Ausgewählte Studien aus der Hämato-Onkologie

Zanubrutinib, Obinutuzumab und Venetoclax zur Erstlinienbehandlung des Mantelzelllymphoms mit einer TP53-Mutation

Das Mantelzell-Lymphom tritt in der häufigsten nodulären Variante, einer relativ benignen SOX11-negativen leukämischen Variante und einer aggressiven blastoiden Morphologie auf. Die TP53-Mutation ist mit hoher Aggressivität, kurzer Ansprechdauer und hoher Mortalität assoziiert.
In dieser Phase II Studie wurde die Kombination des Bruton Kinase Inhibitors Zanubrutinib, des CD20 monoklonalen Antikörpers Obinutuzumab und des BCL2 Inhibitors Venetoclax (BOVen) bei neu diagnostizierten Mantelzelllymphompatienten mit TP53 Mutation untersucht. Venetoclax wurde ab Zyklus 2 gegeben, Obinutuzumab weniger häufig ab Zyklus 2. Die maximale Zykluszahl betrug 24 für Patienten in MRD negativer CR.

25 Patienten wurden eingeschlossen. Die Ansprechrate war 96% (24/25) und die CR Rate 88% (22/25). Die MRD-Negativität nach 13 Behandlungszyklen lag bei 84% (16/19). Die mediane Nachbeobachtungszeit betrug 28 Monate, das 2-Jahres-PFS 72 %, 91 % bzw. 76 %. Die Nebenwirkungen waren wie bei diesen Medikamenten zu erwarten.
www.clinicaltrials.gov #NCT03824483

Literatur
Anita Kumar, Jacob Soumerai, Jeremy S. Abramson et al.
BLOOD 2025; 145: 497-507

Sieben-Jahres-Ergebnisse der Venetoclax-Ibrutinib-Therapie bei Mantelzelllymphom

Wie oben beschrieben, werden beim Mantelzell-Lymphom Chemotherapie-freie Strategien untersucht. Es handelt sich um eine Phase II Studie mit dem Bruton Kinase Inhibitor Ibrutinib in Kombination mit dem BCL2 Inhibitor Venetoclax bei 24 Patienten mit rezidiviertem/refraktärem Mantelzelllymphom. Die Kombination Ibrutinib-Venetoclax ist aus der CLL-Therapie bekannt und wurde in Phase III-Studien mit hohem Ansprechen in der Kurzzeittherapie getestet.

Ibrutinib wurde in der Mantelzelllymphom-Dosis von 560 mg qd und Venetoclax in der üblichen Dosis von 400 mg qd verabreicht. In dieser Studie war ursprünglich eine Dauertherapie vorgesehen, in einem Amendment wurde ein Therapieabbruch innerhalb der Studie bei MRD-negativer CR erlaubt. Bei langem Follow-up betrug das PFS nach 7 Jahren 30% (95% CI, 14-49; median 28 Monate) und das Gesamtüberleben 43% (95% CI, 23-62; median 32 Monate). Von 8 Patienten mit einem Therapieunterbruch (58 Monate) kam es bei 4 zu einem Rezidiv. Über unerwartete Nebenwirkungen wurde nicht berichetet. Insgesamt kann diese Kombination bei einem Teil der Patienten mit R/R MCL zu langanhaltenden Remissionen führen.
www.clinicaltrials.gov #NCT02471391

Literatur
Sasanka M. Handunnetti, Mary Ann Anderson, Kate Burbury, et al
BLOOD 2024; 144:867-872

Die Dosisintensität von Dexamethason hat keinen Einfluss auf die Ergebnisse bei neu diagnostiziertem multiplem Myelom

Dexamethason in hoher Dosierung mit Tagesdosen 20mg bis 40mg gehört zur Induktionstherapie beim Plasmazellmyelom; die wahrscheinlich häufigst verwendete Kombination ist Dexamethason, das Imid Lenalidomide, der Proteasomhemmer Bortezomib und der monoklonale CD38 Antikörper Daratumumab.

Die Steroidtoxizitäten (Hyperglykämie, Schlaflosigkeit, psychomotorische Unruhe, Immunsuppression und im Verlauf Cushing-Syndrom, Osteoporose, Muskelschwund) sind gut bekannt.

In der ECOG E4A03-Studie wurde Dexamethason 40 mg einmal wöchentlich mit höheren Dosen von Dexamethason (40 mg d1-4) verglichen, und die einmal wöchentliche Dosis erwies sich aufgrund der geringeren Mortalität als überlegen. Diese Dosis (40 mg einmal wöchentlich oder die gleiche Dosis über 2 Tage verteilt) ist in verschiedenen Schemata enthalten.

In der hier vorliegenden Arbeit wurden die Daten der Myelom Studien für Erstinduktionen SWOG 0777 und SWOG 1211 gepooled. Die Studien hatten Lenalidomid-Dexamethason mit oder ohne Bortezomib und mit oder ohne Elotuzumab (ein SLAMF7-Antikörper) untersucht. Die Patienten wurden hinsichtlich der tatsächlich verabreichten Dexamethason-Dosis untersucht (Verabreichung nach Protokoll versus Verabreichung einer niedrigeren Dosis). Eine Dexamethason Dosisreduktion war per Studienprotokoll für Nebenwirkungen erlaubt.
541 Patienten konnten evaluiert werden. Dexamethason-Dosisreduktionen waren bei 373 (69 %) vorgenommen worden. Es gab keine Unterschiede in PFS oder OS in der Volldosis oder reduzierten Dosis Dexamethason Gruppen. Die Studie wurde dahingehend interpretiert, dass Dosisreduktionen sogar in klinischen Studien sehr häufig vorgenommen werden und dass die wirksame Dexamethason-Dosis, insbesondere in modernen Kombinationen zu evaluieren sei.

Literatur
Rahul Banerjee, Rachael Sexton, Andrew J. Cowan,et al.
BLOOD 2025; 145:75-84

Menin-Hemmung mit Revumenib bei KMT2A-Rearranged-­rezidivierter oder refraktärer akuter Leukämie (AUGMENT-101)

Akute myeloische Leukämie mit KMT2A Rearrangement (= 11q23 Translokationen) ist eine aggressive Krankheiten mit kurzer Remissionsdauer und tiefer Überlebensrate. Menin-Inhibitoren sind oral verabreichbare, kleinmolekulare Hemmer der Menin-Lysin-Methyltransferase 2A (KMT2A)-Interaktion und somit der Bindung des KMT2A-Proteinkomplexes an den entsprechenden Genpromotor.

In dieser Studie erhielten Patienten mit rezidivierter / refraktärer KMT2A rearrangierter akuter Leukämie den Menin-Inhibitor Revumenib.

Die Studie AUGMENT-101 wurde in eine Phase I/II Dosiseskalationsstudie umgewandelt. Patienten mit KMT2A rearrangierter oder mit NPM1-Mutation (gleicher Aktivierungsweg) wurden eingeschlossen und erhielten Revumenib oral zweimal täglich in 4-wöchigen Zyklen.

94 Patienten im Durchschnittsalter von 37 Jahren wurden eingeschlossen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren febrile Agranulozytose (37,2%), Differenzierungssyndrom (16%) und QTc-Verlängerung (13,8%). Hinsichtlich der Wirksamkeit konnten 57 Patienten ausgewertet werden, 23% erreichten eine komplette Remission, insgesamt lag die Ansprechrate bei 63,2% (95% CI, 49,3-75,6).

Literatur
Ghayas C. Issa, MD; Ibrahim Aldoss; Michael J. Thirman, et al.
J Clin Oncol 2024; 43:75-84

Ibrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie im Frühstadium: Die randomisierte, placebokontrollierte, doppelblinde Phase-III-Studie CLL12

Die Kriterien für die Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie sind an die symptomatische Krankheit gebunden, weil frühe Studien gezeigt hatten, dass die Langzeitresultate bei Behandlung im Frühstadium keine Prognoseverbesserung bringen. Diese Studien wurden mit Chemotherapien durchgeführt und somit machte es Sinn, diese Frage im Zeitalter der zielgerichteten Therapien zu überprüfen.

