Strategies) COMPASS Studie folgend – ein Wechsel auf Aspirin in Kombination mit Rivaroxaban in niedriger Dosierung (zweimal 2.5 mg täglich) erfolgen (34). In die COMPASS Studie wurden Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit oder peripher arterieller Verschlusskrankheit eingeschlossen, bei Patienten unter 65-jährig wurde zusätzlich eine atherosklerotische Erkrankung in mindestens zwei Gefässbetten oder das Vorliegen von mindestens 2 weiteren Risikofaktoren (Rauchen, Diabetes mellitus, eine eingeschränkte Nierenfunktion, eine Herzinsuffizienz oder ein Schlaganfall) verlangt (34). Die Studie zeigte eine verminderte Rate ischämischer Ereignisse unter der Kombinationstherapie Aspirin und niedrigdosiertem Rivaroxaban bei auch hier erhöhtem Risiko von Blutungsereignissen (34).
Bei Patienten unter oraler Antikoagulation erfolgt für die ersten 1-3 Wochen nach PCI eine Tripel-Therapie (Aspirin, Clopidogrel, orale Antikoagulation) mit anschliessender dualer Therapie mit Clopidogrel und oraler Antikoagulation (5). Nach einem Jahr erfolgt eine alleinige orale Antikoagulation (5). Bei erhöhtem ischämischem Risiko kann eine Multiplate Analyse zur Testung der Thrombozytenaggregation unter Clopidogrel in Erwägung gezogen werden, da Clopidogrel in der Bevölkerung eine grosse Wirksamkeitsbreite zeigt (35).

Im Artikel verwendete Abkürzungen
ACS Akutes Koronarsyndrom
STEMI ST-Hebungsinfarkt
NSTEMI Nicht-ST-Hebungsinfarkt
MINOCA Myocardial infarction without obstructive coronary arteries
ESC European Society of Cardiology
PCI Perkutane koronare Intervention
ECMO Extrakorporalen Membran Oxygenation
LVEDP Linksventrikulärer Füllungsdruck
DAPT Duale Thrombozytenaggregationshemmung

Lernfragen
1. Was ist der angestrebte LDL-Wert zur Sekundärprävention nach ACS?
a) 2.6 mmol/l
b) 1.8 mmol/l
c) <1.4 mmol/l und eine Reduktion des Ausgangswertes um mindestens 50%
d) <1.8 mmol/l und eine Reduktion des Ausgangswertes um mindestens 50%
2. Wie lange soll die Zeit von der STEMI-Diagnose bis zur PCI maximal dauern?
a) 120 Minuten
b) 90 Minuten bei Diagnosestellung in einem Spital ohne Herzkatheterlabor
c) 60 Minuten bei Diagnosestellung in einem Spital ohne Herzkatheterlabor
d) 60 Minuten bei Diagnosestellung in einem Spital mit Herzkatheterlabor
3. In welcher Situation ist bei einem Patienten mit NSTEMI eine sofortige Koronarangiographie und ggf. PCI indiziert?
a) Lebensbedrohliche Arrhythmie
b) Vorhofflimmern
c) Bei allen Patienten mit NSTEMI sollte eine Koronarangiographie gemäss Guidelines innerhalb von 2 Stunden durchgeführt werden
d) Bei allen Patienten mit NSTEMI sollte eine Koronarangiographie gemäss Guidelines innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden
Prof. Dr. med. Barbara E. Stähli

Universitätsspital Zürich, Klinik für Kardiologie /
Universitäres Herzzentrum
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Barbara.staehli@usz.ch

Historie:
Manuskript eingereicht: 01.09.2023
Nach Revision angenommen: 18.10.2023

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Trotz grossen Fortschritten in Prävention und Behandlung der koronaren Herzkrankheit erleiden weiterhin gegen 20‘000 Personen in der Schweiz jedes Jahr ein akutes Koronarsyndrom. In der Akut-Phase des STEMIs spielen Klinik und EKG die wichtigste Rolle in der Diagnostik, beim NSTEMI nimmt das high-sensitivity Troponin zusätzlich eine wichtige Stellung ein und erlaubt eine frühe Bestätigung oder einen Ausschluss eines Myokardinfarktes. Während beim STEMI eine notfallmässige Koronarangiographie und Wiedereröffnung des Infarktgefässes indiziert ist, erfolgt beim NSTEMI eine initiale Risikostratifikation, um den optimalen Zeitpunkt der Koronarangiographie und ggf weitere Abklärungen festzulegen. Bei allen Patienten mit koronarer Herzkrankheit sind im weiteren Verlauf Sekundärprävention und eine optimale Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren wichtig.

