Post-COVID-Rehabilitation

COVID-19 ist eine Mulitorgan-Krankheit mit einem breiten Spektrum an Manifestationen. Viele Betroffene haben durch die Erkrankung grosse Mühe, in ihren vorherigen Alltag oder Beruf zurückzukehren. Für die Behandlung der Post-COVID-Erkrankung stehen aktuell keine kausalen Therapieansätze zur Verfügung. Aufgrund der Vielzahl der möglichen Symptome ist eine interprofessionelle, integrierte Behandlung sinnvoll, wobei sich die Rehabilitation und Interventionen an den objektiven Befunden sowie an den Patientenzielen orientieren sollen. Fatigue und kognitive Einschränkungen gehören zu den häufigsten Symptomen, welche sowohl die berufliche Teilhabe als auch die Alltagsbewältigung einschränken können. Das Fatiguemanagement stellt einen zentralen Baustein der Rehabilitation dar. Das Arbeitspensum sollte sehr langsam gesteigert werden, Hinweise auf Post-exertionelle Malaise müssen dabei besonders berücksichtigt werden. Aufgrund des fluktuierenden Verlaufs kann es erforderlich sein, das Pensum auch zeitweise wieder zu reduzieren.

Bei der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19) handelt sich um eine Multiorgan-Krankheit mit einem breiten Spektrum an Manifestationen. Mittlerweile wurden rund 6,8 Millionen Todesfälle und 752 Millionen Erkrankungen von der World Health Organization (WHO) registriert (Stand 27.01.2023) (1). Während zuerst die Akuterkrankung im Vordergrund stand, zeigte sich im Verlauf, dass bei einigen Personen unterschiedliche Symptome persistierten, die zunächst medizinisch nicht eingeordnet werden konnten. Insbesondere in den sozialen Medien wurde durch Betroffene der Begriff Long COVID geprägt. In der Folge wurde zu diesem Krankheitsbild sehr viel und sehr schnell publiziert. Die Interpretation der Studien bleibt jedoch auf Grund der heterogenen Datenlage schwierig. Die Pathophysiologie, die Häufigkeit, die Prognose und mögliche Behandlungsformen sind weiterhin noch nicht ausreichend bekannt. Viele Betroffene haben durch die Erkrankung grosse Mühe, in ihren vorherigen Alltag oder Beruf zurückzukehren, wodurch es zu langen Krankschreibungen bis hin zur Berentung kommen kann. Dieser Artikel widmet sich daher der Rehabilitation der neurologischen Symptome auf dem aktuellen Wissenstand.

Definition und Pathophysiologie

Die Langzeitfolgen der COVID-19-Erkrankung haben neben Long- und Post-COVID mittlerweile viele verschiedene Namen erhalten. Die WHO definiert sie wie folgt: «Eine Post-COVID-19-Erkrankung kann bei Personen mit einer wahrscheinlichen oder bestätigten SARS-CoV-2-Infektion auftreten, in der Regel drei Monate nach Auftreten von COVID-19 mit Symptomen, die mindestens zwei Monate andauern und nicht durch eine andere Diagnose zu er­klären sind. Zu den allgemeinen Symptomen zählen Erschöpfung, Kurzatmigkeit, kognitive Fehlleistungen sowie weitere, die sich im Allgemeinen auf den Tagesablauf auswirken. Die Symptome können neu auftreten nach einer anfänglichen Genesung von einer akuten COVID-19-Erkrankung oder die anfängliche Krankheit überdauern. Die Symptome können fluktuieren oder mit der Zeit wiederkehren» [2].
Die Pathogenese der Post-COVID-Erkrankung ist nicht geklärt. Aktuell geht man von einem multifaktoriellen Geschehen aus, das nicht bei jeder erkrankten Person [1] gleich abläuft. Für eine ausführliche Darstellung sei auf die Reviews von Yong [3] oder spezifisch für die Neuropathologie auf Monje und Iwasaki [4] verwiesen. Zusammengefasst kommen hierfür direkte oder indirekte Folgen von Organschädigungen z.B. durch eine Koagulopathie bzw. Vaskulopathie, das Fortbestehen einer chronischen Entzündung oder Autoimmunprozesse und eine Persistenz des Virus bzw. des Entzündungszustands mit erhöhten Entzündungsmarkern in Frage.
Aktuell gibt es keine laborchemischen oder apparativen Tests, um die Diagnose zu bestätigen oder auszuschlies­sen, sodass die Diagnosestellung rein klinisch erfolgen muss.

Prävalenz

Die Daten zur Prävalenz von Post-COVID und den verschiedenen Symptomen variieren stark. Der Grund hierfür liegt darin, dass in den Studien unterschiedliche Definitionen, aber auch unterschiedliche Methoden angewendet werden. So unterscheiden sich die Daten durch die Rekrutierung (im Krankenhaus, ausserhalb des Krankenhauses, Selbstauswahl), den Schweregrad der initialen Erkrankung und die Beobachtungsdauer.
Ein Review von Nittas und Coautoren identifizierte 15 bevölkerungsbezogene bzw. Kontrollgruppen-Studien, die die Prävalenz von Post-COVID nach zwölf oder mehr Wochen untersuchten. Bei Nicht-Hospitalisierten lag die mediane Prävalenz bei 14 %, wurden zusätzlich hospitalisierte Personen einbezogen, lag die mediane Prävalenz bei 23,7 %. Schliesslich zeigten zwei Kontrollgruppenstudien eine Prävalenz bei hospitalisierten Personen von 7 bzw. 37,6 % [5]. Die bisherigen Ergebnisse der noch nicht abgeschlossenen Zürcher Kohortenstudie mit über 1500 Teilnehmern zeigen, dass sich sechs Monate nach COVID-Infektion der Gesundheitszustand von ca. 1 von 4 Personen noch nicht ganz normalisiert hat. Nach zwölf Monaten berichteten noch ca. 16 % von Symptomen, einige Personen litten auch 18 Monate später an starken Einschränkungen. Insgesamt nahm jedoch die Beeinträchtigung im Alltag kontinuierlich ab. Nach Impfung und nach Infektion mit der Omikron-Variante war das Risiko für Langzeitfolgen nach sechs Monaten deutlich geringer [6].

Rehabilitation

Trotz der hohen Zahl der Veröffentlichungen ist die Zahl der evidenzbasierten Empfehlungen zur Behandlung gering. Aktuell stehen keine kausalen Therapieansätze zur Verfügung. Die Empfehlungen beruhen daher auf Expertenmeinung und ersten Studien zur Rehabilitation. Im deutschsprachigen Raum wurden in Deutschland [7] und in Österreich [8] Handlungsempfehlungen für die Behandlung von Post-COVID-Kranken erstellt. Auf Grund der Vielzahl der möglichen Symptome ist eine multiprofessionelle, integrierte Behandlung sinnvoll, die sich an den objektiven Befunden und den Patientenzielen orientieren sollte [9]. Bestandteile der Rehabilitation sind unter anderem das Fatiguemanagement, insbesondere Pacing-Strategien, Entspannungs- und Atemmanagement sowie ein individuell angepasstes und gezieltes körper­liches Training. Albu und Coautoren [10] konnten die Wirksamkeit einer achtwöchigen, multidisziplinären ambulanten Rehabilitation zur Verbesserung der Fatigue und Lebensqualität nachweisen.

Hauptsymptome und deren Behandlung

Mittlerweile werden über 50 Symptome gezählt, die sich in ihrer Ausprägung stark unterscheiden können [11]. ­Dabei zählt Fatigue zu dem am häufigsten genannten Symptom, gefolgt von Kopfschmerzen, Brustschmerzen, Atemproblemen, Geruchs- und Geschmackstörungen, Muskel- und Gelenkschmerzen, kognitiven Beeinträchtigungen, Schlafstörungen und psychiatrischen Symptomen [12, 13]. Nachfolgend werden die wichtigsten neurologischen Symptome und ihre Behandlung erörtert.

Fatigue

Fatigue tritt unabhängig von dem initialen Schweregrad der Erkrankung auf und hat eine hohe Relevanz für die Alltags- und Berufsfunktionalität [14, 15]. Die Angaben zur Prävalenz variieren [16]. In Metanalysen wurden nach zwei bis drei Monaten Prävalenzraten von 32 % unabhängig vom Verlauf ermittelt [17], in einer weiteren Analyse bei stationär behandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten bei mehr als 50 %, bei ambulant behandelten bei 10 % [18]. In einer Schweizer Kohorte stationär behandelter Erkrankter bestand nach sechs bis acht Monaten bei 55 % Fatigue [13].
Es bestehen vielfältige pathophysiologische Konzepte der Post-COVID-Fatigue, die auch darauf hindeuten, dass es verschiedene Subtypen geben könnte [19, 20]. Bei der Fatigue bestehen Symptomüberschneidungen und Komorbiditäten mit psychischen Erkrankungen, weswegen zur Differenzierung von depressiven Störungen Symptome wie Niedergeschlagenheit, Traurigkeit erfragt und ggf. eine weitere Diagnostik veranlasst werden sollte [16]. Um eine primäre von einer sekundären Fatigue abgrenzen zu können, umfasst die klinische Diagnostik weiter ein Screening für Schlafstörungen, Angststörungen sowie ggf. weitere fachspezifische Untersuchungen [21]. Eine von Kluger und Coautoren [22] getroffene Unterscheidung von Fatigue als subjektive Wahrnehmung und Fatigabilität als objektivierbare Abnahme des Leistungsvermögens ist sinnvoll, um Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen genauer erfassen zu können. In neuropsychologischen Untersuchungen kann die kognitive Fatigabilität beurteilt werden [23], was auch unter versicherungsmedizinischen Aspekten sinnvoll und im gutachterlichen Kontext erforderlich ist [24].

Auch post-exertionelle Malaise (PEM) kann bei Post-COVID auftreten. Hierbei handelt es sich um eine Verschlechterung der Symptome nach mentaler oder physischer Belastung, häufig verzögert nach ein paar Stunden, am darauffolgenden Tag oder auch erst in den nachfolgenden Tagen. PEM hält meistens mehrere Tage an [15].

Fatigue-Therapie

Für die Post-COVID-Fatigue besteht keine kausale Therapie, ebenso wenig gibt es bislang Evidenz für die Wirksamkeit bestimmter Therapiemassnahmen. Für Fatigue bei anderen Erkrankungen gibt es jedoch Wirksamkeitsnachweise zu Pharmakotherapie, Psychotherapie (insb. Kognitive Verhaltenstherapie), körper- und bewegungsbasierten Interventionen [25, 26]. Ziel der Therapie ist die Steigerung der Leistungsfähigkeit, ohne dabei eine körperliche und psychische Überforderung zu provozieren, sowie die Vermeidung der Chronifizierung. Dabei steht das Fatiguemanagement oder auch Pacing im Vordergrund. ­Dessen Ziel ist es, die vorhandenen Energieressourcen optimal zu nutzen, um die Auswirkungen auf die Alltagsbewältigung zu minimieren. Je nach Symptomatik soll eine individuelle, an die Belastbarkeit angepasste Anleitung zu körperlicher und kognitiver Aktivität unter Vermeidung von PEM erfolgen [7]. Im Gegensatz zu den Trainingsempfehlungen bei Personen mit Multiple Sklerose ist eine Graded Exercise Therapy (inkrementelle Belastungssteigerung) nicht empfehlenswert [26]. Wright et al. [27] haben in einer Studie aufzeigen können, dass Aktivitäten über 1,5 MET (Metabolisches Äquivalent) eine Zustandsverschlechterung auslösen können. Physiotherapeutisch wird daher ein leichtes anaerobes Training im Sinn eines Low-Intensity-Trainings durchgeführt [7].

Kognitive Defizite

Kognitive Defizite können nach einer COVID-Erkrankung neu auftreten und persistieren. Drei Monate nach Infektion fand eine Metaanalyse Konzentrationsstörungen bei 35 % und Gedächtnisstörungen bei 29 % der Erkrankten [28], eine weitere Metaanalyse ermittelte eine geringere Prävalenz von kognitiven Defiziten bei 22 % der Erkrankten [17]. Auch eine initial milde Erkrankung kann zu ­relevanten kognitiven Einschränkungen führen [29, 30]. Unabhängig von COVID-19 können der Verlauf der Hospitalisierung sowie prämorbide Risikofaktoren im Sinn einer kognitiven Frailty einen negativen Einfluss auf die Kognition haben [31].
Inwieweit die kognitiven Defizite reversibel sind, kann aufgrund der aktuellen Studienlage nicht beantwortet werden. Einzelne Untersuchungen berichten über Verbesserung im Verlauf [32, 33]. Hinweise auf die Möglichkeit der Erholung kognitiver Funktionen geben Untersuchungen, in welchen mit F-FDG-PET-Scans ein Hypometabolismus in verschiedenen Hirnregionen nachgewiesen wurde, welcher mit den kognitiven Defiziten korrelierte [34, 35]. Nach sechs Monaten verbesserten sich sowohl die kogni­tiven Defizite als auch damit einhergehend der Hypometabolismus, jedoch gab es keine vollständige Remission [36].

Neuropsychologische Untersuchung und Behandlung

Der neuropsychologischen Diagnostik kommt besonders bei berufstätigen Personen aufgrund der häufig langen Arbeitsunfähigkeit eine zentrale Rolle in der Objektivierung und Dokumentation der subjektiven Beschwerden zu [24]. Sie spezifiziert und objektiviert kognitive, affektive und behaviorale Beeinträchtigungen und kann die Art und Ausprägung der Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag und ggf. im Beruf beschreiben [37]. Screeningverfahren allein sind für die Detektion diskreter, aber relevanter ­Defizite nicht geeignet. Häufig werden bei Personen mit einem prämorbid hohen Leistungsniveau und hohen beruflichen Anforderungen minimale oder leichte neuropsychologische Defizite in ihrer Relevanz unterschätzt.
Bestehen neuropsychologische Funktionsdefizite, ist eine leitliniengerechte symptomorientierte spezifische Therapie indiziert. Dazu gehören ein individuell auf die Defizite abgestimmtes kognitives Training sowie die Vermittlung von Kompensationsstrategien und Verhaltens­aspekten im Umgang mit kognitiven Leistungsminder­ungen [7].

Psychische und neuropsychiatrische Symptome

In einer retrospektiven Analyse von Daten der elektronischen Patientenakte von COVID-19-Erkrankten wiesen diese nach sechs Monaten häufiger neue psychiatrische (12,84 %) und neurologische Diagnosen (33,62 %) auf als zwei Kontrollgruppen (matches controls bzw. Grippe- oder andere Atemwegserkrankte) [38]. Ein Review bestätigte, dass neuropsychiatrische Symptome häufig und anhaltend nach der Erholung von der COVID-19-Infektion sind. Schlafstörungen und Fatigue waren dabei am häufigsten, gefolgt von kognitiven Defiziten, Ängsten, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und Depressionen. Auch hier konnte kein Zusammenhang mit der Schwere der Infektion gefunden werden [39].
Die vielfältigen Symptome, die lange Erkrankungsdauer mit den daraus resultierenden psychosozialen Problemen sowie die unklare Prognose erzeugen eine erhebliche psychische Belastung. Ein Teil der Patientinnen und Pa­tienten reagiert darauf mit erhöhter Ängstlichkeit, Ver­unsicherung oder depressiven Symptomen [40]. Verschiedene Faktoren wie Geschlecht, Alter, vorbestehende psychische Erkrankungen und ein niedriger sozioökonomischer Status scheinen die Entstehung von psychischen Erkrankungen zu begünstigen [7].
Ein wichtiges Element der Rehabilitation besteht darin, psychische Symptome und dysfunktionale Aspekte der Krankheitsverarbeitung frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, um eine Chronifizierung zu verhindern. Eine Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung ist ­gegeben, wenn eine klinisch relevante Diagnose, Einschränkungen der Alltagsbewältigung oder eine subjektiv hohe Belastung mit Einschränkung der Lebensqualität oder dysfunktionalen Copingmustern bestehen [7].
Schlafstörungen sind ebenfalls Teil des neuropsychiatrischen Beschwerdekomplexes bei etwa einem Drittel der Erkrankten [41], möglicherweise aber auch prämorbider Risikofaktor durch Schwächung der Immunabwehr oder aufrechterhaltender Faktor der verschiedenen Post-­COVID-­Symptome. Es besteht eine enge Wechselwirkung zwischen Schlaf, Fatigue und Kognition [42]. Die Therapie sollte symptomorientiert erfolgen.

