Nahrungsmittelintoleranzen: häufiger vermutet als bestätigt

Einleitung

Weit über 30 % der Bevölkerung glauben, unter einer Nahrungsmittelallergie oder -intoleranz zu leiden. Während die Nahrungsmittelallergie in der Regel einer IgE-vermittelten Soforttypallergie entspricht, damit immunologisch vermittelt und potenziell gefährlich ist, ist die Nahrungsmittelintoleranz als nicht immunologische Unverträglich­keitsreaktion auf Nahrungsmittel definiert. Die Unterscheidung zwischen Allergie und Intoleranzreaktion ist für die Beratung und Abklärung Betroffener essenziell. Tab. 1 fasst die klassischen Beschwerden bei einer Nahrungsmittelallergie vom Soforttyp zusammen. Ein Sonderfall stellt die Zöliakie dar, fälschlicherweise auch Glutenintoleranz genannt, eine gluteninduzierte (Auto-)Immunerkrankung mit hoher HLA-Assoziation (1).

Nahrungsmittelintoleranzen werden von Betroffenen viel häufiger vermutet, als dass sie effektiv vorliegen, und führen oft zu nicht indizierten Diäten. Für viele, insbesondere auch in den Medien kolportierten Intoleranzen, besteht keine klinische Evidenz. Sie stellen häufig einen Erklärungsversuch für chronische Beschwerden dar und werden von Patienten als Krankheitsmodell verwendet. Von Patienten geschilderte Beschwerden umschliessen meistens gastrointestinale Symptome sowie unspezifische Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, innere Unruhe und Hitzegefühl, also Beschwerden, die bereits anamnestisch von einer Allergie vom Soforttyp abgegrenzt werden können (siehe auch Tab. 1). 60 % der Patienten mit einem Reizdarmsyndrom ändern ihre Diät, aber leider nicht immer hinsichtlich einer für dieses Krankheitsbild indizierten Form.

Im folgenden Artikel sollen Mythen und Fakten zu verschiedenen Intoleranzreaktionen beleuchtet werden.

Histaminintoleranz

Histamin entsteht durch Decarboxylierung aus der Aminosäure Histidin und wird mithilfe der beiden Enzyme Diaminoxidase (DAO) und Histamin-N-Methyltransferase abgebaut (Abb. 1). Da beim Metabolismus von Alkohol gleiche Enzyme zum Einsatz kommen wie beim His­taminmetabolismus, kann die Einnahme von Alkohol mit dem Histaminabbau interferieren und allfällige histamininduzierte Beschwerden exazerbieren. Endogen synthetisiertes Histamin ist an vielen physiologischen Abläufen im Körper mitbeteiligt. In Mastzellen und Basophilen gespeichert, fungiert Histamin als wichtiger Mediator bei der IgE-vermittelten Allergie vom Soforttyp (siehe assoziierte Beschwerden in Tab. 1). Exogen in grossen Mengen zugeführtes Histamin kann ab 1000 mg zu schweren Intoxikationen führen, z.B. im Rahmen einer Fischvergiftung, auch Scombroid-Vergiftung genannt. Die Fischvergiftung kann mit hoher Wahrscheinlichkeit aber nicht nur auf Histamin zurückgeführt werden. Ob physiologischerweise vorkommendes und in kleineren Mengen oral aufgenommenes Histamin in Lebensmitteln tatsächlich zu ähnlichen Symptomen führen kann wie endogen freigesetztes Histamin, ist bis heute nicht geklärt (2). Beschwerden, die in Zusammenhang mit der Histaminintoleranz hauptsächlich erwähnt werden, sind Flush, Juckreiz, gastrointestinale Beschwerden (Nausea, Krämpfe, Diarrhö und Emesis), seltener auch Beschwerden vonseiten des Respirationstraktes oder kardiovaskuläre Symptome, also zum Teil ähnliche Beschwerden wie im Rahmen einer Soforttypallergie.

Als histaminreich gelten insbesondere mikrobiell verarbeitete resp. fermentierte Nahrungsmittel (Sauerkraut, Rotwein, Hartkäse, fermentiertes Fleisch, Büchsenfisch etc.). Der Histamingehalt in Lebensmitteln hängt u.a. ab von deren Prozessierung, Lagerung und Reifung. So kann z.B. ein Emmentalerkäse zwischen < 0.1 bis 2000 mg Histamin/kg enthalten (2). Patienten mit Verdacht auf Histaminintoleranz eine Liste mit möglicherweise histaminreichen Lebensmitteln abzugeben, ist entsprechend ohne begleitende Ernährungsberatung nicht sinnvoll und fehlleitend.

Eine Abbaustörung des oral aufgenommenen Histamins insbesondere auf Ebene der DAO wird als Hypothese für die Entstehung der Histaminintoleranz postuliert. DAO, aus Schweinenieren gewonnen, ist als Nahrungsergänzungsprodukt verfügbar. Im Rahmen einer doppelblinden placebokontrollierten Studie konnte aber keine signifikante Wirksamkeit der DAO-Supplementation vor oraler Einnahme von Histamin gezeigt werden, zumal die Symptome der Histaminintoleranz in dieser Studie nicht reproduzierbar waren (3). Ähnliche Resultate zeigten sich in einer 2023 publizierten Studie. 59 Patienten mit einer vermuteten Histaminintoleranz wurden verblindet und placebokontrolliert mit Histamin provoziert. In 85 % der Fälle konnte eine His­taminintoleranz ausgeschlossen werden. 63 % der Probanden reagierten auf Placebo. Nur gerade bei vier Patienten (7 %) konnte eine mögliche Histaminintoleranz attestiert werden (4). Bis heute gibt es keine verlässlichen diagnostischen Methoden, die eine Histaminintoleranz sicher belegen können. Die Messung der DAO-Aktivität im Serum wird von einigen Labors angeboten, konnte gemäss früheren Studien jedoch nicht zwischen Histaminintoleranten und Gesunden diskriminieren (5–6). Auch in der Studie aus dem Jahre 2023 ergab sich lediglich ein Trend zu tieferen Werten bei Patienten mit möglicher Histaminintoleranz. Die Spezifität des Testes reichte aber nicht aus, um die Diagnose zu bestätigen (4). Auch die zum Teil praktizierte Hauttestung mit Histamin (Histamin-50-Pricktest) zeigte keinen Unterschied zwischen Histaminintoleranten und Toleranten und wird entsprechend gemäss dieser Studie als nicht tauglich beurteilt. Die Bestimmung des Histamins im Stuhl, ebenfalls von gewissen Labors angeboten, wird als diagnostischer Marker für einen kompromittierten Histaminabbau infrage gestellt, zumal Darmbakterien selbst grössere Mengen von Histamin sezernieren können (2).

Zusammenfassend konnten in der Vergangenheit Beschwerden, die von Patienten mit Verdacht auf Histaminintoleranz geäussert wurden, in der Mehrzahl der Fälle mittels placebokontrollierter Provokationen nicht reproduziert werden. Eine entsprechende Verdachtsdiagnose soll nur mit grosser Vorsicht, nach Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen, gestellt werden. Bei dringendem Verdacht empfiehlt sich zwingend eine Betreuung durch eine bezüglich diesem Krankheitsbild kompetente Ernährungsberatung. Diese umschliesst das Führen eines Ernährungstagebuches, gefolgt von einer kontrollierten diagnostischen Diät und bei Diätansprechen einer nachfolgend gezielten Diätlockerung. In diesem Rahmen kann auch der Einsatz einer DAO-Substitution (Daosin®, Selbstzahlerleistung) unter Beachtung der oben erwähnten Einschränkungen versucht werden.

Intoleranzreaktionen auf Additiva und Farbstoffe

Im Rahmen der industriellen Prozessierung werden Nahrungsmitteln sogenannte Additiva oder Lebensmittelzusatzstoffe in kleinen Mengen zugesetzt, um z.B. Haltbarkeit, Konsistenz, Geruch, Emulgierbarkeit oder Farbe des Nahrungsmittels zu beeinflussen. Der Einsatz dieser Additiva in der Lebensmittelindustrie ist gesetzlich geregelt (schweizerische Zusatzstoffverordnung). Sie müssen in der Zutatenliste genannt werden, u.a. mit der sogenannten ­E-Nummer (siehe Beispiele in Tab. 2). Diesen E-Nummern werden immer wieder krankheitsmachende Wirkungen zugeschrieben sowie die Auslösung oder Exazerbation von chronischen Erkrankungen wie dem atopischen Ekzem, der chronisch spontanen Urtikaria oder von unspezifischen Krankheitssymptomen wie Müdigkeit, Hitzeschübe, Abgeschlagenheit. Verschiedene, meist alte Studien zeigen diskrepante Ergebnisse bezüglich dem Vorliegen einer möglichen Additivaintoleranz (7).

Eine frühere Studie zeigte z.B., dass bei Kindern mit atopischem Ekzem in 75 % häufig nicht indizierte Diäten durchgeführt wurden und dass in 20 % des untersuchten Kollektivs eine Additivaeliminationsdiät durchgeführt wurde, 17 % mieden sämtliche «roten» Lebensmittel aufgrund der fälschlichen Annahme, dass «rote» Lebensmittel zu Hautrötung führen würde (8).

Allergien vom Soforttyp sind v.a. wenn auch selten auf natürliche Additiva beschrieben, wie z.B. auf das echte Karmin E120, aus Cochenilleläusen gewonnen, aber auch auf Pektin E440, aus Äpfeln und Zitrusfrüchten hergestellt, oder Johannisbrotkernmehl E410. Patienten mit einer entsprechenden Allergie berichten über typische Allergiebeschwerden (Tab. 1) unmittelbar nach Einnahme des additivahaltigen Lebensmittels.

Sulfite werden z.B. als Antioxidantien in Lebensmitteln verwendet und führten in den 1980er-Jahren u.a. zu schweren Asthmaexazerbationen. In der Folge wurde der Sulfitgehalt in Lebensmitteln reguliert. Bei einem Gehalt von über 10 mg/kg (10 ppm) muss Sulfit gekennzeichnet werden. Weisswein, Apfelwein und getrocknete Früchte sind besonders sulfitreich. Aufgrund Studien aus den 1980er-Jahren entwickelten ca 4 % der Patienten mit einem Asthma bronchiale unter Provokation mit Sulfiten eine Exazerbation (7). In einer weiteren Studie kam es jedoch bei Patienten mit positiver doppelblinder placebokontrollierter Provokation mit reinem Sulfit nur bei der Hälfte der Patienten zu Beschwerden, wenn sie mit sulfitreichen Lebensmitteln exponiert wurden (9).

Bis heute gibt es keine klare Evidenz, dass Benzoate zu Exa­zerbationen von Urtikaria, atopischem Ekzem oder Asthma bronchiale führen würden (7). Patienten mit dermatologischen Erkrankungen (n=54), u.a. mit atopischem Ekzem und chronischer Urtikaria, wurden in einer Studie mit einer Mischung aus sieben Additiva inkl. Farbstoffe, Sulfite und Benzoate provoziert. Fünf Patienten reagierten auf das Verum und nicht auf das Placebo, drei auf das Placebo und nicht auf das Verum sowie zwei sowohl auf Verum und Placebo. Die Autoren konnten damit keinen signifikanten Einfluss der Additiva auf den Krankheitsverlauf feststellen (10). Eine andere Studie exponierte 100 Patienten mit chronischer Urtikaria einfachblind mit einer Mischung aus 11 verschiedenen Additiva. Zwei Patienten erfuhren eine Exazerbation der Urtikaria. Unter doppelblinder Provokation konnte aber keine Reaktion reproduziert werden (11). In einer neueren Arbeit aus dem Jahre 2022 wurden 286 Patienten mit hohem Verdacht auf Additivaintoleranz doppelblind placebokon­trolliert mit multiplen Additiva in Kapseln provoziert. 15 % reagierten auf die Mischung sämtlicher Additiva mit Flush oder Diarrhö, entwickelten aber keine schwerwiegenderen Beschwerden. In über 80 % konnte eine Additivaintoleranz ausgeschlossen werden (12).