Die Deutsche CLL-Studiengruppe hat deshalb den Bruton Kinase Inhibitor Ibrutinib in einer randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studie mit 363 Patienten auf diese Fragestellung hin untersucht. Patienten mit hohem GCLLSG-Score (bestehend aus klinischen, genetischen, Krankheitsaktivitäts- und Mutationsstatus-Variablen) wurden randomisiert, Patienten mit niedrigem Score nur beobachtet.

Ibrutinib verzögerte die Progression zur symptomatischen CLL signifikant (P < .001; HR, 0.28 [95% CI, 0.19-0.41]), ein Überlebensvorteil wurde jedoch nicht gesehen, allerdings mit nur 26 Todesfällen, aber einer medianen Beobachtungsdauer von 69.3 Monaten. Das 5-Jahres-Überleben betrug 93,3% (95%-KI, 89,3-97,3) in der Ibrutinib-Gruppe und 93,6% (95%-KI, 89,5-97,7) in der Placebo-Gruppe.

Literatur
P Langerbeins, S Robrecht, P Nieper, et al
J Clin. Oncol. 2025: 43; 392-399

Lokale Bestrahlung verbessert die systemische CAR-T-Zell-Wirksamkeit durch Verstärkung der Antigen-Kreuzpräsentation und T-Zell-Infiltration

Über die Wirksamkeit von CAR-T-Zelltherapien gegen das CD19-Antigen bei verschiedenen CD19-exprimierenden B-Zell-Lymphomen wurde auf diesen Seiten bereits mehrfach berichtet. Da diese Therapien in der Regel bei rezidivierten / refraktären Lymphomen eingesetzt werden, ist die Rückfallhäufigkeit hoch. Häufig erhalten die Patienten vor der CAR-T Therapie sogenannte «Bridging Therapien», die mit verschiedenen Modalitäten durchgeführt werden können, u.a. auch mit Bestrahlung.

Dies ist eine tierexperimentelle Studie mit einem CAR-T CD19 positivem Lymphom-Mausmodell. Die Mäuse wurden mit 1 oder 2 niedrigen Dosen (2x4Gy oder 1x8Gy) bestrahlt. In diesem Modell waren die Mäuse Träger von zwei Lymphommanifestationen, von denen nur eine bestrahlt wurde.

Bestrahlung und CD19 CAR-T Therapie hatten einen additiven Effekt auf das Tumorwachstum. Die Bestrahlung führte zu einem erhöhten Ansprechen auf die CAR-T Therapie und dies nicht nur im bestrahlten, sondern auch im nichtbestrahlten Tumor.

Als Erklärung wurden die Aktivierung von Interferon-assoziierten Genen, Tumorantigen-assoziiertes Crosspriming und Epitopspreading gefunden.

Nun bleibt es zu zeigen, dass auch in der klinischen Situation bei Patienten eine solche Strategie Anwendung finden kann.

Literatur
Nektarios Kostopoulos, Francesca Costabile, Elisavet Krimitza,et al.
BLOOD Advances, 2024; 8 :6308-6320

Prof. Dr. med. Jakob Passweg

Klinik für Hämatologie
Hämatologische Diagnostik Labormedizin
Universitätsspital Basel und Blutspendezentrum beider Basel SRK
Petersgraben 4
4031 Basel

jakob.passweg@usb.ch

Patientenforum Onkologie und Hämatologie: Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung

Unter der Leitung von Prof. Roger von Moos, Leiter des Tumor- und Forschungszentrums am Kantonsspital Chur, diskutierten Ärzte, Patienten, Pflegende und Vertreter von Patientenorganisationen am healthbook Patientenforum vom 18. Januar in Bern, wie das Konzept des «Shared Decision Making» (SDM) in der onkologischen und hämatologischen Praxis besser verankert und mit Leben gefüllt werden kann.

Dr. Ellen Heitlinger, CEO von healthbook, begrüsste die zahlreichen Interessierten, die am Samstagmorgen nach Bern gekommen waren, um sich über ein Konzept zu informieren, das mittlerweile in allen medizinischen Disziplinen Einzug gehalten hat. «Passend zum Weltkrebstag am 4. Februar und im Vorfeld des Darmkrebsmonats März wollen wir den Blick auf die gemeinsame Entscheidungsfindung schärfen», so die Organisatorin des Forums. Dieses verfolge einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht nur onkologische, sondern auch chronische Erkrankungen sollen beleuchtet werden, bei denen die gemeinsame Entscheidungsfindung eine ebenso zentrale Rolle spielt. Patientinnen und Patienten setzen in der Regel andere Prioritäten als Ärztinnen und Ärzte, so ist die Verträglichkeit oft wichtiger als die Wirksamkeit einer Therapie. Patientinnen und Patienten sollten daher aktiv in Entscheidungen über die Behandlung ihrer Krankheit einbezogen werden.

Prof. von Moos erinnerte zunächst mit der folgenden Illustration an die Zitate von Snoopy über das Leben und das Glück, «In den letzten Jahren haben wir viel in Bezug auf Multidisziplinarität und Interprofessionalität für den Patienten getan, aber wir hinken noch etwas hinterher, dies gemeinsam mit dem Patienten anzugehen. Im heutigen Patientenforum werden wir verschiedenste Aspekte dieses wichtigen Themas angehen» so der Referent.

Angehörige der Gesundheitsberufe müssen anerkennen, dass ihre Patienten oft mehr über einen bestimmten Aspekt ihrer Behandlungssituation wissen als sie selbst. Sie sind somit auch «Spezialisten», deren Wissen, Meinung und Entscheidungskompetenz respektiert werden muss. Auf dieses «Empowerment» zielt das Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung ab.

SESSION 1:
Das Konzept verstehen: Shared ­Decision Making in Onkologie und Hämatologie

Grundlagen und Prinzipien der gemeinsamen ­Entscheidungsfindung

«Eine effektive Versorgung in der Onkologie/Hämatologie setzt sich zusammen aus der Wahl der medizinischen Behandlung, der Evidenz der Nachteile und Vorteile, den Bedürfnissen, Werten und Präferenzen des Patienten und einer «präferenzsensiblen» Entscheidung», so PD Dr. med. Martina Kleber, Chefärztin Institut für Allgemeine Innere Medizin, Hirslanden Klinik, Zürich.
Die Phasen des Shared Decision Making sind
Schritt 1: Suche nach der Teilnahme des ­Patienten
Schritt 2: Helfen Sie Ihrem Patienten, Behandlungsoptionen zu erkunden und zu vergleichen
Schritt 3: die Werte und Vorlieben Ihres Patienten einschätzen
Schritt 4: Treffen Sie eine Entscheidung mit Ihrem Patienten
Schritt 5: Bewerten Sie die Entscheidung des Patienten

Konzepte der gemeinsamen Entscheidungsfindung: informierte Entscheidung, wertebasierte Entscheidung, patientenzentrierte Versorgung, Zusammenarbeit, kontinuierlicher, partnerschaftlicher Dialog.

Grundsätze der gemeinsamen Entscheidungsfindung
Evidenzbasierte Information, Deliberation und Abwägung, Einbeziehung des Patienten, Autonomie des Patienten, unterstützendes Umfeld – erleichterter Dialog.
Vorteile von Shared Decision Making: Verbesserte Kommunikation, Patientenzufriedenheit, Therapietreue / Compliance, Positive Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten.

Digitale Entscheidungshilfen
Unterstützung im Vorfeld zur Vorbereitung auf Shared Decision Making. Bereitstellung von standardisierten, meist evidenzbasierten Informationen über Krankheiten, mögliche medizinische Massnahmen und damit verbundene Vor- und Nachteile sowie Risiken. Elektronische bzw. webbasierte Entscheidungshilfen können helfen, Lücken in der Vorbereitung der Patienten zu schliessen und sie so im Prozess des SDM zu unterstützen.

Chatbot als effiziente Hilfe
Textbasierte Dialogsysteme, Chat per Texteingabe oder Sprache mit einem automatisierten System, text- oder sprachbasierter Dialog mit dem Nutzer über eine interaktive Schnittstelle. Dies spart Zeit und bereitet das Gespräch mit dem Arzt vor.