Berufliche Wiedereingliederung

Eine wichtige Aufgabe der Post-COVID-Rehabilitation besteht bei Personen im erwerbsfähigen Alter in dem Erhalt oder der Wiederherstellung der beruflichen Teilhabefähigkeit. Berufsbezogene Probleme können aus langanhaltender vollständiger Arbeitsunfähigkeit, einer Reduktion der Arbeitsleistung oder auch dem Verlust des Arbeitsplatzes bestehen. In der bereits erwähnten Schweizer Kohorte war das Arbeitspensum nach sechs bis acht Monaten bei 44 % der Betroffenen weiterhin eingeschränkt, bei 12 % bestanden Einkommensverluste [13]. Auch nach einer nur leichten Akuterkrankung kann die Rückkehr an den Arbeitsplatz auf Grund des Schweregrads des Post-COVID-Erkrankung erschwert sein [43].
International wurden verschiedene Leitlinien und Empfehlungen für unterschiedliche Interessensgruppen zur beruflichen Wiedereingliederung erstellt [44, 45]. So soll der Prozess der beruflichen Wiedereingliederung ­individuell, adaptiv und angemessen sein. Anpassungen betreffen z.B. Arbeitspensum, flexible Zeiteinteilung, Homeoffice, vorübergehende Änderung von Aufgaben durch Wechsel in Tätigkeiten mit geringerer physischer oder mentaler Belastung und gestufte Wiedereingliederung. Weiter sind Arbeitsplatzcharakteristika erforderlich, die eine sichere Umgebung mit sozialer Unterstützung darstellen, um den psychischen Stress zu reduzieren. Als wesentliche Barrieren der beruflichen Wiedereingliederung werden die Fatigue und kognitive Einschränkungen gewertet [44]. Das Arbeitspensum sollte unter Berücksichtigung von PEM sehr langsam gesteigert werden. Aufgrund des fluktuierenden Verlaufs kann es erforderlich sein, das Pensum auch zeitweise wieder zu reduzieren.
Im Jahr 2021 wurden bei der IV 1764 Anmeldungen auf Grund von Post-COVID registriert, von diesen erhielten 683 Personen (38 %) eine IV-Leistung zugesprochen, von diesen erhielten die meisten Eingliederungsmassnahmen, nur 6 % wurde eine Rente zugesprochen [46]. Im Zusammenhang mit gutachterlichen Beurteilungen wurde von der Swiss Insurance Medicine (SIM) unter anderem ein schweizweit einheitliches Screening-Tool («Erfassungs­bogen für Post-Covid-19-Assessment [EPOCA]») zur Verlaufsdokumentation erarbeitet [47].

Im Artikel verwendete Abkürzungen
COVID-19      Coronavirus Disease 2019 (deutsch: Coronavirus-Krankheit 2019)
IV                        Invalidenversicherung
PEM                 post-exertionelle Malaise

Dr. rer. soc. Jutta Küst

Klinik Lengg AG
Bleulerstrasse 60
8008 Zürich
Schweiz

jutta.kuest@kliniklengg.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 20.02.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Andreas Disko
https://orcid.org/0000-0003-1406-1907
Luigi Riccardo Calendo
https://orcid.org/0000-0003-4684-0665

  • Jede Post-COVID-Patientin und jeder Post-COVID-Patient weist eine individuelle Symptomkonstellation auf, wobei Fatigue und kognitive Einschränkungen häufig sind und für die berufliche Teilhabe und die Alltagsbewältigung einschränkend sein können.
  • Der initiale Schweregrad der Erkrankung erlaubt keine individuelle Vorhersage des Auftretens und Ausprägungsgrads der Symptome.
  • Das Fatiguemanagement stellt einen zentralen Baustein der Rehabilitation dar. Dabei sollte das körperliche und kognitive Training gut dosiert und durch angemessenes Energiemanagement (sog. Pacing) individuell adaptiert werden.
  • Für Post-COVID-Kranke bestehen eine Vielzahl an Belastungsfaktoren wie die unklare Prognose, mögliche Arbeitsplatzverluste und eingeschränkte Leistungsfähigkeit, wodurch das psychische Befinden eingeschränkt sein kann.

Lernfragen
1. Welche Aussage zu Post-COVID ist richtig?
a) Ein fluktuierender Verlauf schliesst die Diagnose
Post-COVID aus.
b) Post-exertionelle Malaise (PEM) tritt unmittelbar nach einer starken Belastung auf.
c) Die Prognose der Post-COVID-Erkrankung ist aktuell noch nicht ausreichend bekannt.
d) Die meisten Personen mit Post-COVID bekommen eine IV-Rente zugesprochen.

2. Wann treten kognitive Defizite bei Post-COVID-Krankenauf?
a) Nur bei initial beatmeten Personen.
b) Kognitive Defizite treten nur in Kombination mit Fatigue auf.
c) Auch bei leichten initialen Verläufen treten relevante kognitive Defizite auf.

3. Welche Aussage zu neuropsychiatrischen Symptomen ist falsch?
a) Schlafstörungen sind ein häufiges Symptom von Post-COVID.
b) Schlafmangel kann zu einer Verschlechterung anderer neuropsychologischer Defizite führen.
c) Eine psychotherapeutische Behandlung ist häufig sinnvoll.
d) Neben Depression und Angststörungen gehören Psychosen zu den häufigen neuropsychiatrischen Erkrankungen

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LDL-senkende Medikamente: Was steht 2023 zur Verfügung?

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache und fordern jedes Jahr schätzungsweise 17,9 Millionen Menschenleben. Es besteht ein dosisabhängiger Zusammenhang zwischen dem absoluten Ausmass der Exposition des Gefässsystems gegenüber Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL) und dem Risiko einer atherosklerotischen Herz-Kreislauf-Erkrankung. Metaanalysen bestätigen die positiven Auswirkungen einer LDL-Reduktion.
Neben der Änderung des Lebensstils, die der Grundstein für die Primär- und Sekundärprävention bleibt, ist es pharmakologisch möglich, den LDL-Spiegel im Plasma zu senken. Dieser Beitrag beschreibt, wo wir, mehr als 30 Jahre nach den ersten therapeutisch genutzten Statinen, wir mit lipidsenkenden Medikamenten stehen.

Einleitung

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache und fordern jedes Jahr schätzungsweise 17,9 Millionen Menschenleben [1]. Die Framingham-Herz- Studie konnte bereits 1959 zeigen, dass ein erhöhter Cholesterinspiegel im Blut ein unabhängigere Risikofaktor für Herzerkrankungen darstellt [2]. Seitdem haben separate Metaanalysen von mehr als 200 prospektiven Mendelischen Randomisierungsstudien, prospektiven Kohortenstudien und randomisierten, kontrollierten Studien mit mehr als zwei Millionen Teilnehmenden und mehr als 150 000 kardiovaskulären Ereignissen eindeutig bewiesen, dass ein dosisabhängiger Zusammenhang zwischen dem absoluten Ausmass der Exposition des Gefässsystems gegenüber Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL) und dem Risiko einer atherosklerotischen Herz-Kreislauf- Erkrankung besteht [3]. Die verschiedenen Metaanalysen bestätigen die positiven Auswirkungen einer LDL-Reduktion, da jede Senkung um 1 mmol/l mit einer signifikanten Verringerung des relativen Risikos für schwere vaskuläre und koronare Ereignisse um 22 % verbunden ist [4].

Neben der Änderung des Lebensstils, die ausführlich untersucht wurde und der Grundstein für die Primär- und Sekundärprävention bleibt, ist es durch verschiedene Mechanismen pharmakologisch möglich, den LDL-Spiegel im Plasma zu senken. Mehr als 30 Jahre nach den ersten therapeutisch genutzten Statinen stellt sich die Frage, wo wir mit den lipidsenkenden Medikamenten stehen.

Statine

Statine hemmen die Hydroxymethylglutaryl-Coenzym-A-Reduktase, ein Enzym, das für die Synthese von Cholesterin in den Hepatozyten verantwortlich ist, und verursacht so eine Senkung des LDLs und des gesamten Cholesterins im Blut [5]. Die Reduktion des intrazellulären Cholesterins fördert die verstärkte Expression des LDL-Rezeptors an der Oberfläche der Hepatozyten, was wiederum zu einer erhöhten Aufnahme von LDL aus dem Blut und zur Senkung der Plasmakonzentration von LDL führt [6]. Auch wenn der Mechanismus noch nicht vollständig geklärt ist, senken Statine auch den Triglyceridspiegel in der Regel um 10–20 % gegenüber dem Ausgangswert [7]. Statin wird somit als erstes Medikament der Wahl bei Hochrisikopersonen mit Hypertriglyceridämie eingesetzt [6]. Statine, die den LDL-Cholesterinspiegel stärker senken (sogenannte high-Intensity statins; LDL-Senkung um 50 % oder mehr) reduzieren die Anzahl der kardiovaskulären Ereignisse in einem grösseren Ausmass als Statine mit einer geringeren LDL-Senkungsfähigkeit. Nur zwei Statine unter bestimmter Dosierung werden als high-intensity bezeichnet und deswegen weltweit am meistens verschrieben (Tabelle 1). Obwohl der Nutzen eindeutig belegt ist und langjährige klinische Erfahrungen zur Sicherheit und Verträglichkeit vorliegen, ist die Realität weiterhin unbefriedigend, da nur etwa 20 % der Personen mit sehr hohem/hohem Risiko den empfohlenen risikobestimmten LDL-C-Grenzwert mit einer Statinmonotherapie erreichen [8].
Trotz ihrer weit verbreiteten Anwendung stellen das Absetzen und die Malcompliance aufgrund von Nebenwirkungen (meistens Myalgien) nach wie vor eine grosse Herausforderung sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärprävention dar. Die Prävalenz der Statinintoleranz ist ebenfalls äusserst umstritten, was zum Teil auf die Schwierigkeiten bei der Identifizierung und Diagnose zurückzuführen ist, insbesondere im Hinblick auf Muskelsymptome. Aus Beobachtungsstudien geht hervor, dass sie bei 10–15 % der Patientinnen und Patienten auftritt [9]. Unerwünschte Nebenwirkungen sind im Allgemeinen von der Statinklasse, der Dosierung, dem Alter, dem Geschlecht und der Komorbidität abhängig [10]. Zu den Strategien zur Behandlung von Statinunverträglichkeiten gehören die Reduktion der Statindosis, die Umstellung der Therapie auf eine andere Statinklasse, die Einnahme von Medikamenten im alternativen Tagesrhythmus und das Einsetzen von anderen lipidsenkenden Medikamenten [11].

 

Ezetimib

Ezetimib hemmt die intestinale Aufnahme von Cholesterin aus der Nahrung auf der Ebene des Dünndarms durch Interaktion mit dem Niemann-Pick-C1-Like-1-Rezeptor (Abb. 1), ohne die Absorption von fettlöslichen Nährstoffen zu beeinträchtigen. Ezetimib ist das bislang einzige Medikament aus der Klasse der selektiven Cholesterinabsorptionshemmer und ist seit 2002 in Europa zugelassen [12]. In klinischen Studien senkte eine Ezetimib-Monotherapie von 10 mg/Tag den LDL-Spiegel bei Personen mit Hypercholesterinämie um 15–22 % (Tabelle 2) [13]. Die Kombinationstherapie Statin/Ezetimib senkt nicht nur die LDL-Werte, sondern hat im Vergleich zur Statinmonotherapie auch eine signifikante und positive Wirkung auf die Insulinempfindlichkeit, das viszerale Fett und den Blutdruck [14]. Verglichen mit einem hochdosierten Statin allein stellt die Zugabe von Ezetimib zu einem niedrigdosierten Statin daher eine alternative Strategie dar, um nicht nur angemessene LDL-Cholesterinkonzentrationen zu erreichen, sondern auch, um die erforderliche Dosis der Statine zu reduzieren und gleichzeitig die mit Statinen verbundenen unerwünschten Wirkungen zu reduzieren. In der randomisierten, offenen, multizentrischen RACING-Studie erwies sich eine moderat intensive Statintherapie in Kombination mit Ezetimib in Bezug auf die Langzeitprognose bei Personen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen als ebenso wirksam wie eine hochintensive Statin-Monotherapie. Der Anteil derjenigen, die die Behandlung mit einem Statin mittlerer Intensität + Ezetimib im Vergleich zu einem Statin hoher Intensität wegen unerwünschter Wirkungen abgebrochen oder die Dosis reduziert haben, betrug 4,8 gegenüber 8,2 % (p < 0,001) [15].

Bempedoinsäure

Bempedoinsäure ist ein neuartiges kleines Molekül, das die Cholesterinsynthese hemmt, indem es die Wirkung der ATP-Citrat-Lyase hemmt (Abb. 1) [16]. Die CLEAR-Harmony-Studie hat 2230 Personen mit nachgewiesenen atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankung oder heterozygoter familiärer Hypercholesterinämie unter maximaler Statindosis rekrutiert, die zu Bempedoinsäure oder Placebo randomisiert wurden. Es zeigte sich ein signifikanter Unterschied im LDL-Spiegel von –16,5 % zum Ausgangswert. 1,8 % der Behandelten unter Bempedoinsäure erlitten während der Studie aufgrund einer Erhöhung des Harnsäurespiegels im Serum (Hemmung des renal-tubulären = Organo-Anion-Transporter-2 durch Bempedoinsäure) einen Gichtanfall [17]. Patientinnen und Patienten mit einer Vorgeschichte von bzw. Prädisposition für Gicht sollten somit eine Therapie mit Bempedoinsäure vermeiden. Unter eingeleiteter Therapie soll der Harnsäurespiegel regelmässig nachkontrolliert werden. In der Schweiz können seit dem 1. Dezember 2022 Rezepte ohne Kostengutsprache unter Einhaltung der aktuellen Limitatio des Bundesamts für Gesundheit (BAG)ausgestellt werden. Nilemdo® (180-mg-Tablette Bempedoinsäure) und Nustendi® (Kombipräparat, Tablette 180 mg Bempdoinsäure und 10 mg Ezetimib) werden nur vergütet, wenn zuvor über mindestens drei Monate mit der maximal verträglichen Dosierung einer intensivierten LDL-senkenden Therapie mit einem Statin in Kombination mit Ezetimib die LDL-Werte von ≥ 1,8 mmol/l in der sekundären Prävention bei Vorliegen einer bestätigten, klinisch manifesten atherosklerotisch kardiovaskulären Erkrankung nicht erreicht werden konnten. In der primären Prävention bei einer heterozygoten familiären Hypercholesterinämie muss das LDL-Wert ≥ 2,6 mmol/l liegen. Die Diagnose und Erstverordnung sowie regelmässige Kontrollen des Therapieerfolgs müssen durch eine Spezialistin/einen Spezialisten (Fachärztin/- arzt FMH der Angiologie, Diabetologie/Endokrinologie, Kardiologie, Nephrologie, Neurologie oder durch ausgewiesene Hypercholesterinämie-Expertinnen und -Experten) durchgeführt werden [18].

