Krebstherapie bei alten und hochbetagten Menschen

Aufgrund günstiger sozioökonomischer Bedingungen, verbessertem Gesundheitsverhalten und medizinischem Fortschritt werden in der Schweiz zunehmend mehr Menschen ein hohes und sehr hohes Alter bei relativer Gesundheit erreichen. Da im Alter die Krebsinzidenz steigt, stellt sich zwangsläufig bei immer mehr alten und sehr alten Menschen die Frage nach einer an das Alter angepassten Krebsbehandlung. Krebsbehandlungen alter und sehr alter Menschen stellen eine besondere Herausforderung dar, erfordern eine interdisziplinäre und interprofessionelle Kooperation ebenso wie eine enge Vernetzung zwischen stationären und ambulanten Diensten, betreuenden Bezugspersonen und Hausärzten. Solche strukturellen Angebote fehlen in der Schweiz derzeit jedoch noch weitgehend.

Due to favorable socioeconomic developments, healthier life-styles and improved medical care, more individuals will live to old or very old age in Switzerland while being relatively healthy. As the cancer incidence increases with advancing age, more patients will require decisions regarding cancer treatments. Cancer treatments of old or very old people are particularly challenging and require close interdisciplinary and interprofessional collaboration as well as a closely knit network of hospital and ambulatory services. These necessary structures are largely lacking in Switzerland.
Key Words: demographics, geriatric assessment, geriatric health services, oncology, review

Demographische Entwicklung und Onkologie

Die Lebenserwartung in der Schweiz liegt mit ca. 84 Jahren innerhalb der OECD-Länder im Spitzenbereich und ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Die mehr als 47’000 Krebsneuerkrankungen in der Schweiz im Jahr 2020 betrafen zu über 60% Menschen, die älter als 65 Jahre waren (Abb. 1). Besonders auffällig ist die Zunahme der Krebserkrankungen bei hochbetagten Patienten über 85 Jahren. Somit wird die Mehrheit onkologischer Behandlungen zwangsläufig im Gebiet der Geriatrischen Onkologie durchgeführt, mit den alterstypischen Herausforderungen dieses Patientenkollektivs. Vor allem Hochbetagte – nach den meisten Definitionen sind das sehr alte Menschen über 85 Jahre – sind dem Risiko sowohl einer Über- wie einer Untertherapie ausgesetzt. Daher erfordert die Betreuung dieser Patienten eine enge interdisziplinäre und interprofessionelle Kooperation.

Auch wenn die Erfolge neuer onkologischer Therapien sich in der Regel bei alten Menschen nur langsam in verbessertem Überleben niederschlagen (Abb. 2), muss in den kommenden Jahren ähnlich wie in den USA auch in der Schweiz mit einer zunehmenden Zahl an Überlebenden nach erfolgreicher Krebstherapie («Cancer Survivors») gerechnet werden (Abb. 3). Gerade bei alten und hochbetagten Cancer Survivors addieren sich altersassoziierte und therapiebedingte Einschränkungen. Dies muss sowohl bei der Therapieauswahl als auch bei der Nachsorge berücksichtigt werden.

Dennoch darf «Alter» nicht allein als chronologisches Phänomen betrachtet werden, vielmehr steht das «biologische Alter» eines Menschen im Mittelpunkt onkologischer Betreuung. So können onkologische Therapieentscheidungen bei chronologisch alten oder hochbetagten Menschen in gutem Allgemeinzustand und ohne Komorbiditäten denen einer sehr viel jüngeren Alterskohorte entsprechen.

Herausforderungen onkologischer Therapie im Alter

Klinische Studien zeigen, dass alte und hochbetagte Patienten bei Einsatz einer ggf. an das Alter angepassten Standardtherapie vergleichbare Erfolgschancen in Bezug auf Ansprechen und Überleben haben können wie Jüngere. Dem entspricht, dass alte und hochbetagte Patienten meist auch dieselben Hoffnungen und Erwartungen an eine Therapie haben wie Jüngere, auch wenn die Erfolge einer Therapie oft überschätzt werden (1). Dennoch sind vor allem Hochbetagte im Alltag in vielerlei Hinsicht gerade gegenüber unerwünschten Wirkungen einer Krebstherapie vulnerabler als klinische Studien dies vermuten lassen, in denen alte und hochbetagte Patienten aufgrund strikter Einschlusskriterien häufig unterrepräsentiert sind. Gebrechlichkeit («Frailty») als eine Konsequenz eines physiologischen Altersprozesses in Kombination mit durch Komorbiditäten verursachten Einschränkungen führt zwangsläufig zu einer verminderten Resilienz selbst gegenüber bei Jüngeren vergleichsweise gering ausgeprägten Nebenwirkungen onkologischer Therapien (Abb. 4) (2).

Komorbiditäten

Mit zunehmendem Alter limitieren häufige Komorbiditäten wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus, chronische Niereninsuffizienz u.a. die Möglichkeiten onkologischer Therapien. Zudem muss beurteilt werden, inwieweit Komorbiditäten oder die Krebserkrankung voraussichtlich das lebensbegrenzende Ereignis darstellen werden. Bei schwerwiegender Komorbidität und eingeschränkter Lebenserwartung muss der potentielle Nutzen einer onkologischen Behandlung gegenüber möglicher Toxizität und dem daraus resultierenden Verlust an Lebensqualität individuell abgewogen werden. Eine häufig anzutreffende Schwerhörigkeit limitiert die Kommunikation und erschwert die Betreuung zusätzlich. Kognitive Einschränkungen oder dementielle Erkrankungen sind mit zunehmendem Alter häufig und im klinischen Alltag nicht immer sofort zu erkennen. Beide Faktoren erschweren die Einbindung der Betroffenen in die Therapieentscheidung im Sinne eines «Shared Decision Making» erheblich.

Funktionelle Einschränkungen

Mit zunehmendem Alter sind Organfunktionen u.a. von Herz, Leber, Lunge und Niere zunehmend eingeschränkt, was klinisch inapparent sein kann. Häufig wird erst unter der Belastung einer onkologischen Therapie eine bereits eingeschränkte Nierenfunktion oder eine Herzinsuffizienz manifest. Ein «normales» Serumkreatinin kann bei Hochbetagten bereits eine erhebliche Einschränkung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) darstellen. Ein Verlust an Muskelmasse («Sarkopenie») ist bei Hochbetagten häufig und geht nicht zwangsläufig mit einem Gewichtsverlust oder einem geringen «Body Mass Index» (BMI) einher. Eine Sarkopenie wird im klinischen Alltag häufig unterschätzt, limitiert jedoch die körperlichen Reserven und Widerstandsfähigkeit bzw. Resilienz hochbetagter Menschen und ist neben anderen Ursachen für eingeschränkte Mobilität ein wichtiger Risikofaktor für eine reduzierte Selbsthilfefähigkeit und Stürze. Zusammen mit zunehmend eingeschränkten Organfunktionen führt eine Verschiebung der Körpermasse zu Gunsten eines höheren Fettanteils bei Älteren und Hochbetagten zu einer veränderten Pharmakinetik. So kann die gleiche Dosis eines Zyto-statikums bezogen auf die Körperoberfläche bei Hochbetagten in einem Vielfachen der Medikamentenexposition («Area-under-the-Curve» (AUC)) im Vergleich zu Jüngeren resultieren.

Polypharmazie

Ältere Menschen mit Krebs sind in der Mehrzahl bereits aufgrund einer Polypharmazie (≥ fünf dauerhaft verordnete Medikamente) sowohl einem höheren Risiko an unerwünschten Arzneimittelwirkungen ausgesetzt als auch einem deutlich erhöhten Risiko von Arzneimittelinteraktionen (3). Die veränderte Pharmakokinetik älterer Menschen und eine häufig praktizierte nicht-verschreibungspflichtige und/oder komplementärmedizinische Eigenmedikation verstärken diesen Effekt. Komplexe Medikationsschemata und häufige Umstellungen von Medikamenten, z.B. beim Übergang von stationärer zu ambulanter Versorgung, überfordern zudem regelhaft die Fähigkeit zur Therapieadhärenz. Das Zusammentreffen dieser und weiterer Faktoren schränken die Möglichkeiten vor allem oraler Krebstherapien deutlich ein.