Schlussfolgerungen
– Therapieentscheidungen in der Onkologie/Hämatologie sind komplex
– Gemeinsame Entscheidungsfindung ist ein kontinuierlicher Prozess
– Häufig im Kontext von Breaking Bad News
– Unterstützende Umgebung – erleichterter Dialog
– Unterstützung durch digitale Werkzeuge.

Patientenzentrierte Versorgung durch Shared Decision Making stärken

Erik Aerts, Abteilungsleiter Pflege am USZ betonte die zentrale Rolle der Kommunikation in der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Besprechung von Behandlungspräferenzen und -prioritäten zum Verständnis dessen, was Patienten brauchen, um fundierte Entscheidungen zu treffen, sind essenziell. Es sollte effektiv kommuniziert werden, zurück zu den 5 As (Ask, Assess, Advice, Assisst, Arrange), so der Referent.

Aus Sicht der Pflege zeigte Erik Aerts auf, wie sehr klar und respektvoll vermittelte Informationen über Behandlungsoptionen, Risiken und Vorteile einer Krebsbehandlung den Patienten helfen können, fundierte Entscheidungen zu treffen und eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Fachpersonen und Patienten zu schaffen. Er warnte vor unrealistischen Erwartungen und vor den Gefahren von Fehlinformationen aus den Medien oder dem Internet.

Was fehlt oft?
Die Diskussionen über Behandlungen konzentrieren sich oft auf SOM aber Patienten mit hämatologischen Erkrankungen brauchen mehr. Dazu gehören auch Diskussionen über die Planung des Lebensendes, die realistische Prognosen erfordert.

SESSION 2:
Gemeinsame Entscheidungsfindung und die Rolle eines multidisziplinären Tumorboards

Berührungspunkte zwischen gemeinsamer Entscheidungsfindung und einem multidisziplinären Tumorboard

Zu den Beziehungen und Problemen zwischen gemeinsamer Entscheidungsfindung und den Entscheidungen des Tumorboards referierte Dr. Michael Montemurro, Clinique Genolier Genf.

Teamarbeit findet in der Krebsmedizin bereits innerhalb der Ärzteschaft statt. Die behandelnden Onkologen, Pathologen, Radiologen sowie organspezialisierte Fachärzte treffen sich in multidisziplinären Tumorboards und beleuchten und bewerten Diagnosen, Therapieentscheidungen und Therapieverläufe aus unterschiedlichen Perspektiven. Im anschliessenden Gespräch mit dem Patienten kann sich der Weg der gemeinsamen Entscheidungsfindung ebenso komplex gestalten wie die Therapieauswahl selbst. Denn die Patientenpräferenzen können sich unter anderem auf die Wahl der Therapieziele (z.B. Heilung oder Verbesserung der Lebensqualität), die Art der Therapie (Chemotherapie oder Immuntherapie) sowie die jeweiligen Risiken und Nebenwirkungen beziehen. Abschliessend verwies der Referent auf die Ergebnisse einer Umfrage zu wahrgenommenen Hindernissen und benötigten Ressourcen:
– Der Patient ist mit der Entscheidung überfordert (53%),
– Der Patient möchte, dass sein Arzt die Entscheidung trifft (46%)
– Der Patient hat eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz (46%)
– Ich wurde nicht ausreichend geschult, um an der gemeinsamen Entscheidungsfindung teilzunehmen (13%).

SESSION 3:
Fähigkeiten für bessere gemeinsame Entscheidungen stärken: Übungen, die helfen

Welche Kompetenzen müssen verbessert werden und wie?

Der Onkologe Dr. Alexander Meisel (Glarus) betonte die grosse Bedeutung des kontinuierlichen Dialogs mit den Patienten. Ausreichend Zeit, klare Kommunikation, gute Vorbereitung sowie der Einsatz von verständlichen Materialien und Bildern seien dabei entscheidend. Wichtige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Shared Decision Making seien zudem verlässliche Diagnosedaten, zeitnahe Laborergebnisse und leicht zugängliches Informationsmaterial.

Der Referent betonte, dass Ärzte und Patienten zu jedem Zeitpunkt der Behandlung ein Behandlungsteam bilden und vor allem immer auf dem neuesten Stand der Behandlung sein sollten. Wenn Disease Management keine Worthülse bleiben solle, müsse es zeigen, dass es mehr als ein theoretisches Konzept sei. Deshalb müssten sich alle an der Behandlung und Betreuung Beteiligten täglich für eine vertrauensvolle, partnerschaftliche und transparente Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten einsetzen, so der Referent. Ziele einer partizipativen Behandlungsentscheidung sollten sein, so Dr. Meisel:
– Die Präferenzen des Patienten genau kennen
– Patienten bestmöglich und verständlich informieren
– Trotz der Präferenzen des Patienten die bestmögliche Behandlungsentscheidung treffen, insbesondere wenn mehrere Optionen zur Verfügung stehen
– Gesamtüberleben
– Tumorkontrolle
– Nebenwirkungen
der Wahrheit so nahe wie möglich kommen.

Partizipative Behandlungsentscheidung SDM – Was bevorzugen die Patienten?
Eine Untersuchung an 1081 Patienten (48.6% weiblich) ergab die folgenden Resultate

– 402 Patienten (37.2%) bevorzugen die Kontrolle über ihre Behandlung zu behalten
– 400 Patienten (37.0%) bevorzugen die Kontrolle mit ihrem Arzt zu teilen
– 279 Patienten (25.5%) bevorzugen die Kontrolle dem behandelnden Arzt zu überlassen.
– Bei Patienten zwischen 18 und 40 Jahren war die Wahrscheinlichkeit höher, die Kontrolle über die Behandlung selbst behalten zu wollen. Ein gleicher Trend war bei höherer Bildung und höherem Einkommen zu beobachten.
– Patienten mit metastasierter Erkrankung wollten häufiger eine gemeinsame Entscheidungsfindung.

Partizipative Entscheidung/SDM: Auswirkungen auf den ­Praxisalltag und Patienten
Es wurde festgestellt (Abukmail E et al. Pat Educ Count 2024 Dec; 129:1o8408), dass die Umsetzung von SDM in der Regel weder Kosten noch die Konsultationszeit erhöht, während es für bestimmte Bevölkerungsgruppen neutrale bis positive Auswirkungen auf die Ergebnisse und die Qualität hat. Es bestehen weiterhin Wissenslücken, einschliesslich einer besseren Erforschung des Klimas, in dem SDM am effektivsten ist.
Wichtige Voraussetzungen für eine partizipative Behandlungsentscheidung: die persönliche Meinung des Referenten
– Patient und behandelnder Arzt sollten immer ein Behandlungsteam sein
– Wir sind Berater – keine Patriarchen
– Alle Hindernisse sollten uns nicht davon abhalten, eine bestmögliche, patientenorientierte Behandlung zu bieten
– SDM spart am Ende Zeit und Energie

SESSION 4:
Patientenforum Perspektiven von Patientinnen und Patienten erforschen

Rosmarie Pfau aus Aesch, Gründerin und Präsidentin des Patientennetzes Lymphome Schweiz (lymphome.ch), war selbst Lymphom-Patientin. Sie berichtete von den Erfahrungen von Patienten mit dem Thema gemeinsame Entscheidungsfindung im Alltag. Dabei stützte sie sich ­insbesondere auf Daten einer Umfrage des Lymphom-Patientennetzes.

Die Befragung ergab, dass etwa 30% der Patienten stärker in den Entscheidungsprozess einbezogen werden könnten, was die Behandlungserfahrung verbessern und eine stärkere Patientenorientierung ermöglichen würde. 40% der Patienten würden Therapieentscheidungen lieber gemeinsam mit dem behandelnden Arzt treffen. Rosmarie Pfau betonte, wie wichtig eine auf den Patienten und seine persönlichen Lebensumstände zugeschnittene Unterstützung, anschauliches Informationsmaterial und die individuelle Begleitung durch Patientenorganisationen seien.

