Erkrankung der Gallenblase

Erkrankungen der Gallenblase zählen zu den häufigsten Ursachen für Oberbauchbeschwerden und umfassen ein breites Spektrum von symptomatischen Gallensteinen über akute Cholezystitis bis hin zu seltenen neoplastischen Veränderungen. Während asymptomatische Gallensteine in der Regel keiner Therapie bedürfen, ist bei symptomatischer Cholezystolithiasis und entzündlichen Komplikationen häufig eine Cholezystektomie indiziert. Die laparoskopische Cholezystektomie gilt hierbei als sicheres und effektives Standardverfahren mit niedriger Morbidität und Mortalität. Neue Techniken wie die roboterassistierte Chirurgie konnten bislang keinen Vorteil hinsichtlich Komplikationsraten nachweisen. Die Indikationsstellung, das Erkennen von Risikokonstellationen und die Wahl des geeigneten operativen Vorgehens sind entscheidend für die Vermeidung schwerwiegender Komplikationen.

Gallbladder disease is a frequent cause of upper abdominal pain, ranging from symptomatic gallstones and acute cholecystitis to rare neoplastic lesions. While asymptomatic gallstones usually require no intervention, cholecystectomy is indicated in symptomatic and complicated cases. Laparoscopic cholecystectomy remains the safe and effective gold standard with low morbidity and mortality. Emerging approaches such as robot-assisted surgery have not demonstrated a reduction in complication rates. Accurate indication, timely referral, and the choice of the appropriate surgical technique are key to preventing severe complications and optimizing patient outcomes.
Keywords: Gallstones; Cholecystitis; Gallbladder polyp; Laparoscopic cholecystectomy; Surgery

Einleitung

Beschwerden der Gallenblase gehören zu den häufigsten Ursachen für Oberbauchschmerzen in der hausärztlichen Praxis. Die meisten Patient/-innen berichten über unspezifische Verdauungsbeschwerden, typische Koliken oder akute Schmerzattacken. Gallensteine betreffen bis zu 10–15 % der erwachsenen Bevölkerung in westlichen Ländern (1). Während viele Gallensteine stumm bleiben und keinen Handlungsbedarf erfordern, können symptomatische Steine oder entzündliche Komplikationen zu erheblichen Morbiditäten führen. Das frühzeitige Erkennen, differenzialdiagnostisches Abgrenzen und die richtige Weichenstellung zwischen konservativer Betreuung und zeitgerechter Überweisung sind wichtig.

Der Artikel bietet einen Überblick über die wichtigsten Erkrankungen der Gallenblase, beginnend bei steinbedingten Beschwerden, über entzündliche Prozesse bis hin zu seltenen neoplastischen Veränderungen. Im Anschluss werden die aktuellen chirurgischen Therapieoptionen diskutiert.

Cholezystolithiasis

Als Cholezystolithiasis wird die Ansammlung von Konkrementen in der Gallenblase bezeichnet. Ohne begleitende Symptomatik handelt es sich dabei nicht um ein Krankheitsbild im engeren Sinne.

Die meisten Personen mit Gallensteinen sind asymptomatisch. Bei diesen werden Gallensteine zufällig im Rahmen einer abdominalen Bildgebung entdeckt. Die Mehrheit der Patienten mit inzidentellen Gallensteinen bleibt symptomlos. Patienten, die Symptome entwickeln, berichten typischerweise von Gallenkoliken. Nur selten manifestieren sich Komplikationen einer Cholezystolithiasis ohne vorausgegangene Episoden von Gallenkoliken.

Die Gallenkolik zeigt sich typischerweise als starkes, dumpfes Druckgefühl im rechten Oberbauch oder Epigastrium, seltener retrosternal, mit Ausstrahlung in den Rücken bzw. unter das rechte Schulterblatt (2–4). Begleitsymptome sind häufig Übelkeit, Erbrechen und Schwitzen. Trotz der Bezeichnung ist der Schmerz meist konstant und nicht wellenförmig. Patienten mit Gallenkoliken bei unkomplizierter Gallensteinerkrankung wirken meist nicht krank und haben weder Fieber noch Tachykardie. Laborwerte (Blutbild, Aminotransferasen, Bilirubin, alkalische Phosphatase, Amylase und Lipase) sind normal.

Häufig tritt er nach fettreichen Mahlzeiten auf, da die Kontraktion der Gallenblase den Schmerz auslösen kann. Ein klarer Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme besteht jedoch nicht immer, und viele Anfälle ereignen sich nachts (5, 6). Bewegung, Hocken, Stuhlgang oder Winde beeinflussen die Schmerzen nicht (7).

Eine Attacke dauert in der Regel mindestens 30 Minuten, erreicht innerhalb einer Stunde ihr Maximum und klingt dann langsam ab, insgesamt meist nach weniger als sechs Stunden (2). Ursache ist eine Kontraktion der Gallenblase, die einen Stein oder Sludge gegen den Ductus cysticus drückt und so den intravesikalen Druck erhöht. Mit der Entspannung der Gallenblase rutscht das Konkrement oft zurück, und die Beschwerden lassen allmählich nach. Am deutlichsten mit dem Vorliegen von Gallensteinen verbunden sind drei Symptome: Gallenkoliken, Schmerzen mit Ausstrahlung sowie die Einnahme von Schmerzmitteln (8).

Die Häufigkeit wiederkehrender Attacken variiert stark und kann von Stunden bis zu mehreren Jahren reichen; tägliche Beschwerden sind jedoch selten (7). Tritt einmal eine Symptomatik auf, ist ein Wiederauftreten sehr wahrscheinlich, und zugleich steigt das Risiko für Komplikationen (9, 10). In einer Studie mit 305 Patient/-innen mit Gallensteinen berichteten 70 % derjenigen, die bereits Gallenkoliken gehabt hatten, innerhalb von zwei Jahren erneut über Symptome (10).

Bisher wurden keine randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) durchgeführt, die den Nutzen einer Cholezystektomie bei asymptomatischen Patient/-innen belegen. Die jährliche Inzidenz von Komplikationen wie akuter Cholezystitis, akuter Pankreatitis, obstruktivem Ikterus oder Cholangitis liegt bei 0,1–0,3 % (11, 9). Zudem sind die Kosten bei asymptomatischen Gallensteinen geringer, wenn man das Auftreten von Symptomen oder Komplikationen abwartet, anstatt eine prophylaktische Cholezystektomie durchzuführen. Auch Diabetiker benötigen keine prophylaktische Therapie (12). Bei Patient/-innen mit symptomatischer Cholezystolithiasis wird in der Regel eine Cholezystektomie empfohlen. Hintergrund ist, dass etwa die Hälfte der Betroffenen nach der ersten Episode erneut Gallenkoliken entwickelt, wodurch die Krankheitslast deutlich zunimmt. Zudem besteht ein relevantes Risiko für schwerwiegende Komplikationen, darunter akute Cholezystitis, biliäre Pankreatitis, obstruktiver Ikterus und Cholangitis. Dieses Risiko wird in der Literatur mit etwa 0,5–3 % pro Jahr angegeben (11, 9, 13, 14), sodass die operative Entfernung der Gallenblase als kurative und komplikationsvermeidende Massnahme gilt.

Als mögliche Alternativen zur Operation kommen die Auflösung von Gallensteinen mit Ursodesoxycholsäure (UDCA) sowie die extrakorporale Stosswellenlithotripsie (ESWL) in Betracht. Diese Verfahren werden jedoch nicht empfohlen, da sie nur eine geringe Erfolgsrate aufweisen, mit einer hohen Rückfallquote verbunden sind und weder Symptome noch Komplikationen nach der Behandlung zuverlässig verhindern können.

Cholezystitis

Die akute Cholezystitis entsteht in der Regel durch eine Verlegung des Ductus cysticus, meist verursacht durch Gallensteine, seltener durch Sludge (15). Entscheidend für das Fortschreiten der Erkrankung und den Schweregrad der Entzündung sind Dauer und Ausmass der Obstruktion. Durch den Verschluss steigt der intraluminale Druck in der Gallenblase an, was zusammen mit cholesterinreicher Galle eine akute Entzündungsreaktion auslöst. In etwa 20 % der Fälle kommt es zusätzlich zu einer bakteriellen Superinfektion, vor allem mit enterischen Keimen wie Escherichia coli, Klebsiella oder Streptococcus faecalis (16). Die akute Cholezystitis verläuft nach einer Obstruktion des Ductus cysticus typischerweise in drei Phasen (4). In der ersten Phase, die etwa zwei bis vier Tage nach Symptombeginn auftritt, kommt es zu einer entzündlichen Reaktion mit Stauung und Ödem der Gallenblasenwand. In der zweiten Phase, meist nach drei bis fünf Tagen, können Hämorrhagien und Nekrosen der Gallenblasenwand entstehen, die im schlimmsten Fall zu einer Perforation im Bereich ischämischer Gangrän und zu einer biliären Peritonitis führen. Ab dem sechsten Tag entwickelt sich schliesslich die dritte Phase, die als chronisch-eitrig bezeichnet wird. Sie ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Leukozyteninfiltration, nekrotisches Gewebe, eitrige Einschmelzung sowie die Ansammlung von intraluminalem Eiter mit manifester Infektion.

Bei der körperlichen Untersuchung zeigen 95,7 % der Patient/-innen eine Druckschmerzhaftigkeit im rechten Oberbauch, verbunden mit Zeichen einer lokalisierten Peritonitis (17). Das Murphy-Zeichen, Abbruch der Inspiration bei Palpation des rechten Oberbauchs aufgrund von Schmerzen, gilt als pathognomonisch für die akute Cholezystitis. Die Sensitivität des Murphy-Zeichens beträgt 62 %, die Spezifität 96 % (18). Typischerweise liegt zudem eine Leukozytose mit Linksverschiebung vor.