Zusammenfassend ist es möglich, dass einige wenige Patienten auf Additiva mit einer Intoleranzreaktion reagieren. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle konnte in den begrenzt vorliegenden Studien die Diagnose aber nicht bestätigt werden.

Additiva können jedoch das Mikrobiom verändern und damit Einfluss nehmen auf die Entstehung oder Reaktivierung einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. In Studien wurde gezeigt, dass Emulgatoren (z.B. Carboxymethylcellulose, Polysorbat) und Verdickungsmittel (z.B. Maltodextrin) die Mukosabarriere schädigen (13) und in keimfreien Mäusen zu einer niedriggradigen intestinalen Entzündung führen können (14). In der Literatur wird ebenfalls beschrieben, dass Carragene (E407), z.B. als Verdickungsmittel in Konfitüren, Babynahrung, Milchprodukten und Desserts eingesetzt, die Darmpermeabilität erhöhen, die Gesamtbakteriendichte reduzieren als auch die Bakterienzusammensetzung beeinflussen können (15–19).

Salicylatintoleranz

Salicylsäure ist eine natürlich vorkommende Substanz, währenddem Acetylsalicylsäure (Aspirin) eine chemische Verbindung ist, die in der Natur nicht vorkommt. Salicylate kommen natürlicherweise in Nahrungsmitteln vor ­(Alkohol, Obst, Rosinen, Gemüse, Kräuter und Gewürze). Die durchschnittliche tägliche Einnahme bei einer ausgewogenen Diät beträgt 3–5 mg, bei einer beschränkten Bioverfügbarkeit (20). Acetylsalicylsäure ist ein potenter Hemmer der Cyclooxigenase (COX)-1, während Salicylsäure die COX-2-Genexpression hemmt (7). Eine Intoleranz auf Acetylsalicylsäure (und andere NSAID) ist ein bekanntes Krankheitsbild und kann assoziiert sein mit nasalen Polypen, einer chronischen Rhinosinusitis und einem Asthma bronchiale (AERD, aspirin exacerbated disease, früher M. Widal). Bis heute gibt es keine Evidenz, dass die Einnahme von Salicylsäure in Lebensmitteln einen negativen Effekt hat für Patienten mit einer Aspirinintoleranz. Von einer salicylsäurereduzierten Diät ist dringend abzuraten (20).

FODMAP-Intoleranz

FODMAP ist ein Akronym und steht für fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und (And) Polyole. Damit sind Fruktane/Galaktane, Laktose, Fruktose und Polyole gemeint. Dies alles sind kurz- bis mittelkettige Kohlenhydrate, die intestinal eingeschränkt resorbiert und so als osmotisch aktive Teilchen Flüssigkeit in den Dünndarm ziehen und vom Mikrobiom des Kolons fermentiert werden (21). Dies führt zu Meteorismus und Veränderung der Darmtätigkeit, meist Diarrhö. Die viszerale Hypersensitivität, wie sie bei Patienten mit einem Reizdarmsyndrom (irritable bowel syndrome, IBS) vorkommt, kann die Beschwerden erklären, welche diese Patientengruppe nach Konsum von gasproduzierenden Nahrungsmitteln erfährt (22).

Wenn bei Patienten die Diagnose eines Reizdarmsyndroms definitiv bestätigt wurde und Symptome wie Borborygmus, Abdominalgien, Meteorismus, imperativem Stuhldrang sowie Veränderung der Stuhlkonsistenz durch FODMAP-reiche Lebensmittel typischerweise exazerbieren, soll in der Hausarztpraxis keine serologische Bestimmung von Immunglobulinen gegen Nahrungsmittel veranlasst werden.

Falls generelle Lifestyle-Massnahmen und Ernährungsempfehlungen (siehe nebenan) ungenügend wirken, empfehlen wir – entsprechend den internationalen Guidelines – eine FODMAP-arme Ernährung. Diese Ernährungsweise wurde in verschiedenen Studien weltweit geprüft und hat auch gemäss verschiedenen Metaanalysen eine sehr gute Wirksamkeit gezeigt (23). Die Therapie ist am effizientesten, wenn sie durch eine persönliche Ernährungsberatung instruiert, anstatt durch Selbststudium umgesetzt wird (24). Wichtig anzufügen ist, dass nach einer Eliminationsphase von 4–6 Wochen (abhängig vom klinischen Ansprechen) die einzelnen FODMAP-Komponenten schrittweise wieder eingeführt werden und so die individuelle Toleranzschwelle bestimmt wird (25). FODMAPs dienen nämlich dem intestinalen Mikrobiom als Nahrungsquelle. Eine zu rigorose Elimination kann einen negativen Effekt auf das Mikrobiom haben und u.a. zu einer Reduktion an für das Mikrobiom wichtigen Bifidobakterien führen (26). Im Folgenden wird auf die einzelnen FODMAP-Komponenten eingegangen:

Fruktane/Galaktane

Bei einer FODMAP-Intoleranz sind es hauptsächlich die Oligosaccharide Fruktan und Galaktan (Tab. 3), welche das Hauptproblem darstellen, da es im Dünndarm keine Enzyme gibt, welche Oligosaccharide spalten. Somit wandern diese Stoffe unverändert ins Kolon, wo sie bakteriell fermentiert werden und zu den bekannten Symptomen führen. Als pragmatisches Herangehen bei einem vermuteten FODMAP-induzierten IBS können primär diese Oligosaccharide reduziert und nur bei einem Nichtansprechen auch weitere FODMAP-Komponenten ausgeschlossen werden («Step-up»-Herangehensweise). Nebst den bekannten fruktanhaltigen Gemüsen Zwiebel und Knoblauch kommt auch in Weizen sehr viel Fruktan vor, und eine Reduktion des Brotkonsums kann manchmal die Symptomatik bereits deutlich verbessern.

Laktose

Bei einem Laktasemangel liegt ein Enzymmangel zur Spaltung des Disaccharides vor. Durch eine Mutation des Laktasegens sinkt die Laktaseaktivität. Dies ist bei bis zu 15 % der europäischen Bevölkerung der Fall. Die Restaktivität der Laktase in den Dünndarmzotten ist dann unfähig, sämtliche laktosehaltigen Produkte zu spalten. Die Symptome sind mengenabhängig und dienen somit der Diagnostik. Bei Unklarheit oder auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten kann ein H2-Atemtest oder ein Laktase-Biopsie-Schnelltest während einer Gastroskopie zur Diagnosesicherung durchgeführt werden. Therapeutisch gilt es, die Laktosemenge zu reduzieren, die eigene Toleranzschwelle auszutesten und im Bedarfsfall das Enzym zu supplementieren.

Falls kein Laktasemangel und keine Milchallergie vom Soforttyp vorliegen, aber die Patienten trotzdem Beschwerden nach Milchkonsum erfahren, kann z.B. eine Unverträglichkeit aufgrund einer hohen Fettkomponente (3.5 % Vollmilch) oder aufgrund des hohen LCT-Anteils (LCT = long chain triglycerides) der Kuhmilch vorliegen. Bei erhaltener Laktaseaktivität und Symptomen kann es also hilfreich sein, auf eine Drink-/Magermilch (1.5–2.5 resp. 0.1–0.5 % Fettanteil) zu wechseln oder auf Ziegen-/Schafsmilch (niedrigerer LCT- und höherer MCT-Fettgehalt; MCT = medium chain triglycerides) resp. Sojadrink umzusteigen (27).

Fruktose

Fruktose (Tab. 4) wird intestinal über zwei Mechanismen resorbiert: einerseits via den fakultativen GLUT-5-Transporter oder, wenn mit Glukose zusammen resorbiert, effizienter via den GLUT-2-Transporter. Die Fruktosemalabsorption stellt grundsätzlich ein Mengenproblem dar. Die Resorption über den selektiven GLUT-5-Fruktosetransporter ist limitiert. Wie viel Fruktose vertragen wird, ist von Person zu Person verschieden. Die gleichzeitige Aufnahme von Glukose stimuliert die Aktivität des GLUT-5-Transporters, sodass Saccharose (Glukose-Fruktose-Disaccharid) relativ gut resorbiert wird, Zuckeralkohole (Polyole) wirken hingegen hemmend. Die Diagnose einer stark eingeschränkten Fruktoseabsorption kann durch einen H2-Atemtest (Belastung mit 25 g Fruktose; dies entspricht der Menge von ca. 4 dl Apfelsaft) gestellt werden (28).

Die nicht-zöliakiebedingte ­Weizen­sensitivität

Eine spezifische Gruppe der Nahrungsmittelintoleranz wird von Betroffenen mit der Aufnahme von Weizen assoziiert. Patienten berichten über intestinale und extraintestinale Symptome nach Konsum von Weizen, aber sie weisen keine zöliakiespezifischen oder IgE-Antikörper auf (29). Die Prävalenz liegt zwischen 0.6 %–10 % und kommt mehrheitlich bei Frauen vor (30). Da es keinen Biomarker für diese Entität gibt, ist es schwierig, eine affirmative Diagnose zu stellen. Das Krankheitsbild wird aufgrund mangelnder Evidenz kontrovers diskutiert. Die beschriebenen Symptome sind mannigfach. Als Ursache der weizeninduzierten Beschwerden könnte auch ein IBS vorliegen mit Exa­zerbation der Beschwerden aufgrund einer Fruktanintoleranz (siehe oben) oder eine Unverträglichkeit auf andere Weizenproteine (z. B. Amylase-Trypsin-Inhibitoren, ATI). Eine Metaanalyse zeigte z. B., dass nur 16 % der «nichtzöliakiebedingten Weizensensitivität»-Patienten gluten- spezifische Symptome zeigten (31). Zudem zeigte sich in einer doppelblinden placebokontrollierten Crossover-Studie, die Gluten und Fruktan verglich, dass die Mehrheit der Studienpopulation auf Fruktan- und nicht Glutenkonsum den ausgeprägtesten Meteorismus entwickelte (32).

Therapeutisch empfehlen wir primär eine FODMAP-arme Ernährung, da bei dieser Intervention sowohl der Fruktan- als auch der Glutenkonsum reduziert wird.

Historie
Manuskript eingegangen: 28.10.2024
Angenommen nach Revision: 20.01.2025

Prof. Dr. med. Barbara Ballmer-Weber

Chefärztin Allergologie
Klinik für Dermatologie und Allergologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

Dermatologische Klinik, Universitätsspital Zürich

barbara.ballmer-weber@kssg.ch

Dr. med. Claudia Krieger-Grübel 

Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie
HOCH Health Ostschweiz
Kantonsspital St. Gallen

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Medikamentös induzierte Nebenniereninsuffizienz

Einleitung

Pathophysiologie

Die HHN-Achse wird zentral von Stressfaktoren und Tageslicht stimuliert und durch ein negatives Feedback bei Anstieg der Cortisolproduktion supprimiert (Abb. 1). Eine medikamentös induzierte Nebenniereninsuffizienz (NNI) kann auf hypothalamisch-hypophysärer Ebene, durch direkte Medikamenteneffekte auf die Nebennieren oder durch Interferenz mit den Glucocorticoidrezeptoren entstehen (1). Eine direkte Schädigung der Nebennierenrinde, z. B. durch eine Autoimmunreaktion (unter ICI gegen PD-1/PD-L1), Hämorrhagie (unter Heparin, Warfarin, Tyrosin-Kinase-Inhibitoren) oder Zytotoxizität (Mitotan), kann zu einer primären NNI führen. Ebenso kann die Cortisolsynthese auf enzymatischer Ebene durch verschiedene Medikamente, unter anderem Azole (Ketonazol, Itraconazol, Fluconazol, Posaconazol), gehemmt werden (Abb. 2). Andere Substanzen (z. B. Mifepriston) können die Glucocorticoidrezeptoren oder die GC-abhängige Gentranskription (Chlorpromazin und Imipramin) blockieren. Ein vermehrter Cortisolmetabolismus durch Induktoren des CYP3A4s (z. B. Phenobarbital, Rifampicin, Phenytoin, Carbamazepin …) kann zudem zu einer Reduktion des zirkulierenden Cortisols führen. Bei einer zentralen NNI hingegen wird die Sekretion vom Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) und adrenocorticotropen Hormon (ACTH) in Hypothalamus und Hypophyse supprimiert, was im Verlauf zu einer Atrophie der Nebennierenrinde und somit zu einer verminderten Produktion von GC und Androgenen (Dehydroepiandrosteronsulfat oder DHEAS) führt. Diese kann im Rahmen einer immunvermittelten Hypophysitis unter ICI (vor allem Anti-CTLA4) durch die inhibitorische Wirkung von Opiaten auf die CRH- und ACTH-Sekretion sowie, am häufigsten, durch die Stimulation des negativen Feedbacks durch supraphysiologische Dosen exogener GC oder GC-ähnlicher Medikamente (Megestrolacetat) auftreten (2, 3).