Soziales Umfeld

Die grösste Herausforderung bei der Betreuung Älterer und Hochbetagter stellt sich für Angehörige von Pflegeberufen und pflegenden Angehörigen. Da Krebspatienten zumeist ambulant betreut werden, werden die Belastungen pflegender Angehöriger oft nicht erkannt. Unterstützende Ehepartner sind in der Regel selbst betagt, Kinder wohnen häufig nicht vor Ort oder sind im Konflikt zwischen Berufstätigkeit und eigener Familie. Abhängigkeiten bei Körperpflege und Alltagsverrichtungen, eine erhöhte Inzidenz von Inkontinenz, Stürzen und deliranten Reaktionen als unerwünschte Wirkung medikamentöser Therapien sowie die Folgen von Schwerhörigkeit oder prä-existierenden kognitiven Einschränkungen, z.B. bei der Medikamenteneinnahme, weisen pflegenden Angehörigen und anderen ambulant Pflegenden eine zentrale Rolle bei der Betreuung dieser Patientengruppe zu. Dies erfordert bei den Pflegeberufen – wie auch bei den anderen Berufsgruppen – eine entsprechende Qualifikation sowohl im Bereich onkologischer als auch geriatrischer Pflege. Bei der Mitversorgung älterer Tumorpatienten durch pflegende Angehörige ist es essentiell, diese von Anbeginn an in das Therapiekonzept und in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Eine Einbindung und enge Vernetzung mit ambulanten Pflegediensten und Hausärzten sollte ebenfalls frühzeitig erfolgen.

Ziele onkologischer Therapie im Alter

Die klassischen Studienendpunkte wie Ansprechraten, progres­sionsfreies Überleben und Gesamtüberleben sind selbstverständlich auch für alte und hochbetagte Patienten relevant, verlieren aber gerade bei Hochbetagten an Bedeutung. Mit zunehmendem Alter stehen Faktoren wie Symptomkontrolle, Lebensqualität und Erhalt der Alltagsselbstständigkeit noch stärker im Vordergrund als bei Jüngeren. Die Zufriedenheit älterer Patienten mit der Behandlung kann und sollte bei Studien in einem geriatrischen Patientenkollektiv als eigenständiger Endpunkt in die Beurteilung des Gesamtnutzens einer Behandlung (z.B. in Form von «Overall Treatment Utility») im Sinne von «Patient Reported Outcomes» (PRO) einbezogen werden (4).

Geriatrisches Assessment

Die Abschätzung spezifischer Einschränkungen bei hochbetagten Krebskranken mittels standardisierter Tests wurde der Geriatrie entlehnt und ist für die Onkologie modifiziert worden. Die Ziele eines «Comprehensive Geriatric Assessment» (CGA) sind in Tabelle 1 dargestellt. Ein CGA ist eine multidimensionale Beurteilung eines alten und/oder hochbetagten Menschen (Tab. 2) (5). Neben den zumeist in der Geriatrie zur Anwendung kommenden zeitaufwändigen Verfahren existieren verschiedene Kurzversionen («Geriatrisches Screening»), die im onkologischen Alltag gut und mit geringem Zeitaufwand einsetzbar sind (6-10). Dies setzt allerdings voraus, dass die Ergebnisse aus dem geriatrischen Screening bzw. dem CGA für die weitere Betreuung im klinischen Alltag auch umgesetzt werden.

Entwicklung in der Schweiz

Die speziellen Bedürfnisse älterer und hochbetagter Menschen finden im klinischen Alltag in der Schweiz noch ungenügend Berücksichtigung. Eine enge interprofessionelle Betreuung durch Onkologen, Geriater, Pflegende, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter in speziellen Teams oder Sprechstunden mit Fokus auf die Betreuung alter und hochbetagter Menschen mit Krebs ist noch immer selten. Eine Gruppe bestehend aus interessierten Pflegenden, Geriatern und Onkologen hat sich als «Swiss Geriatric Oncology Group» jüngst zusammengeschlossen und verfolgt das Ziel, die Betreuung dieser vulnerablen Patientengruppe durch die Entwicklung zielgerichteter Strategien und die Zusammenarbeit mit Fachorganisationen wie der Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Krebsforschung (SAKK) und der International Society of Geriatric Oncology (SIOG) zu verbessern.

Mitglieder der «Swiss Geriatric Oncology Group» in alphabetischer Reihenfolge: Jörg Beyer (Bern), Diana Chiru (Baselland), Vérène Dougoud (Fribourg), Regina Fretz (Baden), Jan Gärtner (Basel), Michael Gagesch (Zürich), Friedmann Honecker (St. Gallen), Anita Margulies (Zürich), Wiebke Rösler (Zürich), Mathias Schlögl (Barmelweid), Sabine Valenta (Basel), Marcus Vetter (Baselland), Kathrin Vollmer (Thun).

Zweitabdruck aus «info@onco-suisse» 03-2023

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. med. Jörg Beyer

Universitätsklinik für Medizinische Onkologie
Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
Freiburgstrasse 41
3010 Bern

Dr. med. Mathias Schlögl

Department für Innere Medizin
Abteilung für Akutgeriatrie, Geriatrische Rehabilitation & Langzeitpflege
5017 Barmelweid

mathias.schloegl@waid.zuerich.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Aufgrund der demographischen Entwicklung nimmt die Zahl alter und sehr alter Menschen mit Krebs zu.
◆ Die Betreuung alter und sehr alter Menschen mit Krebs stellt besondere Herausforderungen an das Behandlungsteam und die betreuenden Bezugspersonen.
◆ In der Schweiz ist die Versorgung dieser Patientengruppe noch
unzureichend strukturiert. Die notwendige enge Verzahnung der an der Versorgung beteiligten Diensten und Einrichtungen fehlt.
◆ Weiterbildungen für alle Berufsgruppen sowie Studienaktivitäten in dieser
besonders vulnerablen Patientengruppe sind dringend erforderlich.

1. Weeks JC, Catalano PJ, Cronin A et al. Patients’ expectations about effects of chemotherapy for advanced cancer. New Engl J Med 2012;367:1616-1625.
2. Clegg A et al.: Frailty in elderly people. Lancet 2013;381:752-762.
3. Nightingale G et al.: Evaluation of a pharmacist-led medication assessment used to identify prevalence of and associations with polypharmacy and potentially inappropriate medication use among ambulatory senior adults with cancer. J Clin Oncol 2015;33(13):1453-1459.
4. Hall PS; Swinson D; Cairns DA et al. Efficacy of reduced-intensity chemotherapy with oxaliplatin and capecitabine on quality of life and cancer control among older and frail patients with advanced gastroesophageal cancer: The GO2 phase 3 randomized clinical trial. JAMA Oncol 2021;7:869-877.
5. Outlaw D, Abdallah M, Gil-Jr LA et al. The evolution of geriatric oncology and
geriatric assessment over the past decade. Sem Radiat Oncol 2021;32:98-108
6. Wildiers H et al.: International Society of Geriatric Oncology consensus on geriatric assessment in older patients with cancer. J Clin Oncol 2014;32:2595-2603.
7. Decoster L, Van Puyvelde K, Mohile S et al. Screening tools for multidimensional health problems warranting a geriatric assessment in older cancer patients: an update on SIOG recommendations. Ann Oncol 2015;26:288-300.
8. Soto-Perez-de-Celisa, Aapro M, Muss H. ASCO 2020: The geriatric assessment comes of age. Oncologist 2020:25:909–912
9. Hamaker M et al. Geriatric assessment in the management of older patients with cancer – A systematic review (update). J Geriatric Oncol 2022;13: 761–777.
10. Jensen-Battaglia M, Lei L; Xu H et al. Association of oncologist-patient communication with functional status and physical performance in older adults. A secondary analysis of a cluster randomized clinical trial. JAMA Netw Open. 2022;5:e223039.

Chirurgische Behandlung der Adipositas

Die Bariatrische Chirurgie ist die effektivste Therapie zur Gewichtsreduktion bei ausgeprägter Adipositas sowie auch zur Behandlung vieler Adipositas-assoziierter Komorbiditäten. Unter dem Überbegriff «Bariatrische Chirurgie», respektive bei Fokussierung auf metabolische Komorbiditäten wie dem Typ 2 Diabetes auch als «Metabolische Chirurgie» bezeichnet, werden eine ganze Reihe unterschiedlicher Operationsverfahren zusammengefasst. Prinzipiell gibt es dabei etablierte Verfahren sowie auch (in der Schweiz) noch nicht-etablierte Verfahren. Letztere werden in den Richtlinien der Swiss Society of the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB) (1) als «in Evaluation» gekennzeichnet und dürfen nur im Rahmen von prospektiven Studien mit entsprechenden Studienprotokollen sowie Ethikkommissionsgenehmigung angewendet werden. In unserem Artikel geben wir eine Übersicht über die verschiedenen bariatrischen Operationsverfahren, deren Kenntnis auch für Grundversorger:innen relevant ist.