Die Sonographie ist das bildgebende Verfahren der ersten Wahl bei Verdacht auf eine akute Cholezystitis. Hier zeigen sich typischerweise Flüssigkeitsansammlungen um die Gallenblase, eine Dilatation der Gallenblase, eine ödematöse Gallenblasenwand sowie, falls vorhanden, Gallensteine oder Sludge. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2012 mit knapp 6000 Patient/-innen mit akuter Cholezystitis ergab für die Sonographie eine Sensitivität von 81 % und eine Spezifität von 80 %. Die Computertomographie ist bei der Diagnose der akuten Cholezystitis sehr ­empfindlich (Sensitivität ca. 94 %), jedoch weniger zuverlässig in der Abgrenzung gegenüber anderen Ursachen (Spezifität ca. 59 %) (19). Die Magnetresonanz-Cholangiopankreatikographie (MRCP) ermöglicht den Ausschluss einer begleitenden Choledocholithiasis im Rahmen einer Cholezystitis und kann dadurch zur Planung des therapeutischen Vorgehens beitragen (20).

Die Standardtherapie der akuten Cholezystitis ist die laparoskopische Cholezystektomie (21). Bei geeigneten chirurgischen Kandidaten sollte die Cholezystektomie so früh wie möglich während des Spitalaufenthalts durchgeführt werden. Der Autor dieses Artikels bevorzugt es, die Operation innerhalb der ersten 2 Tage vorzunehmen. Eine frühe Operation ist leichter durchzuführen, da die lokale Entzündung nach 72 Stunden ab dem Beginn der Symptome zunimmt. Dies erschwert die Präzision der Dissektion, erhöht die Schwere möglicher chirurgischer Komplikationen und macht eine Konversion zur offenen Operation wahrscheinlicher. In einer offenen, randomisierten klinischen Studie aus dem Jahr 2013 (n = 618) wurden Patient/-innen mit akuter Cholezystitis verglichen, die entweder innerhalb von 24 Stunden nach Aufnahme operiert wurden, oder zunächst eine antibiotische Therapie erhielten und erst nach 7 bis 45 Tagen einer Cholezystektomie unterzogen wurden. Die Studie zeigte eine deutlich geringere Häufigkeit postoperativer Komplikationen innerhalb der ersten 75 Tage in der Gruppe mit früher Cholezystektomie (11.8 % bei Operation innerhalb von 24 Stunden vs. 34.4 % bei Operation nach 7–45 Tagen). Zudem war die frühe Cholezystektomie mit einem kürzeren durchschnittlichen Spitalaufenthalt (5.4 Tage vs. 10.0 Tage) sowie über 30% niedrigeren Gesamtkosten verbunden.

Bei Patienten mit komplizierter Cholezystitis sind Breitspektrumantibiotika erforderlich. Nach Beginn der Therapie sollte die antibiotische Behandlung so lange fortgesetzt werden, bis entweder die Gallenblase entfernt ist oder sich die Cholezystitis klinisch zurückgebildet hat. Die Häufigkeit von Gallenblasenempyem und pericholezystischem Abszess ist insgesamt gering, jedoch können Patienten selbst aus einer unkomplizierten akuten Cholezystitis leicht eine lebensbedrohliche gramnegative Sepsis entwickeln. Daher werden Antibiotika häufig prophylaktisch verabreicht, um vor Sepsis und Wundinfektionen zu schützen (22). Ob Antibiotika für die Behandlung einer unkomplizierten akuten Cholezystitis erforderlich sind bleibt unklar (23–26).

Eine Drainage der Gallenblase in Kombination mit Antibiotika ist die Therapie der Wahl bei Patienten, die kritisch krank, septisch und initial nicht operabel sind (27–31). Darüber hinaus wird die Drainage auch bei Patienten empfohlen, die konservativ behandelt werden und trotz antibiotischer Therapie nach ein bis drei Tagen entweder eine Krankheitsprogression zeigen oder keine ausreichende klinische Besserung erfahren. Die Gallenblasen-Drainage führt zur Entlastung von infizierter Galle oder Eiter und ermöglicht die Rückbildung lokaler Entzündung sowie systemischer Krankheitszeichen. Dadurch kann die Cholezystektomie zu einem späteren Zeitpunkt mit geringerem Risiko erfolgen. Bevorzugt wird die perkutan-transhepatische Drainage aufgrund ihrer Einfachheit, Sicherheit und geringeren Kosten (32).

Die Mortalität einer einzelnen Episode einer akuten Cholezystitis hängt vom Allgemeinzustand und dem Operationsrisiko des Patienten ab. Insgesamt beträgt die Mortalität etwa 3 %, liegt jedoch bei jungen, sonst gesunden Patienten unter 1 % und erreicht bei Hochrisikopatienten oder bei Auftreten von Komplikationen bis zu 10 % (33, 34).

Tumoren der Gallenblase

Gallenblasenpolypen treten in der Allgemeinbevölkerung bei etwa 1–7 % auf (35–37), wobei Adenome als prämaligne Läsionen weniger als 5 % der Polypen ausmachen (38). Ab einer Grösse von 1 cm steigt das Risiko für Adenome oder Karzinome deutlich an, sodass in diesen Fällen eine Cholezystektomie empfohlen wird. Bei asymptomatischen Polypen zwischen 6 und 10 mm ist der Nutzen einer vorbeugenden Operation jedoch unklar, da die meisten dieser Polypen einen gutartigen Verlauf zeigen, auch wenn in seltenen Fällen maligne Veränderungen bereits bei kleineren Polypen unter 1 cm auftreten können (39). Zur genaueren Beurteilung, insbesondere in dieser Grössen­klasse, ist die Endosonographie der transabdominellen Sonographie überlegen.

Eine besondere Situation stellen Patienten mit primär sklerosierender Cholangitis (PSC) dar: Hier sind Gallenblasenläsionen häufig bösartig, weshalb bereits bei Polypen unter 1 cm eine Cholezystektomie angeraten wird (40, 41). Sehr grosse Polypen über 18–20 mm weisen ein erhebliches Malignitätsrisiko auf, sodass in diesen Fällen in der Regel eine offene Cholezystektomie empfohlen wird.

Für Polypen von 6–10 mm, die nicht entfernt werden, gilt ein engmaschiges Ultraschall- oder Endosonographie-Intervall, zunächst alle drei bis sechs Monate, später jährlich, sofern keine Grössenzunahme auftritt (37, 42, 35). Asymptomatische Polypen von höchstens 5 mm müssen in der Regel nicht weiter kontrolliert werden. Zur Unterscheidung von Gallensteinen kann die Lageveränderung des Patienten hilfreich sein, multiple kleine Polypen sprechen eher für Cholesterinpolypen, und mittels Farbduplexsonographie lassen sich in manchen Fällen Gefässstrukturen erkennen, die für Adenome typisch sind (43).

Ein Gallenblasenkarzinom, welches insgesamt eine sehr schlechte Prognose hat, wird entweder vor einer Operation, während des Eingriffs, meist im Rahmen einer Exploration bei zunächst anderweitig vermuteter Ursache abdomineller Beschwerden, oder erst nach der Operation anhand der histologischen Untersuchung des entnommenen Gallenblasenpräparats festgestellt. Nach aktuellen Serien gelingt die Diagnose nur in rund der Hälfte der Fälle bereits präoperativ (44). In sehr frühen Stadien des Gallenblasenkarzinoms (Tis, T1a) ist eine einfache Cholezystektomie ausreichend und führt in der Regel zur Heilung. Bei höheren Tumorstadien wird hingegen eine erweiterte Cholezystektomie empfohlen, bei der die Gallenblase zusammen mit einem mindestens 2 cm breiten Saum des angrenzenden Lebergewebes im Bereich des Gallenblasenbetts entfernt wird. Je nach Tumorsitz (Fundus, Korpus oder Hals) kann zusätzlich eine zentrale Leberresektion der Segmente IVb und V sinnvoll sein (45). Fernmetastasen sowie eine Peritonealkarzinomatose sind absolute Kontraindikation für eine Resektion. Die fünfjährige Überlebensrate beim Gallenblasenkarzinom liegt insgesamt bei nur rund 20 %. In Krankheitsstadien, die über T1N0 hinausgehen, sind die Langzeitergebnisse deutlich schlechter (46).

Chirurgische Aspekte

In der Schweiz wurden im Jahr 2023 laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium rund 18 000 Cholezystektomien durchgeführt. Die laparoskopische Cholezystektomie gilt insgesamt als sicheres und effektives Verfahren, bei dem sich die meisten Patient/-innen rasch und ohne Komplikationen erholen. Die prospektive, internationale AMBROSE-Studie untersuchte kürzlich über 21 000 Cholezystektomien aus 57 Ländern und berichtete eine 30-Tage-Komplikationsrate von 8 % sowie eine Mortalität von 0.4 %. Gallengangsverletzungen traten in 1.3 % (Leckagen) bzw. 0.2 % (schwere Verletzungen) der Fälle auf. Alter, Komorbiditäten, Operationssetting, chirurgischer Ansatz und intraoperative Schwierigkeit erwiesen sich als die stärksten Prädiktoren für postoperative Komplikationen (47) (Abb. 1). Ein Vorteil in Form einer reduzierten Komplikationsrate konnte für den Einsatz der roboterassistierten Chirurgie bisher nicht nachgewiesen werden, im Gegenteil, es wird sogar über erhöhte Komplikationsraten berichtet (48, 49).

Im deutschsprachigen Raum wird die elektive laparoskopische Cholezystektomie bei sorgfältig ausgewählten Patient/-innen in der S3-Leitlinie als ambulante Option mit hoher Evidenzstufe empfohlen (50). In der Schweiz findet diese Praxis bislang jedoch kaum Anwendung, was in erster Linie auf tarifäre und weniger auf medizinische Gründe zurückzuführen ist.

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Olivier de Rougemont

Chirurgie de Rougemont
Römerhofplatz 5
8032 Zürich

olivier.derougemont@usz.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Gallenblasenerkrankungen reichen von häufigen, meist asymptomatischen Steinen bis hin zu akuten Entzündungen und seltenen Neoplasien.
  • Symptomatische Cholezystolithiasis und Cholezystitis stellen die Hauptindikationen zur Cholezystektomie dar.
  • Die laparoskopische Cholezystektomie ist das sichere und effektive Standardverfahren mit niedriger Morbidität und Mortalität.
  • Eine sorgfältige Indikationsstellung und rechtzeitige Überweisung sind entscheidend zur Vermeidung schwerwiegender Komplikationen.