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3. Canto, J.G., et al., Prevalence, clinical characteristics, and mortality among patients with myocardial infarction presenting without chest pain. Jama, 2000. 283(24): p. 3223-9.
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Das akute Koronarsyndrom: Nach der Revaskularisation ist vor der (Sekundär-) Prävention

Die Behandlung des akuten Koronarsyndroms (ACS) ist eine medizinische Erfolgsgeschichte, deren Behandlungsstrategien während der letzten Dekaden kontinuierlich gereift sind und die zugrunde legende Evidenz hoch ist. Gegenüber dem «Thrombolyse-Zeitalter» konnte die Mortalität beim akuten ST-Hebungsinfarkt (STEMI) dank der primären perkutanen Koronarintervention (PCI, Evidenzklasse I, Level A), welche die schnelle mechanische Wiederherstellung des Blutflusses im verschlossenen Koronargefäss in der Mehrzahl der Fälle erlaubt, in der Schweiz eindrücklich von 10-18% auf heute durchschnittlich 4% Prozent gesenkt werden, wobei der Nutzen bei beiden Geschlechtern und auch bei betagten Patienten zum Tragen kommt (1, 2). Nicht minder wichtig hierfür war die Organisation einer medizinischen Infrastruktur (STEMI-Hotline, schweizweit flächendeckendes Angebot PCI-fähiger Spitäler mit 24 Stunden/7 Tage Bereitschaft, direkte Einlieferung ins Herzkatheterlabor unter Umgehung des Notfalls, IB), die die rasche Diagnose und zielgerichtete Notfallverlegung der (mit Ausnahme weniger aus entlegenen Regionen stammender) Patientinnen und Patienten innert 60 Minuten ermöglicht. In Analogie zum STEMI hat sich auch beim Nicht-ST-Hebungs-ACS (NSTE-ACS) die frühe Revaskularisation bewährt (IA). Die Bestimmung des hoch-sensitiven Troponins unter Anwendung von 0h/1h Algorithmen ermöglicht beim NSTE-ACS eine rasche Triage hinsichtlich der weiteren Diagnostik und Behandlung (IB). Durch Fortschritte in der Stenttechnologie sowie bei der medikamentösen antithrombotischen Therapie (insbesondere potente P2Y12-Inhibitoren, IA) konnte zudem das Risiko von Stentthrombosen auf etwa 1% innerhalb des 1. Jahres gesenkt werden (3).
In Anbetracht der grossen Fortschritte während der Frühphase der Behandlung des ACS legte sich der Fokus der Forschung in den letzten Jahren vermehrt auf die Sekundärprävention, die Verhinderung künftiger ischämischer, aber auch hämorrhagischer Ereignisse. Und diese Massnahmen beginnen bereits bei der Behandlung der Culprit-Läsion. So erlaubt der Einsatz von intrakoronarer Bildgebung (optische Kohärenztomographie oder intravaskulärer Ultraschall) während der PCI die Häufigkeit künftiger Ereignisse im behandelten Gefäss («Target Vessel Failure») zu reduzieren (4) und wird deshalb in den aktuellen europäischen (European Society of Cardiology, ESC) Leitlinien bei ACS-Patienten mit einer IIaA Indikation empfohlen (5). Darüber hinaus ermöglicht die intrakoronare Bildgebung die Identifizierung vulnerabler (häufig nicht-stenosierender) Plaques, welche unter hoch-intensiver lipid-senkender Therapie mit PCSK9-Inhibitoren in Ergänzung zur Statintherapie eine Plaque-Regression aufweisen können (6).
Es besteht robuste Evidenz, dass eine komplette Revaskularisation bei ACS-Patienten, d.h. Behandlung zusätzlicher signifikanter Stenosen in Nicht-Infarkt-Gefässen sowohl durch angiographischen als auch funktionellen Nachweis und unabhängig vom Alter prognostisch günstig ist (7). Die europäischen Leitlinien empfehlen, dies innert 45 Tage nach dem initialen ACS-Ereignis durchzuführen (IA) (5). Zwei in diesem Sommer publizierte grosse randomisierte Studien (MULTISTARS AMI und BIOVASC) legen nahe, dass bei hämodynamisch stabilen Patienten eine komplette Revaskularisation noch während der Index-Prozedur erfolgen kann, ohne Nachteile hinsichtlich des kombinierten Endpunktes von Tod, Myokardinfarkt, Hirninfarkt, ungeplanter Revaskularisation (und Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz bei MULTISTARS AMI) nach einem Jahr im Vergleich zu einer staged Intervention innert 45 Tagen (8, 9).
Die dritte wesentliche Neuerung in den aktuellen ESC-Leitlinien betrifft die Dauer und Art der antithrombotischen Therapie nach dem ACS. Während bislang bei mittels PCI behandelten ACS-Patientinnen und Patienten eine relativ starre Empfehlung einer einjährigen (oder bei hohem Blutungsrisiko mindestens 6-monatigen) dualen Antiaggregationstherapie (DAPT) bestand (IA), haben die Resultate mehrerer Studien, welche verschiedene DAPT-Strategien untersucht haben, dazu geführt, dass nun auch beim ACS verkürzte DAPT-Strategien von 1-3 Monate (IIbB bzw. IIaA) zur Reduktion des Blutungsrisikos in Betracht gezogen werden – natürlich unter Berücksichtigung des individuellen ischämischen Risikos (5). Zunehmend nimmt auch die Erkenntnis Einzug, dass nach der initialen DAPT-Phase eine Monotherapie mit einem P2Y12-Inhibitor anstelle des traditionellen Aspirins eine Alternative darstellt (IIbA). Langfristig ist die Adhärenz zur Leitlinien-empfohlenen Therapie ausschlaggebend. Neben der antithrombotischen Therapie ist insbesondere die hoch-intensive lipidsenkende Therapie mit Statinen (IA) und ggf. PCSK-9-Inhibitoren (IA) zu nennen, deren Beginn bereits unmittelbar nach Infarkt sicher ist (10, 11).