Bariatric surgery is the most effective therapy for weight reduction in cases of pronounced obesity as well as for the treatment of many obesity-associated comorbidities. The umbrella term «bariatric surgery» or, when focusing on metabolic comorbidities such as type 2 diabetes, also referred to as «metabolic surgery», covers a whole range of different surgical procedures. In principle, there are established procedures as well as procedures that are not yet established (in Switzerland). The latter are identified as «under evaluation» in the guidelines of the Swiss Society of the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB) (1) and may only be used in the context of prospective studies with appropriate study protocols and ethics committee approval. In our article, we provide an overview of the different bariatric surgical procedures, knowledge of which is also relevant for primary care providers.
Key Words: bariatric surgery, metabolic surgery

Etablierte Operationsverfahren

Die etablierten Operationsverfahren lassen sich gemäss SMOB Richtlinien nochmals in «Basiseingriffe» (Tab. 1) sowie «komplexe Eingriffe» (Tab. 2) unterteilen. Während Basiseingriffe in allen Zentren durchgeführt werden können, dürfen komplexe Eingriffe nur in SMOB-anerkannten Referenzzentren durchgeführt werden. Aufgrund der seltenen Durchführung werden wir hier nur eine Form der biliopankreatischen Diversion (BPD) als einzigen komplexen Eingriff vertieft darstellen.

Roux-en-Y-Magenbypass

Das Grundprinzip des Roux-en-Y-Magenbypass (Roux-en-Y gastric bypass, RYGB) ist die Trennung von Nahrungsbrei und Verdauungssäften im oberen Gastrointestinaltrakt. Dazu wird eine kleine Magentasche direkt unterhalb des ösophagogastralen Übergangs vom restlichen Magen abgetrennt (Abb. 1). Der ausgeschaltete Restmagen, der somit nicht mehr in der Nahrungspassage liegt, verbleibt in situ. Das Jejunum wird anschliessend etwa 50 – 70 cm aboral der Flexura duodenojejunalis (Treitz-Flexur) durchtrennt und als sog. alimentärer Schenkel mit der Magentasche anastomosiert (sog. Gastrojejunostomie). Anschliessend wird der proximale Abschnitt des Jejunums, in dem die Verdauungssäfte ohne Kontakt zum Nahrungsbrei transportiert werden (sog. biliopankreatischer Schenkel), ca. 150 cm aboral der Gastrojejunostomie Seit-zu-Seit mit dem alimentären Schenkel des Jejunums verbunden. Damit resultiert eine klassische Roux-Y Rekonstruktion, wie sie auch in der onkologischen Magenchirurgie genutzt wird. Erwähnenswert ist, dass diese Art der Operation prinzipiell reversibel ist, das heisst durch einen erneuten chirurgischen Eingriff zurück operiert werden kann. Dies ist erfreulicherweise jedoch nur in sehr seltenen Fällen – etwa aufgrund von Komplikationen – notwendig.

Schlauchmagen

Bei der Schlauchmagenresektion (Sleeve-Gastrektomie, SG) werden ca. 90% des Magenvolumens grosskurvaturseitig entfernt, sodass nur noch ein schlauchförmiger Restmagen mit ca. 80–100ml Fassungsvolumen verbleibt (Abb. 2). Die anatomische Nahrungspassage und auch die Durchmischung mit den Verdauungssekreten werden durch diese Operation nicht verändert. Dieser Eingriff ist im Vergleich zum laparoskopischen RYGB technisch einfacher, was wesentlich zu seiner dominanten Verbreitung weltweit beigetragen hat.

Roux-en-Y-Magenbypass vs. Schlauchmagen – Was ist besser?

Die Schlauchmagen-Operation ist dem RYGB sowohl beim erzielten Gewichtsverlust als auch bei der Behandlung der meisten mit Adipositas-assoziierten Begleiterkrankungen (z.B. Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung) ebenbürtig und liefert vergleichbare Ergebnisse (2, 3). Zur Behandlung des Typ 2 Diabetes mellitus (T2DM) scheint es hingegen Vorteile für die RYGB-Operation zu geben. Zur Erreichung einer vergleichbar guten Stoffwechselkontrolle nach einer RYGB Operation werden deutlich weniger antidiabetische Medikamente benötigt, als nach einer Schlauchmagen-Operation (4).

Auch hinsichtlich der Komplikations- und Sterblichkeitsrate konnten keine gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Verfahren gefunden werden (5). Allerdings bietet die RYGB-Operation bei der Behandlung einer präoperativ bereits vorhandenen gastro­ösophagealen Refluxerkrankung (GERD) deutliche Vorteile (6). Zudem konnte gezeigt werden, dass deutlich mehr Patienten eine GERD nach Schlauchmagen als nach RYGB neu entwickeln. Besorgniserregend in diesem Zusammenhang sind kürzlich publizierte Untersuchungen, die von einer Häufigkeit von bis zu 17% der SG operierten Patienten für das Auftreten von Schleimhautveränderungen der Speiseröhre im Sinne von Barrett-Metaplasien berichten (7). Barrett-Metaplasien sind Folge eines chronischen Refluxes und bezeichnen eine Gewebeveränderung, die eine mögliche Vorstufe einer Krebserkrankung darstellt (sog. fakultative Präkanzerose). Weitere Daten mit längeren Nachbeobachtungszeiträumen sind nötig, bevor ein abschliessendes Urteil über mögliche Risken gefällt werden kann, jedoch sollten diese Beobachtungen bei der Verfahrenswahl bereits jetzt berücksichtigt werden.

Argumente, welche jedoch eher für eine Schlauchmagen- als eine RYGB-Operation sprechen, sind, dass nach der Schlauch­magen- Operation aufgrund der fehlenden Umgehung des Duodenums sowie des proximalen Jejunums die Mikronährstoffaufnahme weniger beeinträchtigt ist und daher weniger Supplemente dauerhaft eingenommen werden müssen. Zudem ist das Auftreten von postprandialen Hypoglykämien im Sinne eines Spätdumping-Syndroms weitaus seltener als nach der RYGB-Operation.

Magenband

Nachdem ab Mitte der Neunziger bis etwa Mitte der Zweitausender Jahre die Implantation eines adjustierbaren Magendbandes das dominierende bariatrische Verfahren war (Abb. 3), wurde es aufgrund der oft unbefriedigenden Langzeitergebnisse danach zunehmend verlassen und wird heute nur noch selten durchgeführt. So wurden gemäss SMOB-Register im Jahr 2022 schweizweit nur noch 65 Magenbänder implantiert, was etwa 1,3% aller bariatrischen Operation in diesem Jahr ausmachte.

Biliopankreatische Diversionsoperation mit duodenal switch

Bei der biliopankreatischen Diversionsoperation mit duodenal switch (BPD-DS) handelt es sich um die Kombination der oben beschriebenen Schlauchmagen-Operation mit einer malabsorptiven Komponente, die durch die Trennung des biliopankreatischen Schenkels von der Nahrungspassage (Diversion) unter Bildung eines kurzen gemeinsamen Resorptionsschenkels («common channel») gebildet wird (Abb. 4). Das Prinzip dieser Operation ist bereits seit den 1970er-Jahren bekannt und spielt in Ländern wie z. B. Italien historisch begründet eine grössere Rolle als in der Schweiz. Aufgrund der operationsbedingten Malabsorption mit einem deutlich erhöhten Risiko für Mangelzustände wie insbesondere Hypoproteinämie (8), chronischen Steatodiarrhoen und dem vermehrten Auftreten von Nierensteinen bis hin zu Oxalatnephropathie muss die Indikation sorgfältig gestellt werden und eine intensive, lebenslange postoperative Nachkontrolle gewährleistet sein. Generell wird das BPD-DS Verfahren als Reserveverfahren insbesondere nach unzureichendem Gewichtsverlust nach vorgängiger isolierter Schlauchmagen Operation angesehen.

In der Schweiz nicht-etablierte Operationsverfahren

Es gibt eine grosse Anzahl an weiteren bariatrischen Verfahren, welche in der Schweiz als nicht-etabliert gelten. Hierunter fallen chirurgische Operationen sowie auch endoskopische Interventionen, welche allesamt in den SMOB Richtlinien unter dem Vermerk «Eingriffe in Evaluation» aufgeführt werden (Tab. 3). Alle Eingriffe dieser Kategorie sollten prinzipiell nur im Rahmen von prospektiven Studien mit entsprechender Aufklärung betroffener Patient:innen und vorherigem Einholen einer Genehmigung durch eine Ethikkommission durchgeführt werden. Leider zeigt sich in der Praxis, dass diese Vorgaben nicht immer konsequent eingehalten werden, was aus wissenschaftlicher sowie aus ethischer Sicht bedenklich ist.

Aufgrund der Vielzahl experimenteller Eingriffe möchten wir an dieser Stelle nur zwei Operationsverfahren dieser «in Evaluation» Eingriffskategorie darstellen, welche international bereits relativ weit verbreitet angewendet werden.