PCSK9-Inhibitoren

Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin-Typ-9 (PCSK9) wurde 2003 entdeckt und hat sich als wichtiger Regulator des Cholesterinstoffwechsels erwiesen [19]. Eine erhöhte Aktivität wird mit höheren LDL-Werten in Verbindung gebracht, da sie auf den Abbau von LDL-Rezeptoren gerichtet ist. Nachdem PCSK9 an die LDL-Rezeptoren auf der Hepatozytenoberfläche gebunden hat, werden die Rezeptoren gezielt lysosomal abgebaut. PCSK9 fördert also den Abbau von LDL-Rezeptoren und verringert dadurch die Clearance von LDL-Cholesterin aus dem Blutkreislauf [20]. Das Verständnis dieser grundlegenden Prinzipien des Cholesterinstoffwechsels führte zur Entwicklung von Medikamenten, die PCSK9 gezielt herunterregulieren (Abb. 1).
Monoklonale Antikörper gegen PCSK9 wurden entwickelt, und zwei von ihnen sind seit 2017 in der Schweiz zugelassen. Alirocumab (Praluent®) und Evolucumab (Repatha®) sind vollständig humanisierte monoklonale Antikörper, die in Abständen von 2 bis 4 Wochen subkutan injiziert werden und den Gesamt- und LDL-Cholesterinspiegel hochwirksam senken. Als Monotherapie oder in Kombination mit einem Statin senken sie den LDL-Cholesterinspiegel in der Regel um 60 bis 80 % (Tabelle 2). Die Wirkung hält an, solange die Behandlung fortgesetzt wird [21]. Die FOURIER- und ODYSSEY-Studien sind zwei randomisierte Kontrollstudien, in denen untersucht wurde, ob die monoklonalen PCSK9-Antikörper Evolocumab (FOURIER) bzw. Alirocumab (ODYSSEY) das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses bei Patientinnen und Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen vor dem Hintergrund einer Statintherapie verringern können. Die Ergebnisse beider Studien zeigten, dass beide Substanzen das Risiko für den primären Endpunkt (eine Kombination aus kardiovaskulären Ereignissen) senkten [22, 23].
Inclisiran (Levqio®) ist eine kleine interferierende mRNA, die die intrazelluläre hepatische Synthese von PCSK9 via Hemmung der Translation des PCSK9-Proteins verhindert. Dies führt zu einer verringerten Synthese von intrazellulärem PCSK9. Nach Verabreichung an Personen, die ein maximal verträgliches Statin erhalten, senkt Inclisiran den LDL-Cholesterinspiegel um weitere 50 % [24]. Die Ergebnisse der ORION-3-Studie wurden im Januar 2023 publiziert und liefern die bisher längste Sicherheitsnachbeobachtung in einer Inclisiran-Studie. Inclisiran führt als Ergänzung zur Statintherapie eine wirksame und anhaltende Senkung des LDLs herbei und wurde über vier Jahre hinweg gut vertragen [25]. Aufgrund seines von monoklonalen Antikörpern abweichenden Wirkmechanismus wird Inclisiran nur alle sechs Monate subkutan verabreicht. Levqio® ist in der Schweiz seit November 2021 zugelassen.
Wie für die Bempedoinsäure ist seit Dezember 2022 auch für das Verschreiben von PCSK9-Inhibitoren [18] keine Kostengutsprache mehr nötig.

 

 

 

Im Artikel verwendete Abkürzungen
BAG Bundesamt für Gesundheit
LDL Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin
PCSK9 Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin-Typ-9

Dr. med. Noé Corpataux

Klinik für Kardiologie
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
3010 Bern
Schweiz

noe.corpataux@insel.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 21.02.2023

Interessenskonflikte
Noé Corpataux hat keine Interessenkonflikte. Konstantinos
Koskinas bezieht Referentenhonorare/Honorare von Amgen,
Sanofi, Daiichi Sankyo.

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Leberzirrhose

Die Leberzirrhose, die ein Spätstadium diverser chronischer Lebererkrankungen darstellt, ist eine häufige Erkrankung mit hoher Morbidität und Mortalität. Die häufigsten Ursachen der Zirrhose in industrialisierten Ländern sind die alkoholbedingte Lebererkrankung, die nicht-alkoholische Fettlebererkrankung und chronische Virushepatitiden. Die Zirrhose wird oft spät diagnostiziert, da sie lange asymptomatisch verlaufen kann. Daher sind das Hepatopathie-Screening bei Risikopatientinnen und -patienten und die Fibrose-Surveillance mitunter mittels Ultraschalluntersuchung bei bestehender chronischer Hepatopathie essenziell. Zur Diagnosesicherung gehört eine Leberbiopsie. Bei optimaler Therapie ist die Zirrhose in manchen Fällen vermeidbar, in anderen potenziell reversibel. Im Stadium der dekompensierten Zirrhose, typischerweise gekennzeichnet durch Aszites, sterben Betroffene oft an rekurrierenden Infektionen oder dem hepatozellulärem Karzinom, sofern keine Heilung mittels Lebertransplantation möglich ist. Die Prävention und Behandlung der Komplikationen sowie die Evaluation einer Transplantation bedingen die Zusammenarbeit mit einem Zentrumspital.

Pathophysiologie

Die Begriff Leberzirrhose stammt aus dem Griechischen kírrosis, was so viel wie gelb-orange bedeutet und sich auf die narbige Oberfläche der zirrhotischen Leber bezieht. Die Zirrhose stellt eine fortgeschrittene Form der Leber­fibrosierung dar. Ausgelöst durch unterschiedliche Ätio­logien, die mit einer chronisch hepatischen Entzündung einhergehen, kommt es aufgrund der Aktivierung von Kupffer- und Sternzellen zur Fibrogenese und damit nachfolgend zur hepatozellulären Schädigung. Histologisch ist die Zirrhose charakterisiert durch diffuse ­noduläre Regeneration, fibröse Septen und eine gestörte zelluläre und vaskuläre Leberarchitektur. Zur portalen Hypertonie kann es kommen, weil sich der hepatische Flusswiderstand erhöht und die Leberdurchblutung gesteigert ist [1].
Mit zunehmendem Schweregrad der Zirrhose und der portalen Hypertonie kommt es unter anderem zu einer ­pathologisch erhöhten Darmpermeabilität, gesteigerten bakteriellen
Translokation und somit zur Zirkulation von Zytokinen und mikrobiellen Abbauprodukten. Die damit einhergehende systemische Inflammation führt zu einem erhöhten Komplika­tions­risiko [2, 3].

Epidemiologie & Ätiologie

Die Zirrhose ist eine häufige und schwere Erkrankung, die jährlich weltweit zu mehr als 1 Million Todesfällen führt [4]. Pro 100 000 Einwohner weist die Zirrhose 560 Disability-Adjusted Life Years auf, was eine beträchtliche Summe der durch Tod oder krankheitsbedingte Behinderung verlorenen Lebensjahre darstellt [5]. Die häufigsten Ursachen der Zirrhose in industrialisierten Ländern sind die alkoholbedingte Lebererkrankung (ALD) [6], die an Prävalenz ­zunehmende nicht-alkoholische Fettlebererkrankung (NAFLD) (neuerdings wird auch der Terminus «metabolisch bedingte Fettlebererkrankung [MAFLD]» diskutiert [7]) und chronische Virushepatitiden Hepatitis B und C [8]. Weniger häufige Ätiologien sind angeborene Leberspeicherkrankheiten wie die Hämochromatose, ein Alpha-1-Anti­trypsin-Mangel und Morbus Wilson sowie die Auto­immunhepatitis, primäre biliäre Cholangitis (PBS) und primäre sklerosierende Cholangitis (PSC) (Tabelle 1A).
Klinik und Krankheitsstadien
Klinisch liegt eine häufig lange währende asymptomatische Phase vor, genannt kompensierte Zirrhose, gefolgt von einer symptomatischen Phase, der dekompensierten Zirrhose, gekennzeichnet von Komplikationen der portalen Hypertonie [2]. Typische Zeichen der dekompensierten Zirrhose sind Ikterus, Splenomegalie, Aszites, Ösophagusvarizen, hepatische Enzephalopathie (HE) und Infektionen.
Der Übergang zur dekompensierten Zirrhose stellt meist einen schleichenden (progressiven) Prozess mit langsamer Entwicklung von Komplikationen dar, der nach neusten Erkenntnissen vom weniger häufigen akuten Beginn unterschieden werden sollte [9]. Die akut dekompensierte Zirrhose ist definiert als eine akute Verschlechterung resp. ein plötzliches Auftreten von Komplikationen, meist ausgelöst durch bakterielle Infektionen, schwere ­alkoholische Hepatitis, gastrointestinale Blutungen und toxische Enzephalopathie [10] (Abb. 1). Letztere Entität beinhaltet auch das akut-auf-chronische Leberversagen (ACLF), definiert als eine akute Dekompensation mit ­konsekutivem Organversagen, das eine hohe kurzfristige Sterblichkeit aufweist [11].
Lange galt die Leberzirrhose als irreversibles Endsta­dium chronischer Lebererkrankungen. Heute ist aber ­bekannt, dass die Krankheit einen dynamischen Prozess darstellt. Durch Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung konnte gezeigt werden, dass die Fibrose auch im Stadium der Zirrhose potenziell reversibel ist [12, 13].

Screening und Surveillance

Wegen des initial oft asymptomatischen Verlaufs bleibt die Leberzirrhose lange unerkannt. Es ist daher von grosser Bedeutung, Risikopopulationen auf Hepatopathien zu screenen und Patient_innen mit chronischen Lebererkrankungen langfristig zu überwachen, um einen Übergang zur Zirrhose frühzeitig zu entdecken.

Hepatopathie-Screening

Typische Risikofaktoren für ALD und NAFLD beinhalten übermässigen Alkoholkonsum, Adipositas, Typ-2-Diabetes mellitus bzw. das metabolische Syndrom. Sogenannte «Lifestyle-Modifikationen» sind daher ein essenzieller Therapieansatz. Intravenöser Drogenkonsum, Sexualverhalten mit erhöhtem Risiko und immunsuppressive Therapien gelten als Risikofaktoren für die chronischen Virushepatitiden B und C. Diese werden mittels serologischer Tests gesucht (Hepatitis B: HBsAg und HBcAk, Hepatitis C: HCV-Ak). Eine Transferrinsättigung > 45 % mit erhöhten Ferritinwerten kann auf eine Hämochromatose hinweisen.
Im Allgemeinen können in Risikopopulationen die Sonografie und die Blutanalyse (AST, ALT, GGT, AP, Bilirubin, Albumin, INR, Differenzialblutbild) wichtige Hinweise auf das Vorliegen einer Lebererkrankung liefern.

Surveillance der Fibrose und Zirrhose

Für Patient_innen mit bekannter chronischer Lebererkrankung stehen nicht-invasive Tests zur Verfügung, die der Abschätzung der Fibroseprogression dienen. In der hausärztlichen Praxis sind einfach zu berechnende Serum-Fibrose-Scores nützlich, z.B. der FIB-4-, der NAFLD-Fibrosis-Score oder der «AST to Platelet Ratio Index» (APRI) [14, 15, 16]. Dank ihres hohen negativ prädiktiven Werts können sie Patient_innen ohne Risiko für signifikante Fibrose identifizieren. Um die Steifigkeit der Leber zu messen, sind die transiente Elastografie (FibroScan®) und die Schwerwellenelastografie gut etabliert [15] (Abb. 1). Allerdings können die Messwerte durch Adipositas, Aszites, Konges­tion, Cholestase oder Entzündung beeinflusst werden [15, 17]. Die Resultate sollten daher immer im klinischen Kontext und durch Fachärzte_innen interpretiert werden.

Diagnostik

Ziel der Diagnostik ist es, die Ätiologie der Zirrhose und das Ausmass der portalen Hypertonie zu bestimmen. Beides ist ausschlaggebend für die weitere Überwachung und Therapie.

Ultraschall

Sonografische Befunde können Hinweise für eine Leberzirrhose liefern: Eine höckrige Oberfläche, inhomogenes Parenchym und abgerundete Leberränder sind Anzeichen einer fortgeschrittenen Fibrose. Aszites, Splenomegalie und portosystemische Shunts weisen auf eine portale Hypertonie hin.
Ist die Diagnose Zirrhose einmal histologisch bestätigt, dient der Ultraschall der Früherkennung von Aszites, ­Portalvenenthrombose und des hepatozellulären Karzinoms (HCC). Sechsmonatliche Ultraschall-Kontrolluntersuchungen sind daher nach Diagnosestellung indiziert.

Leberbiopsie

Zur Sicherung der Diagnose einer Leberzirrhose bleibt die Biopsie zur histopathologischen Untersuchung von Lebergewebe der Goldstandard, wobei eine Leberbiopsie entweder perkutan oder transjugular durchgeführt werden kann. Das Risiko einer peritonealen Blutung bei der üblicherweise perkutan durchgeführten Biopsie ist gering (ca. 0,5–1 %) [18], jedoch unbedingt mit den Patient_innen abzuwägen. Beim Vorliegen einer schweren Koagulopathie oder Aszites ist von einer perkutanen Biopsie abzusehen. Alternativ besteht die Möglichkeit, via transjugulärem Zugang zur Lebervene die Leber zu punktieren, um so die Penetration der Leberkapsel zu vermeiden und das Blutungsrisiko zu minimieren. Zusätzlich wird hierbei der hepato-venöse Druckgradient (HVPG) gemessen, der eine signifikante portale Hypertonie feststellen kann (HVPG > 10 mmHg) [19] (Abb. 1).

Gastroskopie

Risikopatient_innen mit Leberzirrhose sollten mittels Gastroskopie auf das Vorliegen von Ösophagus- oder Fundusvarizen untersucht werden, um falls notwendig eine Behandlung zu beginnen. Bei sehr geringem Risiko von behandlungsbedürftigen Varizen (FibroScan®: < 20 kPa und Thrombozytenzahl: > 150 G/l [20]) kann zunächst auf ein Screening verzichten werden. Eine jährliche Kontrolle der Lebersteifigkeit und Thrombozytenzahl ist hin­gegen empfohlen. Im Fall von zunehmender Leber­steifigkeit und/oder sinkender Thrombozytenzahl ist eine Gastroskopie ratsam. Bei kompensierter Zirrhose ohne initialen Nachweis von Varizen, aber anhaltender Leberschädigung (z.B. aktiver Alkoholkonsum), sollten Gastro­skopien im Abstand von zwei Jahren wiederholt werden. Bei Nachweis von kleinen Varizen und anhaltender Leberschädigung sind jährliche Endoskopien notwendig [21]. Bei hochgradigem Verdacht auf Zirrhose kann bereits vor der Biopsie eine Gastroskopie sinnvoll sein, denn höhergradige Varizen erfordern die Messung des HVPG im Rahmen einer transjugulären Biopsie (s.o.). Ein weiterer Befund der Gastroskopie kann die portal-hypertensive Gastropathie sein, hieraus ergibt sich allerdings keine unmittelbare therapeutische Konsequenz.