In der aktuellen Ausgabe fassen J. Stehli und B. Stähli in einem Übersichtsartikel sowohl die altbewährten als auch die neuesten Empfehlungen hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung des gesamten Spektrums des ACS – vom NSTE-ACS über den STEMI bis hin zum ACS mit kardiogenem Schock oder Kreislaufstillstand – konzis zusammen (12). Im Zentrum der Mini-Review stehen praktische Empfehlungen für eine schnelle Diagnostik und zielgerechte Akut-Behandlung der Patientinnen und Patienten sowie eine Übersicht über die erwähnten neuen Erkenntnisse hinsichtlich der kompletten Revaskularisation und dualen Antiaggregation, die in der klinischen Praxis sehr hilfreich sind.

Prof. Dr. med. Stephan Windecker

Universitätsklinik für Kardiologie
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Jonas Dominik Häner hat keine Interessenkonflikte. Stephan Windecker gibt Forschungs-, Reise- oder Lehr-Grants an die Institution an von Abbott, Abiomed, Amgen, Astra Zeneca, Bayer, Braun, Biotronik, Boehringer Ingelheim, Boston Scientific, Bristol Myers Squibb, Cardinal Health, CardioValve, Cordis Medical, Corflow Therapeutics, CSL Behring, Daiichi Sankyo, Edwards Lifesciences, Farapulse lnc. Fumedica, Guerbet, ldorsia, lnari Medical, lnfraRedx, Janssen-Cilag, Johnson & Johnson, Medalliance, Medicure, Medtronic, Merck Sharp & Dohm, Miracor Medical, MonarQ, Novartis, Novo Nordisk, Organon, OrPha Suisse, Pharming Tech, Pfizer, Polares, Regeneron, Sanofi-Aventis, Servier, Sinomed, Terumo, Vifor, V-Wave. Stephan Windecker dient als Advisory Board Mitglied und / oder Mitglied von Steering-/Exekutivkommittees von Studien, welche durch Abbott, Abiomed, Amgen, Astra Zeneca, Bayer, Boston Scientific, Biotronik, Bristol Myers Squibb, Edwards Lifesciences, MedAlliance, Medtronic, Novartis, Polares, Recardio, Sinomed, Terumo und V-Wave unterstützt werden mit Zahlungen an die Institution aber ohne persönliche Zahlungen. Stephan Windecker ist ebenfalls Mitglied von Steering-/Exekutivkommittees verschiedener lnvestigator-initiierter Studien, welche von der Industrie unterstützt werden ohne Einfluss auf seine persönliche Vergütung.