Epidemiologie

In einer retrospektiven Studie, basierend auf Daten des FDA-Adverse-Event-Reporting-System (FAERS), wurden 56 Medikamente aufgelistet, welche mit einer iatrogenen NNI assoziiert sind (4). Die häufigste Ursache stellen die synthetische GC dar. In einer dänischen Populationsstudie beträgt die jährliche Prävalenz der Patienten mit einer Verordnung für GC ca. 3 %, wobei diese bei älteren Personen (> 80 Jahren) bei 10 % liegt (5). Hierunter wird das Risiko für die Entwicklung einer sekundären NNI bei peroralen Präparaten, gemäss einer holländischen Metaanalyse, auf bis zu 48,7 % geschätzt (6). Ebenso werden ICI zunehmend als Ursache einer sekundären NNI beschrieben. Zwischen 2015 und 2020 wurden, gemäss retrospektiven Daten der FDA, bis zu 1/3 der selbst berichteten iatrogenen NNI mit ICI assoziiert (4). Die immunvermittelte Hypophysitis tritt bei bis zu 5 % der Patienten unter CTLA-4-Inhibitoren und bis zu 8 % unter Kombinationstherapie mit PD-(L)1-Inhibitoren auf (7). Die primäre NNI nach autoimmuner Adrenalitis kommt bei < 1 % der Patienten unter PD-(L)1-Inhibitoren und bis zu 4–8 % unter Kombinationstherapien vor (8). Opiate sind eine weitere bedeutende Ursache, insbesondere in den USA, wo zwischen 2019 und 2020 bis 11.9 % der Erwachsenen eine Verschreibung dafür erhielten (9). Unter chronischem Opiatgebrauch wird das Risiko für die Entwicklung einer sekundären NNI auf bis zu 15–24 % geschätzt (10).

Glucocorticoide

Glucocorticoide werden seit den 1950er-Jahren dank ihrer immunmodulatorischen Wirkung für autoim­mune, entzündliche, onkologische oder immunologische Erkrankungen sowie bei transplantierten Patienten in unterschiedlicher Darreichungsform angewendet. Leider sind auch die damit assoziierten Nebenwirkungen nicht vernachlässigbar. Bereits bei einer täglichen Therapie mit 20–30 mg Cortisol-äquipotenten Präparaten besteht bei einer Langzeitanwendung ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Diabetes mellitus Typ 2, Osteoporose mit pathologischen Frakturen, arterieller Hypertonie, Infektionen, gastrointestinalen Erkrankungen (z. B. Ulkusleiden), thromboembolischen Ereignissen und einer erhöhter Gesamtmortalität (11). Zudem besitzen alle Glucocorticoidpräparate das Potenzial, entweder durch systemische Gabe oder durch systemische Resorption nach First-Pass-Effekt, die HHN-Achse zu supprimieren. Nach dem Absetzen der GC erholt sich die Hypophysenfunktion als Erstes, während die vollständige Erholung der Nebennierenfunktion mehrere Monate bis Jahre dauern kann. Das Risiko der Entstehung einer sekundären NNI ist von diversen Einflussfaktoren abhängig, welche vor Verschreibung von Glucocorticoiden berücksichtigt werden sollten (12).

Risikofaktoren

Das höchste Risiko für die Entwicklung einer NNI nach exogenen GC besteht unter peroraler oder intraartikulärer Gabe mit einer Prävalenz von ca. 49 % und 52 % (Tab.1). Mittels inhalativer, topischer und intranasaler Präparate liegt diese allerdings unter 10 % (6). Bei peroraler Therapie ist das Risiko von der Frequenz der Gaben (erhöhtes Risiko bei mehreren/abendlichen Gaben) (13) und der Gesamtexposition (Dosis > 5–7.5 mg/Tag Prednison-äquivalent, Dauer länger als vier Wochen und höhere Stärke/Halbwertzeit) abhängig. Unter inhalativen Glucocorticoiden konnte ein hohes Risiko unter Fluticason (aufgrund der längeren Halbwertszeit und hoher Rezeptoraffinität), hohen Dosen (> 500 ug/Tag Fluticason-äquivalent) und bei einer Dauer von länger als sechs Monaten (bei mittlerer/hoher Dosis bzw. zwölf Monaten mit jeder Dosis) gezeigt werden. Nach wiederholten intraartikulären Injektionen oder bei aktiver Osteoarthritis (aufgrund der erhöhten Durchblutung und somit der erhöhten systemischen Absorption) ist ebenso das Risiko für eine NNI erhöht. Für topische Präparate besteht ein erhöhtes Risiko insbesondere bei Applikation auf eine grosse Hautfläche, Schleimhäute oder offene/entzündete Stellen. Unabhängig von den verordneten Präparaten können die Patienten eine unterschiedliche Anfälligkeit für eine sekundäre NNI entwickeln (12). Adipöse oder ältere Patienten sowie Patienten mit cushingoiden Zügen nach GC-Therapie oder nach bereits stattgehabter Addison-Krise sind besonders gefährdet (14). Des Weiteren können bestimmte Medikamente (z. B. CYP3A4-Inhibitoren) durch die Erhöhung der systemischen GC-Exposition oder andere Substanzen mit supprimierender Wirkung auf die HHN-Achse (z. B. Opiate, Megestrolacetat, CYP3A4- Induktoren …) die Cortisolkonzentrationen beeinflussen und somit eine sekundäre NNI begünstigen (12).

Management – neue Empfehlungen

2024 wurde die erste offizielle Richtlinie zum Management (Tapering, Diagnose und Therapie) der GC-induzierten NNI von der European Society of Endocrinology and Endocrine Society publiziert (14). Obwohl die Evidenz, auf der die Empfehlungen beruhen, überraschend schwach ist und viele Studien laborchemische Endpunkte bzw. Surrogatmarker und selten klinische Endpunkte untersucht haben, stellt die Richtlinie ein wichtiges, neues Instrument für alle Ärzte, die GC anwenden, dar. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte wird im Anhang 1 dargestellt.

Bezüglich des Taperings wird vor allem auf die Wichtigkeit regelmässiger klinischer Kontrollen hinsichtlich des Auftretens von GC-Entzugssymptomen und deren Abgrenzung von einer Nebenniereninsuffizienz (Tab. 2) hingewiesen. Ein exaktes «Ausschleichschema» hat sich bis dato nicht etabliert, da diesbezüglich noch Vergleichsstudien fehlen, und dieses in Abhängigkeit der Risikofaktoren individualisiert werden sollte. Nach Erreichen der physiologischen Äquivalenzdosis werden in den Leitlinien allerdings zwei Vorgehensmöglichkeiten vorgeschlagen. Zum einen das Fortführen des Taperings in Mg-Schritten, zum anderen die Bestimmung des Nüchterncortisols zur Evaluation der endogenen Cortisolsekretion nach Erreichen einer Äquivalenzdosis von max. 20–30 mg Cortisol (5–7.5 mg Prednison). Obwohl kein optimaler Cut-off zwischen pathologischen und physiologischen Cortisolwerten besteht, wurde anhand der aktuellen Studienlage ein morgens nüchtern um 8 Uhr bestimmter Serumcortisolwert von 300 nmol/l vorgeschlagen, dessen Überschreiten ein sicheres Absetzen einer GC-Therapie erlaubt. Mit der Bestimmung müssen interferierende Faktoren, bspw. ein veränderter zirkadianer Rhythmus, Medikamente (orale Östrogene), besondere Situationen, die Einfluss auf die Gesamtcortisolbestimmung haben (Schwangerschaft, Leberzirrhose etc.), berücksichtigt werden. Eine aktuell laufende schweizerische multizentrische randomisierte und placebokontrollierte Studie (TOASST) wird künftig ebenso mehr Informationen bzgl. der Sicherheit eines abrupten Therapiestopps liefern können (15). Im Fall eines Taperings ohne biochemische Bestätigung der Erholung der HHN-Achse wird in den Leitlinien zudem der Einsatz einer peroralen/parenteralen Steroidstressprophylaxe in Stresssituationen oder bei klinischem V.a. Addison-Krise empfohlen. Die Durchführung eines ACTH-Stimulationstests ist nicht routinemässig empfohlen und besonderen Situationen vorbehalten.

Immuncheckpoint-Inhibitoren

Seit ihrer ersten Zulassung in 2011 werden die ICI als Monotherapie oder in Kombination für die systemische Behandlung von mindestens 17 verschiedenen Tumorarten eingesetzt. Diese monoklonalen Antikörper blockieren die Immun-Checkpoints (CTLA-4 und PD-1) auf den T-Lymphozyten, welche die Proliferation dieser Zellen regulieren und den Körper vor möglichen Autoimmunreaktionen schützen, wenn die T-Lymphozyten von den eigenen Zellen aktiviert werden. Die Tumoren können das Immunsystem umgehen, indem sie die Immun-Checkpoints aktivieren und die Aktivität der T-Lymphozyten hemmen. Durch ICI werden diese inhibitorische Regulationsmechanismen blockiert, was neben der gewünschten Aktivierung der antitumoralen Immunantwort zu vermehrten immunvermittelten Reaktionen als Nebenwirkung führen kann (16). Bis zu 60 % der Patienten unter kombinierter ICI-Therapie können davon betroffen sein und immunvermittelte Reaktionen in multiplen Organen (Gastrointestinaltrakt, endokrines System, Leber, Haut, Lunge, Zentralnervensystem, Nieren, Augen und Knochenmark) entwickeln. Immunvermittelte Endokrinopathien treten bei bis zu 10–20 % der Patienten unter ICI auf. Diese sind, im Gegensatz zu den restlichen Manifestationen, auch unter immunsupprimierender Therapie irreversibel und benötigen eine lebenslange Hormonsubstitution. Am häufigsten werden Thyreoiditiden und Hypophysitiden beobachtet. Seltener können auch eine primäre NNI als Folge einer Adrenalitis und eigentlich jede bekannte endokrine Autoimmunerkrankung auftreten (17). Zur vorzeitigen Erkennung einer ICI-induzierten primären oder sekundären NNI wird eine Kontrolle des Nüchterncortisols sowie des TSH inklusive fT4 vor jedem Therapiezyklus bis 12 Wochen nach Therapieabschluss empfohlen (16, 18).

Hypophysitis (sekundäre NNI)

Die Pathogenese der ICI-induzierten Hypophysitis ist noch nicht vollständig verstanden. In einer Studie mit Tiermodell (19) wurde als Hypothese eine immunologische Typ- II-Reaktion beschrieben, wobei es zur Infiltration der Hypophyse durch Lymphozyten und Bildung von Antikörper gegen thyreotrope, corticotrope und gonadotrope Zellen, welche CTLA-4-Antigen exprimieren, kommt. Dies würde die bedeutend höhere Inzidenz unter CTLA-4- gegenüber PD(L)-1-Inhibitoren erklären (20). Die Hypophysitis betrifft häufiger Männer als Frauen und manifestiert sich durchschnittlich neun Wochen nach Therapiestart, kann allerdings bis zu mehrere Monate nach abgeschlossener Therapie auftreten. Die Symptome entstehen durch einen Kompressionseffekt (Kopfschmerzen, Nausea, Sehstörungen) oder die ausbleibende Hormonproduktion (NNI, Hypogonadismus, Hypothyreose). Die laktotrope und somatotrope Achse ist selten betroffen. Bei klinischem Verdacht kann die Diagnose durch die Bestimmung der hypophysären Hormone und Elektrolyte erfolgen (Tab. 3). Ebenso ist eine zerebrale Bildgebung mittels MRI, vor allem bei Kompressionssymptomen, sinnvoll. Die Therapie besteht aus der entsprechenden Hormonsubstitution (CAVE: bei gleichzeitiger NNI und sekundärer Hypothyreose muss die GC-Substitution vor der Schilddrüsensubstitution begonnen werden). Bei Kompressionsbeschwerden soll initial eine hoch dosierte GC-Therapie (1–2 mg/kgKG Prednisolon) während 1–2 Wochen mit konsekutiv raschem Tapering und Umstellung auf Hydrocortison verabreicht werden, um einen schnellen abschwellenden Effekt zu erzielen. Eine Pausierung der ICI bis zur Verbesserung der Symptomatik soll ebenso evaluiert werden (16).