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Morbus Osler Diagnose und Behandlung

Morbus Osler (hereditäre hämorrhagische Teleangiektasie, HHT) ist eine seltene, autosomal-dominant vererbte Multisystemerkrankung mit einer Prävalenz von etwa 1 : 5000 bis 1 : 8000. Charakteristisch sind wiederkehrende, spontane Blutungen (vor allem Epistaxis), mukokutane Teleangiektasien sowie arteriovenöse Malformationen (AVMs) in Organen wie Lunge, Leber, Gehirn und dem Gastrointestinaltrakt. Die Diagnose basiert auf den klinischen Curaçao-Kriterien und wird durch genetische Analysen (ENG, ACVRL1, SMAD4) gesichert. Das Erkrankungsbild ist heterogen und reicht von milden Verläufen bis zu schwerwiegenden Komplikationen wie Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder chronischer Blutungsanämie. Die Therapie umfasst symptomorientierte lokale Massnahmen sowie moderne systemische Ansätze, beispielsweise mit Bevacizumab oder Pomalidomid. Um Komplikationen frühzeitig zu erkennen und die Prognose zu verbessern, ist eine lebenslange, interdisziplinäre Betreuung der Patienten erforderlich.

Hereditary hemorrhagic telangiectasia (HHT, Osler’s disease) is a rare autosomal-dominant multisystem disorder with a prevalence of approximately 1 : 5000 to 1 : 8000. The disease is characterized by recurrent, spontaneous bleeding (most commonly epistaxis), mucocutaneous telangiectasias, and arteriovenous malformations (AVMs) in organs such as the lungs, liver, brain, and gastrointestinal tract. Diagnosis is based on the clinical Curaçao criteria and confirmed by genetic analysis (ENG, ACVRL1, SMAD4). The clinical spectrum is highly variable, ranging from mild manifestations to severe complications such as stroke, heart failure, or chronic anemia due to bleeding. Treatment includes local symptomatic measures as well as novel systemic approaches, for example with bevacizumab or pomalidomide. Lifelong, interdisciplinary management is essential to enable early detection of complications and to improve long-term prognosis for patients.
Keywords: Hereditary hemorrhagic telangiectasia, arteriovenous malformation, epistaxis

Einleitung und Übersicht

Die Pathophysiologie des Morbus Osler beruht auf einer gestörten Angiogenese mit Ausbildung fragiler Gefässverbindungen (1). Verursacht wird sie überwiegend durch Mutationen in den Genen ENG und ACVRL1 sowie seltener in SMAD4 (2-4). Diese Gene codieren für zentrale Komponenten des TGF-β-Signalwegs, der eine Schlüsselrolle bei der Gefässentwicklung und -stabilität spielt (5-8). Eine gestörte Signalübertragung im TGF-β/BMP-Signalweg führt zu einer Überaktivität des vaskulären endo-thelialen Wachstumsfaktors (VEGF), wodurch Teleangiektasien und arteriovenöse Malformationen (AVMs) in verschiedenen Organen wie Lunge oder Leber entstehen (1, 5, 6). Trotz hoher Penetranz zeigt die Erkrankung ein breites Spektrum klinischer Ausprägungen. Die Diagnose stützt sich auf die Curaçao‑Kriterien und wird durch bildgebende sowie molekulargenetische Untersuchungen ergänzt (9–12). Diese ermöglichen eine präzise genetische Klassifikation und sind essenziell für die familiären Abklärungen und das individuelle Risikomanagement.

Diagnostik des Morbus Osler

Bei der Diagnose von Morbus Osler sollten bereits in der Anamnese und bei der körperlichen Untersuchung typische Manifestationen systematisch erfasst werden. Hierzu zählen rezidivierendes, oft spontan auftretendes Nasenbluten (Epistaxis), Teleangiektasien der Haut und Schleimhäute (v. a. an Lippen, Zunge, Fingerkuppen) sowie Hinweise auf viszerale arteriovenöse Malformationen (AVMs).
Die klinische Präsentation dieser AVMs variiert je nach betroffenem Organ: pulmonale AVMs können sich durch Dyspnoe, Zyanose oder paradoxe Embolien äussern; zerebrale AVMs durch Kopfschmerzen, epileptische Anfälle oder hämorrhagische Insulte; hepatische AVMs durch Zeichen einer High‑Output‑Herzinsuffizienz oder einer Leberfunktionsstörung (13–15).

Obwohl erste Symptome häufig schon in der Kindheit auftreten, wird die Diagnose in vielen Fällen erst verzögert gestellt – in Studien mitteleuropäischer Kohorten lag die mittlere Zeit zwischen Symptombeginn bis zur Diagnosestellung bei etwa 15 Jahren (16).

Eine strukturierte Abklärung ist vor allem bei Patienten mit unklaren Anämien, ausgeprägter Epistaxis oder positiver Familienanamnese indiziert. Grundlage der klinischen Beurteilung sind die Curaçao‑Kriterien (10). Diese umfassen vier Hauptmerkmale: spontane und rezidivierende Epistaxis, multiple Teleangiektasien an typischen Stellen, viszerale AVMs sowie eine positive Familienanam-nese bei einem Verwandten ersten Grades. Die Diagnose gilt als gesichert, wenn mindestens drei Kriterien erfüllt sind; bei zwei Kriterien ist sie möglich, bei weniger als zwei unwahrscheinlich.
Zur Abklärung viszeraler AVMs werden organspezifische bildgebende Verfahren wie Transthorakale Kontrast-Echokardiographie (TTCE), Magnetresonanz-Tomographie (MRT) oder Sonographie eingesetzt (12, 13, 17); weiterführende Einzelheiten hierzu sind im Abschnitt zum Screening dargestellt.

Die molekulargenetische Untersuchung ist zentral für die Diagnosesicherung und das Familienscreening. Bei der Mehrzahl der Betroffenen lassen sich Mutationen in den Genen ENG, ACVRL1 und seltener SMAD4 nachweisen (2–4). Der Nachweis einer krankheitsverursachenden Variante ermöglicht eine eindeutige molekulare Klassifikation und eine gezielte prädiktive Testung von Angehörigen ersten Grades. In Einzelfällen kann eine genetische Analyse bereits bei unklarer klinischer Präsentation entscheidend sein, etwa bei Kindern vor Auftreten der typischen Symptome oder bei isolierten Organmanifestationen.

Genetische Varianten und neue Klassifikation bei Morbus Osler

Die genetische Heterogenität bei Morbus Osler ist ausgeprägt, da mehrere Gene an der Krankheitsentstehung beteiligt sein können. Dennoch entfallen etwa 85–90 % aller Fälle auf Mutationen in ENG und ACVRL1 (2, 3). Auf dieser Grundlage wurde eine erweiterte molekulare Klassifikation vorgeschlagen, die dabei helfen soll, unterschiedliche klinische Schwerpunkte besser einzuordnen und ein gezielteres Screening vornehmen zu können (11, 12). Die bekannten Subtypen sowie ihre typischen Organmanifestationen sind in Tabelle 1 zusammengefasst und werden nachfolgend näher erläutert.

HHT Typ 1 (ENG‑assoziiert)

Mutationen im ENG‑Gen (Endoglin) sind für etwa 40–50 % aller Erkrankungen von Morbus Osler verantwortlich (2,7). Endoglin kodiert für einen endothelialen Co-Rezeptor im TGF‑β‑Signalweg, der für eine stabile Gefässentwicklung und -reifung essenziell ist. Defekte in diesem Gen führen zu einer gestörten Signalübertragung und resultieren in einer inadäquaten Angiogenese mit erhöhter Gefässfragilität. HHT1 ist oft mit einem frühen Krankheitsbeginn verbunden. Typisch sind eine ausgeprägte Epistaxis und ein erhöhtes Risiko für pulmonale AVMs (PAVMs) und zerebrale AVMs (CAVMs). Studien zeigen, dass über 50 % der ENG‑Mutationsträger PAVMs entwickeln (1, 19). Aufgrund der hohen Penetranz wird bei Nachweis einer ENG‑Mutation ein regelmässiges Screening von Lunge und Gehirn empfohlen, auch bei asymptomatischen Patienten (12, 17).

HHT Typ 2 (ACVRL1‑assoziiert)

HHT Typ 2 beruht auf Mutationen im ACVRL1‑Gen, einem Serin/Threonin‑Kinase‑Rezeptor im TGF‑β‑Signalweg (3). Diese führen zu einer verminderten Kinaseaktivität und somit zu einer gestörten Signalübertragung. Klinisch manifestiert sich HHT2 häufiger mit hepatischen AVMs (HAVMs), die zu High‑Output‑Herzinsuffizienz oder biliären Komplikationen führen können (15, 20). Im Vergleich zu HHT1 treten die Symptome oft später auf und das Risiko für zerebrale AVMs scheint geringer zu sein. Aufgrund der Leberbeteiligung wird ein gezieltes Leber‑Screening (Sonografie und ggf. MRT) empfohlen (18).

JP‑HHT (SMAD4‑assoziiert)

Mutationen im SMAD4‑Gen verursachen eine seltene Sonderform der HHT, die als Juvenile‑Polyposis‑HHT‑Overlap‑Syndrom (JP‑HHT) bezeichnet wird. Diese Patienten erfüllen nicht nur die klassischen Kriterien der hereditären hämorrhagischen Teleangiektasie, sondern zeigen zusätzlich klinische Merkmale einer juvenilen Polyposis (4, 21). SMAD4 kodiert für ein intrazelluläres Signalmolekül des TGF‑β/BMP‑Signalwegs, das als Transkriptionsfaktor die Regulation der Gefässreifung und die Homöostase epithelialer Gewebe steuert (8). Neben den für Morbus Osler typischen Teleangiektasien und AVMs in Lunge, Leber und Gehirn treten bei SMAD4‑Mutationsträgern multiple juvenile Polypen im Gastrointestinaltrakt auf. Diese Polypen verursachen häufig bereits im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter chronische Blutungen und Eisenmangelanämie und erhöhen langfristig das Risiko für gastrointestinale Malignome (12, 22). Daher werden neben dem Screening auf AVMs auch regelmässige Koloskopien empfohlen, um Polypen rechtzeitig zu behandeln und Komplikationen zu vermeiden.