One-anastomosis-gastric-Bypass

Der One-anastomosis-gastric-Bypass (OAGB), gelegentlich auch als Omega-Loop-Bypass oder früher irreführenderweise als «Minibypass» bezeichnet, ist ein Operationsverfahren, welches ausserhalb der Schweiz in den letzten Jahren starke Verbreitung gewonnen hat (9). Analog zum klassischen RYGB erfolgt auch hier eine kleinkurvaturseitige Magentaschenbildung (Abb. 5). Diese Tasche ist aber deutlich länger und reicht bis ins kleinkurvaturseitige Antrum. Die Anastomosierung erfolgt mit einer Dünndarmschlinge in Omega-Formation, wobei die Anastomose ca. 150–200 cm aboral der Flexura duodenojejunalis (Treitz-Flexur) erfolgt. Diese Technik erinnert stark an die Billroth-II-Rekonstruktion mit Omega-Schlinge, die in früheren Zeiten beim Magenulkus oder auch in der chirurgischen Therapie des distalen Magenkarzinoms Anwendung fand. Aufgrund negativer Erfahrungen mit der Billroth-II-Rekonstruktion mit dem langfristigen Auftreten von Galle-/Intestinalreflux, Anastomosenulzerationen und Anastomosenkarzinom ist man in der Schweiz deutlich zurückhaltender mit der Durchführung des OAGB-Verfahrens als in vielen anderen Ländern. Gemäss der SMOB-Richtlinien darf dieser Eingriff nur an Referenzzentren im Rahmen von klinischen Studien durchgeführt werden und gilt nicht als Standardverfahren. In diesem Zusammenhang soll erwähnt werden, dass in Frankreich, wo der OAGB in den letzten Jahren sehr häufig angewandt wurde, diese Methode mittlerweile aufgrund zahlreicher Langzeitkomplikationen und der hohen Rate an Revisionseingriffen offiziell wieder verlassen wurde.

Single-anastomosis-duodeno-ileal-Bypass mit Sleeve-Gastrektomie

Der Single-anastomosis-duodeno-ileal-Bypass mit Sleeve-Gastrektomie (SADI-S) verbindet Elemente des OAGB (insbesondere die Omega-Formation der Dünndarmschlinge und die Präsenz nur einer einzigen Anastomose) mit Elementen des BPD-DS (Magenverkleinerung mittels Schlauchmagen-Operation und postpylo­rische Anastomose mit dem Dünndarm). Die Länge des «common channel» beträgt 250–300 cm und ist somit deutlich länger als beim klassischen BPD-DS (Abb. 6). Diese Technik wird in den letzten Jahren vermehrt bei Patienten eingesetzt, die nach einer Schlauchmagen-Operation einen ausgeprägten Wiederanstieg ihres Gewichtes erleiden oder primär nur unzureichend abnehmen. Verlässliche Langzeitdaten fehlen zu diesem Verfahren bisher noch, so dass unseres Erachtens weiterhin Zurückhaltung bezüglich dessen Anwendung geboten ist.

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Prof. Dr. med. Bernd Schultes

Stoffwechselzentrum St. Gallen, friendlyDocs AG
Lerchentalstrasse 21
9016 St. Gallen

stoffwechselzentrum@friendlydocs.ch

Dr. med. Guillaume Aeby

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

Prof. Dr. med. Dr. phil. Marco Bueter

Universitätsspital Zürich, Klinik für Viszeralchirurgie,
& Spital Männedorf AG, Klinik Chirurgie

m.bueter@spitalmaennedorf.ch

Dr. med. Guillaume Aeby: kein Interessenkonflikt. Prof. Dr. med. Bernd Schultes ist Vize-Präsident der SMOB.
Prof. Dr. med. Marco Bueter ist Präsident der SMOB. Er gibt an Vortrags­tätigkeiten für die Firmen Johnson & Johnson und Medtronic durchzuführen.

◆ Die in der Schweiz am häufigsten durchgeführte bariatrische Operation ist der proximale Roux-en-Y-Magenbypass (RYGB), gefolgt von der Schlauchmagenresektion (Sleeve).
◆ Beide Verfahren (RYGB/Sleeve) liefern etwa ähnliche Langzeitergebnisse. Bezüglich der Verbesserung der Glucosestoffwechselkontrolle bei Typ 2 Diabetes mellitus sowie bei vorbestehender gastroösophagealer Refluxkrankheit bietet der Roux-en-Y-Magenbypass jedoch Vorteile.
◆ Die Schlauchmagen-Operation ist hingegen mit weniger Mikronährstoffmängeln sowie einem seltenen Auftreten von Dumpingsymptomen im Vergleich zum RYGB assoziiert.
◆ Das gehäufte Auftreten einer gastroösophagealen Refluxerkrankung in Verbindung mit potenziell malignen Schleimhautveränderungen begründet die im internationalen Vergleich zurückhaltende Anwendung der Schlauchmagen-Operation in der Schweiz.
◆ Die Implantation eines Magenbandes wird aufgrund unbefriedigender Langzeitergebnisse heute nur noch selten durchgeführt.
◆ Die Indikation zum Einsatz eines biliopankreatischen Diversion (BPD) Verfahrens muss aufgrund der grossen Gefahr des Auftretens von Mangelzuständen und von Nierensteinen zurückhaltend gestellt werden.

 

1. SMOB.ch – Start [Internet]. [cited 2023 May 11]. Available from: https://www.smob.ch/de/
2. Salminen P, Helmiö M, Ovaska J, Juuti A, Leivonen M, Peromaa-Haavisto P, et al. Effect of Laparoscopic Sleeve Gastrectomy vs Laparoscopic Roux-en-Y Gastric Bypass on Weight Loss at 5 Years Among Patients With Morbid Obesity: The SLEEVEPASS Randomized Clinical Trial. JAMA. 2018 Jan 16;319(3):241–54.
3. Peterli R, Wölnerhanssen BK, Peters T, Vetter D, Kröll D, Borbély Y, et al. Effect of Laparoscopic Sleeve Gastrectomy vs Laparoscopic Roux-en-Y Gastric Bypass on Weight Loss in Patients With Morbid Obesity: The SM-BOSS Randomized Clinical Trial. JAMA. 2018 Jan 16;319(3):255–65.
4. Schauer PR, Bhatt DL, Kirwan JP, Wolski K, Aminian A, Brethauer SA, et al. Bariatric Surgery versus Intensive Medical Therapy for Diabetes – 5-Year Outcomes. N Engl J Med. 2017 Feb 16;376(7):641–51.
5. Howard R, Chao GF, Yang J, Thumma J, Chhabra K, Arterburn DE, et al. Comparative Safety of Sleeve Gastrectomy and Gastric Bypass Up to 5 Years After Surgery in Patients With Severe Obesity. JAMA Surg. 2021 Dec 1;156(12):1160–9.
6. Felsenreich DM, Kefurt R, Schermann M, Beckerhinn P, Kristo I, Krebs M, et al. Reflux, Sleeve Dilation, and Barrett’s Esophagus after Laparoscopic Sleeve Gastrectomy: Long-Term Follow-Up. Obes Surg. 2017 Dec;27(12):3092–101.
7. Genco A, Soricelli E, Casella G, Maselli R, Castagneto-Gissey L, Di Lorenzo N, et al. Gastroesophageal reflux disease and Barrett’s esophagus after laparoscopic sleeve gastrectomy: a possible, underestimated long-term complication. Surg Obes Relat Dis. 2017 Apr;13(4):568–74.
8. Skogar ML, Sundbom M. Early complications, long-term adverse events, and quality of life after duodenal switch and gastric bypass in a matched national cohort. Surg Obes Relat Dis. 2020 May;16(5):614–9.
9. Robert M, Espalieu P, Pelascini E, Caiazzo R, Sterkers A, Khamphommala L, et al. Efficacy and safety of one anastomosis gastric bypass versus Roux-en-Y gastric bypass for obesity (YOMEGA): a multicentre, randomised, open-label, non-inferiority trial. Lancet. 2019 Mar 30;393(10178):1299–309.

«Vademecum» für die Grundversorger

Migräne ist eine häufige neurologische Erkrankung, von der in der Schweiz mehr als 1 Million Menschen betroffen sind. Sie ist durch eine wiederkehrende Überempfindlichkeitsstörung gekennzeichnet, bei der neben dem Hauptsymptom Kopfschmerz auch Licht, Geräusche, Gerüche, Berührungen oder Bewegungen als störend empfunden werden. Gerade für weniger stark betroffene Migränepatienten sind die Hausärztinnen und Hausärzte die wichtigsten Behandlungspartner. Bei höherem Leidensdruck, insbesondere bei vermehrter Abwesenheit von Beruf und Privatleben oder unbefriedigendem Therapieerfolg, ist die Einschaltung von Neurologen oder Kopfschmerzspezialisten unbedingt zu empfehlen. Dieser Artikel gibt ein Update über die wichtigsten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten.