1. Radovanovic D, Nallamothu BK, Seifert B, Bertel O, Eberli F, Urban P, et al. Temporal trends in treatment of ST-elevation myocardial infarction among men and women in Switzerland between 1997 and 2011. Eur Heart J Acute Cardiovasc Care. 2012;1(3):183-91.
2. Boeddinghaus JG, Oliver; Meier, Pascal; Muller, Olivier; Nietlispach, Fabian; Räber, Lorenz; Weilenmann, Daniel; Jeger, Raban. The SWISS PCI Survey – coronary and structural heart interventions in Switzerland 2020. Cardiovascular Medicine. 2022;25:75-8.
3. Windecker S, Latib A, Kedhi E, Kirtane AJ, Kandzari DE, Mehran R, et al. Polymer-based or Polymer-free Stents in Patients at High Bleeding Risk. N Engl J Med. 2020;382(13):1208-18.
4. Zhang J, Gao X, Kan J, Ge Z, Han L, Lu S, et al. Intravascular Ultrasound Versus Angiography-Guided Drug-Eluting Stent Implantation: The ULTIMATE Trial. J Am Coll Cardiol. 2018;72(24):3126-37.
5. Byrne RA, Rossello X, Coughlan JJ, Barbato E, Berry C, Chieffo A, et al. 2023 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes. Eur Heart J. 2023.
6. Biccire FG, Haner J, Losdat S, Ueki Y, Shibutani H, Otsuka T, et al. Concomitant Coronary Atheroma Regression and Stabilization in Response to Lipid-Lowering Therapy. J Am Coll Cardiol. 2023.
7. Biscaglia S, Guiducci V, Escaned J, Moreno R, Lanzilotti V, Santarelli A, et al. Complete or Culprit-Only PCI in Older Patients with Myocardial Infarction. N Engl J Med. 2023;389(10):889-98.
8. Stahli BE, Varbella F, Linke A, Schwarz B, Felix SB, Seiffert M, et al. Timing of Complete Revascularization with Multivessel PCI for Myocardial Infarction. N Engl J Med. 2023.
9. Diletti R, den Dekker WK, Bennett J, Schotborgh CE, van der Schaaf R, Sabate M, et al. Immediate versus staged complete revascularisation in patients presenting with acute coronary syndrome and multivessel coronary disease (BIOVASC): a prospective, open-label, non-inferiority, randomised trial. Lancet. 2023;401(10383):1172-82.
10. Koskinas KC, Windecker S, Pedrazzini G, Mueller C, Cook S, Matter CM, et al. Evolocumab for Early Reduction of LDL Cholesterol Levels in Patients With Acute Coronary Syndromes (EVOPACS). J Am Coll Cardiol. 2019;74(20):2452-62.
11. Raber L, Ueki Y, Otsuka T, Losdat S, Haner JD, Lonborg J, et al. Effect of Alirocumab Added to High-Intensity Statin Therapy on Coronary Atherosclerosis in Patients With Acute Myocardial Infarction: The PACMAN-AMI Randomized Clinical Trial. JAMA. 2022;327(18):1771-81.
12. Staehli, Barbara E., Akutes Koronarsyndrom: Diagnose und Behandlung, PRAXIS (Bern 1994). 2024; 113 (1): 661-665.

Prof. Richard Cathomas im Gespräch mit Verlegerin Eleonore Droux

Ihre Highlights am diesjährigen ESMO? 