Adrenalitis (primäre NNI)

Patienten unter monoklonalen PD-(L)1-Inhibitoren oder Kombinationstherapie können in seltenen Fällen eine autoimmune Adrenalitis, z. T. mit Nachweis von Anti-21-Hydroxylase-Antikörpern, entwickeln. Diese tritt vermehrt bei Frauen und durchschnittlich 16 Wochen nach Therapiebeginn auf. Die Symptome sind zumeist, ähnlich anderer Formen der primären NNI, schwerwiegend und mit einer erhöhten Mortalität im Rahmen einer möglichen Addison-Krise verbunden. Die Diagnosestellung erfolgt vor allem klinisch, wobei die Messung eines tiefen Serumcortisols um 8 Uhr bei erhöhtem ACTH sowie niedrigem Aldosteron und erhöhtem Renin die Diagnose bestätigt und eine Hyponatriämie, Hypoglykämie und Hyperkaliämie hinweisend sind. Eine initial hoch dosierte parenterale Hydrocortisonsubstitution (wie bei Addison-Krise) ist in den meisten Fällen notwendig und kann im Verlauf auf eine Erhaltungsdosis von 15–25 mg Hydrocortison und Fludrocortison 0.05–0.1 mg/Tag p.o. umgestellt werden (Tab. 3) (18).

Opiate

Trotz der häufigen Anwendung von Opiaten werden die damit verbundenen endokrinen Nebenwirkungen weiterhin selten und oft zu spät erkannt. Da die Klinik mit den Symptomen einer Opiatüberdosierung verwechselt werden kann, wird die opiatinduzierte Nebenniereninsuffizienz (OI-NNI) nur bei ca. 10 % der Patienten korrekt diagnostiziert (21). Das Risiko für eine OI-NNI steigt mit der Dauer und der Dosis der Opiate an. In einer amerikanischen Querschnittsstudie wurde eine sekundäre NNI ab einer Dosis von > 20 MME (Mg-Morphin-äquivalent) beobachtet, sodass ein regelmässiges klinisches Screening bei Patienten unter > 20 MME empfohlen wird (22). Gemäss der aktuellen Datenlage besteht noch kein Konsensus hinsichtlich eines einheitlichen diagnostischen Vorgehens. In mehreren Übersichtsartikeln wurden die Messung des Serumcortisols nüchtern um 8 Uhr und ggf. DHEAS sowie bei unklaren Befunden die Durchführung eines ACTH-Stimulationstests (gleiche Cut-offs wie für die GC-induzierte NNI) vorgeschlagen (23). Ein Insulintoleranztest als Goldstandard kann alternativ in Betracht gezogen werden, wird allerdings aufgrund der limitierten Verfügbarkeit und möglichen Nebenwirkungen selten angewandt. Sollte sich die Diagnose bestätigen und der Patient dazu passende Symptome aufweisen, kann eine Substitution mit Hydrocortison p.o. 15–25 mg/Tag unter regelmässiger klinischer Kontrolle etabliert werden. Ebenso soll die Reduktion bzw. das Sistieren der Opiattherapie angestrebt werden, da die NNI hierunter im Verlauf reversibel sein kann (24). Die durchschnittliche Zeit bis zur vollständigen Erholung der HHN-Achse ist allerdings bis dato unbekannt (25).

Abkürzungen
ACTH Adrenocorticotropes Hormon
CRH Corticotropin-releasing hormon
CTLA-4 Cytotoxic T-lymphocyte-associated Protein 4
DHEAS Dehydroepiandrosteronsulfat
FAERS Food and Drugs Administration Adverse-Event-Reporting-System
GC Glucocorticoide
HHN-Achse Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
ICI Immuncheckpoint-Inhibitoren
NNI Nebenniereninsuffizienz
OI Opiatinduziert
PD-1 Programmed death-protein 1
PD-L1 Programmed death-protein ligand 1

Historie
Manuskript eingegangen: 26.11.2024
Angenommen nach Revision: 27.02.2025

PD Dr. med. Stefan Bilz

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie,
Osteologie und Stoffwechselerkrankungen
HOCH Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

stefan.bilz@h-och.ch

Dr. med. Sofia Flores Borsari

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie,
Osteologie und Stoffwechselerkrankungen
HOCH Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Multiple Medikamente können die Funktion der Hypophyse/Hypothalamus/Nebennieren, aber auch die Cortisol-­Konzentration und seine zelluläre Wirkung beeinflussen, die häufigste medikamentöse Ursache einer NNI stellen exogene Glucocorticoide dar.
• Nach Erreichen einer Tagesdosis von 7.5–5 mg Prednisonäquivalent kann die Therapie mg-weise ausgeschlichen werden oder eine Messung des Serumcortisols morgens um 8:00 h erfolgen. Bei einem Wert > 300 nmol/l kann die Therapie gestoppt werden. Eine Steroidstressprophylaxe ist bei allen Patienten nach/unter niedrigdosierter GC-Therapie ohne biochemischen Nachweis einer adäquaten Cortisolproduktion sinnvoll.
• ICI Anti CTLA-4 verursachen am Häufigsten eine sekundäre NNI durch eine Hypophysitis, wohingegen Anti PD(L)-1 für eine primäre NNI bei Adrenalitis verantwortlich sind. Diese können sich 9–16 Wochen nach Therapiestart manifestieren und sind irreversibel.
• Bei einer Opiat-Therapie sollte ab einer Dosis > 20 MME ein regelmässiges Screening auf Symptome einer NNI erfolgen. Eine Substitutionstherapie ist häufig nur vorübergehend notwendig da die NNI nach Sistieren der Opiattherapie reversibel ist.

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Das Takotsubo-Syndrom – wenn das Herz in Stress gerät

Das Takotsubo-Syndrom (TTS) ist eine akute und transiente Dysfunktion des Herzens, welche typischerweise nach emotionalem oder physischem Stress auftritt und sich durch charakteristische Wandbewegungsstörungen auszeichnet (1). Den Namen hat dieses Krankheitsbild von einem japanischen Tonkrug, welcher zum Tintenfischfang verwendet wird und der Form des linken Ven­trikels während der Akutphase ähnelt (2). In der aktuellen Ausgabe von PRAXIS geben Dr. Oslayová und Kollegen ein passendes Beispiel, wie ein TTS bei einer Patientin zu einem Spitalaufenthalt nach einem Gewehrschuss führte, obwohl dieser sie glücklicherweise verfehlte.

Wie im vorgestellten Fall gehen dem TTS in knapp einem Drittel emotionale Stressereignisse voraus. Häufiger sind jedoch physische Trigger wie Erkrankungen, Verletzungen, Operationen oder bestimmte Medikamente. Zahlreiche weitere Vorstellungen über das TTS wurden in den letzten Jahren revidiert, u.a. betrifft die Erkrankung Männer und jüngere Patienten häufiger als angenommen (3). Früher geläufige Begriffe wie «broken heart syndrome» oder «Stress-Kardiomyopathie» wurden daher durch die aktuelle Bezeichnung abgelöst (1). Der genaue Pathomechanismus bleibt unklar, im Zentrum scheinen deutlich erhöhte Katecholaminspiegel zu stehen. Neben einer akuten mikrovaskulären Dysfunktion werden direkte myokardiale Effekte und inflammatorische Prozesse angenommen, die letztlich zu den charakteristischen Wandbewegungsstörungen führen, welche Dr. Oslayová und Kollegen genauer erläutern (4). Klinisch beschreiben die Patientinnen und Patienten klassische Symptome eines akuten Myokardinfarktes. Im Zentrum der Diagnostik steht daher eine Herzkatheteruntersuchung mit Koronarangiographie und Ventrikulographie. Finden sich keine Koronarstenosen oder -verschlüsse, welche die regionalen Wandbewegungsstörungen erklären, kann die Diagnose des TTS in aller Regel aufgrund von typischen Wandbewegungsstörungen in der Ventrikulographie gestellt werden. Bei entsprechendem Verdacht sollte ergänzend eine Myokarditis mittels Herz-Magnetresonanztomographie ausgeschlossen werden (5).

Die Prävalenz des TTS ist höher als früher angenommen. Die Zahl der TTS-Diagnosen stieg in den letzten Jahren deutlich an, was sehr wahrscheinlich auf ein erhöhtes Bewusstsein zurückzuführen ist. Aktuell geht man davon aus, dass bei etwa 4 % aller Patientinnen und Patienten mit der Arbeitsdiagnose eines akuten Myokardinfarktes ein TTS vorliegt (3). Das TTS ist keine benigne Erkrankung. Zwar erholt sich die Herzfunktion wie im vorgestellten Fall von Dr. Oslayová und Kollegen in aller Regel innerhalb von wenigen Wochen. Jedoch sind Morbidität und Mortalität hoch und vergleichbar mit denen eines akuten Myokardinfarktes (6). Die Behandlung besteht neben einer Rhythmusüberwachung und supportiven Massnahmen in der Verabreichung von Angiotensin Converting Enzyme (ACE)-Hemmern/Angiotensin-Rezeptorblockern, welche bisher als einzige der untersuchten Wirkstoffgruppen einen Benefit auf die Mortalität und Rezidivrate aufwiesen (5). Prospektive Studien zur medikamentösen Therapie fehlen allerdings weiterhin.

Zusammenfassend ist das TTS ein auch heute noch oft unterdiagnostiziertes Krankheitsbild, für welches gerade wegen der häufigen physischen Auslöser ein Bewusstsein auch ausserhalb der kardiologischen Gemeinschaft geschaffen werden muss. Patientinnen und Patienten mit TTS stellen sich auch aufgrund anderer Erkrankungen oder Verletzungen ärztlich vor oder sind bereits hospitalisiert. Umso mehr sind Patientinnen und Patienten für eine optimale Erstversorgung und schnelle Diagnosestellung auf eine entsprechende Erfahrung mit dieser Erkrankung angewiesen.

Dr. med. Michael Würdinger

Klinik für Kardiologie
Universitäres Herzzentrum
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

michael.wuerdinger@usz.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Ghadri JR, Wittstein IS, Prasad A, Sharkey S, Dote K, Akashi YJ, et al. International Expert Consensus Document on Takotsubo Syndrome (Part I): Clinical Characteristics, Diagnostic Criteria, and Pathophysiology. Eur Heart J. 2018;39(22):2032-46.
2. Sato HTH UT, Dote K, Ishihara M. Tako-tsubo-like left ventricular dysfunction due to multivessel coronary spasm. In Kodama K, Haze K, Hori M, eds Clinical Aspect of Myocardial Injury: From Ischemia to Heart Failure Tokyo, Japan: Kagakuhyoronsha Publishing Co. 1990:56–64.
3. Cammann VL, Würdinger M, Ghadri JR, Templin C. Takotsubo Syndrome: Uncovering Myths and Misconceptions. Curr Atheroscler Rep. 2021;23(9):53.
4. Lyon AR, Citro R, Schneider B, Morel O, Ghadri JR, Templin C, et al. Pathophysiology of Takotsubo Syndrome: JACC State-of-the-Art Review. J Am Coll Cardiol. 2021;77(7):902-21.
5. Ghadri JR, Wittstein IS, Prasad A, Sharkey S, Dote K, Akashi YJ, et al. International Expert Consensus Document on Takotsubo Syndrome (Part II): Diagnostic Workup, Outcome, and Management. Eur Heart J. 2018;39(22):2047-62.
6. Templin C, Ghadri JR, Diekmann J, Napp LC, Bataiosu DR, Jaguszewski M, et al. Clinical Features and Outcomes of Takotsubo (Stress) Cardiomyopathy. New Engl J Med. 2015;373(10):929-38.