Migraine is a common neurological disorder that affects more than 1 million people in Switzerland. It is characterized by a recurring hypersensitivity disorder in which, in addition to the main symptom of headache, light, sounds, smells, touch or movement are also perceived as disturbing. Especially for less severely affected migraine patients, family doctors are the most important treatment partners. In case of higher suffering pressure, especially in case of increased absence from work and private life or unsatisfactory therapy success, the involvement of neurologists or headache specialists is highly recommended. This article provides an update on the most important diagnostic and therapeutic options.
Key Words: migraine, hypersensitivity, diagnosis, therapy

Diagnose

Die internationale Kopfschmerzklassifikation (ICHD-3) unterscheidet verschiedene Formen der Migräne (1). Einerseits wird die Migräne anhand der monatlichen Anzahl der Kopfschmerztage in eine episodische oder chronische Form eingeteilt, wobei 15 Tage als arbiträre Grenze festgelegt wurden. Vor Kurzem wurde von renommierten Kopfschmerzspezialisten vorgeschlagen, diese Grenze bereits bei 8 Tagen festzulegen, da ab dieser Häufigkeit auch die Beeinträchtigung/Behinderung im Alltag deutlich zunimmt (2). Auch wenn die Migräne zu den höchst-prävalenten neurologischen Störungen gehört und in der Schweiz schätzungsweise mehr als 1 Million Menschen betroffen sind, darf davon ausgegangen werden, dass 80-90% weniger als 4 Migränetage pro Monat haben und ausserhalb dieser kaum im Alltag eingeschränkt sind.

Die Migräne kann man als wiederkehrende Reizüberempfindlichkeitsstörung beschreiben, wobei neben dem Leitsymptom Kopfschmerzen auch Licht, Lärm, Gerüche, Berührung oder Bewegung als störend wahrgenommen werden. Etwa 1⁄6 der Patienten berichtet zudem über passagere neurologische Ausfallerscheinungen (visuell, sensorisch, motorisch, kognitiv), welche in der Regel vor den Kopfschmerzen beginnen und sich über Minuten entwickeln. Dadurch erfolgt die Einteilung in Migräne mit und ohne Aura, wobei es auch isolierte Auren gibt, die familiäre hemiplegische Migräne oder auch «Visual Snow» als Migränekomplikation.
Gewisse vorwiegend pädiatrische Migränevarianten (abdominelle Migräne, zyklisches Erbrechen) dürften auch in der Grundversorgung gelegentlich anzutreffen sein. Im Appendix der ICHD-3 wird zudem neuerdings auch die vestibuläre Migräne aufgeführt sowie eine rein menstruelle und menstruationsassoziierte Migräne unterschieden. Die Hormone, insbesondere der Östrogenabfall, sind nicht nur Trigger der Attacken, sondern generell ein wichtiger Grund, weshalb Frauen in den reproduktiven Jahren etwa dreimal so häufig betroffen sind. Hinsichtlich der Trigger gilt es sonst sicherlich zu beachten, dass teilweise auch Vorboten/-symptome der Kopfschmerzattacken, wie z.B. die Reizüberempfindlichkeit oder die Lust auf Süsses, fehlinterpretiert werden. Als Triggermanagement bietet sich entsprechend der 3E-Ansatz an: Experimentieren und dokumentieren – eindeutige Trigger Eliminieren – sich vermeintlichen Triggern Exponieren (Tab. 1). Inwieweit der Einsatz von neuen Technologien, wie mobile Apps und Wearables, einen längerfristigen Nutzen bringen oder aber einen zu starken Fokus auf das Problem setzen, ist noch nicht abschliessend geklärt.

Mechanismen

Die Pathophysiologie der Migräne ist komplex und umfasst mehrere Faktoren (3). Es wird angenommen, dass eine komplexe Wechselwirkung zwischen genetischen, neurochemischen und Umweltfaktoren sowohl zu der Krankheit, als auch zur Auslösung der einzelnen Attacken führt. Eine zentrale Funktion spielt auch das trigemino-vaskuläre System sowie verschiedene Neurotransmitter, wie das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). In den letzten Jahren gab es vor allem im Bereich der medikamentösen Prophylaxe bedeutende Fortschritte, wofür ich auch auf frühere Artikel in dieser Zeitschrift verweise (4, 5).

Akutbehandlung

Patienten wünschen sich ein rasch wirkendes Medikament, das auch das Funktionieren im (Berufs-)Alltag wieder möglich macht.

Das können Schmerzmittel, Kombinationen mit Antiemetika oder Triptane sein. Die bereits 30-jährige Präsenz der Serotoninrezeptor-Agonisten spricht sicherlich auch für ihre Sicherheit. Sie dürften allenfalls sogar gezielter und häufiger eingesetzt werden, z.B. auch in der Schwangerschaft (6), insbesondere, wenn Alternativen fehlen. Als neue spezifische Substanzklassen existieren die Ditane, wobei das Zulassungsgesuch für Lasmiditan zurückgezogen wurde. Hingegen dürfen wir weiterhin mit der Einführung der Gepante rechnen, mit Rimegepant als erstem Vertreter. Dieser kleinmolekulare CGRP-Antagonist nimmt hierbei eine Sonderstellung ein, weil er auch zur prophylaktischen Therapie eingesetzt werden kann. Da es bei den Gepanten bisher keine Hinweise gibt, dass sie bei einem Übergerbrauch zu einer Migränechronifizierung führen (MÜKs), könnte sogar die alleinige Behandlung der Attacken längerfristig die Migränefrequenz bessern (7).

Medikamentöse Prophylaxe

Die Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG, www.headache.ch) werden in Kürze in der 11. Auflage erscheinen und listen neben den neuen Wirkstoffen auch die langjährig-etablierten Medikamente auf. Sicherlich sind die Nebenwirkungen letzterer eher vielfältiger und häufiger, jedoch können solche manchmal auch – gezielt eingesetzt – einen positiven Effekt haben und dadurch die Adhärenz verbessern (8).

Wie bereits erwähnt spielt das CGRP bei Migräneattacken eine Schlüsselrolle, v.a. in der Schmerzentstehung. Die in den letzten Jahren entwickelten Hemmer dieses Systems bieten Patienten eine vielversprechende Option zur Behandlung von Migräne. Erste klinische Beobachtungsstudien zeigen, dass die Wirksamkeit und Sicherheit der Zulassungsstudien reproduziert werden kann, wenn nicht sogar teilweise besser ausfällt (9). Die teuren Medikamente sind in ihrer Anwendung jedoch stark eingeschränkt und können nur von Neurologen verschrieben werden. Eine direkte Vergleichsstudie von Erenumab und Topiramat zeigte nicht nur eine bessere Adhärenz, sondern auch eine höhere Wirksamkeit, sodass nun in Deutschland der CGRP-Rezeptor-Antikörper bereits als zweitlinien Therapie eingesetzt werden kann (10).

Nichtmedikamentös

Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Schlafmuster, Stressmanagement und körperliche Aktivität können einen Einfluss auf die Häufigkeit und Schwere von Migräne haben. Es ist wichtig, dass Patienten ihre Gewohnheiten überdenken und positive Verhaltensänderungen vornehmen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie konnten wir zeigen, dass dies vor allem im Einsatz des betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) nicht nur erfolgsversprechend sein kann, sondern auch einen direkten ökonomischen Nutzen bringen kann, in Anbetracht eines «return of invest» von über 1:5 (11).

Die externe Neurostimulation des Trigeminusnerven zeigt in Studien auch duale Effekte, sowohl für die Attacke wie als Prophylaxe. Die meisten Krankenkassen beteiligen sich an den Therapiekosten und es darf sogar mit einer weiteren Anpassung der MiGeL-Kriterien durch das BAG gerechnet werden. Auch für die Vagusnervstimulation, die transkranielle Gleichstromstimulation und als neuestes sogar für die entfernte («remote») Neuromodulation gibt es kontrollierte Studien.

In Tabelle 1 sind weitere nichtmedikamentöse Möglichkeiten aufgeführt, wie Betroffene die Migräne positiv beeinflussen können.

Empfehlung

Gerade für die weniger stark betroffenen Migränepatienten sind die Grundversorger die wichtigsten Behandlungspartner. Die Diagnose kann in aller Regel rasch gestellt werden, allenfalls unter Beizug einer Checkliste für Warnsymptome (12). Ein Tagebuch kann helfen, mögliche Muster (wie z.B. hormonelle Korrelation) zu erkennen und den Leidensdruck besser einzuschätzen. Ist dieser erhöht, wobei als Faustregel 5 Migränetage pro Monat gelten, kann gemäss den SKG-Empfehlungen eine Prophylaxe begonnen werden. Bei höherem Leidensdruck, insbesondere bei vermehrten Ausfällen im Berufs- oder Privatleben oder nicht-zufriedenstellendem Therapieerfolg ist sicherlich die Involvierung der Neurologen oder Kopfschmerzspezialisten empfohlen.

