Ursachen und klinische Relevanz von Blutdruckvariabilität

Die arterielle Hypertonie stellt den wichtigsten Risikofaktor für kardio- und zerebrovaskuläre Morbidität und Mortalität dar. Neben der eigentlichen Höhe der Blutdruckwerte besteht mitunter auch eine Blutdruckvariabilität mit teils deutlichen Blutdruckschwankungen. Obwohl Blutdruckschwankungen von einem Moment zum nächsten ein physiologisches Phänomen sind, ist doch relativ wenig bekannt hinsichtlich ihrer klinischen Bedeutung. Im Folgenden sollen deren Ursachen und Bedeutung sowie therapeutische Überlegungen im Zusammenhang mit diesem Befund besprochen werden.

Die arterielle Hypertonie stellt den wichtigsten Risikofaktor für kardio- und zerebrovaskuläre Morbidität und Mortalität dar (1, 2). Dieses umfasst Erkrankungen wie die koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, peripher-arterielle Verschlusskrankheit sowie den ischämischen und hämorrhagischen Hirnschlag. Auch eine beschleunigte dementielle Entwicklung wird bei Patienten mit arterieller Hypertonie häufiger beobachtet.
Die European Society of Hypertension (ESH) sowie die Schweizerische Hypertoniegesellschaft (SHG) empfehlen einen oberen Blutdruckgrenzwert von 140/90 mmHg, während die neue US-amerikanische Empfehlung – basierend auf neueren Studienergebnissen (3) – einen Grenzwert von 130/80 mmHg nennt. Die Therapie umfasst neben lebensstilmodifizierenden Faktoren insbesondere die medikamentöse Therapie. Diese erfolgt in Abhängigkeit von Ursachen und Höhe des Blutdrucks sowie bestehenden vaskulären Begleiterkrankungen bzw. Risikofaktoren in verschiedenen Kombinationen (siehe auch aktuelle Leitlinienempfehlungen) (1).
Neben erhöhten absoluten systolischen oder diastolischen Blutdruckwerten, ist bei Patienten mit einer arteriellen Hypertonie nicht selten eine Blutdruckvariabilität mit teils deutlichen Blutdruckschwankungen zu beobachten. Die Ursachen, klinische Relevanz und therapeutische Implikationen sollen im Folgenden beleuchtet werden.

Ursachen und Diagnosestellung

Der Blutdruck unterliegt einer zirkadianen Schwankung und zeigt zudem physiologische Schwankungen, abhängig von körperlicher oder auch psychischer Belastung. Auf der anderen Seite finden sich auch pathologische Blutdruckschwankungen, welche teils nicht einfach zu erfassen sind. So können auch bei wiederholten Messungen im Rahmen ambulanter Konsultationen teils ausgeprägte Schwankungen verpasst werden. Zudem kommt hierbei noch der Weiss-kittel-Effekt potentiell hinzu. Eine ambulante 24-Stunden-Messung bietet eine Möglichkeit, kurzfristige Schwankungen unabhängig der Tageszeit zu erfassen. Jedoch entziehen sich hierbei möglicherweise Schwankungen von Tag zu Tag, so dass in diesem Fall regelmässige häusliche Selbstmessungen hilfreicher sein können. Insgesamt sollten Schwankungen aufgrund der mit ihnen einhergehenden potentiell negativen prognostischen Implikationen erkannt werden (4-6).
Blutdruckschwankungen können verschiedene Ursachen aufweisen. Bei einigen Patienten mit einer arteriellen Hypertonie finden sich nicht nur erhöhte, sondern auch stark schwankende Blutdruckwerte. Aufgrund der Hypertonie-bedingten Gefässschädigung kommt es zu einer Störung der Blutdruckregulation, sodass bereits geringfügige Stimuli (wie z.B. körperliche Aktivität, Stress, etc.) zu deutlichen Blutdruckschwankungen führen können. Teils finden sich auch nächtliche Blutdruckschwankungen, ohne klar erkennbare Auslöser. Hier gilt es, die medikamentöse Therapie – bzgl. Präparat, Dosis und Einnahmezeitpunkt – zu reevaluieren.
Blutdruckschwankungen können auch sekundärer Genese sein und z.B. im Rahmen von begleitenden Schilddrüsenfunktionsstörungen oder bei Frauen im Rahmen menopausaler hormoneller Veränderungen auftreten. Es gilt, eine individuelle Evaluation bzgl. möglicher sekundärer Ursachen durchzuführen.
Eine weitere – wenn auch insgesamt relativ seltene – Ursache eines labilen Blutdrucks stellt das Phäochromozytom dar. Hier finden sich nicht selten episodisch auftretende Symptome, die mit einem paroxysmal erhöhten Blutdruck sowie Kopfschmerzen, Palpitationen, Schwitzen und Hautblässe einhergehen. Bei Verdacht sollten Katecholamine bzw. Metanephrine bestimmt werden und eine Lokalisationsdiagnostik erfolgen. Zudem können Störungen des vegetativen Nervensystems, wie z.B. im Rahmen einer diabetischen Polyneuropathie zu instabilen Blutdruckwerten führen.
Labile Blutdruckwerte finden sich auch teilweise bei Patienten mit neurovaskulären Erkrankungen, i.e. mit einem ischämischen Hirnschlag oder einer zerebralen Blutung. Dieses ist insbesondere in der Akutphase der Fall, so dass eine vorbestehende antihypertensive Therapie ggf. angepasst werden muss. Insbesondere finden sich nicht selten erhöhte Blutdruckwerte. Dieses kann beim ischämischen Infarkt eine Reaktion auf die Minderperfusion sein. Hier sollte eine Blutdrucksenkung vorsichtig erfolgen und sich auf erhöhte Blutdruckspitzen beschränken. Bei der zerebralen Blutung – welche oftmals Folge einer arteriellen Hypertonie ist – wiederum finden sich oftmals erhöhte und labile Blutdruckwerte (Abb. 1). Blutdruckspitzen sollten vermieden werden, um einer Hämatomexpansion vorzubeugen, als Zielblutdruck wird hier ein systolischer Wert von 140 mmHg angestrebt. Langfristig kommt der Blutdruckeinstellung eine wichtige Rolle in der Sekundärprävention zu (7).
Neben der arteriellen Hypertonie kann ein labiler Blutdruck auch in die «andere Richtung» beobachtet werden: dies umfasst z.B. vago-vasale Reaktionen oder orthostatische Hypotonien. Letztere treten auch bei älteren Patienten auf und können zu Schwindel bis hin zu synkopalen Ereignissen, mit einer potentiellen Sturz- und Verletzungsgefahr führen. Gerade bei älteren Patienten muss daher auch in Einzelfällen eine bestehende antihypertensive Therapie aus diesem Grund reevaluiert und ggf. angepasst werden
Eine scheinbare Blutdruckvariabilität kann mitunter auch vorgetäuscht werden, sollten die Blutdruckmessungen wechselnd rechts oder links und nicht einheitlich bzw. beidseits erfolgen: im Falle einer bestehenden Arteriosklerose mit bestehenden proximalen Gefässstenosen, insbesondere einer Stenose der Arteria subclavia, können erniedrigte Blutdruckwerte an der stenosierten Seite auftreten, welche ggf. zu einer Missinterpretation führen können.

Klinische Relevanz und Implikationen

Transiente Blutdruckanstiege im Rahmen von emotionalem Stress normalisieren sich in der Regel spontan und stellen per se noch keinen therapiebedürftigen Befund dar. Nichtsdestotrotz gibt es Situationen, in denen solche Blutdruckanstiege ein klinisches Dilemma bedeuten. Dies ist beispielsweise bei der sogenannten White Coat Hypertonie oder Weisskittel-Hypertonie der Fall, die in ca. 30-40% (bis > 50% bei sehr betagten) Patienten mit erhöhten Praxisblutdruckwerten gefunden wird, häufiger bei Frauen und Nicht-Rauchern und als sogenannter zusätzlicher Weisskittel-Effekt bei Patienten mit arterieller Hypertonie Grad 1.
Dieses Phänomen ist zwar mit einem insgesamt niedrigeren kardiovaskulären Risiko vergesellschaftet als eine dauerhaft bestehende Hypertonie und auch hypertensive Endorganschäden werden seltener gefunden (8-10). Verglichen mit normotensiven Individuen haben Patienten mit White Coat Hypertonie allerdings eine erhöhte adrenerge Aktivität, eine höhere Zahl metabolischer Risikofaktoren, häufiger asymptomatische kardiale und/oder vaskuläre Organschäden und ein höheres Risiko für Diabetes mellitus und für eine Progression zu einem dauerhaft erhöhten Blutdruck (9-13). Trotzdem die White Coat Hypertonie also bei weitem kein «unschuldiges» Phänomen ist, ist die Frage, ob diese antihypertensiv behandelt werden muss, nach wie vor nicht geklärt. Während wiederholt gezeigt werden konnte, dass eine antihypertensive Therapie den Praxisblutdruck senken kann, ohne dass der 24h-Blutdruck beeinflusst wird, ist bisher nicht untersucht, ob diese Blutdrucksenkung einen prognostisch relevanten Effekt hat (14-16).
Darüber hinaus stellen aber auch «normale» Blutdruckschwankungen bei gewissen Patientengruppen ein behandlungsbedürftiges Problem dar. Dies gilt zum Beispiel für Patienten mit einer chronischen Aortendissektion, einem Marfan-Syndrom, einer Angina pectoris, zerebralen Aneurysmen oder rezidivierenden nicht-hypertensiven zerebralen Hämorrhagien im Rahmen von Amyloid-Angiopathien.