HHT Typ 4 (GDF2‑assoziiert)

Seltene pathogene Varianten im GDF2‑Gen (Growth Differentiation Factor 2, kodiert für BMP9) wurden in den letzten Jahren als weitere Ursache eines HHT‑ähnlichen Phänotyps identifiziert. BMP9 ist ein Ligand des ALK1‑Rezeptors und spielt eine zentrale Rolle im TGF‑β/BMP‑Signalweg, insbesondere bei der Regulation der Angiogenese und Gefässhomöostase (8). Die bisher bekannten Fälle zeigen eine variable Klinik. In publizierten Einzelfallberichten und Fallserien wurden insbesondere hepatische und pulmonale AVMs beschrieben, die sich klinisch durch Dyspnoe, Hypoxie oder Zeichen einer High‑Output‑Herzinsuffizienz äussern können (23). Bei klinischem Verdacht auf Morbus Osler, jedoch ohne Nachweis einer Mutation in ENG, ACVRL1 oder SMAD4, sollte eine erweiterte genetische Diagnostik auf das GDF2-Gen in spezialisierten Zentren erwogen werden (9, 12).

HHT Typ 5 (RASA1‑assoziiert)

HHT Typ 5 wird mit Mutationen im RASA1‑Gen assoziiert, das für einen Regulator des RAS/MAPK‑Signalwegs kodiert und dadurch die Gefässentwicklung beeinflusst. Klinisch zeigt sich meist ein CM‑AVM‑Syndrom (Capillary-Malformation–Arteriovenous-Malformation-Syndrom), das durch multiple kapilläre Hautmalformationen und teils symptomatische AVMs gekennzeichnet ist. Anders als bei HHT1 oder HHT2 ist die Organbeteiligung weniger vorhersehbar. Die Literatur beschreibt heterogene Phänotypen von asymptoma-tischen Hautveränderungen bis hin zu schwerwiegenden viszeralen AVMs (24,25).

Die genetische Diagnostik sollte stets im Zusammenhang mit der klinischen Phänotypisierung erfolgen. Eine alleinige genetische Analyse ohne klinischen Kontext birgt die Gefahr von Fehlinterpretationen, insbesondere bei Varianten unklarer Signifikanz (VUS). Zudem ist zu berücksichtigen, dass bei etwa einem Drittel der Familien keine vollständige Penetranz besteht und sporadische Mutationen, insbesondere bei SMAD4‑assoziierten Formen, auftreten können (4, 7, 9). Die molekulare Diagnostik ist inzwischen ein integraler Bestandteil des Managements von Morbus Osler, da sie eine differenzierte Risikoeinschätzung, die gezielte Prävention potenziell lebensbedrohlicher Komplikationen und eine fundierte Familienberatung ermöglicht. Mit der Weiterentwicklung genomischer Technologien ist zudem mit der Identifizierung weiterer Gene und Signalwegkomponenten zu rechnen, die zur Pathogenese der HHT beitragen (17, 23, 26).

Sekundäre Organschädigungen bei Morbus Osler

Nach der Diagnose eines Morbus Osler (HHT) ist eine systematische Abklärung potenzieller Organbeteiligungen unerlässlich, da die Erkrankung durch AVMs in verschiedenen Organsystemen gekennzeichnet ist. Die häufigsten Manifestationen betreffen die Lunge, das zentrale Nervensystem (ZNS), die Leber sowie den Gastrointestinaltrakt. Auch wenn diese Organbeteiligungen in vielen Fällen lange asymptomatisch sind, können sie jedoch zu erheblichen Morbiditäten führen. Daher ist ein strukturiertes und frühzeitiges Screening essenziell, idealerweise bereits bei klinischem Verdacht auf Morbus Osler oder Nachweis von spezifischen molekulargenetischen Veränderungen (12, 17).

Die in Abbildung 1 dargestellte Übersicht zeigt den aktuellen Standard der Versorgung in vielen auf Morbus Osler spezialisierten Zentren: Beginnend mit der Diagnosesicherung folgen standardisierte Untersuchungen zur Erfassung pulmonaler, zerebraler, hepatischer und gastrointestinaler Manifestationen. Je nach Befund sind die Verlaufskontrollen in definierten Intervallen vorgesehen. Im Folgenden werden die organspezifischen Aspekte näher erläutert.

Pulmonale AVMs (PAVMs)

PAVMs sind bei bis zu 50 % der Betroffenen nachweisbar und können zu relevanten Komplikationen wie zentraler Zyanose, Schlaganfällen durch paradoxe Embolien oder septischen Infarkten führen (20). Das empfohlene Screening erfolgt mittels transthorakaler Kontrast-Echokardio­graphie (TTCE) mit Bubble-Test, idealerweise bereits im Kindesalter (27). Bei positivem TTCE‑Befund wird eine kontrastverstärkte Thorax‑CT (Computertomographie) zur genauen Lokalisation und Grössenbeurteilung durchgeführt. PAVMs ab einem Durchmesser von 2–3 mm oder mit relevanter Rechts-Links-Shuntfunktion sollten embolisiert werden, um Komplikationen zu vermeiden. Nach erfolgreicher Therapie ist eine Nachkontrolle nach 12 Monaten indiziert, anschliessend in Fünfjahresintervallen oder bei Symptomen (28, 29). Ist die TTCE unauffällig, spricht dies zunächst gegen das Vorliegen relevanter PAVMs. Da jedoch neue Läsionen im Verlauf entstehen können, wird eine Reevaluation in regelmässigen Intervallen empfohlen, in der Regel alle fünf Jahre oder bei neu auftretenden Symptomen (12). Aufgrund des erhöhten Risikos für septische Embolien wird bei Patientinnen und Patienten mit nachgewiesenen PAVMs eine konsequente Infektprophylaxe entsprechend einer antibiotischen Endokarditisprophylaxe bei invasiven Eingriffen oder zahnärztlichen Behandlungen empfohlen (12, 13).

Zerebrale AVMs (CAVMs)

CAVMs treten in etwa 10–20 % der Fälle auf (30). Die Manifestationen reichen klinisch von asymptomatischen Befunden über Kopfschmerzen bis zu Krampfanfällen oder hämorrhagischen Insulten (14). Ein einmaliges Screening mittels MRT des Schädels (mit oder ohne Kontrastmittel) ist bei neu diagnostiziertem Morbus Osler empfohlen, bevorzugt im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter. Weitere Verlaufskontrollen erfolgen in der Regel nur bei neu aufgetretenen Symptomen oder Erstuntersuchung als Kind (12).

Hepatische AVMs (HAVMs)

HAVMs sind bei bis zu 70–80 % der erwachsenen M. Osler-Patienten nachweisbar, verlaufen aber häufig asymptomatisch (20). Sie können jedoch zu High-Output-Herzin­suffizienz, portaler Hypertension oder biliären Komplikationen füh­ren (15). Das Screening sollte mittels abdomineller Duplex‑Sonografie erfolgen, bei auffälligen Befunden oder klinischen Hinweisen ergänzt durch CT oder MRT (18). Eine prophylaktische Therapie ist nicht angezeigt, jedoch erfordert eine kardiale Belastung oder eine beginnende Leberfunktionsstörung engmaschige Überwachung (12).

Gastrointestinale Blutungen

Gastrointestinale Blutungen infolge von Teleangiektasien treten häufiger bei älteren M. Osler‑Patienten auf und führen oft zu chronischer Eisenmangelanämie. Bei therapieresistenter Anämie oder Verdacht auf okkulte Blutung ist eine obere und ggf. untere Endoskopie indiziert; bei Verdacht auf Dünndarmläsionen kann eine Kapselendoskopie hilfreich sein (22). In schweren Fällen kommen auch antiangiogenetische Therapien zum Einsatz, z. B. mit dem Anti-VEGF-Antikörper Bevacizumab (31).

Kardiale und vaskuläre Komplikationen

HAVMs und PAVMs können sekundäre kardiale Probleme verursachen, etwa chronische Hypoxie, High‑Output‑Herzversagen oder paradoxe Embolien (15,19). In Fällen mit pulmonalen oder hepatischen AVMs sollte daher eine echokardiographische Beurteilung des Herzens erfolgen. Bei nachgewiesenen Shunt‑bedingten Embolien ist eine kardiovaskuläre Sekundärprophylaxe in Erwägung zu ziehen (12).

Hämatologische Aspekte und Eisenmangelmanagement bei Morbus Osler

Insbesondere bei älteren Patientinnen und Patienten mit chronischer Eisenmangelanämie sind die Bestimmung der Eisenparameter, des Vitamin-B12- und Folsäurespiegels sowie ggf. weitere hämatologische Untersuchungen sinnvoll. Aufgrund häufiger gastrointestinaler Unverträglichkeiten können orale Eisenpräparate problematisch sein; in solchen Fällen bietet sich die parenterale Eisengabe als geeignete Alternative an. Der Hämoglobinzielwert sollte in der Regel über 100 g/l liegen, wobei Übertransfusionen zu vermeiden sind (12, 32).

Therapieoptionen bei Morbus Osler

Die Behandlung erfolgt bei Morbus Osler in erster Linie symptomorientiert und richtet sich nach den jeweils betroffenen Organen und der Schwere der Blutungsneigung. Neben der Kontrolle lokaler Blutungen spielt die Prävention von Komplikationen durch AVMs eine zentrale Rolle. Ein interdisziplinäres Vorgehen ist dabei essenziell, das HNO‑Medizin, Radiologie, Gastroenterologie, Kardiologie, Hepatologie und klinische Genetik umfasst (11, 12).