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Prof. Dr. med. Andreas R. Gantenbein

Facharzt Neurologie
Neurologie am Untertor
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Honorare für Beratung und/oder Referate von folgenden Firmen: AbbVie, Almirall, Biomed, Eli Lilly, Grünenthal, Lundbeck, Neurolite, Novartis, Pfizer, TEVA.

1. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia. 2018; 38(1):1-211.
2. Chalmer MA et al. Proposed new diagnostic criteria for chronic migraine. Cephalalgia. 2020; 40(4):399-406.
3. Goadsby PJ et al., Pathophysiology of Migraine: A Disorder of Sensory Processing. Physiol Rev, 2017; 97(2):553-622.
4. Gantenbein AR, Pohl H. Update Migräne. der informierte arzt 2021; 2:22-4.
5. Stoyanova-Piroth G, Gantenbein AR, Sandor PS. Neue Antikörper in der Migräneprophylaxe – wann und wie einsetzen? der informierte arzt 2021; 11:3-5.
6. Robblee J. A survey study of headache specialists’ comfort with triptan contraindications. Headache. 2023 (Epub ahead of print).
7. Gantenbein AR, Kleinschmidt A. Is the right way to go in between? : Rimegepant as needed provides preventive benefit. A comment on: monthly migraine days, tablet utilization, and quality of life associated with rimegepant-post hoc results from an open label safety study (BHV3000-201). J Headache Pain. 2023; 24(1):33.
8. Sándor PS, Gantenbein AR. Positive Nebenwirkungen in der Migränetherapie. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie 2013; 1:13-15.
9. Gantenbein AR et al. Interim results of the Swiss quality of life and healthcare impact assessment in a real-world erenumab treated migraine population (SQUARE study). J Headache and Pain 2022; 23(1):142.
10. Reuter U et al. Erenumab versus topiramate for the prevention of migraine – a randomised, double-blind, active-controlled phase 4 trial. Cephalalgia 2022; 42(2):108-18.
11. Schaetz L et al. Impact of an employer-provided migraine coaching program on patient burden and engagement. Headache 2020; 60(9):1947-60.
12. Do TP et al. Red and orange flags for secondary headaches in clinical practice: SNNOOP10 list. Neurology 2019; 92(3):134-44.

SGAIM Frühjahrskongress in Basel

Der Frühjahrskongress der SGAIM stand unter dem Motto «Together for better care».

Die Tagungspräsidenten Prof. Dr. med. Christoph Henzen, Luzern, und Prof. Dr. med. Balthasar Hug, Luzern, schrieben in ihrer Einladung «The Times They Are ­a-Changin’» – ein ­Songtitel von Bob Dylan, in dem er vor 50 Jahren Veränderung beschreibt, und die Notwendigkeit sich damit zu befassen: «you better start swimmin or you’ll sink like a stone». Tatsächlich erleben wir eine Transformation fast aller Lebensbereiche – und damit auch und ganz besonders in unserer Rolle als Ärztin und Arzt, in der Beziehung zum kranken Menschen, in der fachlichen Herausforderung, in der Interaktion im Gesundheitswesen, mit der Politik…», so die Autoren. Mit dem gewählten Motto will das Organisationskomitee auf die Wichtigkeit der interprofessionellen und interdisziplinären Betreuung des kranken Menschen hinweisen. Das zweite wichtige Anliegen des wissenschaftlichen Komitees ist «climate change and health». Die wissenschaftliche Basis soll es uns ermöglichen, die ärztliche Verantwortung zugunsten des Klimas wahrzunehmen. Das dritte Kernthema war die künstliche Intelligenz.

Klimawandel und Gesundheit


Der Klimawandel war am SGAIM Frühjahreskongress auch Thema einer Keynote Lecture. Prof. Dr. Reto Knutti, ETH Zürich, schilderte sehr eindrücklich die Klimaveränderungen der letzten Jahrzehnte. Er stellte die Diagnose «die Erwärmung ist unwiderruflich und der Einfluss der Menschen als Ursache ist klar.» Der Referent zeigte die Entwicklung der Methan- und der CO2-Werte über die Zeit und deren enormen gegenwärtigen Anstieg. Als Gegenmassnahmen bieten sich die folgenden Optionen an: ignorieren, anpassen oder abschwächen. Der Klimawandel beeinflusst die potenzielle Ausbreitung von Viren. Die asiatische Tigermücke, Zika und Dengue breiten sich aus. Gewalt und Aggressivität zeigen einen 10%igen Anstieg bei Hitze. Notfälle im Bereich der psychischen Gesundheit nehmen bei Hitze potenziell zu. Heisse Tage/Nächte und Hitzewellen sind gefährlich für ältere Menschen und verringern die Arbeitsproduktivität. Der schottische Meteorologe Scott Duncan sagte, dass er dachte, dass die 4-6°C in Kanada nicht möglich wären, jedenfalls nicht in seinem Leben. Die Geschichte zeigt, dass der Hitzerekord drei Tage nacheinander mit einer unfassbaren Marge von +4.6°C gebrochen wurde. Über diesen Moment wird man noch Jahrhunderte lang sprechen. Klimawandel als Treiber von Migration und Konflikten, so der Sachstandbericht der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften berichtet «die Medizin muss sich vom Konzept des unbegrenzten Fortschritts lösen und vermehrt personelle, finanzielle und ökologische Grenzen berücksichtigen» und «stärker auf die Gesundheitsförderung statt nur auf technische medizinische Verfahren setzen». «Die gesellschaftliche Mobilisierung muss bewirken, dass der Umwelt- und Klimanotstand in der öffentlichen Meinung als bedeutende Herausforderung für die Gesundheit der Bevölkerung anerkannt wird».

Planetarische Gesundheit: eine Handlungsstrategie der FMH zum Klimawandel für Ärzte in der Schweiz. Information von Ärzten und Patienten. Reduzierung der Treibhausgasemissionen (Abschwächung), Anpassung an den vorhersehbaren Klimawandel, Stärkung der Vorbildfunktion von Ärzten.

Unsere CO2-Emissionen sind ein Erbe für die Zukunft. Der medizinische Sektor verursacht ungefähr 6% der schweizerischen Treibhausgasemissionen und jede Menge Abfall.

Niemand hat jemals eine Entscheidung aufgrund einer Zahl getroffen. Es braucht eine Geschichte, so Daniel Kahnemann, Nobelpreisgewinner für Ökonomie 2002.

Der Referent fasste seine Ausführungen wie folgt zusammen:

  • Der Klimawandel ist Realität, und die Menschheit ist die dominante Ursache der Erwärmung. Die Auswirkungen auf längere Zeiträume sind überwiegend negativ. Wir haben nicht viel Zeit zu entscheiden, aber unsere Entscheidungen und Aktionen werden die Welt über viele Jahrhunderte beeinflussen. Der Klimawandel ist beinahe unumkehrbar.
  • Um die vereinbarten Klimaziele zu erreichen, müssen die Netto-CO2-Emissionen vor 2050 auf null sinken. Die derzeitigen Anstrengungen reichen nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen
  • Technologisch und wirtschaftlich ist ein ehrgeiziges Klimaziel noch erreichbar. Es gibt starke wirtschaftliche Anreize zur Risikominderung. Langfristig ist es billiger, jetzt Abhilfe zu schaffen, als später zu zahlen.
  • Wir haben noch nie so viel über die Wissenschaft und die Lösungen gewusst. Dies sei eine Chance. Aber es braucht politischen Willen, Innovation, Vision und Führung.

Neues zur Lungenembolie


Mit einem fiktiven Fallbeispiel begann Prof. Dr. med. Dragomir Aujesky, Bern, seine Präsentation. Ein 90 Jahre alter Mann präsentiert sich mit akuter Dyspnoe, die vor 2 Tagen begann. Der Mann leidet an einer arteriellen Hypertonie, die mit Lisinopril behandelt wird. Der Blutdruck beträgt aktuell 110/70mmHg, Puls 100, SO2 92%. Thorax-Röntgen und COVID-19-Test sind normal. Was sind die nächsten angemessenen Untersuchungsschritte bei diesem Patienten? A) Klinische Wahrscheinlichkeit und D-Dimer (cut-off 500µg/l), B) Computertomographische, pulmonale Angiographie (CTPA). Kompressionsultraschall der unteren Extremitäten, weitere Strategien. Der hochsensitive D-Dimer-Test leidet an mangelnder Spezifität (40%). Um eine Lungenembolie (PE) auszuschliessen sind bei ambulanten Patienten 3 Patienten notwendig, bei hospitalisierten Patienten 30, bei Krebspatienten 9, bei über 80jährigen 20, bei Schwangerschaft (30. bis 42. Woche) 4.

