Nebenwirkungen onkologischer Therapien

Nebenwirkungen onkologischer Therapien werden häufig zuerst in der Hausarztpraxis bemerkt. Notfallsituationen können potenziell bei allen onkologischen Therapien zu jedem Zeitpunkt auftreten. Insbesondere der onkologische Notfall einer febrilen Neutropenie sollte unter keinen Umständen verpasst werden. Bei Patienten unter Immuntherapie gelten auch die Diarrhoe und schwer verlaufende Endokrinopathien als potentieller Notfall. Daneben gibt es aber auch viele eher selten oder wenig spezifisch auftretende Symptome, die man im Detail nicht immer sicher als Nebenwirkung erkennen, bzw. von Tumorkomplikationen oder Begleiterkrankungen abgrenzen kann. Beim Auftreten neuer und ungewöhnlicher Symptome sollte man daher den Kontakt zum behandelnden Onkologen suchen, denn letztendlich liegt in einer guten Kommunikation zwischen Hausarzt und Onkologe der Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung unserer Patienten.

Die Behandlung onkologischer Patienten ist komplex und erfordert eine gute Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und den verschiedenen beteiligten Fachdisziplinen. Krebspatienten können mit einer Vielzahl an Symptomen konfrontiert sein, die sowohl durch die Grunderkrankung, als Nebenwirkung onkologischer Therapien oder auch durch ganz andere Faktoren bedingt sein können. Nicht selten ist es in der Hausarztpraxis, dass Symptome erstmals adressiert werden und Notfallsituationen zuerst erkannt werden. In Anbetracht der stetig wachsenden Zahl onkologischer Behandlungen ist es dabei nicht leicht, einen Überblick über typische Nebenwirkungen zu behalten. Jedoch gibt es neben einer Vielzahl an seltenen Nebenwirkungen auch einige, die sehr häufig sind, und daher auch dem Allgemeinmediziner bekannt sein sollten.

Prinzipien der onkologischen Behandlung

Um das Thema der Nebenwirkungen von Onkologica zu adressieren, muss man zunächst unterscheiden, um welche Art von Therapie es sich handelt. Hier hat sich die Onkologie in den letzten Jahren stark diversifiziert. Während noch vor einigen Jahren klassische Chemotherapien den Grossteil der Behandlungen ausgemacht haben, sind inzwischen zielgerichtete molekulare Therapien und Immuntherapien hinzugetreten, um zunehmend eine immer grössere Rolle zu spielen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Therapieformen wie etwa endokrine Therapien, Radiotherapie oder lokale Ablationsverfahren. Auch Therapiekombinationen sind häufig. Eine wichtige Unterscheidung im Umgang mit Nebenwirkungen ist zudem die Frage, ob es sich um eine kurative oder um eine palliative Therapie handelt. Das Ziel einer palliativen Behandlung ist die Verlängerung der Lebenszeit unter Bewahrung der Lebensqualität, sodass die Vermeidung von Nebenwirkungen, die den Patienten beeinträchtigen, sehr wichtig ist. Demgegenüber werden bei einer kurativen Therapie auch starke Nebenwirkungen eher akzeptiert, um die Therapie möglichst volldosiert fortführen zu können.

Nebenwirkungen

Häufigkeit von Nebenwirkungen

Aussagen über die Häufigkeit von Nebenwirkungen onkologischer Therapien sind schwierig, da systematische Erhebungen und Publikationen meist nur im Rahmen klinischer Zulassungsstudien erfolgen. Die in Studien eingeschlossenen Patientengruppen unterscheiden sich allerdings nicht selten von dem im klinischen Alltag tatsächlich behandelten Patientenkollektiv, etwa bezüglich Alter und Komorbiditäten, weswegen mitunter abweichende Nebenwirkungsfrequenzen beobachtet werden. Häufig zu erwartende Nebenwirkungen können in der Regel dennoch klar von seltenen differenziert werden. Dies betrifft zum Beispiel den Haarverlust, der bei manchen Chemotherapien mit hoher Wahrscheinlichkeit auftritt und bei anderen Therapien nahezu ausgeschlossen werden kann. Vorbeugende Massnahmen zum Toxizitätsmanagement sind in den heutigen Behandlungen fest integriert, z.B. der prophylaktische Einsatz von Antiemetika, wodurch eine starke Übelkeit in der Regel vermieden werden kann. Speziell zur antiemetischen Prophylaxe gibt es eine von der European Society of Medical Oncology (ESMO) herausgegebene Praxis-Guideline (1).