Prognose-Scores

Zirrhose-Scores basieren auf klinischen Parametern und ermöglichen eine einheitliche Einteilung der Schweregrade sowie die Prognose abzuschätzen. Die Child-Pugh-Klassifikation, die das 1-Jahres-Überleben prognostiziert, ist am weitesten verbreitet [22]. Der MELD-Score (Model of End-Stage Liver Disease) wurde entwickelt, um die Notwendigkeit einer Transplantation abzuschätzen und sagt die 3-Monats-Mortalität voraus [23]. D’Amico et al. [24] entwickelten eine Klassifizierung mit vier Stadien innerhalb des natürlichen Krankheitsverlaufes der Zirrhose, die jeweils unterschiedliche klinische Merkmale und Prognose aufweisen (Abb. 1).

Häufige Komplikationen und Therapie

Komplikationen treten typischerweise auf im Stadium der dekompensierten Leberzirrhose, was bei etwa 5 % der Patient_innen mit kompensierter Zirrhose jährlich geschieht [2]. Hospitalisationen, sinkende Lebensqualität und eine drastisch zunehmende Mortalität sind Folgen davon [24].
Nebst Auswirkungen auf die Leber selbst, sind multiple andere Organsysteme und Kompartimente von Komplikationen betroffen: u.a. Peritoneum (Aszites) Ösophagus und Magen (Varizen), Gehirn (hepatische Enzephalo­pathie), Immunsystem (rezidivierende Infektionen). Auch die Nieren, Lungen und das Herz können Schäden erleiden (Tabelle 1B).
Aszites

Zu den ersten und häufigsten Komplikationen gehört die Entstehung von Aszites. Durch pathologische bakterielle Translokation durch die Darmwand kann es bei Vorhandensein von Aszites zur spontan bakteriellen Peritonitis (SBP) kommen. Mittels Zellzahl, Differenzierung der Leukozyten, bakteriellen Kulturen, Albumin-Konzentration und ggf. zytologischer Untersuchung des Aszites kann dessen Ursache eruiert werden. Grosse Mengen Aszites sollten drainiert werden unter Substitution von Albumin (8 g/Liter punktierten Aszites). Bei kleineren Mengen Aszites und eventuell zusätzlich peripheren Ödemen lohnt sich eine diuretische Behandlung mit Spironolacton (Startdosis 100 mg/Tag mit Steigerung der Dosis um 100 mg alle 3 Tage bis maximal 400 mg/Tag bei [Ziel: 0,5 bis max. 1 kg Gewichtsreduktion/Tag; fehlendes Ansprechen: < 2 kg Gewichtsreduktion/Woche]). Unterstützend können zudem eine Salz- und Trinkmengenrestriktion sein (5–7 g Salz/Tag; 1,5–2 L Trinkmenge/Tag). In manchen Fällen kann eine Kombination mit Schleifendiuretika (z.B. Furosemid initial 40 mg/Tag oder Torasemid 10 mg/Tag) sinnvoll sein [25]. Bei refraktärem Aszites sollte die Anlage eines transjugulären, intrahepatischen, portosystemischen Shunts (TIPSS) evaluiert werden [26] und in palliativen Situationen kann die Anlage eines Dauerdrainagekatheters sinnvoll sein.

Gastro-ösophageale Varizen/Varizenblutung

Gastro-ösophageale Varizen entstehen bei portaler Hypertonie ausgehend von spontanen portosystemischen Shunts. Eine lebensbedrohliche Komplikation ist die Varizenblutung, weshalb bei grossen Varizen eine primärprophylaktische Therapie mit nicht-selektiven Betablockern (Carvedilol; initial 6,25 mg/Tag, bei guter Verträglichkeit nach 3 Tagen Steigerung auf 2 × 6,25 mg/Tag) evaluiert werden sollte. Im Fall der Varizenblutung muss eine sofortige Behandlung an einem Zentrumsspital erfolgen, da vasoaktive Medikamente (z.B. Octreotid, Terlipressin), eine endoskopische Varizenligatur, antibiotische Prophylaxe (Ceftriaxon) und die Evaluation eines «early» TIPSS indiziert sind [26].

Hepatische Enzephalopathie

Durch die gestörte Elimination von Proteinen aus dem portalvenösen Blut und der Akkumulation von Metaboliten wie Ammoniak kann es zu neuropsychiatrischen Veränderungen kommen, die HE genannt werden. Die Behandlung der HE sollte unter stationären Bedingungen erfolgen. Hierbei ist die Klärung der Ursache, eine inten­sive Überwachung und eine ausgebaute medikamentöse Therapie (z.B. Lactulose [10–20 g 2–4 ×/Tag mit Ziel von 2–3 weichen Stuhlgängen täglich, falls nicht peroral möglich 200–300 g per Einlauf] und Rifaximin [550 mg 2 ×/Tag]) benötigt. Bei rezidivierenden HE-Episoden profitieren die Patient_innen und Angehörigen von einer guten Instruktion zum Selbstmanagement.

Bakterielle Infektionen

Die erhöhte Anfälligkeit für Infektionen bei Leberzirrhose beruht auf einer geschwächten Immunantwort, welcher eine komplexen Pathophysiologie zugrunde liegt [27, 28]. Bakterielle Infektionen (SBP und Infektionen anderer Organe) benötigen eine resistenzgerechte intravenöse antibiotische Therapie.
Im Fall einer SBP, die sich anhand einer Neutrophilenzahl > 250/μl Aszites definiert, braucht es eine empirische Therapie mit Ceftriaxon (2 g/Tag) und Albuminsubstitution (1,5 g/kg Körpergewicht an Tag 1 und 1,0 g/kg an Tag 3) [26].
Infektionen machen über 50 % aller Hospitalisationen bei Zirrhosepatient_innen aus und gehen einher mit einer schlechten Langzeitprognose [24, 28].

Hepatorenales Syndrom (HRS)

Eine akute Niereninsuffizienz tritt bei Zirrhotikern häufig auf und ist in mehr als der Hälfte der Fälle prärenal bedingt, was primär eine Pausierung der Diuretika, Suche nach allfälliger Infektion und Behandlung mit Volumen (Albumin) erfordert. Seltener und meist nur bei fortgeschrittener Zirrhose tritt das HRS auf, dessen Pathophysiologie komplex, und das mit einer schlechten Prognose assoziiert ist. Die Diagnose bedingt u.a. das Vorhandensein einer portalen Hypertonie mit Aszites und den Ausschluss prä-, intra- und postrenaler Ursachen der Niereninsuffizienz, wozu eine differenzierte Urindiagnostik und Sonografie der Nieren erforderlich sind. Zum Management des HRS gehören Vasokonstriktoren (Terlipressin) und Albumininfusionen [26].

Hepatozelluläres Karzinom

Das Krebsrisiko bei Patient_innen mit Leberzirrhose ist signifikant erhöht. Am weitaus häufigsten ist das HCC, das jährlich bei 1–4 % der Zirrhosepatien_innen entsteht. Unbehandelt ist das mittlere Überleben neun Monate [2]. Zirrhosepatien_innen wird daher ein halbjährliches sonografisches HCC-Screening empfohlen. Zur Verbesserung der Sensitivität eignet sich zusätzlich die Messung des Alpha-Fetoproteins (AFP). Die spezifischen Therapieoptionen des HCC richten sich nach der Stadien-Klassifikation Barcelona Clinic Liver Cancer Group (BCLC) und sollten im Rahmen eines multidisziplinären Tumorboards diskutiert und festgelegt werden. Als Behandlung in frühen Krebsstadien kommen Tumorablation oder Resektion und die orthotope Lebertransplantation (OLT) in Frage. In fort­geschrittenen Stadien benötigen die Patient_Innen eine systemische Therapie [29]. Neuerdings zeigt auch die ­Immuntherapie gute Erfolge in der Behandlung des HCC [30].

Sarkopenie

Es ist nachgewiesen, dass Leberzirrhotiker durch Malnutrition relevante Einbussen an Muskelmasse und Funk­tion, genannt Sarkopenie, aufweisen [31]. Diese aggraviert sich in fortgeschrittenen Stadien der Zirrhose und ist verbunden mit einer erhöhten Mortalität [32]. Unter Umständen wird die Sarkopenie kaschiert durch einen adipösen Habitus. Daher sollte regelmässig der Liver frailty Index [33] bestimmt werden und bei V.a. Sarkopenie eine Bestimmung der Muskelmasse mittels CT sowie eine sportmedizinische Beratung und Therapie erfolgen. Zudem besteht bei Zirrhose auch ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Osteopenie/Osteoporose, die nach Diagnosestellung ggf. eine fachgerechte Behandlung erfordert [31].

Splenomegalie

Als Folge der portalen Hypertonie kann es bei fortschreitender Zirrhose durch Blutrückstau zur Splenomegalie kommen. Hinweise dafür finden sich in der klinischen Untersuchung, der Sonografie und der differenzierten Blutuntersuchung in Form von Thrombo- oder Panzytopenie. Mittels Ultraschalluntersuchung kann die Milzgrösse bestimmt werden. Direkte Therapiemöglichkeiten bestehen keine.

Therapie

Das primäre Behandlungsziel der Zirrhose ist die Behandlung der zugrundliegenden Hepatopathie, um ein Fortschreiten der Zirrhose bzw. eine Dekompensation zu verhindern und teilweise sogar einen Rückgang der Fibrose zu erwirken. Dies beinhaltet z.B. das Sistieren von Alkoholkonsum, die Anwendung von Virostatika bei Virus-assoziierter Hepatitis, Immunsuppressiva bei Autoimmunhepatitis oder Aderlass bei Hämochromatose (Tabelle 1A). Noch immer gibt es keine zugelassenen Medikamente, die spezifisch zur Reduktion der Fibrose, unabhängig von der Ätiologie, beitragen, was ein wichtiger Bestandteil aktueller Forschungsprojekte ist.
Ebenso wichtig ist die symptomorientierte Behandlung der Komplikationen (s.o. und Tabelle 1B). Hierfür bedarf es nebst Fachärzt_innen eines interdisziplinären Teams: Ernährungs- und Physiotherapeut_innen sorgen für das Management von «Lifestyle-Modifikationen» (Gewichtsreduktion, ausgewogene, proteinreiche Ernährung [35 kcal/kg Körpergewicht; 1,2–1,5 g Protein/kg Körper­gewicht], ggf. Salz- und Trinkmengenrestriktion bei Aszites [siehe oben]) und Vorbeugung von Sarkopenie durch Krafttraining [31]. Spezialisiertes Pflegepersonal trägt zu einer optimalen Pa­tientenbegleitung bei (z.B. Screening-Untersuchungen, Schulung von Patien_innten und Selbstmanagement). Hierzu ist von der Schweizerischen Vereinigung für Hepatologie (SASL) eine durch Pflegeexpertinnen erstellte Broschüre zur Patientenschulung bei Leberzirrhose verfügbar (information-lebererkrankung@kssg.ch).
Schreitet die Zirrhose trotz optimaler therapeutischer Massnahmen fort, sollte bei Auftreten von Komplikationen oder spätestens nach dem ersten Dekompensationsereignis und/oder einem MELD-Score > 15 die Möglichkeit einer orthotopen Lebertransplantation als einzige kurative Behandlung evaluiert werden. Zur weiteren Evaluation bedarf es nach Einverständnis der Patient_innen frühzeitig einer Zuweisung an ein Transplantationszentrum. Wer für eine OLT qualifiziert, entscheidet letztendlich das Transplantationszentrum ; es ist eine ethisch komplexe Entscheidung, da die Anzahl an verfügbaren Organspendern doch sehr beschränkt ist und die Warteliste für die Lebertransplantation in der Schweiz jährlich länger wird [34]. Mithilfe des MELD-Scores wird regelmässig der aktuelle Schweregrad der Leberzirrhose abgeschätzt, was Einfluss auf die Rangfolge der Patientinnen und Patienten auf der Warteliste hat.

 

 

Im Artikel verwendete Abkürzungen
ACLF Akut-auf-chronisches Leberversagen
AFP Alpha-Fetoprotein
ALD Alkoholbedingte Lebererkrankung
ALT Alanin-Aminotransferase
AST Aspartat-Aminotransferase
AP Alkalische Phosphatase
GGT Gamma-Glutamyl-Transferase
HBV/HCV Hepatitis-B/C-Virus
HBsAg/HBcAk Hbs-Antigen/HBc-Antikörper
HCC Hepatozelluläres Karzinom
HE Hepatische Enzephalopathie
HRS Hepatorenales Syndrom
HVPG Hepato-venöser Druckgradient
INR International Normalized Ratio
MAFLD Metabolisch-bedingte Fettlebererkrankung
NAFLD Nicht-alkoholische Fettlebererkrankung
OLT Orthotope Lebertransplantation
PBS Primär biliäre Cholangitis
PSC Primär sklerosierende Cholangitis
SBP Spontan bakterielle Peritonitis
TIPSS Transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt

Prof. Dr. med. Dr. phil. Christine Bernsmeier

Leitende Ärztin
Departement Biomedizin, Universität Basel ­
und Universitäres Bauchzentrum Basel
Hebelstrasse 20, 4031 Basel

c.bernsmeier@unibas.ch

Historie
Manuskript eingereicht: 09.01.2023
Nach Revision angenommen: 13.02.2023

Förderung
Swiss National Science Foundation: Grant numbers 320030_189072.
Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Robert Brenig
https://orcid.org/0000-0001-9058-289X
Christine Bernsmeier
https://orcid.org/0000-0002-5558-0503

  • Die Leberzirrhose ist eine systemische Erkrankung mit hoher Morbidität und Mortalität. Ein multidisziplinäres Behandlungskonzept ist daher vorteilhaft.
  • Die Pathophysiologie umfasst die Fibrogenese, portale Hypertonie und systemische Inflammation. Komplikationen im fortgeschrittenen Stadium können verschiedenste Organe betreffen. V.a. Infektionen führen zur Dekompensation und erhöhen die Mortalität signifikant.
  • Die histologische Diagnose der Zirrhose ist erforderlich zur bestmöglichen Patientenführung, Prävention und Therapie von Komplikationen wie Leberversagen und HCC.
  • Bei früher und effektiver Therapie chronischer Lebererkrankungen ist die Prävention der Zirrhose möglich. In manchen Fällen kann die Zirrhose bei langfristiger effektiver Therapie der zugrunde liegenden Hepatopathie reversibel sein.
  • In schweren Fällen mit progredientem Leberversagen und/oder HCC sollte eine Lebertransplantation als einzige kurative Therapieoption rechtzeitig evaluiert werden.

Lernfragen
1. Womit ist die dekompensierte Leberzirrhose ­typischerweise assoziiert?
a) Ikterus
b) Aszites
c) Hepatische Enzephalopathie
d) Infektionen
e) a) bis d) sind richtig

2. Zur Diagnosesicherung der Leberzirrhose benötigt man mitunter folgende Untersuchungen:
a) CT oder MRI und Gastroskopie
b) PET-CT
c) A, B & D sind richtig
d) Ultraschall, Fibroscan und Leberbiopsie

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Revaskularisierung der asymptomatischen Carotisstenose – sinnvoll oder obsolet?