Die Einführung der CTPA war mit einer Überdiagnose und minimaler Veränderung der Mortalität vergesellschaftet. Grundlage der PE-Diagnose sind Algorithmen. D-Dimer vermeidende Diagnostik-Strategie: 8 PE Rule-out Kriterien: Alter ≥50 Jahre, Puls ≥100/Min., SO2 <95%, Hämoptyse, Estrogeneinnahme, Chirurgie/Trauma innerhalb der letzten 4 Monate, vorgängige Lungenembolie, einseitige Beinschwellung. Keines dieser Kriterien: keine Lungenembolie, ≥1 Kriterium: reguläre Untersuchung, z.B. D-Dimer. CTPA. Falschnegative Rate 0.1% in der PE Rule-out-Gruppe, 10% weniger CTPAs im Vergleich zur Kontrollgruppe. Mit Alters-adaptiertem D-Dimer Cut-off Falschnegativrate <0.5%, 10% weniger CTPA im Vergleich zum 500µg/l Cut-off. Risikoadaptierter D-Dimer-Cut-off: Falschnegativrate 0.6%, 14% weniger CTPA im Vergleich zu 500µg/l D-Dimer-Cut-off.

«Neue» diagnostische Trends sind Renaissance des Beatmungs-Perfusions-Lungen-Scans (V/Q Scanning). V/Q Scanning wird nach klinischer Vorhersage, und D-Dimer dem CTPA zum Ausschluss der Bestrahlungsexposition vorgezogen. Eine vielversprechende Technologie ist das SPECT V/Q Scanning. Grössere Richtigkeit (83-100% Sensitivität, 87-100% Spezifität), geringe Rate nicht diagnostischer Tests (<5%), grosse klinische Studie laufend.

Zurück zu unserem Fall: Revised Geneva-Score (6 Punkte), moderate Wahrscheinlichkeit einer Lungenembolie. D-Dimer 1150µg/l, CTPA 2 kleine subsegmentale Lungenembolien.

Behandlungsstrategie 1: A) Antikoagulation (AC), B) Keine AC, Falls AC, Behandlungsstrategie 2: A) LMWH plus VKA, B) DOAC. Behandlungsstrategie 3: Ambulante Behandlung, B) Hospitalisierung.

Subsegmentale Lungenembolie

Ungefähr 15% der mit CTPA entdeckten Lungenembolien.

Bis zu 75% können falsch positive Befunde sein (Artefakten). Nur mittelmässige Übereinstimmung zwischen den beurteilenden Radiologen (k=0.38). Die klinische Bedeutung ist unbekannt. Mangel an randomisierten Behandlungsstudien. Muss eine subsegmentale Lungen Embolie antikoaguliert werden? In einer prospektiven randomisierten multizentrischen Studie wurden 296 Patienten mit niedrigem Risiko mit isolierter subsegmentaler Lungenembolie ohne begleitende proximale tiefe Venenthrombose nur mit telefonischer Überwachung (keine Antikoagulation) behandelt. Das Outcome war VTE Rückfall innerhalb von 90 Tagen. Es gab 8 VTE-Rückfälle (3.1%), 4 nicht tödliche Lungenembolie-Rückfälle und 4 tiefe Venenthrombosen.

Umgang mit subsegmentalen Lungenembolien gemäss den 2021 ACCP-Guidelines: Patienten mit subsegmentalen Lungenembolien ohne proximale tiefe Beinvenenthrombosen 1) falls hohes Risiko für VTE-Rückfälle (hospitalisierte oder Krebspatienten): Antikoagulation, 2) bei niedrigem Risiko für VTE-Rückfälle: klinische Überwachung.

Prognose bei symptomatischer Lungenembolie

  • Nicht massive Lungenembolie:
    Systolischer Blutdruck ≥90mmHg: 95% der Patienten 30 Tages-Mortalität 8%: Antikoagulation zu Hause oder im Spital.
  • Massive Lungenembolie:
    Systolischer Blutdruck <90mmHg oder Schock: 5% der Patienten 30 Tages-Mortalität 27%: Thrombolyse im Spital.

Klinisch prognostische Kriterien

Der Referent orientierte ferner über den PESI (Pulmonary Embolims Severity Index) (Aujesky AJRCCM 2005), den vereinfachten PESI (Jimenez und Aujesky, Arch Intern Med. 2010) und die HESTIA Kriterien (Zondag, JTH 2011). Niedrig Risiko-Patienten basierend auf dem PESI, vereinfachtem PESI oder HESTIA sollten für ambulante Behandlung vorgesehen werden (Grad B, BTS 2018).

Die Risikostratifizierung ist in den ESC-Guidelines von 2019 festgelegt. Schock oder Hypotension bedeutet hohes Risiko und Primärperfusion. In den anderen Fällen wird das Risiko auf Grund von (s) PESI und rechtsventrikulärer Funktion evaluiert. Bei hohem Risiko (PESI) und rechtsventrikulärer Dysfunktion soll Troponin bestimmt werden, falls positiv intermediäres bis hohes Risiko: Antikoagulation, Überwachung, ev. Rescue-Perfusion. Bei niedrigem PESI-Risiko, ohne rechtsventrikuläre Dysfunktion, niedriges Risiko: Antikoagulation, Heimpflege in Betracht ziehen, frühe Entlassung.

Bei Patienten mit intermediärem Risiko für Lungenembolie verhindert die fibrinolytische Therapie eine hämodynamische Kompensation, erhöht aber das Risiko für Blutung und Schlaganfall.

Antikoagulation entsprechend 2021 ACCP-Guidelines

  • DOACs (Apixaban, Dabigatran, Edoxaban, Rivaroxaban) werden vorgezogen. Dies kann nicht für alle Patienten mit CrCl <30ml/Min gelten, ebenso nicht für Patienten mit Anti-Phospholipid Antikörper Syndrom. Hier sind VKAs einzusetzen, bei Schwangerschaft niedermolekulares Heparin.
  • Bei aktivem Krebs: DOACs mit Ausnahme von Dabigatran, werden niedermolekulares Heparin oder VKAs vorgezogen.

Post Lungenembolie-Syndrom

  • Die Inzidenz chronischer thromboembolischer pulmonaler Hypertonie beträgt ca. 4%
  • Aber ungefähr 1/3 der Patienten haben Restsymptome (Dyspnoe, Abnahme der Belastungsintoleranz, Stress, Angst) 3 Monate nach Lungenembolie ohne pulmonale Hypertonie.
  • Aetiologie: Dekonditionierung, Übergewicht, und kardiorespiratorische Komorbidität eher als anhaltende Perfusionsstörungen und rechtsventrikuläre Dysfunktion.
  • Nutzen einer bewegungsorientierten Rehabilitation? (Klok, Blood Rev 2014; Kahn, Chest 2016)

Fazit

  • Zur Diagnose der Lungenembolie sollte wenn möglich eine CTPA-vermeidende Strategie angewandt werden
    Die klinische Bedeutung einer subsegmentalen Lungenembolie und das Risiko/Nutzen-Verhältnis der Antikoagulation sind ungewiss
  • Niedrig-Risiko-Patienten aufgrund eines validierten prognostischen Scores ((s)PESI, HESTIA) sind Kandidaten für die ambulante Behandlung
  • Thrombolyse ist indiziert bei hämodynamisch instabilen Patienten
  • DOACs für die Antikoagulation in den meisten Fällen. Die Dauer hängt vom Kontext ab
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Prävalenz und Merkmale von Dysphagie auf der Grundlage einer bevölkerungsbasierten Erhebung

Dysphagie ist das subjektive Gefühl von Schluckbeschwerden. Dysphagie wirkt sich negativ auf die Lebensqualität aus und verringert die Arbeitsproduktivität. Schluckbeschwerden sind die zehnthäufigste Ursache für ambulante Visiten in den USA bei gastrointestinalen (GI) Symptomen mit über 600’000 Visiten pro Jahr (1, 2).

Obwohl Dysphagie häufig ist, gibt es nur begrenzte Informationen über die Prävalenz und Belastung in den Vereinigten Staaten. Es wurde deshalb eine bevölkerungsbasierte Querschnittsbefragung unter mehr als 31’000 Erwachsenen durchgeführt (3), um die Epidemiologie, die klinischen Merkmale und das Verhalten von Personen mit Dysphagie zu bewerten. Diese Studie wurde vom Cedars-Sinai Institutional Review Board (Pro47958) genehmigt.

Studiendesign und Teilnehmerrekrutierung

Um eine repräsentative, bevölkerungsbasierte Stichprobe zu rekrutieren, erfolgte eine Zusammenarbeit mit dem Umfrageforschungsunternehmen Cint. Dieses verwendet Quoten für Alter, Geschlecht und Region basierend auf den neuesten US-Volkszählungsdaten.