Takotsubo-Syndrom durch Gewehrkugel

Hintergrund

Takotsubo-Syndrom, auch als «Gebrochenes-Herz-Syndrom» bekannt, ist eine Herzerkrankung, die oft durch emotionale oder physische Stressereignisse ausgelöst wird. Die Symptome ähneln denen eines Herzinfarkts. Beim klassischen apikalen Takotsubo-Syndrom gleicht die Ventrikulographie in der Herzkatheteruntersuchung aspektmässig einer Tintenfischfalle, «Takotsubo» auf Japanisch. Stresshormone spielen vermutlich eine Schlüsselrolle. Die Prognose ist im Allgemeinen gut, die meisten Patienten erholen sich innerhalb von Wochen vollständig. Es sind aber auch fatale Verläufe möglich.

Fallbericht

An einem Herbstabend zerbrach ein Projektil das Badezimmerfenster des Einfamilienhauses einer 71-jährigen Frau. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Der Schrecken sass jedoch tief, und die Polizei wurde sofort alarmiert. Im Badezimmer wurde ein Teilmantelgeschoss Kaliber .30 (7.62 mm) aufgefunden (Abb. 1). Mit hoher Wahrscheinlichkeit stammt das Projektil von einer Jagdpatrone. Ermittlungen gegen Unbekannt wurden wegen Gefährdung des Lebens und Sachbeschädigung aufgenommen.

Etwa eine Stunde nach dem Ereignis verspürte die 71-jährige Frau starke Schmerzen in der Brust und zwischen den Schulterblättern, welche nach 1–2 Stunden spontan rückgängig waren. Am Folgetag suchte die Patientin ihren Hausarzt auf, wo ein erhöhtes Troponin Tn-I und anterolaterale sowie inferiore Repolarisationsstörungen mit ST-Senkungen, T-Abflachungen und -Negativierungen im EKG festgestellt wurden (Abb. 2–4).

Bei Verdacht auf Myokardinfarkt wurde die Patientin ins regionale Krankenhaus eingewiesen und anschliessend zur Herzkatheteruntersuchung ins Zentrumsspital verlegt. Eine koronare Herzkrankheit konnte ausgeschlossen werden, jedoch zeigte die Ventrikulographie bei einem erhöhten linksventrikulären enddiastolischen Druck vom 20 mmHg (Norm < 15 mmHg) eine schwer eingeschränkte systolische linksventrikuläre Ejektionsfraktion (LVEF) von 25 % (Norm > 55 %) mit Akinesie der midventrikulären Abschnitte (Abb. 5).

Die Diagnose eines midventrikulären Takotsubo-Syndroms wurde gestellt. Es wurde anschliessend eine Herzinsuffizienztherapie mit Betablocker, ACE-Hemmer, SGLT-2-Inhibitor, Spironolacton und Schleifendiuretika begonnen. Bereits am dritten Hospitalisationstag zeigte die transthorakale echokardiographische Kontrolle eine deutliche Besserung der LVEF von 25 % auf 45 %. Nach 4 Tagen konnte die Patientin aus der Spitalpflege entlassen werden. 3 Monate später hatte sich die LVEF vollständig normalisiert, die Patientin war beschwerdefrei, und die Herzinsuffizienztherapie wurde bis auf das Sartan (zwischenzeitlich Wechsel erfolgt) gestoppt. Aus der Vorgeschichte der Patientin ist bekannt, dass sie bereits früher ähnliche Brustschmerzen erlebte, die mit dem emotionalen Ereignis im Zusammenhang standen, als ihr Sohn ins Ausland auswanderte. Es erfolgte damals jedoch keine eingehende kardiale Untersuchung.

Diskussion

Definition

Das Takotsubo-Syndrom ist eine transiente LV-Dysfunktion mit typischen Wandbewegungsstörungen, welche nicht auf eine koronare Stenose oder einen Verschluss zurückzuführen sind, häufig von physischen oder emotionalen Triggern ausgehend (1).

Symptomatik und Diagnostik
Das Krankheitsbild des Takotsubo-Syndroms ist durch typische Beschwerden ähnlich eines akuten Koronarsyndroms mit akuten thorakalen Schmerzen, Dyspnoe sowie erhöhten kardialen Biomarkern gekennzeichnet. Elektrokardiographisch zeigen sich typischerweise ST-Strecken-Abnormalitäten, am häufigsten initial ST-Hebungen und im Verlauf fortschreitende T-Inversionen und QT-Zeit-Verlängerungen (2, 3). Echokardiographisch und in der Ventrikulographie sind typische regionale Wandbewegungsstörungen sichtbar. Die Koronararterien zeigen typischerweise keinen erklärenden Koronarverschluss. Anhand der Regionalitäten lassen sich morphologisch 4 Typen des Takotsubo-Syndroms unterscheiden: den midventrikulären Typ, den basalen und den fokalen Typ sowie den apikalen Typ. Letzterer weist als typisches Bild ein apikales Ballooning infolge der apikalen Akinesie auf und tritt in über 80 % aller Fälle auf (4). Der midventrikuläre Typ ist die zweithäufigste Form, dabei sind die midventrikulären Wandabschnitte akinetisch und die basalen sowie apikalen Segmente hyperkontraktil. Gemäss dem internationalen Takotsubo-Register wird vermutet, dass die LVEF bei atypischem Takotsubo-Syndrom im Vergleich mit dem typischen Takotsubo-Syndrom weniger eingeschränkt ist (5).

Wichtig für die Praxis
Da ein Takotsubo-Syndrom nicht invasiv nicht eindeutig von einem akuten Koronarsyndrom unterschieden werden kann, ist die initiale Behandlung identisch mit der eines akuten Koronarsyndroms, und der wichtigste diagnostische Schritt ist eine Linksherzkatheteruntersuchung.

Trigger und Demographie
Typische Auslöser für Takotsubo-Syndrom sind physische und psychische Trigger unterschiedlicher Ausprägung. Bei den psychischen Triggern handelt es sich um negative oder positive emotionale Ereignisse. Beispiele für positive Trigger sind ein Lottogewinn, für negative Trigger der Tod einer nahestehenden Person, eine Scheidung, finanzielle Pro­bleme, ein Erdbeben, Krieg (6, 7) oder auch Angst vor der COVID-19-Pandemie (8). In etwas über einem Viertel aller Fälle findet man jedoch keine Auslöser (9). Der Grossteil der Betroffenen sind Frauen mit einem mittleren Alter von 66 Jahren (4).

Pathomechanismus
Der genaue Mechanismus ist nicht eindeutig. Es sprechen viele Studien für eine akute mikrovaskuläre Dysfunktion als Hauptursache des Takotsubo-Syndroms (10). Jedoch sind auch direkte Effekte auf die Kardiomyozyten nachweisbar: Während Stresssituationen kommt es zur Ausschüttung von Katecholaminen. Hohe Dosen von Epinephrin führen zu einer Signaltransduktion (11). Bei niedriger Epinephrinspiegel werden über den β2-Rezeptor stimulierende G-Proteine aktiviert, was positiv inotrop wirkt. Im Falle hoher Epinephrinspiegel werden anstatt stimulierender G-Proteine inhibitorische G-Proteine (Gi) aktiviert, was negativ inotrop wirkt. Es wird angenommen, dass die β2-Rezeptordichte im linken Ventrikel apikal höher ist als basal, was das apikale Ballooning erklären kann (12). Die Patienten mit einem Takotsubo-Syndrom-Rezidiv können eine andere Form zeigen als die Primärmanifestation (13). Es kann durch die Down-Regulation der β2-Rezeptoren nach erster sympathischer Stimulation erklärt werden (14–15). Als weitere Ursachen werden Gefässspasmen und endotheliale Dysfunktionen mit Mikrozirkulationsproblemen diskutiert (1).

Therapie
Die Empfehlungen beruhen auf retrospektiven Studien sowie Expertenmeinungen (12).

Als Komplikationen können eine akute Herzinsuffizienz oder Rhythmusstörungen auftreten. In der Regel richtet sich die Behandlung nach den Leitlinien der einzelnen Krankheit (z. B. ventrikuläre Tachykardie oder akute Herzinsuffizienz). Somit werden meist eine Herzinsuffizienztherapie und eine rhythmologische Überwachung durchgeführt. Es wird empfohlen, die rhythmologische Überwachung bis zur Normalisierung der QT-Zeit durchzuführen (3).

Falls ein kardiogener Schock auftritt, muss eine dynamische Obstruktion des linksventrikulären Ausflusstraktes (LVOT-Obstruktion) echokardiographisch evaluiert werden: Bei einem Takotsubo-Syndrom des apikalen Typs bleibt oft als einziger kontraktiler Teil des Myokards die basale Manschette, dazu gehört auch die septale Wand des LVOT. Dieser kompensatorisch hyperkontraktile Wandabschnitt des LVOT behindert den Auswurf in die Aorta direkt. Zudem kommt es durch die Flussbeschleunigung im engen LVOT zu einem systolischen Ansaugen des anterioren Mitralsegels (SAM), was die Obstruktion verstärkt. Eine zusätzliche Folge ist die schwere Mitralklappeninsuffizienz, welche das Herzminutenvolumen nochmals reduziert. Inotropika können so schlussendlich zu einem akuten Pumpversagen führen. Die richtige Behandlung gleicht der einer hypertrophen obstruktiven Kardiomyopathie mit Erhöhung der Nachlast (z. B. Noradrenalin) sowie Betablockade und Volumentherapie. Falls keine Stabilisierung erfolgt, kann Impella erwogen werden (2). Die LVOT-Ob­struktion tritt bei 10–25 % von allen Fällen auf (16).

Falls keine LVOT-Obstruktion auftritt, unterscheidet sich die Therapie nicht grundsätzlich von der einer akuten Herzinsuffizienz anderer Ursache. Bei einer LVEF < 30 % sollte die Antikoagulation in Betracht gezogen werden. Die Therapie mit ACE-Hemmern/Angiotensin-II-Rezeptorblockern ist mindestens bis zur Normalisierung der LVEF empfohlen. Jedoch zeigen retrospektive Analysen einen Benefit hinsichtlich Mortalität und Rezidivrate unter ACE-Hemmern, weshalb eine Dauertherapie evaluiert werden sollte. Die langfristige Therapie mit Betablockern ergab interessanterweise trotz der Pathophysiologie keine Vorteile (3), die 30-Tage-Sterblichkeit ist nicht reduziert (17).

Prognose
Auch wenn sich die meisten Patienten vollständig von einem Takotsubo-Syndrom erholen, kann das Krankheitsbild nicht als gutartig bezeichnet werden. In der akuten Phase tritt in 5–10 % aller Fälle ein kardiogener Schock auf. Anhand der International Takotsubo Registry Study liegt die Mortalität bei 4.1 %, das Takotsubo-Syndrom hat also eine vergleichbare Komplikations- und Mortalitätsrate wie ein akutes Koronarsyndrom (4).

Falls die akute Phase überlebt wird, normalisiert sich die systolische linksventrikuläre Ejektionsfraktion in der Regel innerhalb von 1 bis 4 Wochen (18). Die Symptome wie Dyspnoe, Lethargie, Herzrasen und Brustschmerz können sogar mehr als 2 Jahre nach dem Ereignis persistieren, trotz Normalisierung der LVEF (8). Das jährliche Risiko, ein Rezidiv zu erleiden, liegt bei 1–2 % pro Jahr (4). In den ersten 5 Jahren tritt ein Rezidiv bei einem von acht Patienten auf, wobei der Auslöser meistens anders ist als beim ersten Ereignis (8).