Epistaxis-Management

Nasenbluten ist das häufigste Symptom bei Morbus Osler und kann wesentlich zur Entwicklung einer Eisenmangelanämie beitragen. Die Leitlinien empfehlen ein stufenweises Vorgehen. Basismassnahmen umfassen die regelmässige Befeuchtung der Nasenschleimhaut sowie die Anwendung von pflegenden Nasensalben und Spülungen. Bei persistierender Epistaxis kommen interventionelle Verfahren wie Laserkoagulation (z. B. KTP‑ oder Nd:YAG‑Laser) oder Radiofrequenzablation zum Einsatz, die in Studien die Blutungsfrequenz signifikant reduzieren (33). Laserbehandlungen sind auch für Hautveränderungen möglich. Zusätzlich können in therapierefraktären Fällen topische Antiangiogenetika wie intranasales Bevacizumab eingesetzt werden (34). Bei besonders schweren Verlaufsformen werden chirurgische Massnahmen wie die Septodermoplastik oder als ultima ratio der permanente Verschluss der Nase (Young‑Operation) erwogen (35).

Systemische Therapien

Bei ausgeprägter oder transfusionspflichtiger Blutungsneigung werden zunehmend systemische Therapien eingesetzt. Bevacizumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen VEGF-A, der das VEGF-Signaling in den Endothelzellen blockiert. Dadurch werden Gefässneubildung, Endothel-Proliferation, Migration und Gefässpermeabilität gehemmt. Die intravenöse Applikation von Bevacizumab konnte in mehreren Studien die Häufigkeit von Blutungen reduzieren, den Transfusionsbedarf senken und bei hepatischen AVMs Symptome eines High‑Output‑Herzversagens verbessern (36). Neuere Studien zeigen zudem vielversprechende Ergebnisse für Pomalidomid, ein Thalidomid-Derivat mit antiangiogenetischem Effekt. In randomisierten Studien konnte Pomalidomid nicht nur die Zahl transfusionspflichtiger Blutungen deutlich reduzieren, sondern auch die Schwere der Epistaxis signifikant senken und die Lebensqualität der Patienten verbessern. Anzumerken ist die orale Applikation von Pomalidomid, die in den bisherigen Studien mit einer guten Verträglichkeit assoziiert war. Diese Eigenschaften unterstreichen das Potenzial des Wirkstoffs als vielversprechende Ergänzung im therapeutischen Management schwerer, therapierefraktärer Blutungen bei Morbus Osler (37–39). Die Anwendung solcher Therapien erfolgt off label nach Einholung einer Kostengut­sprache und die Indikation sollte in erfahrenen Zentren gestellt werden.

Schwangerschaft bei Morbus Osler

Schwangerschaft stellt für Patientinnen mit Morbus Osler eine besondere Situation dar, da die physiologische hämodynamische Mehrbelastung zu einer Destabilisierung bestehender AVMs führen kann. Vor einer geplanten Schwangerschaft wird daher ein Screening auf pulmonale und zerebrale AVMs mit anschliessender Behandlung relevanter Befunde empfohlen, um das Risiko maternaler und fetaler Komplikationen zu senken (40, 41). Während der Schwangerschaft sollten Patientinnen in einem erfahrenen Zentrum interdisziplinär betreut werden. In ausgewählten Situationen kann eine Embolisation von AVMs auch im zweiten Trimenon durchgeführt werden, sofern der erwartete Nutzen für die Mutter das Eingriffsrisiko überwiegt (12).

Dieser Artikel wurde gemeinsam mit MUDr. Philippe Wöllenstein erstellt.

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

Dipl. Ärztin Christina Jagdfeld

Rare disease Sprechstunde, Klinik
und Poliklinik für Innere Medizin
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Dr. med. Viktor Martos

Rare disease Sprechstunde, Klinik
und Poliklinik für Innere Medizin
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Prof. Dr. med. Florence Vallelian

Rare disease Sprechstunde
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Die Autorenschaft hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Morbus Osler (HHT) ist eine genetisch heterogene Erkrankung mit Mutationen in ENG, ACVRL1, SMAD4 und seltener GDF2 oder RASA1, die zu Teleangiektasien und AVMs in mehreren Organen führt. Die Diagnose stützt sich auf die Curaçao‑Kriterien und wird durch genetische Analysen bestätigt.
  • Pulmonale, zerebrale und hepatische AVMs können lebensbedrohlich sein, daher sind strukturierte und regelmässige Screenings essenziell.
  • Epistaxis ist das häufigste Symptom; bei therapierefraktären Blutungen können Bevacizumab oder Pomalidomid den Transfusionsbedarf senken und die Lebensqualität verbessern.
  • Frauen mit Morbus Osler sollten vor einer geplanten ­Schwangerschaft auf AVMs untersucht und während der Schwangerschaft interdisziplinär betreut werden.

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Chronische Diarrhoe in der Hausarztpraxis – Differenzialdiagnosen, Abklärung und sinnvolle Tests

Im Rahmen des diesjährigen Herbstkongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), der in den OLMA-Hallen in St. Gallen stattfand, präsentierte Dr. med. Irina Bergamin (Health Ostschweiz) im Rahmen der Klinischen Fortbildungstage (KlinFor) einen praxisnahen Überblick zur Abklärung der chronischen Diarrhoe in der Hausarztpraxis. Der von der SGAIM in Zusammenarbeit mit Health Ostschweiz organisierten Veranstaltung lag der Fokus auf klinisch relevanten Themen für die Grundversorgung mit kurzen, fokussierten Sessions, Fallbeispielen und konkreten diagnostischen Handlungsempfehlungen. Der folgende Bericht fasst die wichtigsten Inhalte ihres Vortrags zusammen.

Chronische Diarrhoe gehört zu den häufigsten gastroenterologischen Symptomen in der Hausarztpraxis. Laut Dr. med. Irina Bergamin bleibt die Abklärung oft eine Herausforderung: Die Ursachen sind vielfältig, die verfügbaren Tests zahlreich, die Therapie oft frustrierend und belastbare Evidenz rar.

Breite Differenzialdiagnose erfordert systematisches Vorgehen

Chronische Diarrhoe liegt definitionsgemäss vor, wenn der Patient während mehr als drei Wochen täglich mehr als drei Stuhlgänge vom Typ 5 bis 7 auf der Bristol Stool Form Scale oder über 250 Gramm Stuhlgewicht hat. Die Prävalenz schwankt je nach Studie zwischen 7 und 14 Prozent.
Dr. Bergamin erinnerte daran, dass Diarrhoe kein Krankheitsbild, sondern ein Symptom ist. Eine sinnvolle Klassifikation erfolgt nach Pathophysiologie:
– sekretorisch, z. B. bei endokrinen Tumoren oder mikro­skopischer Kolitis,
– osmotisch, etwa bei Laktoseintoleranz oder Zöliakie,
– entzündlich, z. B. bei Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder infektiösen Ursachen,
– motilitätsbedingt, etwa bei Hyperthyreose, diabetischer Neuropathie oder nach Darmoperationen.

Fallbeispiel 1: 61-jährige Patientin mit chronischer Diarrhoe

Eine 61-jährige Frau stellte sich mit seit sechs Monaten bestehenden wässrigen Stühlen vor, etwa sieben Entleerungen pro Tag. Sie hatte keinen Gewichtsverlust, keine Schmerzen, kein Blut oder Schleim im Stuhl.
Laborchemisch zeigten sich unauffällige Hämatologie und Blutchemie, der klinische Status war bland, und sie nahm keine regelmässige Medikation. Die Anamnese war unergiebig.
Dr. Bergamin diskutierte im Anschluss:
– Welche Form der Diarrhoe liegt am wahrscheinlichsten vor?
– Welche weiteren Abklärungen sind indiziert?
– Welche Befunde sind zu erwarten?
– Ist eine gastroenterologische Überweisung erforderlich, und wenn ja, mit welchen Untersuchungen?
– Welche Therapieoptionen bestehen?
Dieses Beispiel verdeutlichte das strukturierte Vorgehen von der Anamnese über Basisdiagnostik (Stuhlanalyse, Calprotectin, Pankreas-Elastase) bis zur gezielten weiterführenden Abklärung.

Anamnese bleibt der Schlüssel

Die Anamnese liefert laut Bergamin «die halbe Diagnose». Entscheidend sind Dauer, Frequenz, Stuhlkonsistenz und Begleitsymptome. Medikamente (Antibiotika, PPI, Antidiabetika), künstlich gesüsste Produkte und Alkohol gehören zur Basisabklärung. Red Flags wie Gewichtsverlust, Blut im Stuhl, nächtliche Beschwerden oder veränderte Symptomatik erfordern sofortige weiterführende Diagnostik. Bei älteren Patientinnen und Patienten sind Pseudodiarrhoe, Medikamentennebenwirkungen und Clostridien-Infektionen zu bedenken, bei jüngeren eher Intoleranzen oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.

Schrittweise Diagnostik in der Praxis

In der Praxis stehen Hausärztinnen und Hausärzten mehrere Untersuchungen zur Verfügung, bevor eine Überweisung notwendig wird. Wichtige erste Schritte sind:
– Stuhlanalyse auf Bakterien und Parasiten
– Calprotectin zur Entzündungsabklärung
– Pankreas-Elastase zur Beurteilung der exokrinen Funktion
– Fasting-Test zur Unterscheidung zwischen sekretorischer (Symptome persistieren) und osmotischer Diarrhoe (Symptome sistieren während 48 Stunden Fasten).
Calprotectin ist stabil über mehrere Tage und eignet sich als nichtinvasiver Entzündungsmarker. Werte über 250 µg/g sprechen für eine intestinale Entzündung, jedoch kann bei Dünndarmerkrankungen eine Verdünnung zu falsch niedrigen Werten führen. Die Pankreas-Elastase liefert bei Werten unter 100 µg/g Hinweise auf eine schwere exokrine Insuffizienz, sollte aber nicht aus wässrigen Stuhlproben gemessen werden, da Verdünnung die Ergebnisse verfälscht.