Gemeinsame Entscheidungsfindung ist sinnvoll, so die Referentin
– bei chronischen und akuten Erkrankungen
– bei Behandlungen mit mehreren gleichwertigen Alternativen
– bei Behandlungen mit grossen Risiken oder Nebenwirkungen
Beteiligung an der Entscheidungsfindung laut Lymphoma Coalition Global Patient Survey 2024/Schweiz: 64% der Patienten wurden in dem Masse in Entscheidungen über ihre Versorgung und Behandlung einbezogen, wie sie es wünschten. 29% fühlten sich bis zu einem gewissen Grad so einbezogen, wie sie es wünschten 4% wünschten sich eine stärkere Einbeziehung 1% wünschten sich keine Einbeziehung.
Als besonders wichtig erachtet die Referentin die Information und Erklärung der empfohlenen Therapieoptionen, die Information über mögliche Nebenwirkungen, die Berücksichtigung ihrer beruflichen Situation, d.h. eine Therapie, bei der sie weiterarbeiten kann, die Entscheidung gemeinsam mit dem Arzt zu treffen.

Gemeinsame Entscheidungsfindung aus Sicht der Patientenbetreuung

Darüber, wie sich die Umsetzung des Konzepts der gemeinsamen Entscheidungsfindung im Alltag aus der Perspektive der Patientenbetreuung und Pflege gestaltet, sprach die diplomierte Pflegefachfrau Onkologie, Rita Deininger, vom Tumor und BrustZentrum,St. Gallen.

Sie verglich den Prozess mit einer Bergtour, bei der ein guter Führer dank vorausschauender Planung auch auf schwierige Wetterbedingungen vorbereitet ist. Zusammen mit einer Haltung im Sinne «Hope for the best, be prepared for the worst» würden Weitsicht, Vertrauen und enge Zusammenarbeit zwischen Patienten, Angehörigen und medizinischen Fachpersonen Patienten gerade in schwierigen Situationen unterstützen. Zum Beispiel bei der Frage, wie es weitergeht, wenn eine Palliativpflege im Raum steht.

Hinweis:
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personen und Berufsbezeichnungen, die in diesem Text im männlichen Geschlecht aufgeführt sind, gelten daher selbstverständlich gleichermassen für alle Geschlechter.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Gesundheitsberichterstattung über Krebs 2024 – Zweittumore in der Schweiz

Die Nationale Krebsregistrierungsstelle (NKRS) und das nationale Kinderkrebsregister (KiKR) haben den ersten Bericht der Gesundheitsberichterstattung über Krebs publiziert. Mit diesem sowie den folgenden Berichten wollen sie alle drei Jahre gesundheitspolitische Fragen zum Krebsgeschehen beantworten, bewertende Betrachtungen liefern und Empfehlungen für Gesundheitspolitik, Gesundheitsversorgung und Forschung aussprechen.

Im vorliegenden ersten Bericht wird das Zweittumorrisiko in der Schweiz untersucht. Der Bericht zeigt auf, wie hoch das Risiko ist, nach einer überstandenen ersten Krebserkrankung an einem zweiten Tumor zu erkranken, wer besonders gefährdet ist und welche Massnahmen zu ergreifen sind, um die Belastung durch Zweittumore zu verringern.

Die Berichte stützen sich auf Daten aus der Krebsregistrierung. Seit Einführung des KRG sind Krebserkrankungen, Krebsvorstufen und gewisse gutartige Tumore meldepflichtig. Die entsprechenden Informationen werden für Erwachsene in den kantonalen Krebsregistern und für Kinder und Jugendliche im nationalen Kinderkrebsregister erfasst. Die Nationale Krebsregistrierungsstelle stellt die anonymisierten Daten zum nationalen Krebsdatensatz zusammen. Dieser erlaubt umfassende Auswertungen zum Gesamtbild von Krebserkrankungen in der Schweiz.

Zum Download:

Mehr Informationen
Dr. med. Katharina Staehelin, Direktorin NKRS/NICER,
katharina.staehelin@nkrs.ch

Führungswechsel bei Oncosuisse

Der Vorstand von Oncosuisse hat M Sc Dominique Froidevaux zum neuen CEO ernannt. Für das Ressort Politik wird er unterstützt von Prof. Dr. med. Roger von Moos. Dominique Froidevaux übernimmt von Dr. Michael Röthlisberger, der Oncosuisse nach langjähriger Tätigkeit per Ende Februar verlässt. Dominique Froidevaux, erfahren in der Führung von Gesundheitsverbänden, soll die Schweizerischen Vereinigung gegen Krebs in die Zukunft führen.

Der Oncosuisse Vorstand dankt Dr. Michael Röthlisberger für sein langjähriges Engagement. Unter seiner Führung wurden bedeutende Fortschritte erzielt, so wurde für den Nationalen Krebsplan ein politischer Auftrag erlangt, unter Einbezug einer gestärkten Schweizer Krebsgemeinschaft eine inhaltliche Grundlage dafür geschaffen und mit dem BAG ein Mandat zur Umsetzung vereinbart. Zudem wurde der Verband Oncosuisse so restrukturiert, dass die Umsetzung des Nationalen Krebsplans mit breiterer Mitgliederbasis angegangen werden kann. «Wir danken Dr. Röthlisberger für seine wertvollen Beiträge und wünschen ihm alles Gute für seine berufliche Laufbahn», so Vorstandspräsidentin Prof. Dr. med. Solange Peters.

Unter der Leitung von M Sc Dominique Froidevaux, dem Gründer und CEO der Pro Medicus GmbH in Zürich, soll eine neue Oncosuisse entstehen, die allen Schweizer Krebsorganisationen offensteht. Nach einer kurzen Einarbeitungsphase wird er ab April 2025, mit Unterstützung von Prof. Dr. med. Roger von Moos (Kantonsspital Graubünden, Ressort Politik Oncosuisse) die Arbeit aufnehmen. Dominique Froidevaux verfügt über eine mehr als dreissigjährige Erfahrung im Gesundheitswesen. In seiner beruflichen Tätigkeit hat er zahlreiche Plattformen entwickelt und erfolgreich geleitet, insbesondere auch im Bereich der Onkologie. Sein Kernanliegen ist dabei stets dasselbe: Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen besser zusammenarbeiten, die Qualität im Gesundheitswesen zu steigern und einen Beitrag zur Kostensenkung zu leisten – mit dem Ziel, dass Patientinnen und Patienten künftig noch besser umsorgt werden können.

Gemeinsam mit dem Oncosuisse Vorstand fokussiert Froidevaux in einem ersten Schritt auf die Umsetzung des BAG-Mandates «Krebsplan Schweiz», auf den Aufbau einer wirkungsvollen Politikstrategie und auf die nachhaltige Stärkung des Dachverbands durch den weiteren Ausbau der Mitgliederbasis von Oncosuisse und durch die Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung.

«Oncosuisse möchte die Rahmenbedingungen für Krebspatientinnen und -patienten hierzulande nachhaltig verbessern», sagt Vorstandspräsidentin Prof. Dr. med. Solange Peters zum Führungswechsel. Dominique Froidevaux bringe alle Kompetenzen, langjährige Erfahrung und ein starkes Netzwerk mit, was es Oncosuisse auch erlaube, die gemeinsamen Anliegen der Mitglieder gezielt in den politischen Prozess einzubringen.

Mehr Informationen
www.oncosuisse.ch

Längeres Überleben dank Mammographiescreening

Der Kanton St. Gallen führte 2010 ein bevölkerungsbasiertes qualitätskontrolliertes Mammographiescreening-Programm unter dem Namen «donna» ein. Dieses Programm wurde später auf die Kantone Graubünden, Bern, Solothurn, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden und ab 2025 auf den Kanton Schaffhausen ausgeweitet. Die Daten zur Evaluation des Programms belegen, dass im Screening entdeckte Mammakarzinome ein früheres Tumorstadium aufwiesen, weniger aggressiv behandelt werden mussten und dass diese Frauen nach ihrer Brustkrebsdiagnose deutlich länger lebten (1).