Behandlung bei hoher Blutdruckvariabilität

Die bisherigen Strategien zur Behandlung eines erhöhten Blutdruckes zielen auf den Blutdruck in Ruhe. Wenig Beachtung hat bisher die «labile» Komponente gefunden. Zudem existieren keine allgemeingültigen Kriterien für eine übermässige Blutdruckschwankung. Interessanterweise konnte gezeigt werden, dass Calcium-Antagonisten die von Visite zu Visite beobachtete Blutdruckvariabilität, welche einen wichtigen prognostischen Faktor darstellen, senken konnten, während ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptor-Blocker und Beta-Blocker diese eher steigerten (17-19). In anderen Studien liessen sich diese Unterschiede allerdings nicht nachweisen (20). In diesem Zusammenhang sollten die Sympathikus-vermittelten Effekte auf die Blutdruckerhöhung nicht vergessen werden. Ein Therapieansatz, welcher diese antagonisiert, könnte möglicherweise wirksamer sein als andere antihypertensive Wirkmechanismen. Tatsächlich sind aber weder Beta- noch Alpha-Blocker alleine in der Lage, die Blutdruckreaktion auf Stressoren zu vermindern (21, 22), wohingegen eine Kombination dieser Substanzklassen die Blutdruckreaktivität verringern kann (23).
Insgesamt muss jedoch festgehalten werden, dass bisher kein allgemein akzeptierter Ansatz für die Behandlung eines stark schwankenden Blutdruckes existiert. Zudem ist nicht bekannt, ob die Behandlung von Blutdruckschwankungen über die «klassische» Blutdruckkontrolle hinaus einen zusätzlichen günstigen Effekt hat. Gleichwohl ist vorstellbar, dass die zielgerichtete Behandlung von Blutdruckschwankungen den immer wieder beobachteten Teufelskreis aus erhöhtem Blutdruck und daraus resultierender Angst durchbrechen könnte. Anders ist die Situation bei der sogenannten White Coat Hypertonie, wo inzwischen zumindest bei kardiovaskulären Hochrisiko-Patienten Hinweise vorliegen, die eine antihypertensive Therapie rechtfertigen können.

PD Dr.Nils Peters

Neurologische Klinik und Stroke Center
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel
Neurologie und Neurorehabiliation, Universitäre Altersmedizin
Felix Platter-Spital
Burgfelderstrasse 101
4055 Basel

Nils.Peters@usb.ch

PD Dr.Thomas Dieterle

Medizinische Universitätsklinik
Kantonsspital Liestal
Rheinstrasse 26
4410 Liestal

Interessenskonflikte: Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Das primäre Ziel in der Blutdrucktherapie ist die Einstellung des Blutdrucks auf Zielwerte unter 140/90 mmHg, falls möglich in einen Normalbereich von 130/80 mmHg. Dieses gilt insbesondere im Falle des Vorliegens weiterer vaskulärer Vorerkrankungen und Risikofaktoren.
  • Die Therapie umfasst lebensstilmodifizierende Faktoren sowie die medikamentöse Behandlung. Hierbei sollte auch auf eine bestehende Therapietreue seitens des Patienten geachtet werden. Der Einsatz von medikamentösen Fixdosis-Kombinationen («single pill combinations») kann hierbei hilfreich sein.
  • Neben den eigentlichen Blutdruckwerten sollten auch Blutdruckschwankungen erfasst werden, da diese eine nicht suffiziente
    Therapie anzeigen und mit einer verschlechterten Prognose vergesellschaftet sein können. Häusliche Messungen können hierbei unter-stützend hilfreich sein. In Zukunft spielen hierbei möglicherweise digitale-elektronische Verfahren (telemedizinische Verfahren bzw. «Blutdruck-Apps») eine zunehmende Rolle.
  • Die Blutdruckvariabilität spielt klinisch im Rahmen der sogenannten White Coat Hypertonie derzeit wohl die wichtigste Rolle, da gezeigt werden konnte, dass diese Form der Hypertonie entgegen früheren Ansichten mit einer höheren Rate an Endorganschäden, kardiovas-kulären Ereignissen und einem höheren Risiko für die Entwicklung eines dauerhaft erhöhten Blutdruckes vergesellschaftet ist.
  • Trotz dieser neuen Erkenntnisse bleibt der Wert einer antihypertensiven Therapie bei diesen Patienten unklar und sollte derzeit nur bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko in Betracht gezogen werden.

1. Williams B., et al. 2018 European Society of Cardiology (ESC) and European Society of Hypertension (ESH) joint guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J 2018, 39: 3021-3104.
2. O’Donnell MJ et al. Global and regional effects of potentially modifiable risk factors associated with acute stroke in 32 countries (INTERSTROKE): a case-control study. Lancet 2016; 388 (10046):761-75
3. Wright JT, Jr., Williamson JD, Whelton PK et al. A Randomized Trial of Intensive versus Standard Blood-Pressure Control. N Engl J Med 2015; 373: 2103-2116.
4. Mancia G, Messerli F, Bakris G, Zhou Q, Champion A, Pepine CJ. Blood pressure control and improved cardiovascular outcomes in the International Verapamil SR-Trandolapril Study. Hypertension 2007; 50:299–305.
5. Rothwell PM, Howard SC, Dolan E, O’Brien E, Dobson JE, Dahlof B, et al. Prognostic significance of visit-to-visit variability, maximum systolic blood pressure, and episodic hypertension. Lancet 2010; 375:895–905.
6. Mancia G, Schumacher H, Bohm M, Redon J, Schmieder RE, Verdecchia P, et al. Relative and combined prognostic importance of ontreatment mean and visit-to-visit blood pressure variability in ONTARGET and TRANSCEND patients. Hypertension 2017; 70:938–948.
7. Biffi A, Anderson CD, Battey TW, Ayres AM, Greenberg SM, Viswanathan A, Rosand J. Association Between Blood Pressure Control and Risk of Recurrent Intracerebral Hemorrhage. JAMA. 2015 Sep 1;314:904-12.
8. Banegas JR, Ruilope LM, de la Sierra A, et al. Relationship between clinic and ambulatory blood-pressure measurements and mortality. N Engl J Med 2018;378:1509–1520.
9. Huang Y, Huang W, Mai W, et al. White-coat hypertension is a risk factor for cardiovascular diseases and total mortality. J Hypertens 2017;35:677–688.
10. Briasoulis A, Androulakis E, Palla M, et al. White-coat hypertension and cardiovascular events: a meta-analysis. J Hypertens 2016;34: 593–599.
11. Mancia G. Clinical significance of white-coat hypertension. J Hypertens 2016;34: 623–626.
12. Mancia G. White-coat hypertension: growing evidence in favour of its adverse prognostic significance. J Hypertens 2017;35:710–712.
13. Mancia G, Grassi G. The heterogeneous nature of white-coat hypertension. J Am Coll Cardiol 2016; 68: 2044–2046.
14. Tientcheu D, Ayers C, Das SR, et al. Target organ complications and cardiovascular events associated with masked hypertension and white-coat hypertension: analysis from the Dallas Heart Study. J Am Coll Cardiol 2015; 66: 2159–2169.
15. Fagard RH, Staessen JA, Thijs L, et al. Response to antihypertensive therapy in older patients with sustained and nonsustained systolic hypertension. Systolic Hypertension in Europe (Syst-Eur) Trial Investigators. Circulation 2000; 102: 1139–1144.
16. Mancia G, Facchetti R, Parati G, Zanchetti A. Effect of long-term antihypertensive treatment on white-coat hypertension. Hypertension 2014; 64: 1388–1398.
17. Kikuya M, Ohkubo T, Metoki H, Asayama K, Hara A, Obara T, et al. Day-by-day variability of blood pressure and heart rate at home as a novel predictor of prognosis: the Ohasama study. Hypertension 2008; 52:1045–1050.
18. Mancia G. Short- and long-term blood pressure variability: present and future. Hypertension 2012; 60:512–517.
19. Webb AJS, Fischer U, Mehta Z, et al. Effects of antihypertensive-drug class on interindividual variation in blood pressure and risk of stroke: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2010; 375: 906-915.
20. Mancia G, Facchetti R, Parati G. et al. Visit-to-visit blood pressure variability in the European Lacidipine Study on Atherosclerosis: methodological aspects and effects of antihypertensive treatment. J Hypertens 2012; 30: 1241-1251.
21. Mills PJ, Dimsdale JE. Cardiovascular reactivity to psychosocial stressors. A review oft he effects of beta-blockade. Psychosomatics 1991; 32: 209-220.
22. Andrön L, Hansson L, Eggertsen R, et al. Circulatory effects of noise. Acta Med Scand 1983; 213: 31-35.
23. Anand MP, Dattani KK, Datey KK. Effect of isometric exercise and mental stress on blood pressure – comparative effects of propanolol and labetalol. Indian Heart J 1984; 36: 4-7.

Aktuelle Therapien der Multiplen Sklerose

Eine neue, orale Therapie – Cladribin – zur Behandlung der schubförmigen multiplen Sklerose hat 2019 die Schweiz erreicht. Für Patienten mit primär progredienter MS besteht seit 2018 eine offizielle Behandlungsoption. Für Patienten mit sekundär progredienter MS steht möglicherweise bald eine Behandlung zur Verfügung.

Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste neurologische Erkrankung, die bei jungen Erwachsenen zu einer bleibenden Behinderung und zu einer vorzeitigen Berentung führt. Es handelt sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, von der drei bis vier Mal mehr Frauen als Männer betroffen sind. Bei den meisten Patienten manifestiert sich die Erkrankung mit Schüben, der schubförmig verlaufenden MS (RRMS) um das 30. Lebensjahr herum. Dabei findet ausserhalb von Schüben in der Regel keine kontinuierliche klinische Verschlechterung im Sinne einer Progression statt. Unbehandelt geht die Erkrankung in der Hälfte der Fälle innert 15 bis 20 Jahren nach Krankheitsbeginn in die sekundär progrediente Verlaufsform (SPMS) über, in welcher die neurologischen Defizite schleichend zunehmen, mit oder ohne zusätzlich überlagernde Schübe (1, 2). In etwa 10% der Fälle besteht eine von Beginn an progredient verlaufende, primär progrediente Verlaufsform (PPMS).
Die Ursache der MS ist nach wie vor unbekannt und die Krankheit ist nicht heilbar. Mit der Zulassung der Beta-Interferone vor etwas mehr als 20 Jahren war es zum ersten Mal möglich, Einfluss auf den Krankheitsverlauf der schubförmig verlaufenden MS zu nehmen, wenngleich nicht in jedem Fall. In den letzten Jahren haben sich die Therapiemöglichkeiten stetig erweitert und verbessert. Zahlreiche neue Wirkstoffe haben eine Zulassung erhalten. Diese neuen Therapien werden in Form von Injektionen, in Tabletten-/ Kapselform oder als Infusionen verabreicht und haben zum Teil ganz verschiedene Wirkmechanismen. Mittlerweile sind in der Schweiz 14 Medikamente zur Behandlung schubförmiger Formen der MS (RMS) zugelassen. Diese Vielfalt ermöglicht eine zunehmend individuelle und Krankheitsstadien gerechte Behandlung der Erkrankung, bringt aber auch eine zunehmend Komplexität in Bezug auf Wirkmechanismus, Wechselwirkungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen mit sich. Durch die Verfügbarkeit hochwirksamer Arzneimittel haben sich auch die Therapieziele verändert. Angestrebt wird eine möglichst vollständige Krankheitskontrolle, definiert als «Freiheit von klinisch-neurologischer und in der MRT messbarer Krankheitsaktivität» (NEDA (no evidence of disease activity)).
Im Folgenden sollen eine neue Therapieoption für die RMS, die dieses Jahr zugelassen wurde, sowie Behandlungsoptionen bei den progredient verlaufenden Formen der Erkrankung vorgestellt werden.

Cladribin (Mavenclad®)

In Europa ist Cladribin (Mavenclad®) seit Sommer 2017 für die Behandlung der hochaktiven, schubförmigen MS zugelassen. Hochaktive MS wurde seitens der EMA definiert als ein Krankheitsschub im vorangehenden Jahr und im MRI mindestens einer Kontrastmittel aufnehmenden Läsion, alternativ 9 oder mehr T2-Läsionen während der Behandlung mit anderen Immuntherapien oder mindestens zwei Krankheitsschübe mit oder ohne Behandlung während des letzten Jahres.
In der Schweiz erfolgte die Zulassung durch die Swissmedic Ende März 2019, die Kassenzulassung steht noch aus. Ebenfalls noch nicht bekannt ist, in wie fern die Indikation einer Limitatio unterliegen wird.
Cladribin ist ein Nukleosidanalogon, welches nach Aufnahme in die Zelle (bevorzugt in Lymphozyten) durch Phosphorylierung in die aktive Substanz Cladribin-Triphosphat überführt wird und zu einer vorübergehenden Depletion der T- und B-Lymphozyten führt. Dieser Ansatz der «selektiven Immunrekonstitutionstherapie (SIRT)» ohne dauerhafte Immunsuppression hat einen patientenfreudlichen Einnahmemodus. Cladribin wird als Tablette in 2 Behandlungswochen in einem Abstand von 12 Monaten an 4-5 Tagen (abhängig vom Körpergewicht) eingenommen – die kumulative Dosis beträgt 3,5 mg/kg Körpergewicht. Ein weiterer Zyklus ist danach nicht vorgesehen und empfohlen.
Die Wirkung von Cladribin auf die Schubrate und Behinderungsprogression wurde in der placebokontrollierten Zulassungsstudie (CLARITY) geprüft und 2010 veröffentlicht (3). Nach zwei Jahren ergab sich eine relative Reduktion der Schubrate von fast 58% im Vergleich zu Placebo. In der Extensionstudie wurden Patienten aus der CLARITY-Studie erneut randomisiert. Bei Patienten, die in der Hauptstudie Placebo erhalten hatten und nun das Verum erhielten, zeigte sich eine deutliche Reduktion der aktiven MS Läsionen im MRT um 90%. Bei 75% der Patienten, die nach zweijähriger Verum-Therapie jetzt Placebo erhielten, traten in der Extensionsphase keine neuen Läsionen auf (4). Insbesondere die MRT Daten bestätigen den nachhaltigen Effekt von Cladribin, der vermutlich sogar über die zweijährige Pause hinausgehen dürfte. Aufgrund von initialen Sicherheitsbedenken wurde die Substanz damals nicht zugelassen und jetzt nach Sammlung von Langzeitsicherheitsdaten erneut zur Zulassung vorgelegt, die letztlich auch erfolgt ist.

Behandlungsoptionen der progressiven MS Formen

Für Patienten mit primär-progredienter MS (PPMS) ist bislang erst ein Medikament zur Behandlung zugelassen. Es handelt sich hierbei um den gegen CD20 gerichteten monoklonalen Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®). Grundlage der Zulassung waren die Ergebnisse der ORATORIO-Studie (5). Der primäre Endpunkt der Studie war die Dauer bis zur über 12 Wochen anhaltenden Behinderungsprogression (= «confirmed disability progression», CDP) gemessen mit der Behinderungsskala Expanded Disability Status Scale (EDSS). In der Behandlungsgruppe konnte die CDP im Vergleich zu Placebo um 24% signifikant hinausgezögert werden. Die Progression wird in den meisten Fällen jedoch lediglich verzögert und nicht gestoppt. Diese erstmalige Möglichkeit der Beeinflussung des Krankheitsverlaufes ist jedoch ein erster wichtiger Schritt und gibt neue Hoffnung für die Patienten mit bisher unbehandelbarer Verlaufsform der Erkrankung. Die Indikation zur Behandlung enthält in der Schweiz, anders als in der EU, keine explizite Limitatio, also keine Einschränkungen in Bezug auf Alter, Krankheitsdauer, Behinderungsgrad und Nachweis einer etwaigen Krankheitsaktivität (klinisch oder kernspintomographisch). Der Nutzen der Therapie dürfte jedoch insbesondere bei jüngeren, erst wenig behinderten und klar progredienten/aktiven Patienten gegeben sein.
In Europa und der Schweiz ist für die sekundär progrediente Multiple Sklerose (SPMS) noch kein Medikament zugelassen, sofern der Krankeitsverlauf nicht noch durch überlagerte Schübe geprägt ist. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat aber Ende März 2019 dem Pharmaunternehmen Novartis die Zulassung für Siponimod (Mayzent®) erteilt, welches in der zweijährigen Phase III EXPAND Studie (6) für die SPMS getestet wurde. Primärer Endpunkt der Studie war die Zeit bis zum dreimonatigen Fortschreiten der Behinderung, gemessen wiederum am EDSS. Siponimod reduzierte gegenüber Placebo das Risiko einer nach drei Monaten bestätigten Behinderungsprogression um statistisch signifikante 21 Prozent. In der Subgruppe der Patienten mit nichtaktivem SPMS waren die Ergebnisse statistisch nicht signifikant. Demgegenüber erhielt das Medikament nun eine erstaunlich weitreichende Indikation, nämlich für die schubförmigen Verlaufsformen, die SPMS mit aktivem Verlauf, die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS) und das klinisch isolierte Syndrom (CIS), die Frühform der MS. In Europa und in der Schweiz ist Siponimod noch im Zulassungsverfahren.
Der Wirkstoff Siponimod ist eine Weiterentwicklung von Fingolimod (Gilenya®, ebenfalls Novartis), ein sogenannter Sphingosin-Phosphat-Rezeptormodulator. Gilenya ist 2011 zur Therapie der RRMS in der Schweiz zugelassen worden. Siponimod ist ebenfalls ein oral einzunehmender, aber selektiver Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Rezeptormodulator, der sich unter anderem durch günstigere pharmakokinetische Eigenschaften und damit auch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auszeichnet. Durch die Wirkung am S1P1-Rezeptor auf Lymphozyten verhindert Siponimod den Egress der Lymphoyzten aus dem lymphatischen Gewebe, wodurch eine relative Lymphopenie erreicht wird. Da die Substanz die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, werden auch durch den S1P5 Rezeptor Effekte direkt im ZNS vermutet.
Eine Herausforderung dürfte insbesondere bei den progredienten Patienten die Objektivierung der Krankheitsprogression unter der Therapie sein. Wir empfehlen, hierzu systematisch ein Assessment der Gehfähigkeit, der motorischen und koordinativen Funktion der oberen Extremität sowie Kongnitionstests unter der laufenden Behandlung einzusetzen.

Ausblick

Die MS lässt sich heute individueller und effektiver behandeln denn je. Dennoch gibt es noch unerfüllte Bedürfnisse, wie zum Beispiel Medikamente, welche die Regeneration geschädigter Nervenfasern fördern oder auch gut validierte, kommerzielle Biomarker, welche das individuelle Ansprechen auf die Therapie vorhersagen können oder prognostische Aussagen erlauben.

Dipl. ÄrztinStefanie Müller

Klinik für Neurologie Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

stefanie.mueller@kssg.ch

Dr. med.Jochen Vehoff

Klinik für Neurologie Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

SM erhielt Honorare für Vorträge und Beratungstätigkeit von Almirall, Bayer, Biogen, Celgene, Genzyme, Merck, Novartis, Roche, and Teva.
JV erhielt Honorare für Vorträge und Beratungstätigkeit von Almirall, Bayer, Biogen, Genzyme, Merck, Novartis, Roche, and Teva.