«Test and Treat» – gezieltes Vorgehen statt teurer Diagnostik

Ein pragmatisches Vorgehen empfiehlt sich insbesondere bei unauffälligem Basislabor und fehlenden Red Flags. Probatorische Therapien – etwa Laktosekarenz, Anpassung der Ernährung, Absetzen potenziell auslösender Medikamente oder der Einsatz von Bile Acid Bindern – können wertvolle Hinweise liefern.
Bleibt die Symptomatik bestehen oder treten Alarmsymptome auf, folgen die bildgebenden und endoskopischen Untersuchungen:
– Gastroskopie mit Duodenalbiopsien zur Erfassung von Zöliakie oder Whipple-Krankheit,
– Koloskopie mit Biopsien bei Verdacht auf IBD, mikroskopische Kolitis oder Neoplasie,
– H₂-Atemtests bei Verdacht auf bakterielle Fehlbesiedelung, Laktose- oder Fruktoseintoleranz.

Take-Home-Botschaften

Dr. Bergamin schloss ihren Vortrag mit einem praxisnahen Algorithmus, der sich an den Symptomtypen (wässrig, fettig, blutig) orientiert.

Für die Hausarztpraxis gilt:
– Anamnese ist entscheidend.
– Red Flags verlangen rasches Handeln.
– Gezielte Tests vermeiden unnötige Kosten.
– Probatorische Therapie kann weiterhelfen.
– Bei fehlender Besserung oder Warnzeichen erfolgt die Überweisung zur Gastroenterologin.

Fazit

Die Abklärung chronischer Diarrhoe bleibt ein Balanceakt zwischen diagnostischem Aufwand und klinischem Nutzen. Ein strukturiertes, schrittweises Vorgehen mit Fokus auf Anamnese, Basistests und klar definierten Indikationen zur Überweisung erhöht die diagnostische Sicherheit und schont zugleich die Ressourcen von Patientinnen, Ärzten und Gesundheitssystem.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Sinnvolle Synkopen-Abklärung

Anhand mehrerer interaktiver Fallbeispiele zeigte Prof. Tobias Breidthardt, Chefarzt Innere Medizin am Luzerner Kantonsspital, am SGAIM-Herbstkongress, wie eine sinnvolle Abklärung von Synkopen erfolgen kann und in ­welchem Setting sie jeweils angezeigt ist (ambulant oder stationär).

Eine Synkope ist definiert als ein vorübergehender Bewusstseinsverlust infolge einer zerebralen Minderdurchblutung. Sie beginnt abrupt, dauert nur kurz und endet mit einer spontanen, vollständigen Erholung. Synkopen sind häufig (rund 2 % aller Notfallvorstellungen), aber diagnostisch herausfordernd: Sie treten anfallsartig auf, die Erinnerung der Betroffenen ist meist eingeschränkt, und oft fehlen Augenzeugen. Zudem können sie potenziell gefährlich sein. Rund 20 % haben eine kardiovaskuläre Ursache, innerhalb von 30 Tagen versterben 0,8 % Prozent der Betroffenen, während 6,9 % ein schwerwiegendes Ereignis wie einen Myokardinfarkt, eine Arrhythmie, eine Dissektion oder eine Lungenembolie erleiden.

Fallbeispiel 1: 92-jähriger Patient

Ein 92-jähriger Patient verlor auf dem Weg ins Bad kurzzeitig das Bewusstsein. Nach dem Erwachen am Boden konnte er sich mühsam ins Bett zurückziehen und löste dort den Notfallalarm aus. Bei Eintreffen der Sanität zeigte sich eine erneute, wenige Sekunden dauernde Synkope im Liegen, ausgelöst durch einen Würgereflex. Die Vitalwerte waren unauffällig, der Blutdruck lag bei 168/76 mmHg, der Puls bei 48/min, die Sauerstoffsättigung bei 97 %.

Die initiale Untersuchung ergab eine bradykarde, aber rhythmische Herzaktion ohne pathologische Herzgeräusche, keine pulmonalen Auffälligkeiten, ein weiches Abdomen und stabile Laborwerte. Nach 24 Stunden Telemetrie zeigte sich ein Sinusrhythmus mit AV-Block I und physiologischer nächtlicher Bradykardie. Da keine weiteren Ereignisse auftraten, wurde der Patient mit der Diagnose einer vasovagalen (Reflex-)Synkope entlassen. Innerhalb der folgenden zwölf Monate traten keine Rezidive auf.

Fallbeispiel 2: 65-jähriger Patient

Ein 65-jähriger, bislang gesunder Mann erlitt während der morgendlichen Rasur im Stehen eine Synkope mit Sturz und Kopfanprall. Eine Vorwarnung bestand nicht. Bei einem Check-up war zuvor eine leichtgradige Mitralinsuffizienz mit gehäuften ventrikulären Extrasystolen aufgefallen, eine Medikation bestand nicht. Etwa zwei Stunden später kam es im Sitzen erneut zu einem Synkopenereignis mit Übelkeit und Unwohlsein, das in eine Reanimation mündete.

Auf der Intensivstation zeigte das Echokardiogramm eine leichte Mitralinsuffizienz bei normaler Pumpfunktion. Die Diagnose einer bradykardiebedingten Synkope wurde gestellt, und es erfolgte die Implantation eines DDD-Schrittmachers. Der Patient blieb danach stabil. Synkopen auf der Notfallstation sollten grundsätzlich unter EKG-Überwachung beurteilt werden.

Bei Erwachsenen über 40 Jahren liegt die Prävalenz kardialer Synkopen bei etwa 15 %. Die häufigsten Ursachen sind Bradykardie (7 %), Tachykardie (4 %), Aortenstenose (2 %) und Myokardinfarkt (2 %). Die 12-Monats-Gesamtmortalität beträgt rund 20 %; dieser Patient gehörte zur Niedrigrisikogruppe für schwerwiegende Folgeereignisse.

Fallbeispiel 3: 69-jährige Patientin

Eine 69-jährige Patientin berichtete über rezidivierende Synkopen mit einer Häufigkeit von vier- bis sechsmal jährlich. Echokardiografie, Langzeit-EKG und EEG zeigten wiederholt unauffällige Befunde. Aufgrund der Persistenz der Ereignisse wurde ein subkutaner Ereignisrekorder (Reveal Recorder) implantiert, der über mehrere Jahre kontinuierlich den Herzrhythmus überwacht.

Schliesslich konnte ein paroxysmaler AV-Block III mit fehlendem Ersatzrhythmus während 16 Sekunden dokumentiert werden. Nach Implantation eines DDD-Schrittmachers traten keine weiteren Synkopen auf. Interessant ist, dass Frauen häufiger vasovagale Synkopen aufweisen, während bei Männern kardiogene Ursachen überwiegen.

Fallbeispiel 4: 77-jährige Patientin

Eine 77-jährige Patientin erlitt während des Kochens plötzlich Übelkeit, Schwindel und Kaltschweissigkeit, legte sich selbstständig aufs Sofa und verlor dort das Bewusstsein. Nach kurzer Erholung kam es beim Aufstehen zu einem erneuten Kollaps. Ähnliche Episoden waren bereits vor acht Wochen aufgetreten.

Bei der Untersuchung zeigte sich die Patientin in reduziertem Allgemeinzustand, jedoch kreislaufstabil. Eine Hypoglykämie (BZ 2.7 mmol/l) führte nach Glukosegabe rasch zu einer Erholung. In der ergänzenden Anamnese berichtete sie über Heisshungerattacken, nächtliche Schweissausbrüche und zunehmende Lust auf Süsses. Die weiterführende Abklärung ergab ein Insulinom des Pankreas als Ursache der Bewusstseinsverluste.

Risikoeinschätzung und diagnostisches Vorgehen

Die Einschätzung des individuellen Risikos ist entscheidend für das weitere Vorgehen. Synkopen mit Warnsymptomen wie Schwindel, Übelkeit oder Schwitzen in typischen Situationen (z. B. längeres Stehen, Hitze, emotionale Belastung) sprechen meist für eine gutartige, reflexartige Ursache. Dagegen deuten Ereignisse, die im Liegen, unter Belastung oder ohne Prodrom auftreten, auf eine potenziell kardiale oder neurologische Genese hin.

Patientinnen und Patienten mit neu aufgetretenen Brustschmerzen, Dyspnoe, abnormem EKG, struktureller Herzerkrankung oder familiärer Vorgeschichte plötzlichen Herztodes gelten als Hochrisikogruppe und sollten stationär überwacht werden. Fälle mit unklarer oder mittlerer Risikokonstellation profitieren von einer Beobachtung oder einer Vorstellung in einer spezialisierten Synkopenambulanz. Bei eindeutig reflexartiger oder orthostatischer Synkope genügt in der Regel eine Aufklärung und ambulante Kontrolle.

Empfohlene Abklärungsschritte

Die Diagnostik beginnt mit einer sorgfältigen Anamnese, inklusive Beschreibung der Episode, möglicher Auslöser, Begleitsymptome und Medikamentenanamnese. Wenn möglich, sollten auch Augenzeugen befragt werden.

Darauf folgen eine klinische Untersuchung mit Blutdruckmessung im Liegen und Stehen sowie eine kardiopulmonale und neurologische Basisuntersuchung. Ein EKG gehört zur Routine; bei anhaltender Unsicherheit empfiehlt sich ein Langzeitmonitoring oder die Implantation eines Ereignisrekorders (ILR).

Laboruntersuchungen (Blutbild, Elektrolyte, Nierenfunktion) werden gezielt eingesetzt, wenn die klinische Situation darauf hinweist. Risikoscores bieten keinen Zusatznutzen gegenüber der ärztlichen Gesamtbeurteilung.

Differenzialdiagnosen

Nicht jeder kurzzeitige Bewusstseinsverlust ist eine Synkope. Zu den wichtigsten Differenzialdiagnosen gehören:
– Epileptische Anfälle
– Hypoglykämien
– Schwere Blutungen oder Anämien
– Lungenembolien
– Myokardinfarkt oder Aortendissektion
– Medikamentenassoziierte Nebenwirkungen
– Stürze ohne Bewusstseinsverlust
Diese müssen anamnestisch und klinisch ausgeschlossen werden.