In 2010, the canton of St. Gallen introduced a population-based, quality-controlled mammography screening program under the name “donna”. This program was later extended to the cantons of Graubünden, Bern, Solothurn, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden and, from 2025, to the canton of Schaffhausen. Data from the evaluation of the program show that breast cancers detected during screening had an earlier tumor stage, required less aggressive treatment and that these women lived significantly longer after their breast cancer diagnosis (1).
Key words: mammography screening, “donna”, breast cancer

Einleitung

Die Brustkrebsfrüherkennung mit bevölkerungsbasierten organisierten Mammographiescreening-Programmen (MSP) entspricht europäischen und nationalen Empfehlungen, so auch der Schweizerischen Krebsliga. Nachdem randomisiert kontrollierte Studien in den 1970er und 1980er Jahren gezeigt hatten, dass MSP die Brustkrebs-Sterblichkeit um 15 bis 20 % verringern (2), wurden seit den 1980er Jahren in vielen europäischen Ländern MSP eingeführt – in der Schweiz bereits 1999 (3) in einigen französischsprachigen Kantonen und im Jahre 2010 auch in der Deutschschweiz, zuerst im Kanton St. Gallen. Aktuell gibt es in der Schweiz in 15 Kantonen MSP, und in drei weiteren wird die Einführung vorbereitet.

Einen Rückschlag erlitt die Einführung weiterer Programme in der Schweiz durch den 2013 erschienenen Bericht des «Swiss Medical Boards» (4), der von der Einführung neuer Programme abriet und empfahl, existierende Programme auslaufen zu lassen. Die sinkende Mortalität an Brustkrebs sei nur bedingt eine Folge des Screenings und das Kosten-/Nutzenverhältnis sei ungünstig, vor allem wegen falsch positiver und falsch negativer Befunde. Wissenschaftlich waren diese Aussagen von Anfang an umstritten (5) und gelten heute als überholt.

Das Mammographiescreening-Programm «donna»

Im Brustkrebsfrüherkennungsprogramm «donna», das von der Krebsliga Ostschweiz im Auftrag von sieben Kantonen durchgeführt wird, erhalten Frauen im Alter von 50 bis 69 bzw. in einigen Kantonen bis 74 in zweijährlichen Abständen einen Einladungsbrief für eine Screeningmammographie.

Die Teilnahmerate der eingeladenen Frauen bewegt sich um die 50 %. In der Schweiz ist es möglich, Vorsorgeuntersuchungen auch ausserhalb der kantonal organisierten Screeningprogramme vorzunehmen. Dieses opportunistische Screening wird je nach Jahr von 13 % bis 21 % der Frauen wahrgenommen. Der Anteil der Frauen, welche insgesamt Vorsorgeuntersuchungen in Bezug auf Brustkrebs durchführen, ist deswegen deutlich höher und mit europäischen MSP vergleichbar, wo Vorsorgeuntersuchungen nur im Rahmen eines MSP möglich sind oder vergütet werden.

In den letzten 40 Jahren konnten in der Diagnose und Behandlung von Brustkrebs bedeutende Fortschritte erzielt werden, sodass trotz steigender Inzidenz deutlich weniger Frauen an Brustkrebs sterben. Die Einführung von zertifizierten Brustzentren hat zusätzlich zu diesem Befund beigetragen.

Ausländische europäische Studien belegen die Wirksamkeit aktueller Screeningprogramme (6, 7) in Bezug auf Überleben und sogar Kosteneffektivität (8). Aus ethischen Gründen kann heutzutage die Effektivität eines MSP nicht mehr in einer randomisierten Studie geprüft werden. Um einen Überblick im aktuellen schweizerischen Kontext zu gewinnen, haben wir deshalb Daten unseres MSP «donna» in Kooperation mit der School of Medicine der Universität St. Gallen ausgewertet.

Analyse der eigenen Daten

Wir haben alle Brustkrebsfälle seit dem Start des MSP, d.h. von 2010 bis 2019 in den Kantonen St. Gallen und Graubünden ausgewertet. Hierzu haben wir Karzinome von Frauen, die am MSP teilgenommen haben, mit Karzinomen von Frauen verglichen, welche nicht am MSP teilgenommen haben. Durch Abgleich der Daten von «donna» mit registrierten Brustkrebsfällen bis 2021 im Krebsregister Ostschweiz und Graubünden-Glarus konnten Informationen über die Tumorstadien, Histologie, Behandlung und das Überleben der Frauen ermittelt werden. Dies ermöglichte es uns auch, Intervallkarzinome zu identifizieren. Die Screening-Mammographien wurden von zwei Radiologen unabhängig voneinander beurteilt. Falls einer oder beide eine abklärungswürdige Auffälligkeit feststellten, wurde die Mammographie in einer Konsensuskonferenz unter Leitung eines dritten Radiologen besprochen. Dies geschah in ca. 10 % der Fälle. Eine Empfehlung für weitere Abklärungen erfolgte bei weniger als 3 % aller Mammographien. Nur in etwa 20 % dieser weiteren Abklärungen war das Ergebnis eine Karzinomdiagnose, was etwa 6 von 1000 Mammographien im MSP entspricht.

Insgesamt wurde in diesem Zeitraum bei 2558 Frauen zwischen 50 und 69 Jahren in den Kantonen St. Gallen und Graubünden Brustkrebs diagnostiziert, bei 1057 davon innerhalb und bei 1501 ausserhalb des MSP. Das mittlere Alter dieser Brustkrebspatientinnen war innerhalb des MSPs um 1.4 Jahre niedriger (59.3 vs. 60.7).

Entdeckte Karzinome von Frauen im MSP waren kleiner (19.3 mm vs. 23.3 mm), wiesen seltener einen Lymphknotenbefall auf (26.1 % vs. 42.4 %, d.h. fast 40 % weniger), und es gab bedeutend weniger prognostisch ungünstigere fortgeschrittene Stadien III und IV mit 8.6 % vs. 22.9 %. Es fanden sich innerhalb des MSP doppelt so häufig in situ Karzinome (17.5 % vs. 8.7 %; siehe Abb. 1 Stadienverteilung).

10 Jahre nach Einführung des Screenings zeigte sich insgesamt eine prognostisch deutlich bessere Stadienverteilung bei allen Frauen zwischen dem 50. und 70. Altersjahr (Abb. 2) unabhängig von der Teilnahme am MSP. Fortgeschrittene Stadien III und IV nahmen zusammen von 22 % um fast ein Drittel auf 15 % ab.

Das Tumorstadium bei Brustkrebs ist ein wesentlicher Prognosefaktor und wirkt sich auch auf die Behandlungsmöglichkeiten aus. Bei Karzinomen von Frauen innerhalb des MSP wurden nur etwa halb so viele Mastektomien durchgeführt als in der nicht durch «donna» gescreenten Gruppe (8.8 % vs. 18.6 %). Des Weiteren wurden fast ein Viertel weniger adjuvante Chemotherapien durchgeführt (33.7 % vs. 44.1 %).

Ob solche bereits schnell nach Einführung eines Screeningprogramms feststellbare Stadienverbesserungen zu einem längeren Überleben führen, kann erst nach einer längeren Beobachtungszeit festgestellt werden. Die Kaplan-Meier-Kurve über 10 Jahre zeigt deutlich günstigere Überlebenskurven von Brustkrebspatientinnen mit Teilnahmen am MSP (Abb. 3).

Die Überlebensrate nach 10 Jahren von Frauen, welche am MSP teilnahmen, und eine Brustkrebsdiagnose erhielten, war 91.4 % im Vergleich zu 72.1 % von Frauen, die nicht am MSP teilnahmen (hazard ratio (HR): 0.271).