Richard Cathomas : Das absolute Highlight war natürlich die Präsentation der Resultate der EV-302/Keynote-A39 Studie (Powles et al., LBA6). Diese Studie wurde beim metastasierten Urothelkarzinom (mUC) durchgeführt und verglich die seit Jahren etablierte Erstlinien-Chemotherapie mit Platin/Gemcitabine gegenüber der Kombination des Antibody-drug Konjugats (ADC) Enfortumab vedotin (EV) und Pembrolizumab. Der primäre Endpunkt war das Gesamtüberleben (OS). Zum ersten Mal seit Jahrzehnten konnte eine Studie in der Erstlinientherapie des metastasierten Urothelkarzinoms einen signifikanten und klinisch sehr relevanten OS Benefit mit einer Verdopplung des Gesamtüberlebens zeigen (31.5 Monate mit EV/Pembro vs 16.1 Monate mit Platin/Gemcitabine ; HR 0.47). Hiermit ist ein neuer Standard definiert worden und die Prognose dieser Erkrankung hat sich massiv verbessert. Zu beachten sind speziellen Toxizitäten der Kombination mit EV/Pembro die ein vorausschauendes und proaktives Management benötigen.  

Welche Resultate/Erkenntnisse haben Sie überrascht? Positiv oder negativ?

Im Bereich des metastasierten Prostatakarzioms wurden zwei grosse Phase 3 Studien präsentiert, in denen die Zugabe des PD-1 Inhibitors Prembrolizumab zur Standardtherapie geprüft wurde. Die Keynote-641 Studie (Graff et al., 1771MO) wurde bei Patienten mit metastasiertem kastrations-resistentem Prostatakarzinom (mCRPC) und die Keynote-991 (Gratzke et al., 1772MO) beim metastasierten hormon-sensitiven Prostatakarzinom (mHSPC) durchgeführt. In beiden Studien wurde Placebo-kontrolliert die Zugabe von Pembrolizumab zur standardmässigen Behandlung mittels Androgendeprivation und Enzalutamid  untersucht. Leider zeigten beide Studien keinerlei Hinweise auf einen Benefit bezüglich des radiologischen Progressions-freien Überlebens (rPFS) oder des OS. Die einzige Indikation für eine Behandlung mittels Immuntherapie beim metastasierten Prostatakarzinom ist somit weiterhin das Vorliegen einer Mikrosatelliten-Instabilität (MSI high). Der Mikrosatellitenstatus sollte immer untersucht werden, eine MSI-high Situation liegt jedoch nur in 1-2% der Fälle vor.

Welche Erkenntnisse haben für Ihre tägliche Praxis eine grosse Bedeutung?

Neben der bereits eingangs erwähnten EV-302 Studie für das Urothelkarzinom ist beim Prostatakarzinom meines Erachtens die PSMAfore Studie (Sartor et al., LBA13) als practice changing einzustufen. In diese randomisierte Phase 3 Studie wurden Patienten mit progredientem mCRPC und vorgängiger Behandlung mit Androgendeprivation und einem ARPI (androgen receptor pathway inhibitor: Abiraterone, Enzalutamid, Apalutamid, Darolutamid) eingeschlossen. Verglichen wurde die Therapie mit dem Radionuklid 177Lu-PSMA-617 gegenüber einem ARPI-Switch. Beim primären Endpunkt zeigte sich eine Verdoppelung des rPFS (12.02 Monate vs 5.59 Monate, HR 0.43) mit 177Lu-PSMA-617. Beim OS konnte keine Verbesserung gezeigt werden jedoch erhielten 84% der Patienten im Kontrollarm aufgrund eines geplanten Crossovers auch die Therapie mit 177Lu-PSMA-617. Zu kritisieren ist die Wahl des Kontrollarms, da in dieser Situation eigentlich Docetaxel die Behandlung der Wahl darstellt. Jedoch sind viele Patienten und Ärzte aufgrund von erhöhter Toxizität gegenüber Docetaxel kritisch eingestellt und nicht alle Patienten sind in der Lage Docetaxel zu erhalten. Insgesamt stellt 177Lu-PSMA-617 meiner Meinung nach eine neue zusätzliche Therapiemöglichkeit beim mCRPC nach Versagen einer APRI-Behandlung dar.