Fazit

Eine strukturierte, risikobasierte Synkopen-Abklärung ermöglicht in den meisten Fällen eine sichere Zuordnung der Ursache. Hochrisikopatienten benötigen eine stationäre Überwachung, während bei reflexartigen oder orthostatischen Synkopen in der Regel eine ambulante Betreuung ausreicht. Entscheidend bleibt die klinische Beurteilung, nicht der Score.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Depression und Migräne ein bidirektionaler Zusammenhang mit therapeutischer Implikation

Anlässlich des Jahreskongresses der SGPP gaben Prof. Thomas Müller, der als ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen tätig ist, und Prof. Christoph Schankin, der als Leitender Arzt der Neurologie der Bellevue Medical Group arbeitet, am Satellitensymposium von Teva Pharma einen detaillierten Einblick in den bidirektionalen Zusammenhang zwischen Depression und Migräne. «Es ist sehr schön, dass wir dieses Thema an einem psychiatrischen Kongress diskutieren dürfen, gerade weil Migräne traditionell eher der Neurologie zugeordnet wird», sagte Prof. Müller.

Ein detaillierter Blick auf den Zusammenhang zwischen Depression und Migräne

Zunächst gab Prof. Müller einen Überblick und schlug die Brücke zu neuen Behandlungsansätzen, die Prof. Schankin anschliessend vertiefte. Dabei wies er darauf hin, dass neben den Patientinnen und Patienten auch die volkswirtschaftlichen Folgen behandelt werden müssen. In Europa belaufen sich die jährlichen Kosten durch Depressionen auf rund 118 Milliarden Euro, durch Migräne sind es etwa 27 Milliarden Euro. Ein erheblicher Teil davon entfällt auf indirekte Kosten wie Arbeitsausfälle. Diese sind besonders hoch, wenn Depressionen und Migräne gemeinsam auftreten.

Genetische Überschneidungen

Im Jahr 2018 wurde in der Zeitschrift Science eine gross angelegte genomweite Assoziationsstudie mit 265 000 Patientinnen und Patienten sowie fast 750 000 Kontrollpersonen veröffentlicht (1). Die Studie zeigte deutliche genetische Überschneidungen innerhalb der Psychiatrie, insbesondere zwischen Schizophrenie und bipolarer Störung. Solche Überschneidungen sind zwischen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen seltener, mit Ausnahme von Migräne, die signifikant mit Depressionen und ADHS assoziiert ist. Auch das Tourette-Syndrom weist Überschneidungen auf.

Pathophysiologie

Es gibt Hinweise auf gemeinsame Signalwege, etwa bei der Serotoninregulation, bei Neurotransmittern wie Dopamin oder bei Neuropeptiden wie dem Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Auch Neuroinflammation und chronischer Stress spielen eine Rolle. Epidemiologisch haben Migränepatientinnen und -patienten ein zwei- bis zweieinhalbfach erhöhtes Risiko für Depressionen, während das Risiko für Migräne bei Depressionen zwei- bis dreifach erhöht ist (2).

Studien wie jene von Breslau (3) zeigen eine besonders hohe Prävalenz von Depression bei Migräne. Auch die MAST-Studie (4) bestätigte die enge Komorbidität. Häufige Begleiterkrankungen sind Schlafstörungen, Angststörungen und kardiovaskuläre Risikofaktoren.

Therapieoptionen

Pharmakologische Massnahmen: Trizyklische Antidepressiva, insbesondere Amitriptylin, haben sich sowohl bei Spannungskopfschmerz als auch bei Migräne bewährt. SSRI und SNRI sind weniger wirksam (5).

Nicht-pharmakologische Massnahmen: Sport kann depressive Symptome reduzieren, bei Überlastung jedoch Migräne auslösen. Psychotherapeutische Verfahren wie Achtsamkeit, emotionsfokussierte Therapie, Biofeedback und Entspannungstechniken können die Häufigkeit und Intensität der Attacken verringern.

Fazit

Migräne und Depression treten häufig gemeinsam auf und verstärken sich wechselseitig: Migränepatientinnen und -patienten haben ein rund 2–2.5-fach erhöhtes Depressionsrisiko, während bei Menschen mit Depression das Migränerisiko etwa 2–3-fach erhöht ist. Diese enge Verknüpfung hat erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung und spricht für ein systematisches Screening in beide Richtungen. Therapeutisch bewährt sind Antidepressiva (v. a. Amitriptylin, SNRI) sowie psychotherapeutische Verfahren wie KVT, Achtsamkeit und Biofeedback. Ergänzend zeigen Sport/Bewegung und Anti-CGRP-Therapien vielversprechende Effekte bei komorbider Migräne und Depression. Insgesamt empfiehlt sich ein multimodales, individuell abgestimmtes Vorgehen mit regelmässiger Evaluation von Symptomen beider Erkrankungen.

Migräne und komorbide Depression – Prophylaxe mit Fremanezumab

Diagnostische Kriterien – ICHD-3

A. Für die Diagnose braucht es mindestens fünf Attacken, welche die Kriterien B und D erfüllen.
B. Kopfschmerzattacken, die unbehandelt oder erfolglos behandelt 4 bis 72 Stunden andauern.
C. Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf:
1. Einseitige Lokalisation
2. Pulsierender Charakter
3. Mittlere oder starke Schmerzintensität
4. Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z. B. Gehen oder Treppensteigen) oder führt zu deren Vermeidung.
D. Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eines dieser Kriterien:
1. Übelkeit und/oder Erbrechen
2. Photophobie und Phonophobie
E. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose

Nicht automatisch Spannungskopfschmerz
Typisch bilateral, drückend/verspannend, mild bis moderat, nicht durch Routineaktivität verschlechtert, bzw. kein Vermeidungsverhalten.

Wahrscheinliche Migräne (ICHD-3, 1.5.1)
Attacken, die alle bis auf eines der Kriterien A–D für 1.1 Migräne ohne Aura erfüllen.

5-Minuten-Assessment in der Praxis

Dynamik
1. Seit wann kennen Sie den aktuellen Kopfschmerz?
2. Wie häufig war er initial?
3. Wie häufig ist er jetzt?
4. Über welchen Zeitraum kam es zu der Änderung?

Migraine Screen Questionnaire (MS-Q) (6)
Nein = 0, Ja = 1
1. Leiden Sie häufig oder stark unter Kopfschmerzen?
2. Dauern Ihre Kopfschmerzen üblicherweise länger als vier Stunden?
3. Leiden Sie üblicherweise unter Übelkeit, wenn Sie Kopfschmerzen haben?
4. Stören Sie Licht oder Lärm während der Kopfschmerzen?
5. Beschränken die Kopfschmerzen Ihre körperliche oder geistige Aktivität?

Damit wird die Diagnostik im Alltag erleichtert (drei von fünf Kriterien erfüllen eine hohe Sensitivität). Ebenso hilfreich sind Kopfschmerzkalender.

Akuttherapie

Je nach Migräne-Intensität werden unterschiedliche Medikamente empfohlen:
Leichtere Attacken: Acetylsalicylat, Diclofenac, Ibuprofen, Metamizol, Mefenaminsäure, Naproxen, Paracetamol (2. Wahl, bei Kontraindikation gegen NSAR).
Mittel bis sehr starke Attacken: Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan, Zolmitriptan.

Triptane unterscheiden sich hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungen, der Zeit bis zum Wirkungseintritt sowie der Wirkungsdauer. Bei Bedarf kann die Einnahme nach 2–4 Stunden wiederholt werden; ein Wechsel des Präparats innerhalb derselben Attacke sollte vermieden werden. Bewährt hat sich ein Therapieversuch über drei Attacken; bleibt der Effekt unzureichend, ist ein Präparatewechsel sinnvoll. Bei Wiederkehrkopfschmerz kann eine Kombination mit einem NSAR erwogen werden. Kontraindikationen umfassen unter anderem Herzinfarkt, CVI und die gleichzeitige Einnahme von MAO-Hemmern.

Chronifizierung der Migräne

Man unterscheidet zwischen episodischer Migräne (weniger als 15 Kopfschmerztage pro Monat) und chronischer Migräne (mehr als 15 Kopfschmerztage pro Monat). Zu den Risikofaktoren für eine Chronifizierung zählen u. a. eine inadäquate Akuttherapie, die Einnahme von Schmerzmitteln in zu hoher Dosierung, psychische Komorbiditäten wie Angst oder Depression sowie kardiovaskuläre Risikofaktoren.

Prophylaxe

Bei mehr als drei Attacken pro Monat sollte eine prophylaktische Therapie in Erwägung gezogen werden. In der Schweiz sind die folgenden Medikamente zugelassen: Amitriptylin, Betablocker (z. B. Metoprolol), Topiramat (mit Vorsicht, da es Depressionen verschlimmern kann) und Flunarizin (Produktion in der Schweiz eingestellt).

Darüber hinaus haben sich auch nicht-medikamentöse Massnahmen bewährt, etwa Ausdauersport, die progressive Muskelentspannung nach Jacobson oder Geräte zur transkutanen Nervenstimulation.

Migräne-spezifische Therapien

• Atogepant: Prävention Erwachsener mit episodischer oder chronischer Migräne
• Rimegepant: Akuttherapie, Prävention episodischer Migräne
• Botox nach PREEMPT: Prävention chronischer Migräne
• Erenumab, Eptinezumab, Fremanezumab, Galcanezumab
Diese Medikamente greifen direkt in den pathophysiologischen Mechanismus ein. Während einer Attacke wird CGRP aus dem Trigeminusnerv freigesetzt, was die Schmerzübertragung verstärkt. Blockiert man CGRP oder seinen Rezeptor, reduziert sich die Migränefrequenz deutlich. Klinische Studien zeigen, dass diese Therapien nicht nur die Anzahl der Migränetage reduzieren, sondern auch depressive Symptome verbessern – und das unabhängig davon, ob die Migräneattacken vollständig zurückgehen.
In der UNITE-Studie konnte bei Migränepatient/innen mit gleichzeitig diagnostizierter Major Depression unter Fremanezumab eine signifikante Abnahme der depressiven Scores (HAMD-17, PHQ-9) nachgewiesen werden (7). Nebenwirkungen sind selten; am häufigsten treten Verstopfung oder lokale Reaktionen an der Injektionsstelle auf. Die Kosten liegen bei 400–500 CHF pro Monat, was den Einsatz einschränkt. In der Schweiz ist zudem nach einem Jahr ein Therapieunterbruch vorgeschrieben.