  • Von der Multiplen Sklerose als häufigster neurologischer Erkrankung mit bleibender Behinderung sind drei bis vier Mal mehr Frauen betroffen als Männer
  • Für die Behandlung hoch-aktiv verlaufender Formen von RRMS wurde neu auch in der Schweiz Cladribin (Mavenclad®) als Therapie zugelassen.
  • Für die 10% der Fälle, die primär an einer progredienten Verlaufs-form leiden (PPMS), ist der monoklonale Antikörper gegen CD20, Ocrelizumab in der Schweiz ohne Limitation zugelassen
  • Für die Behandlung der sekundär progredienten Multiplen Sklerose (SPMS) ohne Hinweise für Krankheitsaktivität in Form von Schüben oder im MRI sind in Europa und der Schweiz noch keine Wirkstoffe zugelassen. Die FDA hat soeben Siponimod, eine Weiterentwicklung von Fingolimod, das den Egress von Lymphozyten verhindert, für diese
    Indikation zugelassen.

1. Tremlett H, Yinshan Z, Devonshire V. Natural history of secondary-progressive multiple sclerosis. Mult Scler 2008; 14: 314–24.
2. Scalfari A, Neuhaus A, Daumer M, Muraro PA, Ebers GC. Onset of secondary progressive phase and long-term evolution of multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014; 85: 67–75.
3. Giovannoni G, Comi G, CookS, etal. A placebo-controlled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. N. Engl. J. Med. 362(5), 416–426 (2010).
4. Giovannoni G, Soelberg Sorensen P, Cook S, Rammohan K, Rieckmann P, Comi G, Dangond F, Adeniji AK, Vermersch P. Safety and efficacy of cladribine tablets in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: Results from the randomized extension trial of the CLARITY study. Mult Scler. 2018 Oct;24(12):1594-1604. doi: 10.1177/1352458517727603
5. Montalban X, Hauser SL, Kappos L et al.: Ocrelizumab versus Placebo in Primary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2017; 376: 209–220
6. Kappos L, Bar-Or A, Cree BA, Fox RJ, Giovannoni G, Gold R, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): A double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet. 2018;391:1263–73

Obstruktives Schlafapnoe Syndrom

Das obstruktive Schlafapnoe Syndrom (OSAS) ist eine sehr häufige Erkrankung mit grossen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen. Die moderne Gesellschaft stellt uns immer grössere Anforderungen: Häufig sind Müdigkeit, Schläfrigkeit und sogar Burn out / Depression die Folgen. Die konsequente Therapie und das Aufrechterhalten der Compliance der OSAS Patienen zahlen sich schnell aus.

The tired and drowsy patient is a frequent challenge in general practice. First, it is important to keep drowsiness from drowsiness, as differential diagnoses and clarifications diverge. Among the many differential diagnoses of drowsiness (actually the domain of sleep medicine), one must first think of the most common disease with major health and social consequences, namely the sleep apnea syndrome. Proper clarification is not a challenge, but establishing and maintaining the best therapy, CPAP, can be difficult. The difficulties are not technical, as the modern CPAP machines and masks provide very sophisticated and gentle therapy, but more often a problem of motivation and insight of the patients. The alternative therapies are only suitable for mild forms and are efficient and often not easy to pull through. Since the chronic condition can only be corrected and can not be cured (with the exception of the operative measures), the therapy must also be chronic. It is not uncommon for patients to remain drowsy while on therapy. This article briefly discusses all these aspects. that patients remain sleepy under therapy. This article briefly discusses all these aspects. that patients remain sleepy under therapy. This article briefly discusses all these aspects.

Fatigue vs. drowsiness

Fatigue means being “tired, exhausted, lacking in energy”, “sore muscles”, the body is tired but not necessarily the head. Drowsiness is the “upper stage” of fatigue – “the head is tired”, “the eyes are heavy”, one must defend oneself against the urge to sleep. If it does not succeed, it comes to a microsleep or Einnicken. The drowsiness is normal in the evening, at certain times (postprandial) even during the day. The condition may vary from day to day, depending on the length of the night’s sleep. These variations must be taken into account when questioning patients. The established (and validated in German) tool for measuring sluggishness is the Epworth Drowsiness Scale (ESS). This tool is widely available and known (see Table 1). It is a self-assessment, ie to be filled in by the patient (not necessarily in consultation with the doctor). In my experience it is worth going through the ESS with the patient again. Often, the result is corrected downwards (normal to 10 points), since the patient often uses “fatigue” in the assessment. Two other important explanations are: “Please report an average of the last 4-6 weeks” and “only consider the daytime, ie from getting up to 2 hours before going to bed”.
Die Differenzialdiagnose der Müdigkeit ist sehr breit: die häufigsten Ursachen sind körperliche Erkrankungen (Herzinsuffizienz, Eisenmangel mit oder ohne Anämie, Hypothyreose, M. Addison, B-Symptome bei Tumoren oder Systemerkrankungen) oder psychische Erkrankungen wie Depression, chronische Insomnie, Burn-out.
Die Differenzialdiagnose der Schläfrigkeit beinhaltet: Schlafmangel (Schlafinsuffizienz-Syndrom, Circadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen wie Schichtarbeit/Jetlag oder Schlafphasen-Verschiebungen); Restless Legs Syndrom und andere Bewegungsstörungen; ineffizienter Schlaf wie bei Schlafapnoe-Syndrom, Epilepsie oder Parasomnien; neurologische Erkrankungen wie Narkolepsie oder die ganz seltene idiopathische Hypersomnie.

OSAS Epidemiologie, Klinik und Komorbiditäten

Das einfache Schnarchen ist häufig, macht aber nicht schläfrig. Mit zunehmendem Alter (und Gewicht) kommt es bei Männern über 60 Jahre bis in 45% und bei Frauen 25% vor. Das OSAS ist eine sehr häufige Erkrankung, zunehmend mit dem Alter und Gewicht. Bei Männern ist es generell in 4% , bei Frauen in 2 % der Gesamtpopulation zu treffen (Prävalenz). Das OSAS ist definiert durch einen Apnoe-Hypopnoe Index (AHI) > 15/h, auch ohne Leidensdruck/Klinik/Komorbiditäten, oder bei AHI> 5/h mit Klinik oder Komorbiditäten (s. unten). Formal gilt die Unterteilung in 3 Schweregraden: leicht bei AHI 5-15/h, mittelschwer bei AHI 16-30/h und schwer bei AHI > 30/h.
Als Risikofaktoren gelten: das männliche Geschlecht, Alter, Adipositas und anatomische Gegebenheiten wie eine behinderte Nasenatmung und enge Rachenverhältnisse. Das Zentrale SAS, die Cheyne-Stokes’sche Atmung und die gemischten Formen werden hier nicht diskutiert.
Die Klinik beinhaltet Tagessymptome (Schläfrigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, reduzierte Reaktionsfähigkeit, Reizbarkeit, depressivie Verstimmung, Potenzstörungen, trockener Rachen) und Nachtsymptome (fremdanamnestisch Atempausen, lautes zyklisches Schnarchen, Erstickungsanfälle, Erwachen, oberflächlicher und nicht erholsamer Schlaf, Palpitationen, Nachtschweiss, Nykturie, Durst).
Die Komorbiditäten beinhalten auch sehr häufige und sich einander potenzierende Zustände wie (in Klammern Prävalenz von OSAS bei der jeweiligen Krankheit): therapieresistente arterielle Hypertonie (83%), Adipositas (77%), chronische Herzinsuffizienz (76%), DM Typ 2 (72%), nach CVI (62%), VHF (49%). Das OSAS gilt als selbstständiger Risikofaktor für KHK. Das kardiovaskuläre 10-Jahresrisiko (Morbidität und Mortalität) steigt massiv ab dem mittelschweren OSAS (AHI > 15/h). Bei diesen Komorbiditäten ist es heutzutage ein Kunstfehler, wenn man nicht an ein OSAS denkt. Ein OSAS beeinflusst massiv das perioperative Risiko bei jeglicher Operation in Intubationsnarkose, insbesondere bei Magen-Bypass-Chirurgie.
Die gesellschaftlichen Folgen sind von «harmlos» − bei qualitativ schlechter Arbeit als Folge der Schläfrigkeit bis «gravierend» − bei Betriebs- und Verkehrsunfällen. Die Frage der Fahruntauglichkeit muss beim ersten Verdacht auf OSAS mit Schläfrigkeit mit dem Patienten thematisiert werden.

Therapieoptionen

Die allgemeinen Massnahmen wie Einhalten der Schlafhygiene-Regeln (v.a. Schlafdauer über 7 Stunden!), Vermeiden von Alkohol am Abend, Sedativa, Hypnotika und Opiate, Vermeiden von Auto fahren bei Schläfrigkeit sind immer als erstes zu empfehlen. Zu den «einfachen Massnahmen gehört auch die so genannte Lagetherapie (Vermeiden der anfälligen Rückenlage). Diese ist indiziert nur bei leichtem bis mittelschwerem Befund, wenn die Akzentuierung in Rückenlage einen AHI>30/h nicht übersteigt.
Die (mit Abstand) beste Therapie ist die CPAP Therapie, heutzutage flexibel gestaltet mit einem autoadaptiven Druck (AutoCPAP oder APAP Therapie). Sie funktioniert vom leichten hin bis zum schwersten OSAS und muss immer als 1. Wahl vorgeschlagen werden. Erst wenn sie sich mit allen «Tricks» (s. unten) nach 3 Monaten nicht etabliert (CPAP-Trial), kommt die 2. Wahl, nämlich die Kieferspange zum Zug. Die HNO-operativen (häufiger indiziert) und kieferchirurgischen (viel seltener indiziert) Massnahmen kommen nachher. Bei den HNO-Massnahmen ist selbst mit aggressiver Multilevel-Chirurgie höchstens eine Reduktion des Ausgangs-AHI von 50% zu erzielen, dabei besteht ein erhöhtes perioperatives Komplikationsrisiko (wie bei jeder Operation), die Resultate sind bei Misserfolg nicht rückgängig zu machen. «Einfachere» Operationen im nasalen Bereich können durch die Verbesserung der nasalen Atmug die Compliace mit der CPAP Therapie verbessern. Ein kieferchirurgischer Eingriff kann bei sorgfältiger Indikation heilend sein, ist aber viel komplexer.
Hier ist folgendes zu erwähnen: Wenn bei morbider Adipositas als Ausgangslage ein schweres OSAS besteht, kann die Bypass-Chirurgie leider, selbst wenn sie erfolgreich ist, das OSAS nicht heilen. Selbst bei massiver Gewichtsabnahme reduziert sich der AHI-Ausgangsbefund um maximal 50%. Ein pragmatischer Approach ist, eine etablierte CPAP Therapie weiter zu führen. Wenn das definitive neue Gewicht erreicht ist und stabil bleibt, kann man nach 2 Wochen CPAP-Pause eine native respiratorische Polygraphie als Standortbestimmung durchführen. Wenn der AHI > 15/h bleibt, besteht weiterhin eine Therapie-Indikation.
Man muss betonen, dass nur die CPAP Therapie durch das ganze Band der Schweregrade funktioniert, hingegen alle anderen Therapien beim schweren OSAS versagen.