Die Empfehlungen zur operativen im Vergleich zur konservativen Therapie der asymptomatischen Carotisstenose (ACS) basieren auf prospektiv randomisierten Studien, die teilweise vor mehreren Jahrzehnten durchgeführt wurden. Seitdem hat sich das «best medical treatment» (BMT) für die konservative Therapie arteriosklerotischer Patientinnen und Patienten jedoch relevant weiterentwickelt. Aufgrund der damit verbundenen Risikoreduktion für neurologische Komplikationen bei Vorliegen einer ACS wird die operative Therapie zunehmend in Frage gestellt. Durch die Identifikation von klinischen und bildmorphologischen Risikoparametern konnten Subgruppen identifiziert werden, die jedoch weiterhin von einer invasiven Therapie vermehrt profitieren könnten. Die multidisziplinäre Therapieentscheidung bedarf folglich einer zunehmend patientenindividualisierten Herangehensweise.

Einleitung

Ab einem Stenosegrad von 50 % wird eine extrakranielle Stenose der Arteria carotis interna (ACI) als signifikant ­angesehen. Bei fehlendem ipsilateralem ischämischem Schlaganfall oder vorübergehender (transitorisch-)ischämischer Attacke (TIA) in den letzten sechs Monaten gilt sie als asymptomatische Carotisstenose (ACS) [1, 2]. Die Prävalenz einer mindestens 50 %-igen ACS in der Gesamtbevölkerung liegt bei 2 % und steigt mit zunehmendem Lebens­alter deutlich an [1, 3]. In der Schweiz leben schätzungsweise ca. 100 000 Menschen mit einer signifikanten ACS.
Die meisten ischämischen Schlaganfälle sind die Folge einer arterio-arteriellen Embolie, seltener liegt eine hämodynamische Minderperfusion als Ursache vor [4]. Eine ­Carotisstenose ist für 15 % aller ischämischen Schlagan­fälle verantwortlich [2]. Bei ca. 16 000 Schlaganfällen pro Jahr in der Schweiz sind somit ca. 2400 auf eine signifikante ACI-Stenose zurückzuführen [5].
Populations-basierte Screening-Untersuchungen konnten zeigen, dass das männliche Geschlecht, ein aktiver ­Nikotinabusus, ein zunehmendes Lebensalter sowie zusätzliche Gefässerkrankungen in der Anamnese mit einer > 50 %igen ACS assoziiert sind [2].
In der Regel wird eine ACS als Zufallsbefund diagnostiziert. Ein generelles Screening wird aufgrund der niedrigen Prävalenz und des relativ geringen Schlaganfallrisikos nicht empfohlen [1, 2, 6, 7].
In randomisiert kontrollierten Studien (RCT) wurde die operative Revaskularisierung der ACS mit der konserva­tiven Behandlung, dem sogenannten «Best medical treatment» (BMT), verglichen. Hierbei schnitt die Carotisend­arteriektomie (CEA) durchweg besser ab. Jedoch sind die Studienergebnisse mehrere Jahrzehnte alt [8, 9]. Seither ist die Wahrscheinlichkeit, aufgrund einer ACS einen ipsilateralen Schlaganfall zu erleiden, infolge des verbesserten BMT stetig gesunken und wird heute auf etwa 1 % pro Jahr geschätzt [2]. Die Empfehlungen in den mehr als 20 verschiedenen internationalen Leitlinien sind daher sehr unterschiedlich [10]. Es stellt sich damit die Frage, ob die operative oder interventionelle Revaskularisierung der ACS noch sinnvoll oder aufgrund der verbesserten BMT obsolet ist.
Ziel dieses Reviews ist, ein Update zu aktuellen Dia­gnostik- und Therapiemöglichkeiten sowie zur indivi­duellen Risikobewertung und Indikationsstellung dar­zustellen. Zusätzlich wird ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen gegeben.

Diagnostik

Bei einer Carotisstenose handelt es sich in der Regel um einen Zufallsbefund im Rahmen einer körperlichen Untersuchung, bei der ein Strömungsgeräusch über den Halsschlagadern detektiert wurde, oder durch eine Ultraschalluntersuchung, die im Rahmen der Umfelddiagnostik anderer atherosklerotischer Erkrankungen wie einer koronaren Herzerkrankung oder einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit durchgeführt wird. Im Fall einer neu diagnostizierten Carotisstenose sollte eine fachärzt­liche neurologische Untersuchung durchgeführt werden. Daneben sollten systematisch alle kardiovaskulären Risikofaktoren erfasst, leitliniengerecht behandelt und nach anderen kardiovaskulären Erkrankungen gesucht werden [2, 11].
Aufgrund der niedrigen Kosten und der guten Zugänglichkeit ist die Duplexsonografie (DUS) die bevorzugte Methode in der Bildgebung und wird daher weit verbreitet eingesetzt [1, 2]. Die Einstufung des Stenosegrads mittels DUS erfolgt anhand etablierter Kriterien, u.a. der Fluss­geschwindigkeit [1, 12, 13].
Der Stenosegrad sollte zur Diagnosesicherung anschlies­send immer in einer zweiten unabhängigen ­Modalität entweder mittels Computertomografie-Angiografie (CTA) oder Magnetresonanztomografie-Angiografie (MRT) bestätigt werden [1, 2, 14]. Diese ermöglicht zusätzlich einen Informationsgewinn über den Aortenbogen, die Stenose-Morphologie sowie die extra- und intrakranielle Zirkula­tion (Abb. 1). Eine rein diagnostische invasive digitale Subtraktionsangiografie (DSA) sollte nur noch in Kombination mit einer Behandlung durchgeführt werden.
Bei der Bestimmung des Stenosegrads in der CTA hat sich die Einteilung nach NASCET (North American Symptomatic Carotid Endarterectomy Trial) durchgesetzt (Abb. 2). Er berechnet sich aus 1 minus dem Quotienten aus dem Restlumen-Durchmesser im Bereich der ­Stenose (S, Zähler) und dem Durchmesser der krankheitsfreien ACI oberhalb der Stenose (D, Nenner): (1–S/D) × 100 = % Stenosegrad [1, 15].

Therapie

Best medical treatment – Medikamentöse Behandlung

Die Basis jeglicher Therapie ist die sog. best medical treatment (BMT). Es handelt sich hierbei um eine Sekundärprophylaxe. Sie umfasst nach den neuesten Leitlinien der European Society for Vascular Surgery (ESVS) eine gesunde Ernährung, eine strikte Nikotinkarenz und körperliche Aktivität. Zudem wird die tägliche Einnahme von niedrig dosiertem Aspirin (100 mg) empfohlen. Alternativ kann bei Intoleranz Clopidogrel erwogen werden. Zusätzlich empfiehlt sich die Einnahme eines Statins mit oder ohne Ezetimib. In Fällen einer Statin-Unverträglichkeit kann nun auch ein PCSK9-Inhibitor in Erwägung gezogen werden. Die antihypertensive Therapie strebt einen Zielblutdruck von < 130/80 mmHg an. Bei Diabetikern ist eine strikte Blutzucker-Einstellung notwendig [1].

Operations-/Interventionsmethoden

An revaskularisierenden Verfahren stehen generell drei Optionen zur Verfügung. Die klassische offene Carotisend­arteriektomie (CEA), das Carotis-Stenting (CAS) oder das neuere Hybridverfahren, die sogenannte «Transcarotid Artery Revascularization» (TCAR). Letztere ist jedoch in der Schweiz aufgrund einer noch nicht abschliessenden Klärung in Bezug auf die neue Medizinprodukteverordnung momentan nicht verfügbar.

Carotisendarteriektomie

Bei der klassischen Carotisendarteriektomie (CEA) wird der atherosklerotische Plaque über einen offen-chirurgischen Zugang am Hals nach Ausklemmen der Carotisbifurkation und Längseröffnen (Arteriotomie) des Gefässes ausgeschält (Thrombendarteriektomie). Der Verschluss erfolgt mittels Patchplastik (alloplastisch oder xenogen) (Abb. 3). Bei der Eversionsendarteriektomie als alterna­tive Operationsstrategie wird die ACI von der Carotisbifurkation abgetrennt und das Innere der ACI nach aussen gestülpt (Eversion). Hierdurch kann der Plaque entfernt werden. Anschliessend wird die Arterie wieder zurück gestülpt und erneut mit der Bifurkation vernäht, wodurch der Einsatz von Fremdmaterial vermieden werden kann. Ein Direktverschluss der Arteriotomie ohne Patch oder Eversion wird nicht empfohlen, da hier höhere Raten an perioperativen Schlaganfällen, Thrombosen, Re-Stenosen und ipsilateralen Schlaganfällen im Verlauf beobachtet wurden [1, 16].
Die CEA wurde aufgrund von zwei wichtigen Studien, die vor mehreren Jahrzehnten durchgeführt wurden, lange Zeit als der bevorzugte Standard in der Behandlung von Carotisstenosen angesehen.
In der multizentrischen, randomisiert kontrollierten Studie «Asymptomatic Carotid Atherosclerosis» (ACAS) aus dem Jahr 1995 wurde die CEA mit alleinigem BMT verglichen. Dabei konnte anhand von knapp 1700 Personen (CEA n = 825 und BMT n = 834) gezeigt werden, dass nach fünf Jahren das relative Risiko (RR) für einen ipsila­teralen Schlaganfall nach CEA im Vergleich zu BMT allein um über 50 % gesenkt werden konnte. Die kombinierte perioperative Schlaganfall- und Todesrate betrug 2,3 %. Es ergab sich eine Number needed to treat (NNT), um einen Schlaganfall in fünf Jahren zu verhindern, von 17 [8].
Bei dem «Asymptomatic Carotid Surgery Trial» (ACST), dessen 5-Jahres-Daten 2004 publiziert wurden, wurde ebenfalls CEA gegen BMT bei 3120 Personen mit einer ­behandlungsbedürftigen ACS verglichen. Die kombinierte perioperative Schlaganfall- und Todesrate betrug 2,8 %. Die relative Risiko Reduktion für einen ipsilateralen Schlaganfall nach CEA betrug ebenfalls über 50, und die NNT lag bei 19 [9]. Die 10-Jahres-Daten zeigten, dass insgesamt pro 100 Personen, die mittels CEA behandelt wurden, neun Schlaganfälle verhindert werden konnten. Dabei wurden jedoch drei perioperative Schlaganfälle bzw. Todesfälle in Kauf genommen. Bei 88 Personen ergab sich kein Effekt [17]. Damit muss auch gesagt werden, dass mehr als 90 % der Teilnehmenden nicht von einer Opera­tion profitiert haben.

Carotis-Stenting

Alternativ kann auch ein Carotis-Stenting (CAS) erfolgen, wobei der Stent über einen transfemoralen oder trans­radialen/­-brachialen Zugang eingebracht und die Stenose zusätzlich dilatiert wird (Abb. 4) [1]. Beim CAS sollte zusätzlich ein endovaskuläres Protektionssystem verwendet werden, um intraoperative Schlaganfälle zu vermeiden [1, 2, 18]. Denn in der Regel muss bei diesem Verfahren der Aortenbogen passiert werden, was potenziell die intraoperative Schlaganfallrate erhöhen kann. Starke Verkalkungen gelten als eine Kontraindikation für ein CAS, da hierbei eine hohe Versagensrate beobachtet wurde [1, 19]. Peri-interventionell sollte vor der Inflation des Ballons intravenös Atropin oder Glycopyrrolat verabreicht werden, um eine arterielle Hypotonie, Bradykardie oder Asystolie zu vermeiden [1, 20, 21].

Vergleich CEA und CAS

Eine Reihe von Studien wurde durchgeführt, die die CEA als den Goldstandard in der Behandlung der Stenose der ACI mit dem CAS verglichen. Bei zwei RCTs wurden dabei nur asymptomatische Patientinnen und Patienten ein­geschlossen. Zum einen die ACT-1-Studie (Randomized ­Trial of Stent vs. Surgery for Asymptomatic Carotid Stenosis), die zwischen 2005 und 2013 insgesamt 1453 Personen randomisierte, und die ACST-2-Studie (Second Asymptomatic Carotid Surgery Trial), die zwischen 2008–2020 3625 Teilnehmende mit ACS einschloss. Diese konnten zeigen, dass das perioperative Risiko für einen Schlag­anfall oder Tod im kurzfristigen [ACT-1 2,9 % (CAS) vs. 1,7 % (CEA), p =   0,33 und ACST2 3,7 % (CAS) vs. 2,7 % (CEA), p = 0,12) sowie im langfristigen Verlauf nicht sig­nifikant unterschiedlich ist (ACT-1 3,8 % (CAS) vs. 3,3 % (CEA) und ACST2 5,3 % (CAS) vs. 4,5 % (CEA)] [18, 22]. Durchweg fiel das Risiko für einen ipsilateralen Schlaganfall jedoch bei der CEA geringer aus, wohingegen höhere Raten an Myokardinfarkt bei der CEA beobachtet wurden [1, 18, 22].
Weitere wichtige Prozedur-assoziierte Komplikationen beinhalten neben dem perioperativen Schlaganfall und Tod das Hyperperfusionssyndrom, das nach der CEA in 1 % und nach dem CAS in 3 % der Fälle auftritt [1, 23, 24]. Durch die verbesserte Perfusion kann es zu einem vaso­genen Hirnödem kommen, das zu einer intrakraniellen Hirnblutung führen kann. In der Regel tritt dies innerhalb der erst zwölf Stunden postoperativ auf, kann aber auch noch vier Wochen später auftreten [1, 25, 26]. Symptome ­beinhalten Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Krampfanfälle, Bluthochdruck, Bewusstseinsstörungen, Übelkeit und Erbrechen bis hin zu einem neurologischen Defizit. Entscheidend ist es, den Blutdruck schnell zu senken, eine CT-Untersuchung durchzuführen und im Fall eines Ödems ggf. eine neurochirurgische Entlastung durchzuführen.
Hirnnervenverletzungen, wie z.B. eine Affektion des Nervus hypoglossus mit Zungendeviation oder des Nervus laryngeus recurrens mit Stimmlippenparese und konse­kutiver Heiserkeit treten nach der CEA häufiger auf (5,4 % vs. 0,5 %), wobei sich diese in über 80 % der Fälle im Lauf eines Jahres zurückbilden [1, 27, 28].
Eine Re-Stenose tritt nach dem CAS hingegen häufiger auf (4–11 % vs. 2–8 %) [1, 29, 30, 31, 32].
Ein RCT, der CAS mit BMT allein vergleicht, wurde bis dato nicht durchgeführt.

Hybridverfahren – Transcarotid Artery Revascularization

Im letzten Jahrzehnt hat sich ein Hybridverfahren als Alternative zu den beiden herkömmlichen Methoden ent­wickelt, die sogenannte Transcarotid Artery Revascularization (TCAR). Insbesondere in den USA hat sich diese Methode rasant verbreitet. Hierbei wird mittels offen-chirurgischem Zugang die Arteria carotis communis (ACC) freigelegt und antegrad punktiert. Anschliesssend wird extrakorporal ein Kurzschluss (Shunt) zur perkutan punktierten Vena femoralis etabliert. Nach Ausklemmen der ACC wird durch das entstandene arterio-venöse Druck­gefälle eine Flussumkehr erreicht und somit das Risiko einer cerebralen Embolie aus dem Aortenbogen minimiert. TCAR wurde bisher nur in einarmigen Studien ohne direkten Vergleich zu CEA, CAS oder BMT allein untersucht. Die Resultate der 2015 veröffentlichten ROADSTER-­Studie (Safety and Efficacy Study for Reverse Flow Used During Carotid Artery Stenting Procedure) zeigte eine perioperative Schlaganfallrate von 1,4 % und eine kombinierte Schlaganfall-, Todesfall- und Myokardinfarktrate von 3,5 % [33]. Zwar sind die bisherigen Ergebnisse vergleichbar mit denen der CEA und CAS. Trotzdem sind weitere umfangreichere und idealerweise RCTs mit Langzeit-Follow-up erforderlich, um den Effekt von TCAR bei der Behandlung von ACS abschliessend zu beurteilen.