Gibt es Fortschritte bei der Identifizierung von Biomarkern, die in der Zukunft prognostisch und prädiktiv verwendet werden können?

Am ESMO 2023 wurden mehrere positive Studien beim Urothelkarzinom mit dem FGFR Inhibitor Erdafitinib in verschiedenen Indikationen vorgestellt. FGFR hat sich definitiv als erster brauchbarer prädiktiver Biomarker beim Urothelkarzinom herausgestellt. Die Phase 3 Studie THOR beim mUC zeigte für Patienten mit FGFR-Alterationen eine signifikante Verbesserung des OS mit Erdafitinib gegenüber Chemotherapie (Siefker-Radtke et al., 2359O und Loriot et al., 2362MO). Da FGFR-Alterationen beim nicht-muskleinvasiven Blasenkarzinom gehäufter vorkommen, wurde Erdafitinib auch in dieser Indikation mit Erfolg geprüft (THOR-2, Catto et al., LBA102), jedoch ist die Toxizität bei systemischer Gabe hoch. Abhilfe schaffen könnte hier eine intravesikale lokale Applikation wie sie erstmals am ESMO gezeigt wurde (Device TAR-210, Vilaseca et al., LBA104). Solche lokalen zielgerichteten Therapien könnten beim Blasenkarzinom in Zukunft eine grosse Rolle spielen.

Welche Rolle spielen Liquid Biospsies und ctDNA in ihrem Bereich?

Beim Blasenkarzinom laufen bereits Studien zum Einsatz der ctDNA für die Therapiefindung in der adjuvanten Behandlung. Hier sind bald weitere Resultate zu erwarten.
Am ESMO 2023 wurden erstmals Resultate der ProBio Studie für Patineten mit mCRPC gezeigt. Dabei erfolgte bei Studieneinschluss eine ctDNA Analyse und basierend auf den Resultaten wurden die Patienten verschiedenen Behandlungen zugeführt (Grönberg et al., LBA86). Es handelt sich um eine sehr interessante Studie mit adaptivem Design. Die erste Analyse zeigte, dass basierend auf Mutationen im Bereich des Androgenrezeptors das Ansprechen auf verschiedene Therapien unterschiedlich ausfällt. Noch ist der Einsatz aber auf Studien begrenzt, eine Limitierung stellt sicher noch die Sensitivität dar : in der ProBio Studie konnte in fast 40% der Patienten keine ctDNA nachgewiesen worden obwohl nur metastasierte Patienten untersucht wurden.

Wie sehen Sie die Schweiz als Forschungsplatz am ESMO repräsentiert?

Auch dieses Jahr war die Schweiz sowohl mit SAKK Studien wie auch mit Studien aus verschiedenen Institutionen am ESMO wieder ingesamt gut vertreten. PD Dr. Michael Mark zeigte zusammen mit der SAKK eine Subgruppen-Analyse der SAKK 80/19 Studie (Mark et al., 2167P). Dabei konnte für Patienten mit Knochenmetastasen unter Immuntherapie kein Vorteil einer antiresorptiven Therapie auf das Auftreten von symptomatischen skelettalen Events (SSE) gefunden werden. Die Patienten mit Immuntherapie hatten zudem häufiger Kieferosteonekrosen. Der Einsatz von Antiresportiva muss in dieser Situation also gut bedacht sein. Die Abteilung Onkoloige/Hämatologie des Kantonsspitals Graubünden präsentierte die Resultate der « Hilotherapie-Studie » : bei Patienten unter Taxan-Chemotherapie wurde eine kontrollierte Kühlung der Hände und Füsse mittels eines Kühlgerätes durchgeführt. Als interne Kontrolle diente bei jedem Patienten die kontralaterale Extremität. Es konnte gezeigt werden, dass die Kühlung mit dem Hilotherapiegerät eine Reduktion der Taxan-induzierten peripheren Neuropathie bewirken kann (Johnson et al., 2104P).

Eleonore E. Droux

droux@medinfo-verlag.ch