COMPLIANCE gross geschrieben

Die Compliance beginnt mit dem guten Arzt-Patienten Verhältnis, verlangt von beiden Parteien eine langfristige Perseveranz. Es beginnt mit der Erklärung der gesundheitlichen Folgen (bei Männern muss man die Impotenz ansprechen), mit dem ernsthaften Hinweis auf die Fahruntauglichkeit bei einem nicht behandelten OSAS (selbst wenn die Schläfrigkeit verneint wird).
Dann muss man alle Ängste und Vorurteile gegenüber der CPAP Therapie abbauen. Nur wenn die Therapie mit «Liebe» seitens des Arztes und mit Geduld / Motivation seitens des Patienten angegangen wird, nur dann fruchtet sie.
Die «Tricks» seitens des Arztes sind, die richtige CPAP Einstellung und vor allem Maske zu wählen. Selten kommen die Fullface Masken zum Zug (< 10%). Ganz wichtig ist die möglichst freie nasale Atmung, damit man ein Problem an der «Eigangspforte» vermeidet. Neben dem langfristigen Einsatz von NaCl-Nasensprays, temporär Einsatz von Dekongestiva (ev. noch Kortisonspray), muss man praktisch immer grosszügig mit einem Warmluftbefeuchter arbeiten. Der kleine Mehraufwand lohnt sich immer – dann bleibt oft die befürchtete Erstickungsangst bei verlegter nasaler Atmung aus.
Die ganze Therapie ist zu Beginn eine «Desensibilisierung» – muss langsam angegangen werden. Es gibt Patienten, die schon am nächsten Morgen begeistert sind, manche brauchen bis 2 Wochen bis sie richtig durchschlafen und profitieren.
Erste Nachkontrollen sind auf Wunsch des Patienen immer sinnvoll, seitens des Arztes sollte man bei vermuteten Anlaufschwierigkeiten spätestens nach 2-3 Wochen telefonisch anfragen. Häufig sind kleine Anpassungen im Druck, Befeuchtungsniveau oder ein Maskenwechsel matschentscheidend.
Der Patient als Hauptleidender und von der Therapie Profitierender muss seinen Teil leisten. Die Schläfrigkeit / Leidensdruck / gesundheitliches Risiko erholen sich nur bei konsequentem Tragen der Maske (in min. 80% der Nächte langfristig) für > 4 Stunden/Nacht. Für die gegebene Fahrtauglichkeit verlangt man sogar > 5 Std./Nacht. Mit der modernen integrierten Software in den Geräten lassen sich alle Details aufnehmen und sogar ferngesteuert auslesen (im Sinne des Patienten, nicht zur Überwachung). So erfährt man sofort ob das Problem an der Druckeinstellung, an der Maske (Leckage) oder an der Compliance liegt, oder aber bestätigt man den Erfolg. Das wirkt motivationssteigernd.
Alle anderen Therapien bieten diese Monitor-Möglichkeiten nicht an.

Dr. med. Vladimir Popov

LungenZentrum Hirslanden
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

v.popov@lungenzentrum.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Das OSAS ist eine Volkskrankheit mit grossen individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen
  • Häufig von anderen relevanten Komorbiditäten begleitet, und selber als kardivaskulärer Risikifaktor geltend, trägt das OSAS langfristig zur Morbidität und Mortalität wesentlich bei
  • Der schläfrige Patient muss richtig eingeschätzt und abgeklärt werden
  • In the case of relevant OSAS, CPAP therapy with good motivation and compliance quickly and decisively helps to control OSAS and all its consequences
  • Then drowsiness disappears as long as the therapy is consistently continued.

Mehr Fleisch am Knochen!

Der ernährungsmässige Erhalt der Muskelgesundheit im Alter gewinnt (neben regelmässigem Muskeltraining) immer mehr an Bedeutung. Bietet sich hier doch auch lebenslangen «Bewegungsmuffeln» die Möglichkeit, Muskelmasse und Muskelkraft bis ins höchste Lebensalter zu erhalten. Nachdem die Pharmaindustrie schon seit längerem intensiv an neuen Medikamenten für den Muskelerhalt/-aufbau im Alter tüftelt, haben hier die klinischen Ernährungswissenschaftler und Altersmediziner die Nase vorn! Die zum Thema geleistete wissenschaftliche Basis ist solid: der ältere Muskel braucht zu seinem Erhalt und Aufbau mehr Proteine als in jüngeren Jahren – und mehr noch: bei sarkopenen Senioren wirken leichtverdauliche Leucin-angereicherte Molkeproteine muskelaufbauend, selbst ohne begleitendes Muskeltraining!
Doch halt! Dies nun zum Anlass zu nehmen, den täglichen Fussmarsch mit Molkeproteinen zu ersetzen ist hier nicht die Botschaft! Wissen wir doch aus anderen Studien, dass Muskelmasse allein nicht Garant für weniger Stürze im Alter ist! Auch die Muskelkoordination muss erhalten werden! Dies erfolgt mit grösstem Erfolg mit «Kopf-involvierenden» Bewegungsformen wie T’ai Chi, Tanz und Rhythmik! Wem dies zu «esoterisch» oder sozial ist, kann auch täglich zuhause für sich allein Gleichgewichts- und Koordinationsübungsprogramme praktizieren!
Es wäre auch völlig falsch zu meinen, dass nun alle – in Sorge um ihre Muskulatur – zur Proteinflasche greifen sollen. Wie von Frau Dr. clin. nutr. Caroline Kiss im nachfolgenden Beitrag aufgeführt, konsumiert die Mehrheit der jüngeren Schweizerinnen und Schweizer (bis 50 J.!) bereits mehr Proteine als empfohlen. Mit dem langsam steigenden Proteinbedarf ab 50 ändert dies jedoch: so kommen hier weniger als 50 % der 65 bis 75-Jährigen auf die minimalen 1.0 g Protein pro kg Körpergewicht. Wie weiter im Beitrag aufgezeigt wird, ist es mit ein paar Ernährungsumstellungen – und v.a. mit mehr Wissen um proteinreiche Lebensmittel – problemlos möglich, mit natürlichen (und genussvollen) Speisen Muskelmasse und -kraft zu erhalten. Wird dies gemeinsam mit der im Alter erforderlichen täglichen Gesamtkalorien-Reduktion von ca. 25% umgesetzt (siehe dazu auch den kürzlich erschienenen Bericht zur Ernährung im Alter der Eidgenössischen Er-nährungskommission, https://www.eek.admin.ch/eek/de/home.html), wird die alternde Baby-Boomer Generation alle Chancen haben, mit der richtigen Ernährung bis ins höchste Alter mobil und fit zu bleiben – und dies ohne Gewicht zuzunehmen!
Aber auch Senioren mit einer bereits bestehenden Sarkopenie können hoffen: mit speziell für den Muskelaufbau zusammengesetzten Proteinsupplementen kann hier die Situation merklich verbessert werden. Ob dabei vollbilanzierte (hochkalorische) oder niedrigkalorische rein für den Muskelaufbau gedachte Proteinsupplemente zum Einsatz kommen, muss im Einzelfall und im Rahmen der täglichen Gesamternährungsbedürfnisse entschieden werden.
Mehr Informationen zur bisher unterschätzten Rolle der Ernährung für die Muskelgesundheit im Alter erhalten Sie in unserem nachfolgenden Beitrag.
Gute Lektüre!
Prof. Dr. med. Reto W. Kressig

Ärztlicher Direktor & Klinischer Professor für Geriatrie
Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER & Universität Basel
Burgfelderstrasse 101
4002 Basel

RetoW.Kressig@felixplatter.ch

Ernährung für die Muskelgesundheit im Alter beginnt ab 50

Durch die Veränderungen im Alter reduziert sich der Energiebedarf, nicht jedoch der Proteinbedarf. Für den Erhalt der Muskelgesundheit braucht es Aktivität und ausreichend Proteine. Gesunde Senioren brauchen 1.0 -1.2 g/kg Körpergewicht. Jede der drei Hauptmahlzeiten soll mindestens 25 -35 g Protein aus pflanzlichen und tierischen Produkten enthalten. Um diese Mengen zu erreichen können auch Proteindrinks auf Basis von Molkenproteinen mit einem hohen Anteil an Leucin eingesetzt werden. Für ältere mit akuten oder chronischen Krankheiten beträgt der Proteinbedarf mindestens 1.2 -1.5 g/kg Körpergewicht. Wenn Optimierungen mit normalen Lebensmitteln nicht ausreichen, kommen hier Trinknahrungen zum Einsatz. Dabei eignen sich vor allem proteinreiche Trinknahrungen, welche pro Portion jeweils 20 g Protein und 300 kcal enthalten.