Risikobewertung/Indikationsstellung

Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte hat das BMT eine deutliche Verbesserung und Weiterentwicklung erfahren und ist mit der teilweise uneinheitlichen Definition aus den früheren Studien nur noch bedingt vergleichbar. So umfasste dieses in ACAS nur die Gabe von Aspirin bzw. eine «Diskussion» von Risikofaktoren [8]. Bei ACST konnte hingegen über den Beobachtungszeitraum hinweg von Anfang der 90er bis in die 2000er Jahre hinein ein mehr als 30 %-iger Anstieg an Patientinnen und Patienten mit adäquater antihypertensiver Therapie verzeichnet werden. Noch deutlicher fiel der Anstieg bei der Lipid-senkenden-Therapie aus, der sowohl in der CEA-Gruppe als auch in der CAS-Gruppe um mehr als 70 % anstieg [17, 34]. Durch eine breite Anwendung und Verbesserung der ­Medikamentenklassen konnte das jährliche Risiko eines ­ipsilateralen Schlaganfalls durch eine ACS vermutlich von über 2 % (wie in ACAS und ACST) auf etwa 1 % pro Jahr gesenkt werden [35].
Es stellt sich daher die Frage, ob das perioperative Ri­siko einer invasiven Behandlung im Vergleich zum alleinigen modernen BMT überhaupt noch vertretbar ist. Einen wichtigen Aspekt stellt dabei neben der Risikoreduktion durch ein BMT die signifikante Verbesserung der Er­gebnisse der CEA in den letzten Jahrzehnten dar. Dies konnte in einem 2015 publizierten Review von sechs RCTs mit 4431 CEAs und 47 Registerstudien mit 204 622 CEAs nachgewiesen werden. Die Autoren folgerten, dass neue Richtwerte für die Durchführung von CEAs etabliert werden sollten. So sollten die behandelnden Spitäler maxi­male kombinierte Schlaganfall- und Todesfallraten von 1,2 % und isolierte Todesfallraten von 0,4 % nicht überschreiten [36].
Neben der Untersuchung des perioperativen Risikos hat man sich in den letzten Jahren darauf konzentriert, ACS-Kranke mit einem erhöhten Risiko für einen ipsilateralen Schlaganfall zu identifizieren, die von einer Revaskularisierung profitieren würden [1, 2, 34]. Es wurden eine Reihe von klinischen und bildmorphologischen Risiko­parametern identifiziert, die mit einer erhöhten Rate an ipsilateralen Schlaganfällen vergesellschaftet sind (Tabelle 1). Hier sind insbesondere stumme spontane Emboli­sationen im transkraniellen Doppler (TCD), sogenannte HITS (high-intensity transient signals) zu nennen, die mit einem fast 8-fach erhöhten Risiko einhergehen (HR 7,6 (2,3–24,7); p < 0,001) [1, 37]. Ein um 6-fach erhöhtes Risiko liegt bei einer mittels TCD gemessenen beeinträchtigten cerebralen vaskulären Reserve (OR 6,1 (1,3–29,5); p = 0,02) [1, 38] sowie bei grossen Plaques mit einer Fläche von > 80 mm2 vor (HR 5,8 (2,7–12,7); p < 0,001) [1, 39].
Kommt es zu einer Stenoseprogression von >20 % unter BMT, ist dies mit einem fast 5-fach erhöhten Risiko für ­einen ipsilateralen Schlaganfall verbunden (HR 4,7 ­(2,3–9,6); p < 0,001) [1, 40]. Eingeblutete atherosklerotische Plaques («intraplaque haemorrhage») im MRT sind mit einem fast 4-fach erhöhten Risiko verbunden (HR 3,7 (2,8–5,0); p < 0,01) [1, 41].
Des Weiteren gelten stumme Infarkte im kranialen CT (HR 3,0 (1,5–6,3); p = 0,002), eine kontralaterale TIA oder ein Schlaganfall (RR 3,0 (1,9–4,7); p < 0,001) sowie echoarme Plaques im Ultraschall (RR 2,6 (1,5–4,6); p = 0,001) als Risikoparameter [1, 42, 43, 44].
Diese Erkenntnisse haben Einzug in die aktuellen Leitlinien gehalten. Die deutsche S3-Leitlinie von 2020 empfiehlt analog zur europäischen Leitlinie von 2023, dass bei 60–99 %iger asymptomatischer Stenose eine CEA erwogen werden sollte, wenn mindestens ein klinischer oder bildgebender Risikoparameter vorliegt. Als Alternative kann unter gleichen Voraussetzungen ein CAS erwogen werden [1, 2].
Zusammenfassend zeigt sich bei der Behandlung der asymptomatischen Stenose auf Grund der guten Ergebnisse des BMT ein klarer Trend zur individualisierten Therapiestrategie.

Volume-Outcome-Relation

In einer Meta-Analyse aus den USA konnte anhand von 25 Studien mit 900 000 CEAs gezeigt werden, dass Zentren mit höherem Volumen signifikant bessere Ergebnisse bei der CEA erzielen [1, 22]. Der Schwellenwert in dieser Analyse lag bei 79 CEAs pro Zentrum und Jahr. Eine weitere Studie aus England mit 18 248 CEAs zeigte ein vergleichbares Ergebnis, wobei der Schwellenwert bereits bei 35 CEAs pro Spital lag [1, 45]. Der beobachtete Unterschied in den beiden Schwellenwerten liegt wahrscheinlich an dem deutlich höheren Anteil asymptomatischer Personen in den USA, während in England ein deutlich höherer Prozentsatz symptomatischer Personen behandelt wurde. Letztere haben ein deutlich höheres perioperatives Schlaganfallrisiko [1].
In vergleichbaren Untersuchungen für CAS konnte ebenfalls eine Volumen-Outcome-Relation nachgewiesen werden. So konnten z.B. Hung und Kollegen in ihrer Analyse zeigen, dass Spitäler mit einem niedrigen CAS-Volumen (< 20 CAS/Jahr) eine statistisch signifikant höhere 30-Tage-Schlaganfallrate pro Jahr aufwiesen als Spitäler mit einem Volumen von mehr als 20 CAS-Fällen/Jahr (HR 1,5; 95 % CI 1,06–2,12, p = 0,023) [1, 46].
Die deutsche S3-Leitlinie fordert bereits, dass CEAs nur in Spitälern mit mehr 20 Fällen pro Jahr und CAS nur in Spitälern mit mehr als 10 Fällen pro Jahr durchgeführt werden sollten [2].
Grenzwerte für Spitäler oder einzelne Operateure/Interventionalisten existieren bisher in der Schweiz nicht. Derzeit wird aber im Rahmen der hochspezialisierten Medizin (HSM) geprüft, ob solche Schwellenwerte eingeführt werden sollen und welche systemischen Veränderungen dafür erforderlich sind.

Multidisziplinäre Teambesprechung

Wie bereits im Kanton Zürich gesetzlich vorgeschrieben, wird die Indikationsstellung zur Revaskularisierung von Carotisstenosen zunehmend im Rahmen von multidisziplinären Team-Besprechungen (MDT) gefordert [47]. Diese sollten u.a. Expertise aus Fächern wie Neurologie, Neuroangiologie, Neuroradiologie, Angiologie und Gefässchirurgie beinhalten. Diese Empfehlung findet sich analog in der Leitlinie der ESVS von 2023, der European Stroke Organisation (ESO) von 2021 und der deutschen S3-Leitlinie von 2020 [1, 2, 48]. Die Zeit bis zu diesen Besprechungen sollte dabei keine unnötigen Verzögerungen verursachen, weshalb dringende Indikationsstellungen durch Ad-hoc-Sitzungen getroffen werden können [1]. Ein Vorteil neben den verschiedenen Kompetenzen ist die objektive fachärztliche Beurteilung des Interventions- bzw. Operationsergebnisses durch Dritte. Beispielsweise zeigte das ­deutsche ProCAS-Stent-Register, dass eine unabhängige neurologische Beurteilung höhere Raten vorübergehender (8,2 % vs. 5,1 %) oder dauerhafter neurologischer Defizite (3,3 % vs. 0,9 %) beobachtete, als wenn diese durch den/die Interventionalisten/in selbst dokumentiert wurden [1, 49].

Ausblick

Eine abschliessende Klärung, ob eine operativ bzw. interventionelle Revaskularisierung sinnvoll ist oder eine medikamentöse Therapie allein ausreicht, bedarf weiterer Klärung.
Als Ausblick werden die Ergebnisse der aktuell laufenden CREST-2-Studie (Carotid Revascularization and Medical Management for Asymptomatic Carotid Stenosis Trial) erwartet [50]. Hierbei handelt es sich um zwei getrennte Studien: Die eine vergleicht die CEA + BMT mit der BMT allein. Die andere untersucht CAS + BMT vs. BMT allein. Es sollen 2480 Personen aus 132 Zentren vor allem in Nordamerika eingeschlossen werden. Die Rekrutierung läuft bereits seit Ende 2014.
Eine weitere Studie, bei der die Rekrutierung noch nicht angefangen hat, ist der ACTRIS trail (Endarterec­tomy Combined With Optimal Medical Therapy (OMT = BMT) vs. OMT Alone in Patients With Asymptomatic Severe Atherosclerotic Carotid Artery Stenosis at Higher than-average Risk of Ipsilateral Stroke). In diesem sollen 700 Personen mit oben genannten Hoch-Risiko-Merkmalen in die beiden Therapiearme CEA + BMT vs. BMT randomisiert werden.
Randomisierte Studien zum Vergleich von TCAR und der CEA, CAS oder BMT allein wurden bisher noch nicht durchgeführt, wären jedoch wünschenswert.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

CT Computertomografie
ACAS Asymptomatic Carotid Atherosclerosis
ACI Arteria carotis interna
ACS Asymptomatische Carotisstenose
ACST Asymptomatic Carotid Surgery Trial
BMT Best Medical Treatment
CAS Carotis-Stenting
CEA Carotis-Endarteriektomie
CTA Computertomografie-Angiografie
DUS Duplexsonografie
ESVS European Society of Vascular Surgery
HITS High-Intensity Transient Signal
HR Hazard Ratio
HSM Hochspezialisierte Medizin
MDT Multidisziplinäre Teambesprechung
MRT Magnetresonanztomografie-Angiografie
NASCET North American Symptomatic Carotid Endarterectomy Trial
NNT Numbers Needed to Treat
OR Odds Ratio
RCT Randomisiert kontrollierte Studie
RR Relative Risk
TCAR Transcarotid Artery Revascularization
TCD Transkranielle Dopplersonografie
TIA Transitorisch-ischämische Attacke

PD Dr. med. FEBVS Benedikt Reutersberg

Klinik für Gefässchirurgie
Universitätsspital Zürich
Rämistr. 100
8091 Zürich
Schweiz

benedikt.reutersberg@gmail.com

Historie
Manuskript akzeptiert: 27.02.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Nach dem aktuellen Kenntnisstand ist die operative bzw. interventionelle Revaskularisierung einer asymptomatischen, 60–99-prozentigen Carotisstenose nicht obsolet, sondern bei Patientinnen und Patieten mit spezifischen klinischen und morphologischen Risikoparametern weiterhin sinnvoll.
Die bestmögliche medikamentöse Therapie (BMT) ist dabei die Basis, sie hat sich in den letzten Dekaden signifikant weiterentwickelt.
Parallel dazu haben sich auch die Ergebnisse der Revaskularisierung verbessert.
Sowohl bei der CEA als auch bei CAS besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Fallzahl und Behandlungsergebnis (Volume-Outcome-Relation).
Patientinnen und Patienten sollten daher in Zentren mit multi-disziplinärer neurovaskulärer und gefässmedizinischer Expertise vorgestellt werden.
Die Abschätzung des individuellen Risikos und die Indikation zur Revaskularisierung sollte im Rahmen multidisziplinärer Teambesprechungen erfolgen.

Lernfragen

1. Welche Therapie sollte bei einem 65-jährigen Patienten mit Erstdiagnose einer hochgradigen (70 %) asymptomatischen Carotisstenose primär durchgeführt werden? (Einfachantwort)
a) Carotis-Endarteriektomie (CEA)
b) Carotis-Stenting (CAS)
c) Best Medical Treatment (BMT)
d) Transcarotidales Stenting (TCAR)
2. Welche Therapiemöglichkeiten bestehen bei einem 65-jährigen Patienten mit bekannter hochgradiger (70 %) asymptomatischer Stenose, der neben einer Progression unter BMT weitere Risikoparameter wie HITS im TCD und einen eingebluteten hämorraghischen Plaque im MRT aufweist? Zusätzlich zeigt sich ein stark atheromatöser Aortenbogen. (Mehrfachantwort)
a) Carotis-Endarteriektomie (CEA)
b) Carotis-Stenting (CAS)
c) Transcarotidales Stenting (TCAR)
d) Kein Eingriff, da Patient weitere Behandlungen ablehnt und daher fortführen des BMT
3. Wie sollte bei einem Patienten mit progredienter duplexsonografischer 60-prozentiger asymptomatischer Stenose der A. carotis interna unter BMT verfahren werden? (Mehrfachantwort)
a) Prüfen, ob das Best Medical Treatment vollumfänglich ausgeschöpft ist
b) Vorstellung in einem Zentrum mit neurovaskulärer und gefässmedizinischer Expertise
c) Wiederholung der Duplexsonografie sowie Durchführung einer erweiterten Bildgebung wie CTA oder MRA
d) Abklärung spezifischen klinischer und morphologischen Risikoparameter zur Evaluation einer Eingriffsindikation

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Neue und etablierte multimodale Therapiestrategien beim fortgeschrittenen Rektumkarzinom

Lokal fortgeschrittene Rektumkarzinome haben ein hohes Lokalrezidivrisiko, das durch eine multimodale Therapie gesenkt werden kann. Die neoadjuvante Radiotherapie oder Radiochemotherapie hat sich etabliert. Dennoch konnte eine Verbesserung des Gesamtüberlebens hierdurch nicht erreicht werden. Der Nutzen einer adjuvanten Chemotherapie nach neoadjuvanter Radio- oder Radiochemotherapie ist nach wie vor unklar. Aktuell untersuchen Studien die total neoadjuvante Therapie mit unterschiedlichen Sequenzen von Radiotherapie und Chemotherapie, gefolgt von einer Rektumresektion. Hierbei zeigen sich hohe pathologische Komplettremissionen bis zu 28 % sowie eine Verbesserung des krankheitsfreien und metastasenfreien Überlebens. Unter Studienbedingungen kann bei klinischer Komplettremission ein «Watch & Wait» mit engmaschiger Nachsorge und Operation ausschliesslich bei einem lokalen Wiederauftreten des Tumors in Erwägung gezogen werden.