Zusammenfassung

Bei unserem Fall hat das Gewehrprojektil die Patientin glücklicherweise nicht getroffen. Der Vorfall war trotzdem für die Patientin ein aussergewöhnliches emotionales Ereignis. Durch Ausschüttung von Stresshormonen hat der Vorfall aber seine indirekte und potenziell tödliche Wirkung auf das Herz entfaltet. Es entwickelte sich ein Takotsubo-Syndrom mit den typischen Thoraxschmerzen, Repolarisationsstörungen sowie positiver Dynamik der kardialen Biomarker. Atypisch war die Morphologie mit midventrikulärer Wandbewegungsstörung. In unserem Fall ist eine frühere Episode eines Takotsubo-Syndroms zu erahnen. Erfreulicherweise war der Verlauf benigne, und die systolische LVEF hat sich nach 3 Monaten unter ausgebauter Herzinsuffizienztherapie normalisiert. Die gefürchteten Komplikationen einer LVOT-Obstruktion sind nicht aufgetreten. Es ist nicht der erste Fallbeschrieb eines Takotsubo-Syndroms nach einer Schussabgabe, jedoch der erste ohne direkte Wirkung durch das Projektil.

Verdankung(en)
Wir bedanken uns für die Abdruckgenehmigung sowie die Fallinformationen bei der Kriminalabteilung, Kantonspolizei Bern, sowie der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern.

Ethics Statement
Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.

Author Contributions
Gleicher Anteil aller Autoren

Martina Oslayová
Christoph Gräni
Christian Muster

Universitätsklinik für Kardiologie, Inselspital Bern

Dr.med. Christian Muster

Oberarzt Kardiologie
Universitätsklinik für Kardiologie
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 20
3010 Bern

christian.muster@insel.ch

Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potenziellen Interessenkonflikte zu haben.

• Bei thorakalen Beschwerden nach einer akuten ­psychischen oder physischen Belastung sollte primär ein Myokardinfarkt ausgeschlossen werden, auch wenn ein Takotsubo-Syndrom wahrscheinlich ist.
• Eine gefürchtete Komplikation des Takotsubo-Syndroms ist die LVOT-Obstruktion, diese muss insbesondere
bei klinischer Verschlechterung echokardiographisch ausgeschlossen werden.
• Die meisten Patienten erholen sich vom Takotsubo-­Syndrom.

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Pulmonale zystische Läsionen bei einer jungen Frau

Anamnese und Befunde

Im Januar 2023 präsentierte sich eine damals 31-jährige Patientin bei ihrem Hausarzt mit lang anhaltenden, episodischen epigastrischen Bauchkrämpfen, die sich nach Nahrungsaufnahme verstärkten und regelmässig von Übelkeit begleitet wurden. Zusätzlich gab sie an, unter Verdauungsproblemen zu leiden. Die Stuhlfrequenz variierte zwischen 2- und 8-mal täglich mit wechselnder Konsistenz, ohne Anzeichen von Blut im Stuhl. Die Patientin war kürzlich von den Malediven zurückgekehrt, und ihre Symptome hatten sich seit ihrer Rückkehr verstärkt. Trotz dieser gastrointestinalen Beschwerden blieb das Gewicht der Patientin stabil, und es traten keine B-Symptome wie nächtliche Schweissausbrüche oder Fieber auf. Zur weiteren Vorgeschichte liegen keine relevanten oder familiären Vorerkrankungen vor. Die Patientin arbeitet in einem Büro und ist dort nur einem geringen Stressniveau ausgesetzt. Vor zwei Jahren hat sie das Rauchen aufgegeben, nachdem sie insgesamt 5 Päckchenjahre geraucht hatte. Sie hat keine bekannten Allergien. Ausser einem östrogenhaltigen oralen Kontrazeptivum nimmt sie regelmässig keine anderen Medikamente.

Die klinische Untersuchung ergab eine afebrile Patientin in gutem Allgemein- und Ernährungszustand mit einem Blutdruck von 115/81 mmHg und einem regelmässigen Puls von 85 Schlägen pro Minute. Die Lunge und das Herz waren unauffällig. Die abdominale Untersuchung zeigte lebhafte Darmgeräusche und keine Auffälligkeiten. Es wurden keine Hautveränderungen festgestellt. Bei der Blutentnahme in der Hausarztpraxis wurden keine erhöhten Entzündungsmarker, keine Anämie oder anderen pathologischen Zustände festgestellt.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Bei unserer Patientin wurden zunächst verschiedene Differenzialdiagnosen in Betracht gezogen wie eine gastrointestinale Infektion mit Helicobacter pylori oder parasitär, bedingt durch ihre Reise in endemische Gebiete. Zusätzlich wurden auch eine Cholelithiasis sowie eine Hyperthyreose oder Hypothyreose als potenzielle Einflussfaktoren erwogen. Weiterhin wurden entzündliche Darmerkrankungen (IBD), ein Reizdarmsyndrom (IBS) oder eine Zöliakie aufgrund ihrer episodischen Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen sorgfältig in die Überlegungen einbezogen.

Weitere Abklärungsschritte

Die erweiterte Blutanalyse umfasste die Messung des Thyreoidea-stimulierenden Hormons (TSH), des Calprotectins im Stuhlgang und der Antikörper gegen Zöliakie. Die resultierenden Befunde präsentierten sich als unauffällig. Zusätzlich wurde auch eine Stuhlkultur angelegt, bei der eine Infektion mit Blastocytis hominis diagnostiziert wurde. Infolgedessen wurde eine zehntägige Antibiotikatherapie mit Metronidazol durchgeführt. Angesichts der Persistenz der Symptome trotz Antibiotika und langjähriger intermittierender, postprandialer, epigastrisch akzentuierter Bauchkrämpfe, begleitet von Übelkeit und variabler Stuhlkonsistenz, fanden eine Ösophago-Gastro-Duodenoskopie und eine Ileokoloskopie mit Biopsien statt. Die endoskopische Untersuchung des Gastrointestinaltrakts ergab keine Auffälligkeiten, und das Vorliegen der oben genannten Erkrankungen schien unwahrscheinlich. Ergänzend wurde eine Abdomensonographie zum Ausschluss einer Cholelithiasis durchgeführt und als Zufallsbefund eine Raumforderung der linken Niere festgestellt.

In der MRT-Untersuchung zeigte sich im Bereich des mittleren/kaudalen Drittels der linken Niere eine scharf begrenzte Strukturalteration mit einem Durchmesser von knapp 5 cm, die teilweise bis zum Nierenbecken reichte (Abb. 1). Definitive fettäquivalente Anteile konnten kernspintomographisch nicht eindeutig identifiziert werden, weshalb eine weitere Abklärung mittels Biopsie empfohlen wurde.

Nach Abwägung der Vor- und Nachteile wurde beschlossen, eine Nierenteilresektion vorzunehmen. Im Rahmen der präoperativen Raumforderungsabklärung mittels thorakaler Computertomographie (CT) wurden einzelne bilaterale, dünnwandige und relativ gleichmässig verteilte Lungenzysten festgestellt ohne weitere Auffälligkeiten (Abb. 2). Ergänzend wurde eine Lungenfunktionstestung durchgeführt, die sich im Normbereich befand.

Nach der Nierenteilresektion ergaben die histopathologischen Untersuchungen die Diagnose eines 4.5 cm grossen, fettarmen Angiomyolipoms. Die Immunhistochemie zeigte eine starke Positivität für Alpha-Smooth Muscle Actin (Alpha-SMA) und Caldesmon, eine fokale Positivität für Desmin, Human Melanoma Black (HMB45) und Melan- A und Negativität für Anti-Cytokeratin antibody (MNF 116). Angesichts der vorliegenden Befunde einer zystischen Lungenerkrankung und eines renalen Angiomyolipoms wurde bei Verdacht auf eine Lymphangioleiomyomatose das VEGF-D bestimmt. Der gemessene Wert von 868 pg/l lag über dem Normbereich (bis 800 pg/ml).
Ein Jahr nach der Diagnosestellung stellte sich die Patientin aufgrund akuter Beschwerden erneut bei ihrem Hausarzt vor. Sie berichtete über starke linksseitige Thoraxschmerzen, die sich beim tiefen Einatmen verschlimmerten. Es wurde eine Röntgenaufnahme des Thorax durchgeführt, das einen apikalen Pneumothorax von ca. 2 cm als passendes Korrelat für die Beschwerden zeigte. Die Patientin wurde notfallmässig ins Spital eingewiesen, wo sie stationär aufgenommen wurde. Zur Behandlung des Pneumothorax erfolgte die Anlage einer Thoraxdrainage (Abb. 3).

Diagnose

Pulmonale Lymphangioleiomyomatose (LAM) mit Angiomyolipom der linken Niere.

Kommentar

Die initialen gastrointestinalen Beschwerden einer 31-jährigen Patientin, darunter Bauchschmerzen, postprandiale Übelkeit und eine wechselnde Stuhlkonsistenz, bleiben unklar. Eine Infektion mit Blastocystis hominis wurde diagnostiziert und antibiotisch behandelt, jedoch ohne vollständige Symptomfreiheit. Entzündliche Darmerkrankungen, Zöliakie und funktionelle Beschwerden wie ein Reizdarmsyndrom wurden ausgeschlossen. Mögliche Ursachen könnten eine unspezifische intestinale Dysbiose nach der Reise oder hormonelle Einflüsse durch das östrogenhaltige Kontrazeptivum sein. Die genaue Rolle der GI-Symptome in Zusammenhang mit der LAM ist unklar.

Die Diagnose einer Lymphangioleiomyomatose (LAM) hätte spätestens nach dem präoperativen CT-Bild gestellt werden können, da die Bildgebung mit den typischen ­Lungenzysten, dem renalen Angiomyolipom und dem erhöhten VEGF-D-Wert eine hohe diagnostische Sicherheit bot. Eine Biopsie der Lunge oder Niere hätte die Diagnose weiter bestätigen können.

Vorteile einer Biopsie wären eine definitive histopathologische Bestätigung der Diagnose und die Möglichkeit, zwischen malignen und benignen Raumforderungen zu differenzieren. Nachteile umfassen das Risiko von Komplikationen wie Blutungen oder Infektionen sowie die Möglichkeit eines nicht repräsentativen Ergebnisses.

In diesem Fall wurde aufgrund der klaren Bildgebung und der klinischen Indikationen die Entscheidung für die Nierenteilresektion getroffen, um eine definitive Diagnose und Therapie in einem Schritt zu ermöglichen.

Pathophysiologie, Diagnose und Herausforderungen in der Differenzialdiagnose

Die LAM ist eine seltene Systemerkrankung, die vorwiegend bei Frauen im gebärfähigen Alter auftritt (1, 2). Sie ist durch eine abnorme Vermehrung von glatten Muskelzellen (LAM-Zellen) gekennzeichnet, die zur Bildung von zystischen Läsionen in der Lunge, den Lymphgefässen und anderen Organen führt (2). Das klinische Spektrum der LAM und ihr Verlauf können jedoch individuell stark variieren und können mit verschiedenen pulmonalen und extrapulmonalen Erkrankungen überlappen (3, 4). Daher ist eine gründliche Untersuchung erforderlich, um LAM von ähnlichen Erkrankungen abzugrenzen (5) (Tab. 1). Die LAM manifestiert sich entweder sporadisch (sporadische Lymph­angioleiomyomatose [S-LAM]) durch eine Mosaikmutation des Tuberingens spontan oder ist als Keimbahnmutation in Verbindung mit systemischen Manifestationen im Rahmen der tuberösen Sklerose (Tuberöse Sklerose-komplex-assoziierte Lymphangioleiomyomatose [TSC-LAM]) erblich bedingt. Zu den systemischen Manifestationen der tuberösen Sklerose zählen neurologische Störungen (z. B. Epilepsie), Dermatosen (z. B. Angiofibrome), renale Befunde (z. B. Angiomyolipome) und kardiale Anomalien (z. B. Rhabdomyome) (5, 6). Extrapulmonale Manifestationen der LAM, insbesondere renale Angiomyolipome (AMLs), manifestieren sich bei 30 % der Patientinnen mit S-LAM und bei bis zu 80 % mit TSC-LAM. Bei S-LAM manifestieren sich AMLs in der Regel einseitig und asymptomatisch. Tritt eine beidseitige Ausprägung auf, so ist diese in der Regel mit TSC assoziiert (5). Hormone, besonders Östrogen, spielen eine wichtige Rolle bei der Krankheitsentwicklung, da hormonelle Veränderungen wie Schwangerschaft oder die Verwendung hormoneller Verhütungsmittel die Symptome verschlechtern können (7–9).