The population of over 65 has increased and soon every 4th inhabitant of Switzerland will belong to it. In order to cope with the demographic aging of the population, healthy aging is of particular importance. Maintaining functionality and autonomy as long as possible is the goal. The most important influencing factors are nutrition, exercise and cognition. Activities and interventions in these areas are synergistic. In this article, the focus is on nutrition: Proteins for maintaining muscle health in old age and the importance of proteins associated with acute illness and convalescence. It is important to identify at-risk persons at an early stage and initiate measures,

Recommendations for nutrition in old age

So far, there are no specific recommendations for nutrition in old age in Switzerland. However, these should appear later this year. Published in 2018 on behalf of the Federal Office for Food Safety and Veterinary Affairs, the “Nutrition in Old Age” report of the Federal Nutrition Commission lays the foundations for the development of nutritional recommendations (6).
A particular challenge of nutritional recommendations for the elderly is the heterogeneity of this population group. It is important to distinguish between fit and frail / needy elderly. The generational change of aging, which has led to changes in health awareness, eating habits and enjoyment over the past few decades, must also be included.

Änderungen des Energie- und Nährstoffbedarfes im Alter

Mit dem Älterwerden verändert sich die Körperzusammensetzung. Die Muskelmasse wird reduziert und mit Fettzellen durchsetzt. Durch die Reduktion der metabolisch aktiven fettfreien Masse nimmt der Energiebedarf vom 25. bis zum 75. Lebensjahr um ca. 25% ab (13). Da der Bedarf an Proteinen und Mikronährstoffen jedoch nicht abnimmt, bedeutet dies, dass die Ernährung nährstoffdichter sein muss. Konkret heisst dies, weniger «leere» Kalorien (Süssigkeiten, fettreiche Speisen und Alkohol) zu geniessen. Die Grundlage ist die mediterrane Ernährung; sie ist nicht nur farbenfroh und schmackhaft, sondern liefert die essenziellen Nährstoffe und sekundären Pflanzenstoffe. Ungenügend ist in unseren Breitengraden einzig die Vitamin-D-Aufnahme mit der Ernährung oder durch Sonnenexposition. Diese muss im Alter supplementiert werden (800 IE pro Tag oder
24 000 IE/Monat).
Die Faustformel für die Berechnung des Grundumsatzes beträgt 20 kcal/kg Körpergewicht. Der Gesamtbedarf ist wiederum sehr variabel, da er abhängig vom Bewegungsverhalten ist (Tab. 1). Da es nicht das Ziel ist Kalorien zu zählen, gibt die regelmässige Gewichtsmessung Auskunft über die Energiebilanz. Ohne Anpassungen an den reduzierten Bedarf oder Erhöhung der Bewegung erfolgt im mittleren Erwachsenenalter eine Gewichtszunahme. Bei einem Body Mass Index (BMI) über 25 kg/m2 steigt das Risiko für Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, bestimmte Krebsarten und die Gesamtmortalität. Im Alter hat der BMI jedoch eine andere Bedeutung: Hier ist «Übergewicht» (BMI zwischen 25 und 30) mit einer geringeren Mortalität und ein BMI < 23 kg/m2 mit einer höheren Mortalität assoziiert. Teilweise ist dieses Phänomen dadurch bedingt, dass sich der BMI wegen dem Grössenverlust erhöht. Dieser kann bei einem 80-jährigen Mann bis zu 1.5 kg/m2 und bei einer Frau um 2.5 kg/m2 «falsch» erhöht sein (6). Somit gilt bei Älteren ein BMI von 23 bis 27 kg/m2 als ideal. Ein signifikanter Gewichtsverlust ist nicht ein normaler Teil des Alterns. Abnahme von Körpergewicht geht immer einher mit Verlust der Muskelmasse und soll im Alter vermieden werden. Der Anteil an Muskelmasse lässt sich nur mit apparativen Methoden wie Body Impedanz Analyse oder DEXA genau bestimmen. Anthropometrische Messungen liefern indirekte Angaben zur Bestimmung von Fett- und Muskelmasse. Einfach durchführbar sind die Messung von Oberarm und Wadenumfang. Sie korrelieren mit der fettfreien Masse, der Funktionalität und sind Prädiktoren für Stürze, Pflegebedürftigkeit sowie Mortalität (10, 11). Ein reduzierter Oberarm- und Wadenumfang deutet auf eine reduzierte Muskelmasse hin. Im Screening für Mangelernährung und Sarkopenie gilt ein Wadenumfang von < 31 cm als kritisch (5). Zur frühzeitigen Erkennung von Muskelabbau sind Verlaufsmessungen hilfreich.
Für den altersassoziierten, übermässigen Abbau von Muskelmasse, Muskelkraft und -funktion, der Sarkopenie gibt es erst seit kurzem einen eigenen ICD-Code (M62.50). Ausserdem liegt jetzt von der European Working Group on Sarcopenia in Older People ein Algorithmus mit praktikablem Screening und Assessmentuntersuchungen vor (5).
Zum Erhalt der Muskelmasse kommt neben der Bewegung den Proteinen eine besondere Bedeutung zu. Die Empfehlungen der D-A-CH Referenzwerte für die Proteinaufnahme beträgt ab 65 Jahren 1 g pro kg Körpergewicht (Tab. 2). Die PROT-AGE Expertengruppe empfiehlt für gesunde ältere Personen 1.0 – 1.2 g Protein/kg Körpergewicht. Und für Ältere mit akut oder chronisch beeinträchtigtem Gesundheitszustand werden 1.2 – 1.5 g Protein/kg Körpergewicht pro Tag oder sogar bis zu 2 g Protein/kg empfohlen (1).
Im Gegensatz zu früher wird bei Niereninsuffizienz keine proteinarme Diät mehr empfohlen, da eine ausreichende Proteinversorgung für die Verhinderung von Morbidität und Mortalität höher gewertet wird als das Risiko einer fortschreitenden Niereninsuffizienz. Erst bei einer GFR von < 30 ml/min/1.73 m2 gelten andere Empfehlungen.

Essgewohnheiten und Nährstoffversorgung der älteren Bevölkerung

Bis anhin liegen erst wenige Informationen zur Ernährungsversorgung von Senioren in der Schweiz vor. Aktuelle Daten zum Ernährungsverhalten von bis zu 75-Jährigen zu Hause Lebende gibt es von der nationalen Erhebung «MenüCH» (4).
Ernährungsgewohnheiten genau zu erfassen ist sehr aufwendig und im Alter aufgrund von häufigen Gedächtnisschwierigkeiten zusätzlich erschwert. Möglicherweise bietet sich künftig das Smartphone mittels Fotoprotokoll und Programmen an, welche Lebensmittel erkennen und Schätzungen der eingenommenen Nährwerte berechnen können.
Die «MenüCH» Studie ist eine repräsentative Schweizer Querschnittsstudie mit Daten von insgesamt rund 2000 Personen verschiedener Altersgruppen. Die meisten dabei erfassten älteren Personen essen regelmässig drei Hauptmahlzeiten. Nur unregelmässig oder kein Frühstück essen 14%. Zwei Drittel essen in der Regel am Mittag und Abend zu Hause. Bei den 65 - 75-Jährigen betrug die Energieaufnahme 2000 kcal und 74 g Protein. Wird dieser Durchschnittswert genauer aufgeschlüsselt, erreichen jedoch weniger als 50 % die Empfehlungen von mindestens 1.0 g/kg Körpergewicht und gar nur 30 % die Empfehlungen von 1.2 g/kg (Abb. 1) (17).

Praktische Empfehlungen für die Muskelgesundheit ab 50

Die Empfehlungen haben zum Ziel, die Muskelgesundheit zu erhalten, um das Risiko für Sarkopenie, Gebrechlichkeit und Autonomieverlust zu vermindern.
Die Ess- und Bewegungsgewohnheiten lassen sich nur schwer verändern. Neue Gewohnheiten müssen sich schrittweise etablieren und können nicht einfach wie ein Schalter umgelegt werden. Deshalb empfehlen wir, das Bewusstsein für Veränderungen in der täglichen Ernährung und Bewegung zu schaffen und erste Schritte bereits ab 50 einzuleiten. Vom Bundesamt für Sport (BASPO) stehen praxisnahe Bewegungsempfehlungen für jedes Alter zur Verfügung.
Bis zum mittleren Alter ist die Bedarfsdeckung mit Protein meist kein Problem, manchmal aber für Frauen sowie Vegetarier, wenn sie Fleisch meiden und nicht durch andere proteinhaltige Lebensmittel ersetzen. Im Alter wird es schwieriger, den geforderten erhöhten Bedarf an Protein bei gleichzeitig reduziertem Energiebedarf aufzunehmen. Deshalb scheint eine schrittweise Anpassung sinnvoller (Tab. 2). Empfehlenswert sind sowohl tierische wie pflanzliche Proteine. Bei Letzteren sind besonders Sojaprodukte, Hülsenfrüchte sowie Nüsse proteindicht. Natürlich enthalten auch Getreide- und andere pflanzliche Lebensmittel Proteine. Jedoch müssten dann für 10 g Protein beispielsweise eine grosse Portion Teigwaren (250 g) oder ein halbes Kilo Champignons verzehrt werden. Deshalb werden in der abgebildeten Tabelle nur proteindichte Lebensmittel aufgeführt (Tab. 3).
Im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen braucht es im Alter zur Stimulation der Muskelproteinsynthese deutlich mehr Protein (25 – 35 g Protein) pro Einzelportion (14). Deshalb ist die gleichmässige Verteilung des errechneten Proteintagesbedarfes auf die drei Hauptmahlzeiten von grosser Bedeutung. Hier gilt es besonders beim Frühstück anzusetzen. Das klassische Schweizer Frühstück mit Brot, Butter, Konfitüre und Milchkaffe enthält gerade mal rund 10 g Protein. Ergänzt mit Ei und Käse oder einem Müesli auf Basis von Quark kann dies auf die genannte Zielmenge gesteigert werden. Für jene die Schwierigkeiten haben, mit natürlichen Lebensmitteln auf eine ausreichende Proteinmenge zu kommen, bieten sich Proteinpulver an. Diese sind im Detailhandel in verschiedenen Varianten erhältlich. Empfehlenswert sind Molkenproteinisolate (Whey protein), sie enthalten einen hohen Anteil der Aminosäure Leucin, die den Muskelaufbau stimuliert (3). Davon können insbesondere Personen mit Sarkopenie profitieren. Die tägliche Einnahme über drei Monate von zweimal 20 g eines Molkenproteindrinks mit Leucin und Vitamin D angereichert führte zu einem Muskelzuwachs der einen Verlust eines Jahres kompensieren konnte (2). Kombiniert mit Training kommt es auch zur Zunahme der Kraft und Verbesserung der Lebensqualität (15).