Geschichtlicher Rückblick

Die Behandlung des Rektumkarzinoms hat sich über die vergangenen drei Jahrhunderte dramatisch verändert. Während die Krankheit bis ins 18. Jahrhundert als unheilbar galt, liegt das 5-Jahres-Überleben heute bei über 70 % [1].
Die erste erfolgreiche Rektumresektion wird Jacques LisFranc anfangs des 19. Jahrhunderts zugeschrieben. LisFranc bat die Patientinnen und Patienten, sich nach vorne zu bücken, evertierte das Rektum, resezierte unterhalb der Umschlagsfalte und amputierte das Rektum ohne Anästhesie oder Blutstillung [2].
Später ermöglichten die Anästhesie und Asepsis neue Techniken. Kocher und Kraske entfernten 1874 das Rektum über eine komplette oder partielle Sakrektomie von dorsal [3, 4, 5]. Die perioperative Mortalität in der Zeit vor 1900 betrug über 20 % bei einer Rezidivrate um die 80 % [6]. Im 20. Jahrhundert entwickelte Sir William Ernest ­Miles die abdominoperineale Rektumamputation (APR) unter Entfernung des gesamten Rektums mit Analkanal und des Lymphabflussgebiets en bloc [7]. Nach Fortschritten in der Bluttransfusion konnte eine Mortalität von 9 % bei einer Rezidivrate von 30 % erreicht werden [8].
Die erste Schliessmuskel-erhaltende Operation wurde 1948 von Dixon beschrieben und in den 1970er Jahren von Parks weiterentwickelt [4, 9]. Nach wie vor zeigten sich hohe lokale Rezidivraten. Über ein Viertel der resezierten Präparate wies positive seitliche Schnittränder auf, und folglich entwickelte sich in 85 % dieser Fälle ein Lokalrezidiv im Becken [10]. Richard Heald entwickelte später eine Resektionstechnik, welche die embryologischen Hüllfaszien des Beckens respektierte. Er entfernte den Tumor mit Mesorektum en bloc bis auf Höhe des Levatormuskels und bezeichnete dieses Verfahren als totale mesorektale Ex­zision (TME). Dies führte zu deutlich weniger tumorbefallenen seitlichen Schnitträndern und entsprechend zu einer geringeren lokalen Rezidivrate von 4 % beim lokal begrenzten Rektumkarzinom. Das krankheitsfreie Über­leben betrug nach fünf Jahren 80 % [11, 12]. Die TME ­verdrängte somit die radikale APR zunehmend und revolutionierte die Rektumchirurgie.

Multimodale Therapie beim fortgeschrittenen Rektumkarzinom

Das Rektumkarzinom gilt als lokal fortgeschritten bei wandüberschreitendem Wachstum und/oder bei Befall der Lymphknoten. Dabei infiltrieren T3-Karzinome das Mesorektum und T4-Tumoren überschreiten die embryonalen Hüllfaszien oder infiltrieren Nachbarorgane. Das Ausmass der Wandüberschreitung und die Detektion von Lymphknotenmetastasen gelingt mittels Magnetresonanz­tomografie (MRT) präzise. In der MRT lassen sich T3-Tumoren anhand des Ausmasses der mesorektalen Infiltra­tion (T3a > 1 mm, b 1–5 mm, c 5–15 mm und d > 15 mm) weiter unterteilen. Die Grenzen des Mesorektums werden als zirkumferentieller Resektionsrand (CRM) bezeichnet. Reicht der Tumor bis 1 mm oder näher an den CRM heran oder überschreitet diesen (CRM+), besteht ein hohes Risiko für ein lokales Rezidiv bei einer alleinigen Rektum­resektion. In historischen Kohorten betrug das Lokalrezidivrisiko bei nodal negativen, lokal fortgeschrittenen Tumoren 25–30 % und bei nodal metastasierten Tumoren bis 50 % [13]. Um dieses hohe Rezidivrisiko zu senken, wurden zur Behandlung der lokal fortgeschrittenen ­Rektumkarzinome multimodale Therapiekonzepte entwickelt.
Daher wurde in den 1980er-Jahren nach der chirurgischen Resektion die adjuvante Radiotherapie (RT) mit oder ohne Chemotherapie (CT) eingesetzt, um die onkologischen Ergebnisse zu verbessern [14]. Die postoperative RT galt 1990 als Standardbehandlung beim lokal fort­geschrittenen Rektumkarzinom [13].

Die neoadjuvante Radio(chemo)-Therapie

In den späten 1990er-Jahren wiesen mehrere Studien weniger Therapieversagen bei präoperativer RT im Vergleich zur alleinigen Chirurgie nach (Abb. 1) [15, 16]. Die sogenannte DUTCH-Studie zeigte, dass die Ergänzung einer präo­perativen Kurzzeit-RT (5 × 5 Gray) vor einer TME bei cT1–3 Karzinomen die Rate an Lokalrezidiven nach zwei Jahren deutlich reduziert (2,4 % vs. 8.2 %, p < 0,001) [17]. Nach zehn Jahren lag die Lokalrezidivrate mit Bestrahlung bei 5 % und ohne Bestrahlung bei 11 % (p < 0,001). Das 10-Jahres-krankheitsfreie Überleben lag bei 40 vs. 50 %, p = 0,03), im Gesamtüberleben hingegen konnte kein ­Unterschied aufgezeigt werden [18].
Angesichts der überlegenen präoperativen RT und in der Annahme, dass eine zusätzliche CT einen weiteren Vorteil bewirkt [19], verglichen Sauer et al. präoperative versus postoperative RCT (über 6 Wochen) bei Personen mit T3/T4 oder N+. Die 5-Jahres-Gesamtüberlebensrate war vergleichbar bei 76 bzw. 74 % (p = 0,08), während die kumulative 5-Jahres-Lokalrezidivrate bei Personen mit ­einer präoperativen RCT mit 6 versus 13 % (p < 0,01) deutlich tiefer war. Zusätzlich zeigte sich eine deutlich bessere Verträglichkeit der präoperativen Therapie. Höhergradige akut toxische Wirkungen traten bei 27 % in der präopera­tiven und bei 40 % in der postoperativen Behandlungsgruppe auf (p < 0,01) [14].
Bujko verglich die präoperative Kurzzeit-RT mit TME nach einer Woche gegenüber der präoperativen RCT mit Operation nach 4–8 Wochen. Hierbei fand sich zugunsten der RCT eine höhere Rate an pathologischer Komplett­remission (pCR) (16 vs. 1 %) und eine tiefere Inzidenz an Tumorinfiltration am CRM (4 % vs. 13 %, p = 0,017). Allerdings zeigte sich kein Unterschied bezüglich Sphinktererhalt (58 % vs. 61 %), 4-Jahres-Lokalrezidiv (14 % vs. 9 %) und dem 4-Jahres-krankheitsfreien-Überleben (56 % vs. 58 %). Obwohl die akute Toxizität bei der RCT höher war (18 % vs. 3 %, p < 0,001), konnte kein Unterschied bei den postoperativen Komplikationen nachgewiesen werden [20, 21].
Die Konzepte der Kurzzeit-RT und der RCT unterscheiden sich insbesondere dadurch, dass bei der Kurzzeit-RT nach einem kurzen Intervall von nur einer Woche die Rektumresektion erfolgt, bei der präoperativen RCT hingegen erst nach 4–8 Wochen.
Die randomisierte Stockholm-III-Studie von 2017 untersuchte das Intervall zwischen RT und Operation. Verglichen wurden Kurzzeit-RT und TME nach einer Woche versus Kurzzeit-RT und TME nach 4–8 Wochen versus RCT und TME nach 4–8 Wochen. Bei kumulativer Inzidenz des Lokalrezidivs (2,4, 2,8 und 5,5 %, p = 0,48), dem Auftreten von postoperativen Komplikationen, dem Nachweis von Fernmetastasen und im Gesamtüberleben konnten keine Unterschiede nachgewiesen werden. Nach einem längeren Intervall fand sich nach der Kurzzeit-RT eine höhere pCR (10,4 %) als nach RCT (2,2 %) oder direkter Operation nach Kurzzeit-RT (0,3 %) [22].

Es waren diese Schlüsselstudien, die schliesslich zu einem Paradigmenwechsel von der post- zur präoperativen RT führten. Trotz Verringerung der Lokalrezidivraten durch die neoadjuvante Therapie bleibt das Auftreten von metachronen Fernmetasten problematisch. Bis heute konnte keine Verbesserung im Gesamtüberlebens gezeigt werden, weder mit der RCT noch mit der RT. In den aktuellen deutschen Leitlinien werden beide Behandlungsmöglichkeiten ohne Präferenz empfohlen [23].

Adjuvante Chemotherapie nach präoperativer R(C)T

Während die adjuvante CT nach Rektumresektion ohne präoperative Behandlung gesichert ist, kann nach erfolgter neoadjuvanter RT oder RCT auf Grundlage der vor­handenen Datenlage keine Empfehlung für oder gegen eine adjuvante CT abgegeben werden [23].
In der Meta-Analyse von Breugom et al. wurden Daten von 1196 Personen mit Rektumkarzinom im Stadium II/III mit TME nach neoadjuvanter RCT untersucht. Es wurden keine signifikanten Unterschiede im Gesamtüberleben ­gefunden zwischen Personen, die eine adjuvante CT erhielten und jenen, welche beobachtet wurden (HR 0,97, p = 0,775) [24]. Sowohl krankheitsfreies Überleben wie Rezidivraten konnten nicht verbessert werden (HR 0,91, p = 0,23 resp. HR 0,94, p = 0,52).
Die adjuvante CT nach präoperativer Behandlung ist heutzutage in Analogie zum Kolonkarzinom in einigen Ländern Standard, wird aber kontrovers diskutiert [25].

Totale neoadjuvante Therapie (TNT) und W&W-Strategie

Ein Erklärungsversuch für den fehlenden Nachweis eines Überlebensvorteils mit adjuvanter Therapie könnte der hohe Anteil an Personen sein, die gar nicht erst einer ad­juvanten Therapie zugeführt werden können. Dies, weil sie patientenseits abgelehnt wird oder auf Grund einer chirurgischen oder auch nicht-chirurgischen Komplika­tion mit andauernder Rekonvaleszenz. In diesem Kontext wurde bei der totalen neoadjuvanten Therapie (TNT) die Sequenz der multimodalen Behandlung angepasst. Wie die Stockholm-III-Studie [22] gezeigt hat, ist die Verzögerung der Operation auch nach einer Kurzzeit-RT möglich und gewährleistet somit ein Zeitfenster für eine präoperative CT. Die randomisierte RAPIDO-Studie untersuchte 920 Personen mit cT4a oder cT4b und High-risk-Kriterien (extramurale Veneninvasion (EMVI+), cN2, CRM+). Verglichen wurden die Sequenzen präoperative Kurzzeit-RT, CT und TME versus präoperative RCT, TME und adjuvante CT. Die Studie zeigte einen signifikanten Unterschied bezüglich der pCR: Nach TNT erfolgte Letztere bei 28 % der Teilnehmenden, nach Standardbehandlung nur bei 14 % (p < 0,001). Ferner konnte erstmalig auch ein niedriges kumulatives Risiko eines Therapieversagens in der TNT-Gruppe beobachtet werden (24 % in der ­TNT-Gruppe und 30 % in der Standardgruppe (HR 0,75, p = 0,019). welches hauptsächlich auf eine niedrigere ­kumulative Wahrscheinlichkeit von Fernmetastasen nach drei Jahren zurückgeführt werden konnte (TNT-­Gruppe 20 % und in der Standardgruppe 27 % (HR 0,69, p = 0,0048)). Schwerwiegende Nebenwirkungen traten vergleichbar häufig in 38 % und 34 % der Fälle auf. Das Gesamtüberleben zeigte sich hingegen nicht unterschiedlich (p = 0,59). Die 3-Jahres-Überlebensrate betrug 89 % in beiden Gruppen [25].
In der PRODIGE23-Studie wurde die Sequenz umgekehrt. Es erfolgte zunächst die Chemotherapie, gefolgt von der RCT. 461 Personen mit TNM cT3 oder cT4 M0 wurden in die experimentelle oder in die Standardgruppe randomisiert. In der experimentellen Gruppe erfolgte eine neoadjuvante CT, gefolgt von einer RCT für fünf Wochen und TME sowie einer adjuvanten Therapie für drei Monate. In der Standardgruppe erfolgte eine RCT, gefolgt von der TME und einer adjuvanten CT für sechs Monate. In dieser Studie hatten 28 % der Teilnehmenden in der Gruppe mit neoadjuvanter CT eine pCR, während in der Standardgruppe nur 12 % eine pCR aufweisen (p < 0,01). Überdies betrug das krankheitsfeie Überleben nach drei Jahren 76 % in der experimentellen Gruppe und 69 % in der Standardgruppe (HR 0,69, p = 0,034). Des Weiteren zeigte sich ausserdem eine Verbesserung des metastasenfreien Überlebens nach drei Jahren: in der experimentellen Gruppe bei 79 % der Teilnehmenden und in der Standardgruppe bei 72 % (HR 0,64, p = 0,017). Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten bei 27 % der Teilnehmenden in der experimentellen Gruppe und bei 22 % der Standardgruppe auf (p = 0,167). Für das Gesamtüberleben zeigte sich auch in dieser Studie knapp kein Unterschied (91 vs. 89 %, p = 0,08) [26].
Die beiden Studien unterscheiden sich insofern, als dass bei der RAPIDO-Studie nur sehr fortgeschrittene Tumoren eingeschlossen wurden, in der PRODIGE23-Studie alle Patientinnen und Patienten mit T3- und T4-Tumoren. Im Gegensatz zu zahlreichen vorgängigen Studien konnte in beiden Studien neben besseren pCR-Raten auch eine Verbesserung des krankheitsfeien und metastasenfreien Überlebens gezeigt werden.