Einteilung von Nebenwirkungen

Eine weitere wichtige Unterscheidung bei Nebenwirkungen onkologischer Therapien ist die Frage der Dauer bzw. Reversibilität. Während viele Symptome akut toxischer Natur sind, gibt es auch kumulative Toxizitäten, die eher verzögert, längerfristig und manchmal auch irreversibel auftreten. Dies ist zum Beispiel bei der Oxaliplatin-bedingten Neurotoxizität der Fall, die oftmals erst nach einigen Monaten oder sogar nach Beendigung der Therapie auftritt und zu einer deutlichen Alltagsbeeinträchtigung führen kann (2). Zur Klassifikation der Art und Schwere von Nebenwirkungen werden in der Onkologie die sogenannten CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events) des National Institute of Health angewendet (3). Die Schwere von Nebenwirkungen wird hier in jeweils 5 Grade eingeteilt (Tabelle 1). Klinisch relevant sind in der Regel erst zweit- und drittgradige Nebenwirkungen, da sie häufig eine Pausierung bzw. Dosisanpassung der Chemotherapie erfordern und nicht selten auch behandelt werden müssen. Dies kann gut am Beispiel der Diarrhoe gezeigt werden. Ab einer zweitgradigen Diarrhoe (definiert als 4-6 wässrige Stuhlgänge pro Tag) besteht eine gewisse Alltagseinschränkung des Patienten. Ab einer drittgradigen Diarrhoe (definiert als > 7 wässrige Stuhlgänge pro Tag) ist ein relevanter Flüssigkeitsverlust wahrscheinlich und eine Hospitalisation sollte erwogen werden. In Tabelle 2 sind onkologische Notfälle zusammengestellt, die im Allgemeinen eine Spitalzuweisung erfordern.

Häufige Nebenwirkungen von Chemotherapeutika

Zu den häufigsten Nebenwirkungen einer Chemotherapie jeglicher Art zählen sicherlich Veränderungen des Blutbildes und gastrointestinale Beschwerden wie z.B. Diarrhoe und Nausea. Der Grund hierfür liegt in dem allgemeinen Wirkprinzip der Proliferationshemmung, wodurch sich laufend regenerierende Organe wie etwa die gastrointestinale Mukosa oder das hämatopoetische System gleichermassen mitbetroffen sind wie der Tumor. Aufgrund der Häufigkeit dieser Nebenwirkungen ist es sinnvoll, dass auch den behandelnden Hausärzten geläufig ist, wie man mit ihnen umgehen sollte. Eine gute Hilfestellung bieten diesbezüglich die frei zugänglichen Praxis-Guidelines der europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie (ESMO) sowie die S3 Leitlinie zur supportiven Therapie der DGHO (4, 5). Zudem gibt es eine hilfreiche Gratisbroschüre der Krebsliga Schweiz zum Thema medikamentöser Tumortherapien, die man gut als Ratgeber an Patienten und Angehörige abgeben kann (6). Zur Behandlung der Chemotherapie-bedingten Diarrhoe werden beispielsweise supportive Massnahmen wie auch Antidiarrhoika wie Loperamid eingesetzt. Ein weiteres gutes Beispiel ist die Neutropenie. Eine passagere Neutropenie ist eine zu erwartende Nebenwirkung sehr vieler Chemotherapien. Man unterscheidet zwischen einer moderaten Neutropenie (Neutrophile zwischen 500 und 1000 / μl) und einer schweren Neutropenie (Neutrophile < 500 / μl). Grundsätzlich erfordert die Neutropenie keine zwingenden Massnahmen. Jedoch sollten dem behandelnden Onkologen Labormesswerte mit Nachweis einer Neutropenie mitgeteilt werden. Wenn ein hohes Risiko für eine febrile Neutropenie besteht, wird durch den behandelnden Onkologen bereits bei der Planung der Chemotherapie der Einsatz von G-CSF erwogen. Für die Beurteilung des Infektrisikos ist zudem die Dauer der Neutropenie von Bedeutung. Das Risiko steigt insbesondere, wenn diese länger als eine Woche anhält. Weitere Risikofaktoren für das Auftreten einer febrilen Neutropenie sind in Tabelle 3 aufgezählt. Eine febrile Neutropenie, also das Zusammentreffen von Neutropenie und Fieber (> 38,5°C oder > 38°C zweimal peripher gemessen), ist ein onkologischer Notfall und erfordert eine sofortige Spitalzuweisung, Infekt-Diagnostik und Behandlung mit einem Breitbandantibiotikum. Grundsätzlich gilt Fieber bei Patienten unter Chemotherapie daher als Alarmsignal, und sollte stets unmittelbar abgeklärt werden.