Schlussfolgerung

Migräne und Depressionen treten häufig gemeinsam auf.
• Migräne und Depression sind bidirektional verknüpft (genetisch, pathophysiologisch: Serotonin, CGRP).
• CGRP-basierte spezifische Migränetherapien reduzieren Migränetage und verbessern Depressivität.
• Bei komorbider Migräne/Depression empfiehlt sich ein multimodales Vorgehen mit regelmässiger Evaluation beider Symptomkomplexe.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. The Brainstorm Consortium „Analysis of shared heritability in common disorders of the brain.“ Science 360.6395 (2018): 1-15.
2. Viudez-Martinez A et al. Understanding the biological relationship between migraine and depression.. Biomolecules 2024;14:163. Doi:10.3390/biom14020163
3. Breslau N. et al. Comorbidity of migraine and depresion: Investigating potential etiology and prognosis. Neurology 2003; 60: 1312
4. Lipton RB et al. Migraine in America Symptoms and Treatment (MAST) Study: Baseline Study Methods, Treatment Patterns, and Gender Differences. Headache 2018 Oct;58(9):1408-1426. doi: 10.1111/head.13407. Epub 2018 Oct 20.
5. Burch RC et al. Migraine : epidemiology, burden , and comotbidity. Neurol Clin. 2019 ;37 :631-649
6. Lainez MJ et al. Development and validation of the Migraine Screen Questionnaire (MS-Q). Headache 2005 ; 45 : 1328-1338
7. Lipton RB et al. Fremanezumb for the treatment of patient with migrsaine and comorbid major depressive disorder. The INITE randomized clinical trial. JAMA Neurol. 2025;82:560-569

Mehr Lebensqualität für Epilepsiebetroffene

Epilepsiewarnhunde können sowohl fokale als auch generalisierte epileptische Anfälle im Voraus erkennen und Betroffene rechtzeitig vor einem Ereignis warnen. Epilepsiewarnhunde kommen im Idealfall im Welpenalter zu Epileptikern oder deren Familien und werden von ihnen unter Anleitung von Hundetrainern und Coaches selbst ausgebildet. Epidogs verhelfen Betroffenen zu einer signifikanten Verbesserung ihrer Lebenssituation.

In den USA werden seit 1996 Assistenzhunde für Epileptiker ausgebildet, ab 2004 in Deutschland und seit 2014 durch den Verein «EpiDogs for Kids» in der Schweiz. Verschiedene wissenschaftliche Studien aus den USA, Kanada, England, Italien und Deutschland unterfüttern den Nutzen von Epilepsiewarnhunden für Epilepsie-Betroffene und deren Familien. Allein rund 20 000 Minderjährige sind in der Schweiz von Epilepsie betroffen, so der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. Er setzte sich mit einer Motion dafür ein, dass die Invalidenversicherung (IV) Epilepsiewarnhunde für Kinder und Erwachsene finanziert. Bundesrat und beide Parlamentskammern haben dem Vorstoss oppositionslos zugestimmt. Die neue Regelung gilt seit 2024.

«EpiDogs for Kids» versteht sich als Anlaufstelle für epilepsiebetroffene Familien, die sich einen Assistenzhund wünschen, erklärt Madlaina Blapp, Gründungsmitglied und Präsidentin des Vereins: «Wir organisieren Vermittlung, Ausbildung und Finanzierung der Epilepsiewarnhunde für Kinder und Jugendliche.» Der gemeinnützige Verein und seine ehrenamtlich tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten ihr Knowhow auch Erwachsenen an. Er finanziert sich durch Spenden, die gemäss Statuten aber ausschliesslich für Kinder und Jugendliche bestimmt sind. Die Ausbildungskosten von CHF 15 000.– werden vom Verein finanziert.

Für Interessierte findet zweimal jährlich eine Informationsveranstaltung statt, an der das Ausbildungskonzept erläutert wird. Bei Familien, die sich für einen Epidog interessieren, werden die betreuerischen und häuslichen Verhältnisse abgeklärt. Wenn die Voraussetzungen passen, kann sich die Familie am Ausbildungsprogramm beteiligen und die vorbereitenden Kurse absolvieren. Sie erfährt, wie sie mit dem zukünftigen Epidog während seiner dreijährigen Ausbildungszeit umgehen soll – mit engmaschiger Unterstützung durch erfahrene Ausbilder und EpiCoaches des Vereins «EpiDogs for Kids», der seit 2014 37 Epidogs ausgebildet und derzeit acht Hunde in Ausbildung hat.

Als Epilepsiebegleithunde eignen sich insbesondere familien- und arbeitsfreundliche, robuste Hunde wie der Labrador, Golden Retriever oder für Allergiker hypoallergene Hunde wie Cobberdog oder Labradoodle. Sobald die Welpen auf der Welt sind, werden sie noch in der Wurfkiste von der zukünftigen Familie besucht. Es stellt sich meist schnell heraus, ­welcher Welpe sich zuerst zum epilepsiebetroffenen Kind hingezogen fühlt. Ab diesem Zeitpunkt beginnt der Bindungs­aufbau, der bei weiteren Welpenbesuchen vertieft wird, bevor der potenzielle Epidog bei der Familie einzieht. «Der Welpe soll möglichst früh zu einem festen Bestandteil der familiären Gemeinschaft werden», erklärt Madlaina Blapp. Anders als etwa Blindenführhunde, die in einer Schule und Patenfamilien geschult und mit drei Jahren Sehbehinderten fertig ausgebildet abgegeben werden, kommt der zukünftige Epidog schon während seiner Prägezeit zur Familie, im Alter ab 10 Wochen. Die Prägezeit des Hundes beginnt in der Regel ab der dritten und dauert bis zur 16. Lebenswoche. Während dieser Phase sind Welpen besonders lernfähig und können grundlegende Verhaltensweisen besonders schnell erlernen.

«Die Hunde sind von klein auf hervorragende Beobachter. Sie riechen, hören, schmecken, sehen, spüren, fühlen. Sie werden Teil einer neuen Gemeinschaft, wie sie das schon vom Rudel her kennen.» Im Rudel wird für das schwächste Mitglied gut gesorgt. Die Hunde erkennen bald, wenn sich die Mutter immer um ein Kind besonders intensiv kümmert und bringen ihre ausgeprägten Intuitionen und Fähigkeiten freiwillig ein. Mittels Kameras – in Zusammenarbeit mit den Familien installiert –, wird das Verhalten der Hunde aufgezeichnet, damit der Mensch die Verhaltensmuster des Hundes zu lesen versteht.

Mit der Zeit merken die Hunde, dass sich eine drohende Gefahr, ein Epilepsie-Anfall, anbahnt. «Die Epidogs sind eine Art Frühwarnsystem, sie erkennen Veränderungen im Körper, im Tonus und der Atmung des Epilepsiebetroffenen, auch wenn jede Epilepsieform anders ist. Bei epileptischen Anfällen verändert sich offenbar der SpO2-Wert der Patienten, legt eine wissenschaftliche Studie des Deutschen Assistenzhunde-Zentrums aus dem Jahr 2013 nahe. Die Ergebnisse zeigten, dass Hunde warnten, als sie eine reduzierte Sauerstoffsättigung wahrnahmen. In einer sieben Jahre dauernden Verhaltensstudie fanden die Forscher heraus, dass Hunde nicht nur auf epileptische Anfälle, sondern ebenfalls auf Über- oder Unterzuckerungen, Migräneanfälle und lebensgefährliche Asthmaanfälle reagierten. An der Studie nahmen über 1000 Hunde in einem Alter zwischen drei Wochen und sieben Jahren teil. Das Warnen der Hunde manifestierte sich durch Stupsen an Hand, Ohr, Bein und Mund, Lecken an Hand und Mund oder Pfote auflegen und war bei allen Erkrankungen identisch. Laut «EpiDogs for Kids» gibt es auch Hunde, die die wichtigste Bezugsperson, meist die Mutter, vor einem Notfall mit den Augen fixieren, die Situation verbellen oder das Kind vor dem Weitergehen hindern. «Jede Epilepsieform ist anders. Und jeder Hund funktioniert unterschiedlich», so Madlaina Blapp, «darum muss die Ausbildung der Hunde individuell und massgeschneidert sein.» Besonders bei Epilepsiegeplagten, die täglich Anfälle haben, werde dem Hund viel Aufmerksamkeit abverlangt. Für seine Hilfsleistungen müsse er mit Lob, Dank, Emotionen – nicht mit Futter – belohnt werden. Um eine Überbelastung zu vermeiden, brauche er regelmässigen Auszeiten.

Für das Kind ist der Hund der Lebensretter, der beste Freund, der immer da ist. Wenn Anfälle auftreten, sind sie kürzer oder weniger schwer und die Erholungsphase ist kürzer. Es gibt seltener Notfallsituationen mit Inanspruchnahme der Ambulanz, die früher regelmässig anrücken musste und weniger Spitalaufenthalte. Der Familie gibt der Hund Sicherheit, auch gegen aussen: Aufgrund der Krankheit eines Kindes isolieren sich ganze Familien, wagen nicht, das Haus zu verlassen und neue Menschen kennen zu lernen. Der Epidog wirkt wie ein Türöffner, der Kontakte zur Umwelt schafft und verbessert auch auf diese Weise die Lebensqualität der ganzen Familie.

www.epidogsforkids.ch

Jörg Weber