Cint lud Teilnehmer ein, die die Volkszählungsquoten erfüllten, an einer Online-Umfrage teilzunehmen. Die Umfrage wurde als Gesundheitsumfrage und nicht als Dysphagie-fokussierte Studie beschrieben. Umfrageeinladungen wurden verteilt bis das Stichprobengrössenziel von etwa 5000 Befragten mit Schluckbeschwerden erreicht wurde, so dass ein robuster, auf Dysphagie fokussierter Datensatz erstellt werden konnte.

Studienpopulation

Zur Erreichung des primären Ziels, der Bestimmung der Prävalenz von Dysphagie in der Bevölkerung, wurden alle ≥18 Jährigen gefragt, welches der folgenden GI-Symptome sie jemals erlebt hatten: Dysphagie, Bauchschmerzen, Blähungen, Darminkontinenz, Verstopfung, Durchfall, Sodbrennen/Reflux, Übelkeit/Erbrechen oder keines der oben genannten. Dysphagie wurde beschrieben als «Schluckbeschwerden (Nahrung oder Flüssigkeiten, die im Hals oder in der Brust stecken bleiben, Schluckbeschwerden oder
Erstickungsgefühl beim Schlucken)». Die Autoren setzten einen «verblindeten» Screener ein, der acht GI-Symptome auflistete, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Befragten an Dysphagie litten und nicht nur eine Entschädigung suchten. Nur Befragte, die Dysphagie auswählten, setzten die restliche Befragung fort, die Fragen zum Schweregrad der Dysphagie, zur Verwendung von Kompensationsmanövern, zur Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung und zu Komorbiditäten im Bereich der Speise-röhre enthielt. Es wurden multivariable Regressionsmethoden verwendet, um Störfaktoren auszuschliessen.

Die Teilnehmer wurden danach gefragt, ob sie sich jemals einer Ösophaguserweiterung oder Nahrungsentfremdung unterzogen hatten.

Zusätzlich wurde gefragt, ob von einem Gesundheitsdienstleister eine eosinophile Ösophagitis (EoE) diagnostiziert wurde. Diejenigen, die bejahten, beantworteten Fragen zum Zeitpunkt der Diagnose und zu Anbietern, die sie für ihren Zustand aufgesucht hatten. Die Teilnehmer wurden auch zu aktuellen EoE-Behandlungen befragt: Protonenpumpenhemmer, geschlucktes inhalatives Steroid, Steroidflüssigkeit oder Suspension, Steroidtablette; Eliminationsdiät, woraufhin sie den abgekürzten Fragebogen zur Behandlungszufriedenheit für Medikamente (TSQM-9) ausfüllten (6).

Alle Teilnehmer füllten auch den PROMIS Global Health Short Form Questionnaire aus (7) zusammen mit Fragen zur Bewertung von Komorbiditäten. Schliesslich wurden demografische und sozioökonomische Fragen gestellt.

Der primäre Endpunkt war, ob Personen jemals eine Dysphagie erlebt hatten, die durch den GI-Symptom-Screener beurteilt wurde. Bei Patienten mit Dysphagie war ein sekundäres Ergebnis, ob sie wegen ihrer Schluckbeschwerden eine Gesundheitsversorgung suchten. Weitere sekundäre Endpunkte waren die Prävalenz von EoE und die Verwendung und Zufriedenheit mit Behandlungen zur Behandlung von EoE, gemessen am TSQM-9.

Resultate

Von 31’129 Personen, die an der Umfrage teilnahmen, gaben 4’998 Befragte (16.1%) an, an Dysphagie zu leiden; 92.3% von ihnen hatten Symptome in der Vorwoche. Es zeigte sich, dass 16.3% der Befragten ihre Dysphagie in den letzten 7 Tagen entweder als «ziemlich» oder «sehr» schwerwiegend beschrieben. Das Trinken von Flüssigkeiten zur Unterstützung von Dysphagie (86.0%) und die längere Zeit bis zum Essen (76.5%) waren die häufigsten Kompensationsmanöver. Insgesamt suchten 51.1% der Personen Behandlung für ihre Schluckbeschwerden. Höheres Alter, männliches Geschlecht, Vorhandensein einer Quelle für Pflege- und Krankenversicherung, Komorbiditäten und schwerere Dysphagie-Symptome erhöhten die Chancen, Pflege zu suchen (P< 0.05). Die am häufigsten berichteten ösophagealen Komorbiditäten waren gastroösophageale Refluxkrankheit (30.9%), eosinophile Ösophagitis (8.0%) und Ösophagusstriktur (4.5%).

Schlussfolgerungen

In einer grossen bevölkerungsbasierten Umfrage stellte sich heraus, dass Dysphagie häufig ist; 1 von 6 Erwachsenen berichtete über Schluckbeschwerden. Die Hälfte der Personen hat ihre Symptome jedoch nicht mit einem Arzt besprochen, und viele könnten behandelbare Störungen haben.

Quelle: Adkins C et al. Prevalence and Characteristics of Dysphagia Based on a Population-Based Survey . Clin Gastroenterol Hepatol. 2020; 18: 1970–1979.e2. doi:10.1016/j.cgh.2019.10.029.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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1. Camilleri M et al. Clin Gastroenterol Hepatol. 2005;3:543–52.
2. Pewery AF et al. Gastroenterologie 2019;156:254–72.e11.
3. Abdel Jalil AA et al. Am J Med. 2015; 128:1138. e17–23.
4. Almario CV et al. Am J Gastroenterol 2018;113:1701–10.
5. Spiegel BM et al. Am J Gastroenterol. 2014; 109:1804–14.
6. Bharmal M et al. Health Qual Life Outcomes 2009;7:36.
7. Hays RD et al. Qual Life Res. 2009;18:873–80.

Prix Viollier 2023

Beim Präsidentendiner anlässlich des SGAIM Frühjahrskongresses wurde in der einzigartigen Reithalle Wenkenhof in Riehen der Forschungspreis, gestiftet von Viollier, zum 21. Mal vergeben. Die unabhängige Jury hatte die Arbeit «Fast multiplex bacterial PCR of bronchoalveolar lavage for antibiotic stewardship in hospitalised patients with pneumonia at risk of Gram-negative bacterial infection (Flagship II): a multicentre, randomised controlled trial» von Andrei M. Darie, Nina Khanna, Kathleen Jahn, Michael Osthoff, Stefano Bassetti, Mirjam Osthoff, Desirée M Schumann, Werner C. Albrich, Hans Hirsch, Martin Brutsche, Leticia Grize, Mi-chael Tamm und Daiana Stolz, von der Klinik für Pneumologie des Universitätsspitals Basel, die im Lancet Respiratory Medicine 2022; 10: 877-887 erschienen ist, als Preisträger 2023 erkoren.

Dr. Darie durfte den mit CHF 10’000 dotierten Preis aus der Hand des Geschäftsleitungsmitglieds Dr. med. Maurice Redondo entgegennehmen.

Unter der Leitung der Professoren Michael Tamm und Daiana Stolz hat Dr. Darie eine multizentrische, randomisierte Studie verfasst, die den Nutzen einer bakteriellen Multiplex-PCR in der Bronchiallavage von hospitalisierten Patienten mit Pneumonie und einem Risiko für Infektionen mit gramnegativen Bakterien untersucht. Die Arbeit zeigt, dass die Analyse der Bronchiallavage durch eine multiplex bakterielle PCR-Untersuchung die Dauer einer unangebrachten antibiotischen Therapie bei Patienten, die wegen einer Pneumonie hospitalisiert wurden und ein Risiko für gramnegative Stäbcheninfektion aufwiesen, verkürzt. Die Studie wurde in der Zeitschrift Lancet Respiratory Medicine publiziert, einer Zeitschrift mit Impact Factor 102.6. Die Begutachter äusserten sich dazu wie folgt: «Die Studie hat das Potenzial, ein Meilenstein auf dem Gebiet der molekularen Diagnostik und der Antibiotikatherapie zu werden.»

Der Ansatz einer Multiplex-PCR in der Bronchiallavage sollte im Rahmen künftiger «Antibiotic-Stewardship»-Strategien weiter berücksichtigt werden. Unter «antibiotic stewardship» versteht man den rationalen und verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika durch den Nachweis einer (bakteriellen) Infektion, die Wahl des geeigneten Antibiotikums sowie die Anpassung der Thera-piedauer, die Dosierung und die Form der Antibiotika-Gabe, mit dem Ziel, die Patienten bestmög-lich zu behandeln und gleichzeitig zu verhindern, dass Selektionsprozesse und Resistenzen bei den Bakterien auftreten.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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