Der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor-D (VEGF-D) hat sich als bedeutender Biomarker bei der LAM etabliert (10–12). Etwa 70 % der Betroffenen weisen erhöhte Werte auf (13). Gemäss den aktuellen klinischen Leitlinien wird die routinemässige Bestimmung des Serum-VEGF-D bei Verdachtsfällen von LAM empfohlen (14). Ein VEGF-D-Spiegel von mehr als 800 pg/ml, kombiniert mit charakteristischen Lungenzysten in der hochauflösenden Computertomographie (HRCT), weist eine diagnostische Spezifität von nahezu 100 % für eine LAM auf (10). Des Weiteren fungiert VEGF-D als Differenzierungsmerkmal zwischen LAM und anderen Ursachen zystischer Lungenerkrankungen (11, 13). Eine der Hauptmerkmale der LAM ist ihre Heterogenität im klinischen Erscheinungsbild (4). Während einige Personen jahrelang asymptomatisch bleiben können, erleben andere eine schnelle Verschlechterung der Lungenfunktion (15).

Wichtige Differenzialdiagnosen bei bilateralen pulmonalen Zysten sind die Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH), die lymphoide interstitielle Pneumonie (LIP) und das Birt-Hogg-Dubé-Syndrom (16) (Tab. 2). Bei der vor allem bei Raucherinnen auftretenden LCH sind die Zysten in der Computertomographie heterogen, meist in den oberen Lungenlappen lokalisiert und oft bizarr konfiguriert. Im Gegensatz dazu sind bei der LAM die Zysten rund, haben dünne Wände von 1–2 cm und sind gleichmässig über das gesunde Lungengewebe verteilt. Symptomatische Patientinnen weisen normalerweise eine höhere Anzahl an Zysten auf als asymp­tomatische (13, 17). Bei der LIP, die vor allem bei Personen mit rheumatologischen Erkrankungen, Kollagenosen und HIV-Infektion auftritt, sind die Zysten typischerweise in den unteren Lungenlappen betont (17, 18). Beim Birt-Hogg-Dubé-Syndrom könnten kutane Läsionen wie Fibrofollikulome oder Trichodiscome sowie eine familiäre Anamnese dieser Erkrankung bedeutsam sein (6, 19).

Etwa 4 von 10 Patientinnen entwickeln als Erstmanifestation der LAM einen Pneumothorax. Im Verlauf der Krankheit tritt bei rund zwei Drittel der Patientinnen mindestens einmal ein Pneumothorax auf. Das Rezidivrisiko nach dem ersten Pneumothorax betreffen etwa drei Viertel der Patientinnen (6, 19). Bei Patientinnen mit S-LAM besteht ein Risiko für das Auftreten von Meninge­omen (20). Aufgrund dieser Assoziation wird ein Screening mittels zerebraler Magnetresonanztomographie (MRT) des Neurokraniums empfohlen, um mögliche Hirntumore frühzeitig zu erkennen.

Therapie

Die Therapie der LAM umfasst verschiedene Ansätze. Zu den häufig verwendeten Behandlungsmöglichkeiten gehören mTOR-Inhibitoren wie Sirolimus oder Everolimus, die darauf abzielen, das Zellwachstum zu reduzieren und die Lungenfunktion zu stabilisieren (21). Diese Medikamente haben sich als wirksam erwiesen, insbesondere bei der Linderung von Atemnot und der Verkleinerung der Angiomyolipome (22). Je nach dem Verlauf und dem Schweregrad der Erkrankung ist es ratsam, Situationen zu vermeiden, die zu einer Östrogenexposition führen könnten, wie beispielsweise Schwangerschaft oder die Anwendung hormoneller Verhütungsmittel (6). Zusätzlich können Bronchodilatatoren eingesetzt werden, um die Atemwegsobstruktion zu lindern und die Atmung zu verbessern. Impfungen gegen Grippe und Pneumokokken sind wichtig, um das Risiko von Infektionen bei LAM-Patientinnen zu reduzieren (1). Der Rauchstopp ist wichtig, um die Progression der Krankheit zu verlangsamen und das Risiko von Komplikationen zu verringern (1). Pulmonale Rehabilitationsmassnahmen können dabei helfen, die Lungenfunktion zu erhalten und die Lebensqualität zu verbessern (23). Bei Pneumothorax kann eine Pleurodese durchgeführt werden, um das Wiederauftreten zu verhindern (1, 24). In fortgeschrittenen Fällen, in denen die Lungenfunktion stark beeinträchtigt ist, kann eine Lungentransplantation in Betracht gezogen werden. Dies ist jedoch die letzte Option und wird nur bei Patientinnen mit schwerem Lungenversagen durchgeführt (25).

Prognose

Die Progressionsrate und der Schweregrad der Erkrankung variieren erheblich, wobei das Fortschreiten des Lungenfunktionsverlusts als entscheidender prognostischer Parameter betrachtet wird. Beispielsweise zeigt die S-LAM häufig einen aggressiveren Verlauf und einen schnelleren Funktionsverlust im Vergleich zur TSC-LAM (26), sodass eine Lungentransplantation in Einzelfällen notwendig werden kann.

Fazit

Im vorliegenden Fallbericht einer 31-jährigen Patientin wurde eine differenzierte therapeutische Strategie gewählt. Darüber hinaus wurde empfohlen, auf die Einnahme von östrogenhaltigen Medikamenten zu verzichten. Aufgrund der normalen Lungenfunktion und nur weniger pulmonaler Zysten wurde derzeit entschieden, keine mTOR-Therapie einzuleiten. Die Patientin befindet sich jedoch in kontinuierlicher Facharztbetreuung. Die Bedeutung einer individualisierten Behandlungsstrategie, die auf dem aktuellen Verständnis der Pathophysiologie der Erkrankung basiert und die potenziellen Risiken und Nutzen für die Patientin berücksichtigt, ist eine unverzichtbare Komponente für den Erfolg (22).

Abkürzungen
Alpha-SMA Alpha-Smooth Muscle Actin
AMLs Renale Angiomyolipome
COPD Chronisch obstruktive Lungenerkrankung
CT Computertomographie
HMB-45 Human Melanoma Black
HRCT Hochauflösende Computertomographie
IBD Entzündliche Darmerkrankungen
IBS Irritable Bowel Syndrome (Reizdarmsyndrom)
LAM Lymphangioleiomyomatose
LCH Langerhans-Zell-Histiozytose
LIP Lymphoide interstitielle Pneumonie
MNF 116 Anti-Cytokeratin antibody
mTOR-Inhibitoren Mammalian Target of Rapamycin-Inhibitoren
S-LAM Sporadische Lymphangioleiomyomatose
TSC Tuberöse Sklerose-Komplex
TSC-LAM Tuberöse Sklerose-komplex-assoziierte ­Lymphangioleiomyomatose

Historie
Manuskript eingegangen: 17.07.2024
Angenommen nach Revision: 04.03.2025

Bildnachweise
Klinische Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des HOCH Kantonsspitals St. Gallen.

Wiktoria Drozdz 1
Luis Manrique 1
Fatmir Rama 1
Jan Kellner 2
Christian Clarenbach 3
Katja Weiss 4
Beat Knechtle 1, 4*

1 Medbase St. Gallen Am Vadianplatz, St. Gallen, Schweiz
2 Institut für Diagnostische Radiologie, HOCH Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen, Schweiz
3 Klinik für Pneumologie, Universitätsspital und Universität Zürich, Zürich, Schweiz
4 Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich, Zürich, Schweiz

Prof. Dr. med. Beat Knechtle

Facharzt FMH für Allgemeinmedizin
Medbase St. Gallen Am Vadianplatz
Vadianstrasse 26
9001 St. Gallen
Switzerland

beat.knechtle@hispeed.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Die LAM betrifft hauptsächlich Frauen im gebärfähigen Alter.
• Typische klinische Merkmale sind Belastungsluftnot und der akute Pneumothorax, obwohl die Erkrankung oft asymptomatisch verläuft.
• Die Diagnose wird durch die thorakale und abdominale Bildgebung, Histologie und VEGF-D im Serum unterstützt.
• Keine Heilung, aber Behandlungsoptionen zur Symptomlinderung und Verlangsamung der Progression wie mTOR-Inhibitoren, Bronchodilatatoren, Impfungen (Grippe, Pneumokokken), pulmonale Rehabilitationsmassnahmen, Rauchstopp, Pleurodese bei Pneumothorax, Lungentransplantation (selten).
• Multidisziplinäre Betreuung durch Fachärzte ist wichtig.

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Blick-Diagnose – Was rote Augen mit der Niere zu tun haben können

Anamnese und Befunde

Eine 44-jährige Frau ohne Vorerkrankungen litt an grippalen Symptomen; Aspirin hätte nur passager Linderung gebracht. Aufgrund zusätzlicher Adynamie und Tagesmüdigkeit erfolgte eine hausärztliche Vorstellung. Im Urinstix zeigte sich eine Leukozyturie, unter Vermutung eines Harnwegsinfekts erfolgte eine 3-tägige Antibiotikatherapie mit Ciprofloxacin. In der Verlaufskontrolle zeigte sich ein erhöhtes Kreatinin von 200 µmol/l (Referenzbereich: < 95 µmol/l), zudem kam es zu einer Rötung beider Augen, sodass eine Hospitalisation erfolgte.

Bei einer 15-jährigen Jugendlichen wurde aufgrund eines geröteten schmerzhaften Auges links eine Uveitis anterior diagnostiziert und topisch mit Steroiden begonnen. Anam­nestisch litt die Patientin seit Längerem an Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Wegen Rückenschmerzen hatte sie gelegentlich Ibuprofen eingenommen. Aufgrund eines erhöhten Kreatinins erfolgte die Zuweisung an die Kindernephrologie.

Der Status bei der 44-jährigen Patientin war bis auf die geröteten Augen unauffällig. Das Kreatinin lag bei 226 µmol/l. Die Elektrolyte waren normwertig. Das Urinsediment zeigte eine Leukozyturie, der Protein-Kreatinin-Quotient lag bei 26 mg/mmol (Referenzbereich: < 11 mg/mmol), der Albumin-Kreatinin-Quotient bei 2 mg/mmol (Referenzbereich: < 3 mg/mmol), zudem bestand eine eu­glykäme Glukosurie. Eine Urinkultur blieb steril. Die Nierensonographie war bis auf vergrösserte Nieren beidseits unauffällig. Virale Serologien (HIV, Hepatitis B und C) sowie immunologische Marker (ANA, ANCA, anti-GBM) waren negativ. Das Röntgenbild zeigte keine mediastinale Lymphadenopathie. Eine ophthalmologische Beurteilung diagnostizierte eine bilaterale Uveitis anterior (Abb. 1).

Bei der 15-jährigen Patientin war der Status bis auf eine Augenrötung ebenfalls unauffällig. Das Kreatinin lag bei 103 µmol/l, Blutzucker und Elektrolyte waren normwertig. Im Urinstix zeigte sich eine Glukosurie; eine Leukozyturie lag nicht vor. Im Spoturin fand sich ein Protein-Kreatinin-Quotient von 103 mg/mmol, der Albumin-Kreatinin-Quotient betrug 13 mg/mmol. Die Nierensonographie war bis auf eine etwas verminderte kortikomedulläre Differenzierung unauffällig. Auf serologische Abklärungen wurde verzichtet.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Bei geröteten Augen und systemischen Beschwerden wie Müdigkeit sollten neben lokalen Infektionen und Allergien auch systemische Erkrankungen berücksichtigt werden. Zu den Differenzialdiagnosen zählen infektiologische (wie Tuberkulose, Lues, Borreliose, Chlamydien, Viren) und immunologische (wie Spondyloarthropathien, Sarkoidose, juvenile idiopathische Arthritis) Erkrankungen.