Empfehlungen bei akuter Krankheit und Rekonvaleszenz

In Situationen von akuter Krankheit und Rekonvaleszenz ist der Proteinbedarf weiter erhöht (Tab. 2). Aufgrund der krankheitsassoziierten Anorexie ist es jedoch für die Betroffenen noch schwieriger, diesen Bedarf zu decken. Mehr als die Hälfte der Spitalpatienten isst ungenügend (16). Deshalb soll standardmässig ein Screening durchgeführt und sollen, sofern ein erhöhtes Risiko vorliegt, entsprechende individuelle Massnahmen eingeleitet werden (8). Wichtig ist dabei die Edukation des
Patienten und seiner Angehörigen. Das Bewusstsein und Wissen über die Bedeutung einer bedarfsdeckenden Ernährung für die Genesung ist ungenügend.
Für die Ernährungstherapie gilt immer «Food first», also die Optimierung der oralen Ernährung mit normalen Lebensmitteln: Anpassung an Präferenzen, Anbieten von Zwischenmahlzeiten und energiedichten Menüs. Proteinpulver können Speisen beim Zubereiten beigemengt werden. Geschmacksneutrales Molkenproteinpulver eignet sich für kalte Speisen (Crème, Apfelmus etc.), Kasein-Proteinpulver für erhitzte Speisen (Suppe, Sauce).
Meist reichen diese Strategien jedoch nicht aus und Trinknahrungen kommen ergänzend zum Einsatz (18). Man unterscheidet dabei vollbilanzierte und teilbilanzierte Produkte. Beide eignen sich zur Ergänzung der normalen Ernährung. Zu den teilbilanzierten Produkten gehören proteinreiche Formulierungen, sie müssen mindestens einen Proteinanteil von 20 Prozent aufweisen, was ca. 20 g pro Einheit entspricht. Oder anders ausgedrückt: Das Verhältnis von Protein (g) zur Energie (kcal) beträgt bei vollbilanzierten Produkten mindestens 1 : 25 und bei proteinreichen Produkten maximal 1 : 15. Die meisten Trinknahrungen enthalten keine Laktose. Der Gehalt an Mikronährstoffen entspricht bei teilbilanzierten Produkten pro Portion etwa 25 Prozent des Tagesbedarfes für Gesunde, bei vollbilanzierten Produkten ist er geringer.

Die Auswahl und Dosierung richtet sich nach der aktuellen Aufnahme, resp. dem Defizit an Energie und/oder Proteinen. Bewährt haben sich hochkalorische Produkte in kleinen Volumina z.B. zweimal täglich 125 ml à 300 kcal. Empfohlen ist die Erhöhung um mind. 400 kcal und 30  g Protein pro Tag, um eine Wirkung zu erzielen.
Bei geringem Appetit und vorzeitigem Völlegefühl sind Produkte auf der Basis von Molkenproteinen besonders geeignet. Sie verlassen den Magen deutlich rascher als Protein aus Kasein, dies bewirkt einen raschen (20 Minuten nach Einnahme) und deutlicheren Anstieg der Plasma-Aminosäuren, was wiederum die Muskelproteinsynthese erhöht. Ausserdem reduziert sich so bei Älteren auch die Aufnahme der normalen Mahlzeiten kaum (7). Besonders interessant ist, dass durch die Anreicherung mit 15 g Molkenprotein mit Leucin eine höhere Muskelproteinsynthese erfolgt als mit der doppelten Menge an Protein aus Kasein (19). Eine ähnliche Wirkung wie Leucin zeigt auch der Metabolit Beta-Hydroxy-Beta-Methylbutyrat (HMB) (9). Als günstig für die rasche Magenentleerung haben sich Produkte mit 20 g Molkenprotein mit geringem Anteil an Kohlenhydraten und Fetten (max. 150 kcal) erwiesen (12). Sie eignen sich zusätzlich auch für Patienten, die aufgrund der Immobilität oder einer Adipositas einen reduzierten Energiebedarf aber erhöhten Proteinbedarf haben. Solche Produkte kommen zunehmend auf den Markt.
Idealerweise wird die Massnahme nach dem Spitalaufenthalt in der Rekonvaleszenz noch für mindestens einen Monat weitergeführt. Trinknahrungen werden bei definierten medizinischen Indikationen aus der Grundversicherung übernommen. Informationen dazu, Kostengutspracheformulare und Homecare Anbieter für Belieferung nach Hause finden sich auf der Website der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (www.geskes.ch).

Dr. clin. nutr.Caroline Kiss

Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER
Burgfelderstrasse 101
4055 Basel

Prof. Dr. med. Reto W. Kressig

Ärztlicher Direktor & Klinischer Professor für Geriatrie
Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER & Universität Basel
Burgfelderstrasse 101
4002 Basel

RetoW.Kressig@felixplatter.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Der Energiebedarf nimmt vom 25. Bis zum 75. Lebensjahr um ca. 25% ab. Da der Bedarf an Proteinen und Mikronährstoffen jedoch nicht abnimmt, muss die Ernährung nährstoffdichter sein.
  • Die Messung des Wadenumfangs liefert indirekte Angaben zur
    Muskelmasse. Im Screening für Mangelernährung und Sarkopenie
    gilt ein Wadenumfang von < 31 cm als kritisch.
  • Die Ess- und Bewegungsgewohnheiten lassen sich nur schwer verändern. Das Bewusstsein und erste Schritte für Veränderungen im Ernährung- und Bewegungsverhalten sollten deshalb ab 50 eingeleitet werden.

1. Bauer, J., Biolo, G., Cederholm, T., Cesari, M., Cruz-Jentoft, A. J., Morley, J. E.,Boirie, Y. (2013). Evidence-based recommendations for optimal dietary protein intake in older people: a position paper from the PROT-AGE Study Group. J Am Med Dir Assoc, 14(8), 542-559. doi:10.1016/j.jamda.2013.05.021
2. Bauer, J. M., Verlaan, S., Bautmans, I., Brandt, K., Donini, L. M., Maggio, M., Cederholm, T. (2015). Effects of a vitamin D and leucine-enriched whey protein nutritional supplement on measures of sarcopenia in older adults, the PROVIDE study: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. J Am Med Dir Assoc, 16(9), 740-747. doi:10.1016/j.jamda.2015.05.021
3. Boirie, Y., & Guillet, C. (2018). Fast digestive proteins and sarcopenia of aging. Curr Opin Clin Nutr Metab Care, 21(1), 37-41. doi:10.1097/MCO.0000000000000427
4. Bouchud, M., Chatelan, A., & Blanco, J. (2017). MenuCH Nationale Ernährungserhebung. Anthropometric characteristics and indicators of eating and physical activity behaviors in the Swiss adult population. Retrieved from https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/lebensmittel-und-ernaehrung/ernaehrung/menuch/menu-ch-ergebnisse-ernaehrung.html
5. Cruz-Jentoft, A. J., Bahat, G., Bauer, J., Boirie, Y., Bruyere, O., Cederholm, T. The Extended Group for, E. (2019). Sarcopenia: revised European consensus on definition and diagnosis. Age Ageing, 48(1), 16-31. doi:10.1093/ageing/afy169
6. Eidgenössische Ernährungskommission (2018). Ernährung im Alter. Ein Expertenbericht der EEK. Retrieved from Bern: https://www.eek.admin.ch/eek/de/home/pub/ernaehrung-im-alter.html
7. Giezenaar, C., Trahair, L. G., Rigda, R., Hutchison, A. T., Feinle-Bisset, C., Luscombe-Marsh, N. D., Soenen, S. (2015). Lesser suppression of energy intake by orally ingested whey protein in healthy older men compared with young controls. Am J Physiol Regul Integr Comp Physiol, 309(8), R845-854. doi:10.1152/ajpregu.00213.2015
8. Gomes, F., Schuetz, P., Bounoure, L., Austin, P., Ballesteros-Pomar, M., Cederholm, T., Bischoff, S. C. (2018). ESPEN guidelines on nutritional support for polymorbid internal medicine patients. Clin Nutr, 37(1), 336-353. doi:10.1016/j.clnu.2017.06.025
9. Landi, F., Calvani, R., Picca, A., & Marzetti, E. (2019). Beta-hydroxy-beta-methylbutyrate and sarcopenia: from biological plausibility to clinical evidence. Curr Opin Clin Nutr Metab Care, 22(1), 37-43. doi:10.1097/MCO.0000000000000524
10. Landi, F., Onder, G., Russo, A., Liperoti, R., Tosato, M., Martone, A. M., Bernabei, R. (2014). Calf circumference, frailty and physical performance among older adults living in the community. Clin Nutr, 33(3), 539-544. doi:10.1016/j.clnu.2013.07.013
11. Landi, F., Russo, A., Liperoti, R., Pahor, M., Tosato, M., Capoluongo, E., Onder, G. (2010). Midarm muscle circumference, physical performance and mortality: results from the aging and longevity study in the Sirente geographic area (ilSIRENTE study). Clin Nutr, 29(4), 441-447. doi:10.1016/j.clnu.2009.12.006
12. Luiking, Y. C., Abrahamse, E., Ludwig, T., Boirie, Y., & Verlaan, S. (2016). Protein type and caloric density of protein supplements modulate postprandial amino acid profile through changes in gastrointestinal behaviour: A randomized trial. Clin Nutr, 35(1), 48-58. doi:10.1016/j.clnu.2015.02.013
13. Manini, T. M. (2010). Energy expenditure and aging. Ageing Research Reviews, 9(1), 1-11. doi:10.1016/j.arr.2009.08.002
14. Paddon-Jones, D., Campbell, W. W., Jacques, P. F., Kritchevsky, S. B., Moore, L. L., Rodriguez, N. R., & van Loon, L. J. (2015). Protein and healthy aging. Am J Clin Nutr, 101(6), 1339S-1345S. doi:10.3945/ajcn.114.084061
15. Rondanelli, M., Klersy, C., Terracol, G., Talluri, J., Maugeri, R., Guido, D. Perna, S. (2016). Whey protein, amino acids, and vitamin D supplementation with physical activity increases fat-free mass and strength, functionality, and quality of life and decreases inflammation in sarcopenic elderly. Am J Clin Nutr, 103(3), 830-840. doi:10.3945/ajcn.115.113357
16. Schindler, K., Kosak, S., Schutz, T., Volkert, D., Hurlimann, B., Ballmer, P., & Hiesmayr, M. (2014). NutritionDay- an annual cross-sectional audit of nutrition in healthcare. Ther Umsch, 71(3), 127-133. doi:10.1024/0040-5930/a000493
17. SRF (Producer). (2019). Wissensmagazin Einstein – Merkblatt mit Link zu ganzer Sendung Retrieved from https://www.srf.ch/kultur/wissen/eiweissbedarf-im-alter-senioren-sollten-mehr-proteine-essen
18. Volkert, D., Beck, AM, Cederholm, T., Cruz-Jentoft, A., Goisser, S., Hooper, L., Bischoff, SC (2019). ESPEN guideline on clinical nutrition and hydration in geriatrics. Clin Nutr, 38 (1), 10-47. Doi: 10.1016 / j.clnu.2018.05.024
19. Walrand, S., Gryson, C., Salles, J., Giraudet, C., Migne, C., Bonhomme, C., Boirie, Y. (2016) , Fast-digestive protein supplement for ten days overcomes muscle anabolic resistance in healthy elderly men. Clin Nutr, 35 (3), 660-668. doi: 10.1016 / j.clnu.2015.04.020