Spezielle Nebenwirkungen

Manche der häufig eingesetzten Chemotherapeutika haben ein sehr spezifisches Nebenwirkungsprofil, so dass es konkreter Massnahmen oder Kontrollen bedarf. Anthrazykline wie z.B. Doxorubicin werden häufig in der Behandlung des Mammakarzinoms eingesetzt. Sie sind potentiell kardiotoxisch, wobei es auch hier sowohl eine akute als auch eine kumulative Kardiotoxizität gibt. Daher sollte man bei Patienten, die mit Anthrazyklinen behandelt werden, auf mögliche kardiale Symptome achten. Cisplatin ist nephrotoxisch, sodass es regelmässiger Kontrollen der Nierenfunktion bedarf. Unter einer Therapie mit Capecitabine (oralem 5-FU) kann es zu einem Hand-Fuss-Syndrom kommen, einer oft schmerzhaften Verhornung der Innenflächen von Händen und Füssen. Hier kann der Einsatz von harnstoffhaltigen Cremes Abhilfe leisten. Oxaliplatin und Taxane (Docetaxel, Paclitaxel) wiederum können periphere Polyneuropathien verursachen mit Taubheit und Kribbelparästhesien der Finger und Zehen.

Nebenwirkungen von Immuntherapeutika

Das Wirkprinzip einer Immuntherapie unterscheidet sich wesentlich von anderen onkologischen Behandlungsmethoden. Die sogenannten «Checkpoint-Inhibitoren» sind monoklonale Antikörper, die es ermöglichen, die T-Zell-Immunität gegenüber Tumorzellen zu überwinden, indem hemmende Rezeptoren/Liganden blockiert werden. So kommt es zur Enthemmung des eigenen Immunsystems, welches den Tumor nun wieder als körperfremd erkennen und attackieren kann. Entsprechend dieses Wirkprinzips unterscheidet sich auch das Nebenwirkungsspektrum der Immuntherapien wesentlich von konventionellen Therapien. So kann es durch die Aktivierung des Immunsystems zu autoimmunen Entzündungen verschiedener Organe kommen. Mögliche Manifestationen sind Dermatitis, Pneumonitis, Kolitis, Hepatitis oder auch die Entzündung endokriner Organe wie der Schilddrüse oder der Hypophyse. Die Häufigkeit hochgradiger immune related adverse events (irAE) durch Mono-Immuntherapien beträgt 7-18% (7). Daher sollte bei Patienten unter Immuntherapie stets auf klinische Symptome geachtet werden und regelmässig Leberwerte und TSH kontrolliert werden. Bezüglich klinischer Notfälle sollte insbesondere die Diarrhoe betont werden, welche bei Patienten unter Immuntherapie stets einer Abklärung bedarf. Unter einer persistierenden Diarrhoe kann es schnell zu einer deutlichen Dehydratation kommen. Es muss eine infektiöse Ursache ausgeschlossen werden und bei dem Verdacht auf eine autoimmune Kolitis frühzeitig eine Behandlung mit Kortikosteroiden erwogen werden. Daher sollte im Fall einer persistierenden Diarrhoe stets der Kontakt zum behandelnden Onkologen gesucht bzw. der Patient an ein Spital zugewiesen werden.

Dr. med. Till Wallrabenstein

St. Claraspital AG
Tumorzentrum
Kleinriehenstrasse 30
4058 Basel

tumorzentrum@claraspital.ch

Prof. Dr. med. Dieter Köberle

St. Claraspital AG
Tumorzentrum
Kleinriehenstrasse 30
4058 Basel

tumorzentrum@claraspital.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keien Interessenskonflikte deklariert.