Befunde wie tubuläre Proteinurie, euglykäme Glukosurie und sterile Leukozyturie sind typisch für eine tubuläre Dysfunktion und deuten, zusammen mit erhöhtem Serumkreatinin, auf eine interstitielle Nephritis hin. Häufige Ursachen sind Medikamente (wie NSAR, Antibiotika), Infektionen (wie Mykobakteriosen, Leptospiren) und Autoimmunkrankheiten (wie Sarkoidose, Sjögren-Syndrom, Lupusnephritis). Wenn sowohl eine Nierenschädigung als auch eine Uveitis zeitlich assoziiert, sollte auch an das TINU-Syndrom (Tubulointerstitielle Nephritis und Uveitis) gedacht werden.

Weitere Abklärungsschritte

In beiden Fällen erfolgte eine Nierenbiopsie. Bei der 44-jährigen Patientin zeigte die Biopsie eine akute interstitielle Nephritis (AIN) ohne Granulome und unauffällige Glomerula (Abb. 2). Die Biopsie der 15-jährigen Patientin ergab ebenfalls eine tubulointerstitielle Entzündung mit fokaler Tubulitis.

Diagnose

Bei beiden Patientinnen wurde ein TINU-Syndrom (Tubulointerstitielle Nephritis und Uveitis) diagnostiziert, basierend auf der zeitlichen Korrelation zwischen der Uveitis anterior und der interstitiellen Nephritis.

Verlauf

Bei der 44-jährigen Patientin wurde eine hoch dosier­te Steroidtherapie (1 mg pro Kilogramm Körpergewicht) etabliert. Parallel erfolgte eine topische Therapie mit steroidhaltigen Augentropfen. Die Augensymptome sowie die Kopfschmerzen zeigten sich darunter zügig vollständig regredient. Die tubuläre Proteinurie zeigte sich bereits nach drei Wochen vollständig regredient. Die Nierenfunktion erholte sich über vier Monate partiell auf eine eGFR um 60 ml/min/1.73m2. Die Steroide wurden schrittweise bis auf 5 mg reduziert, dann aber von der Patientin selbstständig abgesetzt. Das Serumkreatinin zeigte sich anschliessend auf leicht erhöhtem Niveau stabil, jedoch fanden sich erneut Hinweise auf eine proximal-tubuläre Dysfunktion (eu­glykäme Glukosurie, tubuläre Proteinurie, grenzwertige Hypokaliämie); die Patientin lehnte eine erneute Therapie jedoch ab und entzog sich weiteren Kontrollen.

Bei der 15-jährigen Patientin erfolgte zuerst eine Behandlung mit steroidhaltigen Augentropfen über die ambulante Ophthalmologin. Nach der Vorstellung auf der Nephrologie wurde aufgrund der eindrücklichen Dynamik des Kreatinins eine Methylprednisolon-Stosstherapie mit nachfolgender peroraler Prednisontherapie etabliert. Innerhalb von Wochen verschwanden die Symptome vollständig, die Nierenfunktion sowie die Proteinurie normalisierten sich, und die Patientin ist gemäss behandelnden Kolleg/-innen drei Jahre später weiterhin asymptomatisch und hat eine normale Nierenfunktion.

Kommentar

Das TINU-Syndrom wurde 1975 erstmalig beschrieben als das Auftreten einer tubulointerstitiellen Nephritis (TIN) und einer Uveitis (U), in Abwesenheit anderer potenziell erklärender Erkrankungen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung; pathophysiologisch wird eine T-Zell-vermittelte, CD4+-dominante, verzögerte Hypersensitivitätsreaktion postuliert. Diese kann zur Bildung von entzündlichen, nicht verkäsenden Granulomen führen, was die Differenzierung von anderen granulomatösen Erkrankungen schwierig macht. Vermutet wird ein bislang unbekanntes Antigen, welches sowohl in den Nierentubuli als auch in der Uvea vorkommt. Ähnlich wie bei einem pulmorenalen Syndrom mit Antikörpern gegen dasselbe Antigen in der alveolären wie glomerulären Basalmem­bran kommt es zu einem Syndrom mit entzündlichen Vorgängen in den Nieren und Augen. Es wird vermutet, dass NSAR und Antibiotika ein TINU-Syndrom provozieren können, wobei diese Substanzklassen auch als Risikofaktoren für die klassische interstitielle Nephritis bekannt sind. Auch verschiedene Infektionen wurden mit dem Auftreten eines TINU-Syndroms in Verbindung gebracht. In Fallberichten werden vor allem respiratorische Infektionen und Virusinfekte diskutiert (z. B. Hantavirus, EBV, HIV) (1).

Gemäss einem Systematic Review wurden bis März 2020 kumuliert 592 TINU-Fälle beschrieben (2). Das mediane Alter betrug bei Diagnose 17 Jahre (Interquartilsabstand 13–46 Jahre) mit weiblicher Prädominanz. Meistens kam es zeitlich nach dem Auftreten einer Nephritis zu einer bilateralen Uveitis, welche meist einer Uveitis anterior entsprach. Bei pädiatrischen Patient/-innen wurde eine asymp­tomatische Uveitis gelegentlich erst diagnostiziert, wenn eine Nephritis zu einer ophthalmologischen Vorstellung führte. Eine plötzlich auftretende bilaterale Uveitis in pädiatrischen Patient/-innen war zudem in bis zu einem Drittel der Fälle mit der Diagnose einer tubulointerstitiellen Nephritis verbunden. Kinder und Jugendliche tendieren eher zu einer rezidivierenden Uveitis, während bei Erwachsenen das Risiko für eine akute Nierenfunktionseinschränkung und einen chronischen Nierenschaden im Vordergrund steht. Die Gründe für diese Diskrepanz im Phänotyp sind nicht abschliessend geklärt.

Das ophthalmologische Bild des TINU-Syndroms präsentiert sich als akut auftretende, nicht granulomatöse Uveitis. Klassische Symptome sind Augenrötung, -schmerzen und Photophobie, eine Visusverschlechterung kann auch vorliegen. Die Symptome treten akut innerhalb von Tagen auf und sind häufig direkt bilateral vorhanden. Okuläres wässriges Sekret oder morgendliche verklebte Augen, wie sie klassisch bei einer viralen Konjunktivitis der Fall sind, finden sich nicht. Bereits die makroskopische Beurteilung, wie sie auch in der Hausarztpraxis erfolgen kann, zeigt eine ausgeprägte konjunktivale Injektion. Eine entrundete Pupille (Abb. 1) kann als Folge eines Entzündungsreizes mit Verklebung der Iris mit der anterioren Linsenkapsel (Abb. 3) vorkommen und muss insbesondere bei Patient/-innen ohne vorherige intraokulare Operation an eine intraokulare Entzündung denken lassen. Weitere Befunde des Vorderkammerreizes sind ohne fachärztliche Untersuchung mittels Spaltlampe nicht zu eruieren. Diese Augenbefunde sind oftmals unspezifisch und können meist nicht eindeutig einer Ätiologie zugeordnet werden.

Nephrologisch findet sich typischerweise das Bild einer AIN mit steriler Leukozyturie, tubulärer Proteinurie und Nierenfunktionseinschränkung. Andere Zeichen der proximalen Tubulopathie wie euglykäme Glukosurie, Phosphaturie und metabolische Azidose können vorkommen. Auch das histologische Bild in der Nierenbiopsie entspricht dem einer AIN mit lymphozytärem Infiltrat und interstitiellem Ödem. Granulome können vorkommen, während Glomerula und Gefässe typischerweise unauffällig sind. Teilweise lassen sich Granulome auch in Lymphknoten und Knochenmark finden. Insbesondere die Abgrenzung zur Sarkoidose kann dann schwierig sein, wenn keine andere Organbeteiligung vorliegt. Es existieren keine gut validierten Laborparameter, die spezifisch sind für das TINU-Syndrom – BSG und CRP können erhöht sein, wie bei anderen Erkrankungen. Antikörper gegen modifiziertes C-reaktives Protein (mCRP, ein sowohl in Uvea und Tubuluszellen vorkommendes Antigen) scheinen beim TINU-Syndrom erhöht zu sein im Gegensatz zum Sjögren-Syndrom, zu medikamenteninduzierter interstitieller Nephritis und gesunden Kontrollen, jedoch ist dieser Test nicht kommerziell erhältlich. Eine reduzierte eGFR wird in 40 % der betroffenen Patient/-innen nach 12 Monaten beschrieben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass teilweise wahrscheinlich eine zuvor unbekannte, bereits eingeschränkte Nierenfunktion vor der Diagnose der Nephritis bestanden hatte. Bei den pädiatrischen Patient/-innen besteht ein besseres Outcome mit einer reduzierten eGFR in 20 % der Betroffenen nach 12 Monaten.

Analog zur Behandlung einer akuten interstitiellen Ne­phritis wird eine Therapie mit Kortikosteroiden empfohlen. Die optimale Dosierung wurde bislang nicht in prospektiven Studien untersucht, bezüglich der Therapiedauer wird in Fallserien ein eher längeres Fenster (12–24 Monate) gewählt. Entsprechend werden steroidsparend Mycophenolat oder Azathioprin eingesetzt. Bezüglich Uveitis ist eine Behandlung mit lokalen steroidhaltigen Augentropfen indiziert. Beim TINU-Syndrom ist die Uveitis meist mild bis moderat ausgeprägt und spricht in der Regel gut auf eine Lokaltherapie an (3).

Abkürzungen
AIN Akute interstitielle Nephritis
ANA Antinukleäre Antikörper
ANCA Anti-Neutrophile cytoplasmatische Antikörper
Anti-GBM Anti-Glomeruläre Basalmembran
BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit
CRP C-reaktives Protein
EBV Epstein-Barr-Virus
eGFR geschätzte glomeruläre Filtrationsrate
HIV Human Immunodeficiency Virus
mCRP modifiziertes C-reaktives Protein
TINU tubulointerstitielle Nephritis und Uveitis

Historie
Manuskript eingegangen: 30.09.2024
Angenommen nach Revision: 12.03.2025

Pascal Gantenbein 1,
sabelle Binet 1
Regula Laux 2
Sascha Mathias Jung 3
Annette Enzler-Tschudy 4
Christian Kuhn 1

1 Klinik für Nephrologie und Transplantationsmedizin, HOCH Health Ostschweiz, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
2 Nephrologie, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
3 Klinik für Ophthalmologie, HOCH Health Ostschweiz, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
4 Institut für Pathologie, HOCH Health Ostschweiz, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen

Dr. med. Christian Kuhn

Klinik für Nephrologie und Transplantationsmedizin
HOCH Health Ostschweiz, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Str. 95/Haus 10
9007 St. Gallen

christian.kuhn@h-och.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

• Eine Augensymptomatik, die an eine Uveitis erinnert, muss gerade bei jungen Patient/-innen weiter abgeklärt werden. Unter anderem soll die Nierenfunktion mittels Kreatininbestimmung im Serum, Urinstix sowie Protein­urie und Albuminurie mittels Urin-Kreatinin-Ratio bestimmt werden.
• Umgekehrt soll auch eine nicht erklärte, neu aufgetretene Nierenfunktionseinschränkung abgeklärt werden. Erbringt die Basisdiagnostik keine Diagnose, soll eine Zuweisung zum Spezialisten erwogen werden.
• Bei gleichzeitiger oder in enger Korrelation auftretender Nierenfunktionseinschränkung und ophthalmologischer Beschwerden sollte eine Uveitis respektive eine Nephritis ausgeschlossen werden.
• Das TINU-Syndrom ist selten, aber eine verpasste oder verzögerte Diagnose mit erheblicher Morbidität verbunden.

1. Okafor LO, Hewins P, Murray PI, Denniston AK. Tubulointerstitial nephritis and uveitis (TINU) syndrome: a systematic review of its epidemiology, demographics and risk factors. Orphanet J Rare Dis. 14. Juli 2017;12(1):128
2. Regusci A, Lava SAG, Milani GP, Bianchetti MG, Simonetti GD, Vanoni F. Tubulointerstitial nephritis and uveitis syndrome: a systematic review. Nephrol Dial Transplant. 1. Mai 2022;37(5):876–86.
3. Mackensen F, Smith JR, Rosenbaum JT. Enhanced recognition, treatment, and prognosis of tubulointerstitial nephritis and uveitis syndrome. Ophthalmology. Mai 2007;114(5):995–9.