Der Vergleich einer gescreenten Population mit der nicht gescreenten kann zu Verzerrungen führen, konkret zu den sogenannten «Lead-time und Length Biases». Da Karzinome in einem Früherkennungsprogramm zu einem früheren Zeitpunkt entdeckt werden, führt dies zu einem längeren Überleben, selbst wenn die frühere Erkennung und die anschliessende Therapie keinen Einfluss haben. Zudem werden typischerweise in der Früherkennung Karzinome entdeckt, vor allem die «in situ Karzinome» mit einem deutlich besseren Verlauf.
Diese Verzerrungen können mathematisch korrigiert werden (1, 9). Auch nach dieser rechnerischen Korrektur von «Lead-time» und «Length» fanden wir einen signifikanten 10-Jahres-Überlebensunterschied (84.7 % vs. 72.1 %). Eine Teilnahme am Screeningprogramm brachte somit eine Reduktion der Sterblichkeit um ca. 45 % (HR: 0.550).

Hiermit konnte erstmalig auch für ein Schweizer Programm ein längeres Überleben von Frauen mit Brustkrebs in der Screeninggruppe dokumentiert werden. Diese Resultate werden unterstützt durch neuere ausländische Studienresultate, welche auch bedeutende Risikoreduktionen in der gescreenten Population zeigten mit einer korrigierten HR um 0.4 (10, 9).

Das verbesserte Überleben in der gescreenten Gruppe ist grösstenteils durch die bessere Stadienverteilung zu erklären.

Überraschenderweise sehen wir in unseren Daten auch bei einem Stadien-adjustierten Vergleich noch Unterschiede zwischen den zwei Gruppen. Über deren Ursache kann nur spekuliert werden. Ein möglicher Erklärungsansatz ist, dass dieser Unterschied durch die signifikant häufiger in zertifizierten Brustzentren durchgeführte Behandlung erklärt werden kann. Positiv gesehen, werden nun fast alle Brustkrebspatientinnen in zertifizierten Brustzentren behandelt.

Eine weitere Erklärung unserer Ergebnisse könnte sein, dass sich die gescreenten von den nicht gescreenten Frauen soziokulturell unterscheiden können. Das schlechtere Überleben in letzterer Gruppe könnte somit durch eine höhere Sterblichkeit an anderen Todesursachen, wie zum Beispiel kardiovaskulären Gründen, verursacht sein. Wenn jedoch die Brustkrebs-bezogene Sterblichkeit untersucht wird, bleiben die Unterschiede zwischen den Gruppen ganz ähnlich wie bei der Sterblichkeit durch alle Todesursachen.

In unserem Kollektiv fanden sich 265 Intervallkarzinome, dies entspricht 21 % der in der gescreenten Gruppe aufgetretenen Karzinome. Die Mehrzahl wurde im zweiten Jahr nach der Screeningmammographie entdeckt. Diese Karzinome waren grösser und aggressiver (z. B. wiesen sie einen höheren Ki-67 Proliferationsindex auf), und zeigten somit einen etwas schlechteren ­Verlauf als Karzinome, welche zum Zeitpunkt der Screeningmammographie ­entdeckt wurden. Als Risikofaktoren für Intervallkarzinome fanden wir eine erhöhte Brustdichte und eine positive Familienanamnese. Mit zunehmendem Alter der Frauen wurde dieses Risiko geringer, was mit der altersabhängig abnehmenden Brustdichte und somit leichteren Diagnosemöglichkeit durch Mammographien zusammenhängen kann.

Schlussfolgerung und Ausblick

Die Auswertung des MSP «donna» belegt mit neuen Daten für die Schweiz, dass durch die Teilnahme am Programm Brustkrebs in einem früheren Stadium diagnostiziert werden kann, was eine weniger belastende Therapie mit besseren Heilungschancen und somit deutlich verbessertem Überleben ermöglicht.

Diese Studienresultate unterstreichen die Relevanz von Screeningprogrammen und zeigen Verbesserungsmöglichkeiten auf. Zum Beispiel könnten alternative oder zusätzliche Untersuchungen bei dichter Bruststruktur die Krebsentdeckungsraten erhöhen. Darüber hinaus könnte auch eine diagnostische Software basierend auf künstlicher Intelligenz die Sensitivität des Programms erhöhen, aber auch durch Analyse der Bruststruktur das Risiko für die Entstehung von Brustkrebs im Zeitraum bis zur nächsten Mammographie berechnen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz als Unterstützung in Screeningprogrammen (11) wird daher aktuell in retrospektiven und prospektiven Studien untersucht.

Jonas Subelack 2
Marcel Blum 1,2
Prof. Dr. Alexander Geissler 2
Dr. David Kuklinski 2

1 Krebsliga Ostschweiz, Flurhofstrasse 7,9000 St. Gallen
2 School of Medicine (MED-HSG), St. Jakob-Strasse 21, 9000 St. Gallen

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Zweitabdruck aus info@ONCO-SUISSE 06/2024

Dr. med. Rudolf Morant

Krebsliga Ostschweiz
Flurhofstrasse 7
9000 St. Gallen

R. Morant, und M. Blum arbeiten für die Krebsliga Ostschweiz, welche das Mammographiescreening-Programm «donna» wie auch das Krebsregister Ostschweiz betreibt.

  • Auch in der Schweiz zeigen sich bei einem bevölkerungs­basierten Mammographiescreening mit aktuellen Daten klare Vorteile:
  • Deutlich besseres 10-Jahres-Überleben (HR 0.55) von ­Frauen mit Brustkrebsdiagnose.
  • Brustkrebs wird in früheren Stadien entdeckt.
  • Weniger aggressive Therapien: 50 % weniger Mastektomien,
    fast 25 % weniger Chemotherapien.

1. Kuklinski D, Blum M, Subelack J, Geissler A, Eichenberger A, Morant R. Breast cancer patients enrolled in the Swiss mammography screening program “donna” demonstrate prolonged survival. Breast Cancer Res. 2024;26(1):84. doi:10.1186/s13058-024-01841-6
2. Myers ER, Moorman P. Benefits and Harms of Breast Cancer Screening: A Systematic Review. JAMA Internal Medicine. 2015;314:1615-1634.
3. Müller G, Leo C. Mammografiescreening in der Schweiz. Gynäkologie. (4/2023):6-10.
4. Swiss Medical Board. Systematisches Mammographie-Screening.; 2013. Accessed September 1, 2023. https://www.swissmedicalboard.ch/fileadmin/public/news/2013/bericht_smb_mammographie_screening_lang_2013.pdf
5. Vassilakos P, Catarino R, Boulvain M, Petignat P. Controversies in the mammography screening programme in Switzerland. Swiss Medical Weekly. 2014;144(1718):w13969-w13969. doi:10.4414/smw.2014.13969
6. Njor S, Nyström L, Moss S, et al. Breast Cancer Mortality in Mammographic Screening in Europe: A Review of Incidence-Based Mortality Studies. J Med Screen. 2012;19(1_suppl):33-41. doi:10.1258/jms.2012.012080
7. Katalinic A, Eisemann N, Kraywinkel K, Noftz MR, Hübner J. Breast cancer incidence and mortality before and after implementation of the German mammography screening program. Intl Journal of Cancer. 2020;147(3):709-718. doi:10.1002/ijc.32767
8. Mühlberger N, Sroczynski G, Gogollari A, Jahn B, Pashayan N, Steyerberg E, Widschwendter M, Siebert U. Cost effectiveness of breast cancer screening and prevention: a systematic review with a focus on risk-adapted strategies. Eur J Health Econ. 22(8)(2021):1311-1344.
9. Duffy SW, Nagtegaal ID, Wallis M, et al. Correcting for Lead Time and Length Bias in Estimating the Effect of Screen Detection on Cancer Survival. American Journal of Epidemiology. 2008;168(1):98-104. doi:10.1093/aje/kwn120
10. Schumann L, Hadwiger M, Eisemann N, Katalinic A. Lead-Time Corrected Effect on Breast Cancer Survival in Germany by Mode of Detection. Cancers. 2024;16(7):1326. doi:10.3390/cancers16071326
11. Morant R, Gräwingholt A, Subelack J,Blum M, Geissler A, Kuklinski D. Der mögliche Nutzen künstlicher Intelligenz in einem organisierten bevölkerungsbezogenen Screeningprogramm: Erste Ergebnisse und Ausblick. Radiologie. Published online July 17, 2024. doi:10.1007/s00117-024-01345-6

Funktionelle Verdauungsstörungen: Reizdarm und Reizmagen

Funktionelle Verdauungsstörungen, insbesondere das Reizdarmsyndrom (IBS) und der Reizmagen (funktionelle Dyspepsie, FD), gehören zu den häufigsten gastroenterologischen Erkrankungen und beeinträchtigen die Lebensqualität vieler Betroffener erheblich. Die Pathophysiologie dieser Störungen ist komplex und umfasst viszerale Hypersensitivität, veränderte Darmmotilität, Dysbiosen im Mikrobiom sowie eine gestörte Darm-Hirn-Kommunikation. Die Diagnostik erfolgt anhand klinischer Kriterien, wobei Alarmsymptome weiterführende Untersuchungen erforderlich machen. Die Therapie ist symptomorientiert und beinhaltet eine Kombination aus medikamentösen, diätetischen und pflanzlichen Massnahmen. Eine individualisierte und ganzheitliche Therapie kann dazu beitragen, die Beschwerden zu reduzieren und die Lebensqualität der Patienten nach­haltig zu verbessern.