Update Osteoporose

Im Rahmen der Donnerstagskonferenz (DOKO) des Universitätsspitals Basel, sprach Prof. Dr. med. Christian Meier, Basel über die Therapie der Osteoporose. Zur Behandlung der Osteoporose steht heute eine breite Palette von Medikamenten mit unterschiedlichen Wirkmechanismen zur Verfügung. Trotz einer hohen Inzidenz Osteoporose-bedingter Knochenbrüche werden auch in der Schweiz gerade Hochrisikopatienten zu selten behandelt. Man spricht gar von einer «crisis of osteoporosis», wie der Referent anmerkte. Gelingt es, Unsicherheiten bezüglich der Therapie (z.B. Nebenwirkungen, Therapiedauer, Management nach Therapieende) auszuräumen, kann dies die Akzeptanz einer Osteoporose-Therapie deutlich verbessern.

Charakteristische Kennzeichen einer Osteoporose sind eine fortschreitende Verminderung der Knochendichte (BMD, bone mineral density) und eine Veränderung der Knochenarchitektur, was sich klinisch in einem erhöhten Risiko für Knochenbrüche zeigt.
Eine medikamentöse Behandlung der Osteoporose wird angestrebt, wenn die Patienten bereits eine Wirbel- oder proximale Femurfraktur erlitten haben, nach peripheren Frakturen infolge nur geringfügiger Traumata, nach dem Befund eines erhöhten Frakturrisikos mittels FRAX® (Fracture Risk Assessment Tool, WHO) und auch ohne Fraktur bei Feststellung eines erhöhten 10-Jahres-Frakturrisikos oder eines T-Scores (Lendenwirbelsäule oder Femur) von < – 2.5 (1).

Antiresorptive Behandlung

Zur antiresorptiven Behandlung werden zum einen Bisphosphonate eingesetzt. Bisphosphonate akkumulieren im Knochen und werden im Rahmen des Knochenumbaus freigesetzt, von Osteoklasten aufgenommen und hemmen deren Aktivität. Gerade neuere Vertreter der Bisphosphonate wie Alendronat oder Zoledronat zeichnen sich durch eine sehr hohe Affinität für den Knochen aus, was mit dem Vorteil einer ausgesprochen dauerhaften Langzeitwirkung einhergeht. Die Bisphosphonate sind die einzigen Medikamente zur Behandlung der Osteoporose, deren Wirkung deutlich über den Anwendungszeitraum hinaus anhält.
Denosumab, ein monoklonaler Antikörper, bindet RANKL (Receptor Activator of NF-κB Ligand), ein Protein, das Entwicklung, Funktion und Überleben von Osteoklasten sicherstellt und damit die Knochenresorption fördert. Denosumab erhöht die Knochendichte was sich in einer anhaltenden Reduktion des Frakturrisikos bei postmenopausalen Frauen gezeigt hat (2). Denosumab wird alle 6 Monaten subkutan appliziert, die Wirkung bleibt jedoch nur für die Dauer der Therapie bestehen. Ein Jahr nach Absetzen geht die Knochendichte wieder auf den Ausgangswert vor der Behandlung zurück (Rebound-Effekt). Bei gewissen Patienten (z.B. Frakturen vor Denosumab-Behandlung, keine Vorbehandlung, sehr geringe Knochendichte) steigt das Frakturrisiko nach einer Denosumab-Behandlung deutlich an. In seltenen Fällen kann es sowohl unter Bisphosphonaten als auch unter Denosumab zu einer Kiefer-Osteonekrose oder atypischen Femurfrakturen kommen.

Anabol wirkende Therapeutika

Teriparatid, ein Analogon des Parathormons, verstärkt die Knochenneubildung. Teriparatid wird bei Patienten nach Osteoporose bedingten Frakturen oder bei Glukokortikoid-induzierter Osteoporose mit ungenügendem Ansprechen auf andere Therapien zur Zweitlinienbehandlung eingesetzt. Im Vergleich mit Risedronat hat sich mit der anabolen Therapie bei schwerer Osteoporose eine deutliche Reduktion der Inzidenz vertebraler Frakturen gezeigt (3). Die überlegene Wirkung von Teriparatid wurde auch bei behandlungsnaiven Patienten deutlich, was für eine Erweiterung der Zulassung auch für die Erstlinientherapie spricht. Romosozumab (bisher nur in Japan zugelassen) bindet das Protein Sklerostin, welches die Aktivität der Osteoblasten hemmt. Mit der Inhibition von Sklerostin stimuliert der monoklonale Antikörper die Knochenformation. Interessanterweise wird (im Gegensatz zu Teriparatid) auch die Knochenresorption gehemmt. Dies führt zu einer ausgeprägt starken anabolen Wirkung am Knochen mit einer Akkumulation neuegebildetem Knochens. Bei guter Verträglichkeit konnte mit Romosozumab (210 mg/Monat) eine Zunahme der Knochendichte der Lendenwirbelsäule nach 12 Monaten um 11.3% (verglichen mit Placebo – 0.1%, Alendronat
+ 4.1%, Teriparatid +7.1%) erreicht werden (4). Auch nach Absetzen von Romosozumab kommt es wieder zu einer Abnahme der Knochendichte.

Individualisierte Therapie der Osteoporose

Empfohlen wird eine individualisierte Osteoporosetherapie. Die Behandlung richtet sich nach der klinischen Beurteilung (Frakturrisiko, Alter etc.), der Wirksamkeit und Sicherheit der Therapeutika, den Kosten und der Patientenpräferenz. Letztere spielt für den Alltag häufig die grösste Rolle, wie der Referent betonte. Orale Bisphosponate werden initial für 5 Jahre, intravenös verabreichte für 3 Jahre gegeben, für Denosumab liegt die Behandlungsdauer zunächst bei 4-5 Jahren (siehe Abb. 1). Bei niedrigem bis moderatem Risiko kann die Behandlung mit Bisphophonaten für 2-3 Jahre unterbrochen und die Situation dann reevaluiert werden. Bei abnehmender Knochendichte oder einer Fraktur kann die Behandlung wieder aufgenommen werden. In diesem Risikobereich kann bei Erreichen einer Normalisierung der BMD mit einer Denosumab-Therapie der monoklonale Antikörper abgesetzt werden, zwingend ist aber eine sequenzielle Therapie mit einem Bisphosphonat notwendig, um den Rebound-Effekt mit gesteigertem Knochenmassenverlust zu verhindern.
Bei hohem Frakturrisiko können Bisphosphonate sowie Denosumab nach Abwägen von Nutzen und Risiko auch länger angewandt werden. Alternativ kann nach einer Bisphosphonattherapie auch eine sequenzielle Therapie mit Denosumab oder Teriparatid in Erwägung gezogen werden. In einer Hochrisikosituation könnte auch eine Kombinationstherapie von Denosumab mit Teriparatid sinnvoll sein.
Die Anwendung von Teriparatid ist auf 24 Monate beschränkt. Auch hier sollte nach der Teriparatid-Therapie sequenziell mit einem Bisphophonat behandelt werden.
Besonders Patienten mit schwerer Osteoporose und hohem Frakturrisiko profitieren von einer sequenziellen Behandlung, beginnend mit einer Knochen aufbauenden Therapie (5).

Quelle: Prof. Dr. med. Christian Meier: Update Osteoporose: wie und wie lange behandeln? Donnerstagskonferenz am 23.3.2019; Fortbildungsreihe des Bereichs Medizin des Universitätsspitals Basel.

Dr. Ines Böhm