Das ausgezeichnete Überleben von Patientinnen und Patienten mit pCR nach einer neoadjuvanten Therapie und die erhebliche Morbidität nach Operation stellt den zusätzlichen Nutzen einer TME bei klinisch kompletter Remission (cCR) in Frage. Deshalb wurde die Wirksamkeit einer «Watch-and-Wait»-Strategie (W&W) mit Organ­erhaltung bei Personen mit cCR zum zentralen Thema. In der OPRA-Studie [27] wurden Erkrankte mit Stadium II oder III im Sinn einer TNT mit einer Induktions-CT, gefolgt von einer RCT, versus RCT gefolgt von einer Konsolidierungs-CT randomisiert verglichen. Nach TNT erfolgte ein Re-Staging mit Computertomografie und MRT und je nach Tumoransprechen eine TME oder eine W&W. Das 3-Jahres-krankheitsfreie-Überleben war in beiden Gruppen 76 %. Auch die Rate an Lokalrezidiv-freiem Überleben und das Gesamtüberleben war nach drei Jahren nicht unterschiedlich. Nach Re-Staging wurde bei 28 % der Patientinnen und Patienten nach Induktions-CT und bei 24 % der Teilnehmenden nach Konsolidierungs-CT aufgrund einer nicht kompletten klinischen Remission die TME empfohlen. Von den übrigen Personen, die mittels W&W verfolgt wurden, entwickelten 40 % der Induktions-CT-Gruppe und 27 % der Konsolidierungs-CT-Gruppe während des Follow-ups ein erneutes Wachsen des lokalen Tumors («local regrowth»). In der Inten­tion-to-treat-Analyse lag der Anteil an Personen, die sich nach drei Jahren keiner TME unterziehen mussten, bei 41 % in der Induktionsgruppe und bei 53 % in der Konso­lidierungsgruppe (p = 0,01). Interessanterweise war das krankheitsfreie Überleben bei Patienten, die bei nicht vollständiger Remission eine TME erhielten, gleich wie bei denjenigen, bei denen nach initialem W&W bei Local Re­growth eine TME durchgeführt wurde (p = 0,5) (Abb. 2) [27].
Bereits von der heute als Standard geltenden Therapie des fortgeschrittenen Rektumkarzinoms mit RCT gefolgt von einer TME im Intervall ist bekannt, dass eine pCR mit einer sehr guten Prognose vergesellschaftet ist. Mehrere Studien zeigen, dass bei einer pCR sowohl das Gesamtüberleben als auch das krankheitsfreie Überleben besser ist als wenn sich noch Resttumor im Präparat findet [28]. In einer Studie mit Stadium-II/III-Patientinnen und -Patienten, welche eine neoadjuvante RCT und TME erhalten haben, zeigte sich bei 14 % eine pCR [28]. Das 5-Jahres-krankheitsfreie-Überleben der Personen mit pCR war mit 92 % bei einem Gesamtüberleben von 95 % exzellent [28]. Es gibt verschiedene Studien, die einen direkten Zusammenhang zwischen einer längeren Wartezeit vor der Operation und der Rate an pCR zeigen [29]. Dies gilt jedoch nur für Personen, die nach einer RCT oder RT eine gute Remission zeigen. Patientinnen und Patienten mit einem schlechten oder keinem Ansprechen auf die neoadjuvante RT profitieren nicht von einem längeren ­Intervall bis zur Operation. Die Studie von Deidda et al. zeigte, dass in diesem Kollektiv eine Wartezeit von über acht Wochen mit einem schlechteren 5-Jahres-Gesamtüber­leben assoziiert war (67,5 vs. 80,3 %, p < 0,01). Personen, die nicht gut auf eine RCT ansprechen, sollten frühzeitig nach Abschluss der RCT identifiziert und ohne Verzögerung operiert werden [29].
Bereits vor Einführung des TNT-Konzepts gab es Überlegungen, Patientinnen und Patienten mit einer cCR nicht zu operieren, sondern den Verlauf engmaschig zu verfolgen. Für die Beurteilung des Therapieansprechens sind der rektale Palpationsbefund, der endoskopische Befund und das Becken MRT ausschlaggebend.
In einer Beobachtungsstudie aus Maastricht zeigte sich bei W&W mit kompletter Remission nach RCT in 23 % ein local regrowth innerhalb von 14 Monaten. Diese Tumoren wurden im Verlauf mittels TME (69 %) oder lokaler Exzision (31 %) operiert. Nach zwei Jahren waren 98 % der Teilnehmenden ohne Lokalrezidiv, 92 % ohne Metastasen, und das krankheitsfreie Überleben betrug 90 % respektive das Gesamtüberleben 98 % [30].

Ausblick

Auf Grund der aktuellen Datenlage ist bei fortgeschrittenem Rektumkarzinom, insbesondere bei Vorliegen von Risikofaktoren für ein lokales Rezidiv (distaler Tumor, cT3c/d, N+, CRM+, EMVI+) die TNT-Strategie sicherlich attraktiv. Es ergeben sich dennoch ungelöste Fragen. Eine Schwierigkeit bleibt die Einschätzung der cCR. Hier müssen Erfahrungen gesammelt werden, damit eine Evidenz erarbeitet werden kann, um mit hoher Zuverlässigkeit das komplette Therapieansprechen einschätzen zu können. Obwohl in der OPRA-Studie die Mehrheit der Patientinnen und Patienten nach TNT nicht primär operiert wurde, zeigte sich bei denjenigen, die eine TME erhielten, in der histologischen Untersuchung eine pCR bei nahezu 10 %. Dies demonstriert die schwierige Beurteilung [27]. Im Weiteren setzt das W&W eine hohe Patientencompliance für die aufwendige und engmaschige Nachsorge voraus. So sind beispielsweise im ersten Jahr dreimonatliche Kontrollen mit MRT und Endoskopie vorgesehen, im zweiten Jahr zumindest alle sechs Monate.
Eine laufende multizentrische Studie untersucht die Fragestellung, ob eine RCT, gefolgt von einer Konsolidierungs-CT, gegenüber einer Kurzzeit-RT, gefolgt von einer Konsolidierungs-CT, Vorteile in Bezug auf die Möglichkeit des Organerhalts mit sich bringt (ACO/ARO/AIO-18.1).
Die aktuellen deutschen Leitlinien sehen ein TNT-Konzept mit W&W daher nur im Rahmen von Studien vor. Die neuen multimodalen Therapiekonzepte bringen grosse Veränderungen mit sich in der Behandlung des lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinoms. Die differenzierte Indikationsstellung für eines der multimodalen Konzepte auf Grund individueller Risikofaktoren gewinnt an Bedeutung, erhöht aber auch die Komplexität der Behandlung. Für die Patientinnen und Patienten bedeutet die multimoerdale Therapie auch eine sehr lange Therapiephase, welche sich je nach Sequenz über ein halbes Jahr hinzieht. Der mit zunehmender Möglichkeit zum Organerhalt verbundene Rückgang an Rektumkarzinomoperationen erhöht die Dringlichkeit der Konzentrierung dieser komplexen Operationen in spezialisierten Zentren, um die chirurgische Expertise zu sichern.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

APR Abdominoperineale Resektion
cCR Klinische Komplettremission
CRM+ Positive Circumferential Resection Margin
CT Chemotherapie
EMVI Extramural Vascular Invasion
HR Hazard Ratio
pCR Pathologische Komplettremission
RCT Radiochemotherapie
TME Totale mesorektale Exzision
TNT Totale neoadjuvante Therapie
W&W Watch and Wait

PD Dr. med. Daniel Steinemann

Clarunis – Universitäres Bauchzentrum, Basel
Postfach
4002 Basel

Historie
Manuskript eingereicht: 19.11.2022
Nach Revision angenommen: 06.01.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Christian C. Steinemann
https://orcid.org/0000-0003-4111-2909
Fiorenzo Angehrn
https://orcid.org/0000-0002-5450-3100
Fabio Nocera
https://orcid.org/0000-0003-3370-9406

Key Messages

Die multimodale Therapie in Form einer neoadjuvanten Radiotherapie oder Radiochemotherapie hat sich beim fortgeschrittenen Rektumkarzinom etabliert und senkt das Risiko eines Lokalrezidivs.
Gegenwärtig werden unterschiedliche Sequenzen der totalen neoadjuvanten Therapie untersucht, bei der neben der Strahlentherapie auch die Chemotherapie vor einer Operation erfolgt.
Unter totaler neoadjuvanter Therapie zeigen sich sehr hohe komplette Remissionsraten, welche in indivi­duellen Fällen «Watch & Wait» mit Verzicht auf eine Operation ermöglichen.
Die Therapie des lokal fortgeschrittenen Rektum­karzinoms ist zunehmend komplex und sollte in spezialisierten Zentren erfolgen.

Lernfragen

1. Das 5-Jahres-Überleben des Rektumkarzinoms (Durchschnitt über alle Tumorstadien) liegt heut­zutage bei
(Einfachantwort):
a) 50 %
b) 60 %
c) 70 %
d) 80 %

2. Die totale mesorektale Exzision beinhaltet (Mehrfach­antwort):
a) Tumor
b) Mesorektum
c) Mesorektale Lymphknoten
d) Analkanal

3. Die neoadjuvante Therapie beim Rektumkarzinom …
(Einfachantwort)
a) … verbessert das Gesamtüberleben.
b) … verringert die Rate an Lokalrezidiven.
c) … umfasst immer eine Chemotherapie neben der
Radiotherapie.
d) … ist bei nodal negativen T2-Tumoren indiziert.

4. Welche Aussagen sind richtig (Mehrfachantwort)?
a) Die TNT (totale neoadjuvante Therapie) beim Rektumkarzinom verbessert das Gesamtüberleben.
b) Patientinnen und Patienten, die nicht gut auf eine RCT ansprechen, sollten frühzeitig nach Abschluss der RCT identifiziert und operiert werden.
c) Für die Beurteilung des Therapieansprechens sind der rektale Palpationsbefund, der endoskopische Befund und das Becken-MRT nötig.
d) Die Nachsorge bei der TNT beinhaltet im ersten Jahr dreimonatliche Kontrollen mit MRT und ­Endoskopie, im zweiten Jahr zumindest alle sechs Monate.

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Intensivierung und Persona­li­sierung der neoadjuvanten Therapie des lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinoms

In dieser Ausgabe der «Praxis» erscheint der Beitrag «Neue und etablierte multimodale Therapiestrategien beim fortgeschrittenen Rektumkarzinom» von D.C. Steinemann et al. (1). Dieses Editorial möchte einige wichtige Punkte des Artikels herausstellen (1).
In der Behandlung lokal fortgeschrittener Karzinome des mittleren und unteren Rektumdrittels stellte die neoadjuvante Langzeit-Radiochemotherapie (RCT) mit Capecitabin oder alternativ die Kurzzeit-Strahlentherapie (RT), jeweils gefolgt von einer totalen mesorektalen Exzision (TME) und einer anschliessenden adjuvanten Chemotherapie (CT) über viele Jahre hinweg den Goldstandard dar (2). Zahlreiche Studien versuchten seither dieses Therapieprotokoll, u.a. durch die Hinzunahme von Oxaliplatin während der Radiotherapie, weiterzuentwickeln, ohne dass sich hierdurch eine Verbesserung «harter» Endpunkte wie des progressionsfreien Überlebens erzielen liess (3). Erst die Etablierung der totalen neoadjuvanten Therapie (TNT), wie sie im Übersichtsartikel von Steinemann und Nocera detailliert beschrieben und kritisch diskutiert wird, definiert neue Therapiemassstäbe. Durch die Etab­lierung von TNT-Protokollen in wichtigen Studien einschliesslich RAPIDO, OPRA und PRODIGE-23 konnten höhere pathologische Komplettremissionsraten (pCR) und eine Verbesserung des metastasenfreien Überlebens sowie des progressionsfreien Überlebens erreicht werden (3, 4, 5).

Welches TNT-Protokoll eignet sich für den Alltag?

Die bisher publizierten TNT-Protokolle unterscheiden sich erheblich bezüglich verwendeter Chemo- und Radiotherapie-Protokolle sowie Therapiesequenz (6). Welchem der zur Auswahl stehenden TNT-Protokolle ist nun der Vorzug zu geben, was sind die Vor- und Nachteile? Hier ist die Diskussion noch offen. Viele Fachgesellschaften empfehlen derzeit eine Radiochemotheapie-Chemotherapie-Sequenz, da sich hiermit die wahrscheinlich höchsten pCR-Raten erzielen lassen. Es bleibt abzuwarten, welche Protokolle sich langfristig durchsetzen werden und wie zukünftige Studienergebnisse die Behandlungslandschaft prägen werden.

Wie vorgehen bei klinischer Komplettremission?

Die Behandlung des Rektumkarzinoms gehört mehr denn je in die Hände erfahrener Zentren. Durch die höheren kompletten Remissionsraten nach TNT ist der Schritt zur Operation nämlich längst kein Automatismus mehr. Auch wünschen sich Patientinnen und Patienten häufig ein organerhaltendes Vorgehen. Das Remissions-Assessment nach TNT ist anspruchsvoll und die Patientenführung in diesem Spannungsfeld mitunter eine Herausforderung. Welchen Patientinnen und Patienten wir bereits heute ohne Kompromittieren des kurativen Behandlungsziels ausserhalb von Studien Organerhalt anbieten können, ist Gegenstand intensiver Debatten. Eine offene und detaillierte Aufklärung unserer Patientinnen und Patienten stellt die essenzielle Grundlage der gemeinsamen Entscheidungsfindung dar.

Neoadjuvante Präzisionsmedizin?

Werden alle fortgeschrittenen Rektumkarzinome mit TNT richtig behandelt, und welche Rolle spielt die Tumorgenetik? Furore machten im Frühsommer neue Studiendaten des Memorial Sloan Kettering Cancer Centers. Hier ­wurden Patientinnen und Patienten mit Mismatch-Repair-defizienten (dMMR/MSI-H) Rektumkarzinomen neo­adjuvant mit Dostarlimab, einem Anti-PD-1-Antikörper, ­behandelt (7). Alle 14 bisher berichteten Behandelten erzielten innerhalb von Wochen eine komplette Remission (cCR). Keine einzige Person wurde bestrahlt, chemotherapiert oder operiert. Selbst grosse, lokal weit fortgeschrittene Tumoren verschwanden bei gleichzeitig exzellenter Therapieverträglichkeit. Auch wenn Langzeitdaten bisher fehlen, zeichnet sich hier ein neuer personalisierter Therapiestandard für die 5–10 % aller Rektumkarzinome ab, die Mismatch-Repair-Defizienz zeigen (8, 9). Zusammen­fassend entwickelt sich die neoadjuvante Therapie des lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinoms derzeit rasant weiter, und wir dürfen gespannt sein auf die Zukunft.

Dr. med. Ralph Fritsch

Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Universität und Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Dr. med. Chiara Louisa Hempel

Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

1. Steinemann DC, Müller-Stich BP, Angehrn F, Nocera F. Neue und etablierte multimodale Therapiestrategien beim fort­geschrittenen Rektumkarzinom. Praxis (Bern 1994). 2023;112(11):539–544.
2. Fokas E, Appelt A, Glynne-Jones R, et al. International consensus recommendations on key outcome measures for organ preservation after (chemo)radiotherapy in patients with rectal cancer. Nat Rev Clin Oncol. 2021;18(12):805–816.
3. Garcia-Aguilar J, Patil S, Gollub MJ, et al. Organ Preservation in Patients With Rectal Adenocarcinoma Treated With Total Neoadjuvant Therapy. J Clin Oncol. 2022;40(23):2546–2556.
4. Conroy T, Bosset JF, Etienne PL, et al. Neoadjuvant chemotherapy with FOLFIRINOX and preoperative chemoradiotherapy for patients with locally advanced rectal cancer (UNICANCER-PRODIGE 23): a multicentre, randomised, open-label, phase 3 trial. Lancet Oncol. 2021;22(5):702–715.
5. Germer CT, Reibetanz J. Ergebnisse der randomisierten RAPIDO-Studie zur total-neoadjuvanten Therapie des Rektumkarzinoms. Chirurg. 2021;92(7):666.
6. Liu S, Jiang T, Xiao L, et al. Total Neoadjuvant Therapy versus Standard Neoadjuvant Chemoradiotherapy for Locally Advanced Rectal Cancer: A Systematic Review and Meta-Analysis. Oncologist. 2021;26(9):e1555–e1566.
7. Cercek A, dos Santos Fernandes G, Roxburgh CS, et al. Mismatch Repair-Deficient Rectal Cancer and Resistance to Neoadjuvant Chemotherapy. Clin Cancer Res. 2020;26(13):3271–3279.
8. Cercek A, Lumish M, Sinopoli J, et al. PD-1 Blockade in Mismatch Repair–Deficient, Locally Advanced Rectal Cancer. N Engl J Med. 2022;386(25):2363–2376.
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