Functional digestive disorders, in particular irritable bowel syndrome (IBS) and functional dyspepsia (FD), are among the most common gastroenterological disorders and significantly impair the quality of life of many of those affected. The pathophysiology of these disorders is complex and includes visceral hypersensitivity, altered intestinal motility, dysbiosis in the microbiome, and impaired gut-brain communication. Diagnosis is based on clinical criteria, with alarm symptoms triggering further investigation. The therapy is symptom-oriented and includes a combination of medication, dietary and herbal measures. An individualized and holistic therapy can help to reduce the symptoms and sustainably improve the patient’s quality of life.
Key Words: Funktionelle Verdauungsstörungen, Reizdarmsyndrom und funktionelle, Mikrobiom, Therapieoptionen

Definition und Epidemiologie

Funktionelle Verdauungsstörungen, zu denen das Reizdarmsyndrom (IBS) und der Reizmagen (funktionelle Dyspepsie) gehören, werden als «Disorders of Gut-Brain Interaction» (DGBI) bezeichnet. Dabei konzentrieren sich die Beschwerden beim Reizmagen auf den oberen Verdauungstrakt, während sie beim Reizdarm den unteren betreffen. Diese Erkrankungen sind weit verbreitet – etwa 10–15 % der Bevölkerung sind betroffen, mit einer höheren Prävalenz bei Frauen (1, 2, 3).

Viele Patienten leiden unter einer erheblichen Einschränkung ihrer Lebensqualität, da die Symptome oft unvorhersehbar auftreten. Patienten mit schweren Beschwerden sind teilweise bereit, erhebliche Risiken in Kauf zu nehmen, um eine Besserung zu erreichen (4).

Symptome und Einteilung

Das Reizdarmsyndrom wird in verschiedene Subtypen unterteilt (5):
• IBS-C: mit vorwiegender Verstopfung
• IBS-D: mit vorherrschender Durchfallproblematik
• IBS-M: mit wechselnden Stuhlgewohnheiten
• IBS-U: unklassifizierbares IBS
Der Reizmagen wiederum kann als epigastrisches Schmerzsyndrom (EPS) oder als postprandiales Distress-Syndrom (PDS) auftreten. Während EPS durch Schmerzen und Brennen im Oberbauch gekennzeichnet ist, äussert sich PDS in Form von frühem Sättigungsgefühl und Völlegefühl nach den Mahlzeiten.

Viele Patienten weisen eine Überlappung der Symptome auf, sodass eine klare Trennung der beiden Erkrankungen oft schwierig ist (Abb. 1). In einer Metaanalyse wurde festgestellt, dass die Überschneidung der Beschwerden zwischen 15 und 42 % liegt (6).

Pathophysiologie

Neuere Studien legen nahe, dass verschiedene Faktoren an der Entstehung der Erkrankung beteiligt sind, auch wenn die genauen Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind (7–13). Einer dieser Faktoren ist die viszerale Hypersensitivität, bei der eine verstärkte Schmerzempfindlichkeit im Magen-Darm-Trakt festgestellt wird. Zudem kann eine gestörte Darmmotilität auftreten, wodurch sich die Bewegungsmuster des Darms verändern und sowohl Verstopfung als auch Durchfall begünstigt werden.

Auch das Darmmikrobiom spielt eine wesentliche Rolle. Ungleichgewichte in der Zusammensetzung der Darmflora können zur Krankheitsentwicklung beitragen. Darüber hinaus deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass ­chronische Mikroentzündungen sowie eine verstärkte Immunaktivierung von Bedeutung sein könnten. Diese entzündlichen Prozesse könnten eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Erkrankung spielen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die gestörte Kommunikation zwischen Darm und Gehirn. Die Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem und dem Verdauungstrakt sind bei Betroffenen verändert, was die Symptome beeinflussen kann.

Schliesslich bleibt auch die Rolle einer Helicobacter-pylori-Infektion unklar. Zwar gibt es Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang, doch sind die genauen Mechanismen noch nicht restlos geklärt.

Diagnostik

Die Diagnose von funktionellen Verdauungsstörungen basiert hauptsächlich auf den Rome-IV-Kriterien. (14). Für das IBS gilt:
• Wiederkehrende Bauchschmerzen an mindestens einem Tag pro Woche in den letzten drei Monaten.
• Zusammenhang der Schmerzen mit der Stuhlentleerung.
• Veränderung der Stuhlfrequenz oder -konsistenz.
Für die funktionelle Dyspepsie müssen Symptome wie epigastrischer Schmerz, Völlegefühl oder frühes Sättigungsgefühl ohne nachweisbare organische Ursache vorliegen.

Alarmsymptome
Bestimmte Symptome (15, 16) erfordern eine weiterführende Diagnostik, um ernsthafte Erkrankungen auszuschliessen, darunter:
• Schluckbeschwerden
• Ungeklärter Gewichtsverlust
• Blut im Stuhl oder Anzeichen einer Anämie
• Wiederholtes Erbrechen
• Anhaltende Blähungen oder eine abdominelle Raumforderung (Ikterus)
• Neues Auftreten von Dyspepsie oder Änderung der Stuhlgewohnheiten bei Patienten älter als 40jährig
• Hinweise auf Blutverlust oder Anämie

Therapieoptionen

Das Therapieziel bei funktionellen Verdauungsbeschwerden ist die Verbesserung der Lebensqualität durch Reduktion der Symptome. Die Therapie erfolgt dabei symptomorientiert, da viele Patienten an einem Overlap von Reizdarm und Reizmagen leiden. Dabei kommen verschiedene medikamentöse, pflanzliche und diätetische Ansätze zum Einsatz.

Medikamentöse Ansätze
• Spasmolytika können Krämpfe und Bauchschmerzen lindern (17).
• Rifaximin ist ein gastrointestinales Breitband-Antibiotikum, das keine klinisch relevante bakterielle Resistenz aufweist. Daher kann es bei der Behandlung von Magen-Darm-Erkrankungen nützlich sein, die mit einer veränderten Bakterienflora einhergehen, ein-schliesslich IBS und der bakteriellen Überwucherung des Dünndarms (SIBO) (18).
• Protonenpumpenhemmer (PPI): Verschiedene Guidelines empfehlen den einmal täglichen Einsatz von Protonenpumpenhemmern als first-line Therapie bei Patienten mit FD, welche H. pylori negativ sind oder nach einer H. Pylori-Eradikation weiterhin symptomatisch bleiben. Die Dosierung und Art des PPI schien dabei keine Rolle zu spielen (19).
• Antidepressiva wie trizyklische Antidepressiva oder SSRI werden zur Schmerzmodulation eingesetzt (20, 21).
• Präbiotika/Probiotika scheinen wirksame Behandlungen für FD zu sein, obwohl die einzelnen Arten und Stämme von Mikroorganismen, die am vorteilhaftesten sind, unklar bleiben. Die Verwendung von Probiotika allein konnte die Symptome von FD nicht verbessern (22).
• Prokinetika fördern die Magen-Darm-Beweglichkeit, insbesondere bei PDS (23).

Phytopharmaka
Pflanzliche Wirkstoffe spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der Behandlung:
• Pfefferminzöl wirkt schmerzstillend und entkrampfend (24).
• Kümmelöl reduziert Blähungen und verbessert die Verdauung (25).
• Pefferminzöl und Kümmelöl kombiniert (Carmenthin®) wirkt spasmolytischund erhöht die sekretorische Epithelaktivität der Darmzellen (26).
• Bittere Schleifenblume kann die Magen-Darm-Muskulatur regulieren (27, 28).
• Artischocke und Kurkuma zeigen antioxidative und entzündungshemmende Effekte (29, 30)
• Kamille hat beruhigende und entzündungshemmende Eigenschaften (31).
• Flohsamenschalen unterstützen die Verdauung, insbesondere bei IBS-C (32–34).

Diätetische Massnahmen
• Low-FODMAP-Diät: Eine der effektivsten Ernährungsinterventionen, da FODMAP-reiche Lebensmittel zu Blähungen und Durchfall führen können (35–38).
• Glutenfreie Diät: Kann bei manchen Betroffenen hilfreich sein, auch wenn keine Zöliakie vorliegt (39, 40).
• Ballaststoffreiche Ernährung: Unterstützt die Darmtätigkeit, wobei Flohsamenschalen besonders wirksam sind (33, 34).

Weitere Therapieoptionen
Neben Medikamenten und Ernährung gibt es weitere Ansätze:
• Stressmanagement: Psychologische Faktoren wie Stress und Angst spielen eine grosse Rolle bei IBS und Dyspepsie. Techniken wie Achtsamkeitstraining oder kognitive Verhaltenstherapie können hilfreich sein.
• Bewegung: Regelmässige körperliche Aktivität verbessert die Darmmotilität und reduziert Stress.
• Patientenschulung: Eine umfassende Aufklärung über die Erkrankung hilft Betroffenen, besser mit ihren Symptomen umzugehen.

Carmenthin® (Menthacarin®) – klinisch ­relevant, dem Placebo überlegen

Zur Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit von magensaftresistenten Kapseln mit einer festen Kombination aus 90 mg Pfefferminzöl und 50 mg Kümmelöl (Menthacarin®) wurden Patienten mit funktioneller Dyspepsie 28 Tage lang zweimal täglich mit einer Kapsel Menthacarin® oder Placebo behandelt (41). Primäre Wirksamkeitsvariablen waren die intraindividuelle Veränderung (i) der Schmerzintensität und (ii) des Druck-, Schwere- und Völlegefühls zwischen Tag 1 und 29 sowie die Bewertung (iii) der globalen Verbesserung (Clinical Global Impression [CGI] Item 2) durch die Prüfärzte am Tag 29. Am Tag 29 war die durchschnittliche Schmerzintensität in der Menthacarin®-Gruppe um 40 % und in der Placebogruppe um 22 % gegenüber dem Ausgangswert gesunken. Bei Druck, Schweregefühl und Völlegefühl wurde eine Verringerung um 43 % in der Menthacarin®-Gruppe und um 22 % in der Placebogruppe festgestellt. Bei allen drei Zielparametern war die Überlegenheit von Menthacarin® gegenüber Placebo statistisch signifikant. Sechs Patienten (Menthacarin®: 5; Placebo: 1) meldeten unerwünschte Ereignisse, die entweder in keinem Zusammenhang mit der Studie standen oder auf eine Verschlimmerung der untersuchten Krankheit zurückzuführen waren. In einer weiteren prospektiven, placebokontrollierten, doppelblinden, multizentrischen Studie wurde die Wirksamkeit von Menthacarin® auf die Symptome und die Lebensquali tät (QoL) bei 114 Patienten mit FD-Symptomen, die mit dem epigastrischen Schmerzsyndrom (EPS) und dem postprandialen Distress-Syndrom (PDS) übereinstimmten, untersucht (42). Die wichtigsten Ergebnisse waren: Nach 2 und 4 Wochen war die aktive Behandlung dem Placebo bei der Linderung von Symptomen, die mit PDS und EPS übereinstimmten, überlegen (p alle < 0.001). Nach vierwöchiger Behandlung verbesserten sich die Schmerz- und Unbehaglichkeitswerte um 7.6 ± 4.8 bzw. 3.6 ± 2.5 Punkte (vollständige Analyse; Mittelwert ± SD) für Carmenthin® und um 3.4 ± 4.3 bzw. 1.3 ± 2.1 Punkte für Placebo. Alle sekundären Wirksamkeitsmasse zeigten Vorteile für Carmenthin®. Carmenthin® erwies sich als eine wirksame Therapie zur Linderung von Schmerzen und Beschwerden und zur Verbesserung der krankheitsspezifischen Lebensqualität bei Patienten mit FD. Diese Ergebnisse belegen die gute Verträglichkeit und das günstige Nutzen-Risiko-Verhältnis von Carmenthin® bei der Behandlung der funktionellen Dyspepsie (43). Die Wirksamkeit von Carmenthin® bei Reizdarm-assoziierten Symptomen bei Patienten mit FD wurde in einer systematischen Analyse dopppelblinder, randomisierter kontrollierter Studien untersucht (43). Drei der fünf identifizierten RCTs umfassten insgesamt 111 infrage kommende Probanden, was eine zusammenfassende Statistik und die Einbeziehung in eine Subgruppenanalyse für FD-Patienten mit IBS-assoziierten Symptomen ermöglichte. Da die Werte der Schmerzintensität bei Patienten mit begleitendem Reizdarmsyndrom während der 28-tägigen Behandlung im Durchschnitt um 50–75 % zurückgingen, deutet die Subgruppenanalyse auf positive Behandlungseffekte von Carmenthin® hin, die mit denen vergleichbar sind, die bei FD-Patienten in den primären Analysen festgestellt wurden. Carmenthin® hat sich in klinischen Studien in der Langzeitanwendung als wirksam und sicher bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie erwiesen. Langfristige Behandlungsergebnisse wurden in einer offenen, 12-monatigen Studie zur Nachbehandlung erfasst (44). Die Patienten waren zuvor in einer 4-wöchigen, doppelblinden klinischen Studie mit Carmenthin® (eine magensaftresistente Kapsel zweimal täglich vs. Placebo) behandelt worden. Während dem Follow-up wurden alle Patienten, die vormals Verum oder Placebo erhalten hatten, mit 1 Kapsel Carmenthin® zweimal täglich behandelt. Die Endpunkte waren die Veränderungen der Schmerzintensität (Abb.2).

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Funktionelle Verdauungsstörungen wie Reizdarm und
    Reizmagen
    sind häufige Erkrankungen, die mit erheblichen
    Belastungen für die Betroffenen einhergehen.
  • Die Pathophysiologie ist komplex und umfasst Faktoren
    wie viszerale Hypersensitivität, veränderte Darmflora und
    gestörte Darm-Hirn-Kommunikation.
  • Die Diagnostik basiert auf klinischen Kriterien, wobei Alarmsymptome
    eine weiterführende Abklärung erforderlich
    machen. Die Therapie sollte individuell angepasst werden
    und eine Kombination aus medikamentösen, phytotherapeutischen
    und diätetischen Maßnahmen umfassen.
    Die Behandlung mit Carmenthin® hat sich als wirksam und
    sicher auch bei Langzeiteinsatz erwiesen.
  • Durch eine ganzheitliche und patientenzentrierte Herangehensweise
    können Symptome gelindert und die Lebensqualität
    der Patienten verbessert werden.

1. Simons J et al. Disorders of gut-brain interactions: Highly prevalent and
bur densome yet under-thought within medical education. United Eur
Gastroent erol J 2022;10:7436-7444.
2. Oka P et al. Global prevalence of irritable bowel syndrome according
to Rome IIIor IV criteria : a systematic review and meta-analysis Lancet
Gastroneterol. And Hepatol. 2020 ;Oct 5 (10) 908-917
3. Palsson OS et al. Prevalence and associated factors of disorders of
gut-brain interaction in the United States : Comparison of two nationwide
Internet surveys. Neurogastroenterol Motif 2023;35:e14564 doi:
10.1111/nmo.14564.