  • Die Erstbeurteilung und Behandlung leichter bis mittelschwerer Nebenwirkungen obliegt der Verantwortung des Hausarztes
  • Febrile Neutropenie unter Chemotherapie oder persistierende Diarrhoe unter Immuntherapie sind Beispiele für schwere onkologische Notfälle und bedürfen der Spitalzuweisung
  • Bei Unsicherheiten bezüglich seltener und spezieller Nebenwirkungen sollte der Kontakt zum behandelnden Onkologen gesucht werden.

1. Roila et al. 2016 MASCC and ESMO guideline update for the prevention of chemotherapy- and radiotherapy-induced nausea and vomiting and of nausea and vomiting in advanced cancer patients. Ann Oncol 27.5: v119-v133 (2016).
2. Grothey. Oxaliplatin-safety profile: neurotoxicity. Semin Oncol 30.15: 5-13 (2003).
3. CTCAE Version 5.0. Published November 27, 2017, National Cancer Institute. https://ctep.cancer.gov/protocoldevelopment electronic_applications/docs/CTCAE_v5_Quick_Reference_8.5×11.pdf (Zugriff am 06.02.2019).
4. https://www.esmo.org/Guidelines/Supportive-and-Palliative-Care (Zugriff am 09.02.2019).
5. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen – Langversion
1.1, 2017, AWMF Registernummer: 032/054OL. http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Supportive-Therapie.95.0.html (Zugriff am 09.02.2019).
6. Krebsliga Schweiz. Medikamentöse Tumortherapien: Chemotherapien und weitere Medikamente. https://shop.krebsliga.ch/files/kls/webshop/PDFs/deutsch/medikamentoese-tumortherapien-011101012111.pdf (Zugriff am 22.03.2019)
7. Naidoo et al. Toxicities of the anti-PD-1 and anti-PD-L1 immune checkpoint antibodies. Ann Oncol 26.12: 2375–2391 (2015).
8. https://ctep.cancer.gov/protocoldevelopment/electronic_applications/docs/CTCAE_v5_Quick_Reference_8.5 x 11.pdf (Zugriff am 06.02.2019).

Therapiemöglichkeit von Funktionsstörungen des Kauorgans

Die medizinische Hypnose ist ein psychosomatisches Therapieverfahren, das sich auch zur kognitiven Schmerzbehandlung und zur Veränderung von Verhaltensmustern bei dysfunktionsbedingten Erkrankungen des Kauorgans bewährt hat. Dabei sollte die Hypnotherapie allerdings nicht als alleinstehende Behandlungsmethode gesehen, sondern im Verbund mit anderen bewährten Therapieverfahren eingesetzt werden. In der vorliegenden Arbeit werden in einer kurzen Literatur-übersicht die wissenschaftlichen Grundlagen vorgestellt und das therapeutische Vorgehen anhand von zwei Fallbeispielen illustriert.

Ätiopathogenese

Dysfunktionsbedingte Erkrankungen des Kauorgans, die auch als Myoarthropathien (MAP) oder Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) bezeichnet werden, sind durch eine komplexe Ätiopathogenese gekennzeichnet und haben in der Regel multiple Ursachen (siehe auch der informierte arzt 2014;4(11):20-22). Es besteht eine grosse Gefahr der Chronifizierung des mit der Erkrankung einhergehenden Schmerzgeschehens. Letzterem liegt eine Störung des funktionellen Gleichgewichtes zwischen Gesichts- und Kaumuskulatur, den Kiefergelenken und den Zahnreihen zu Grunde. Im Zentrum der Erkrankung steht der Muskelhypertonus (1, 2). Zu den prädisponierenden Faktoren werden systemische (Allgemeinzustand), psychische (Persönlichkeit und Verhalten) und strukturelle Rahmenbedingungen gerechnet (3). Die Einwirkung von Stressoren spielt oft eine zentrale Rolle bei der Entstehung von MAP. Der durch die Stressoren verursachte affektive Stau wird über die Zahnreihen und / oder oralen Weichteile entladen. Dies geschieht in Form von Zähneknirschen und -pressen, Zungen-, Lippen- und Wangenbeissen oder –pressen, sowie anderen Gewohnheiten (4, 5).

Hypnotherapeutische Ansätze

Aufgrund der aufgezeigten Ätiopathogenese der MAP eignet sich die medizinische Hypnose zur kognitiven Schmerztherapie und zur Veränderung von Verhaltensmustern (6-10). Dabei stehen verschiedene therapeutische Ansätze zur Verfügung:
So kann der Patient in Trance vom Schmerzgeschehen dissoziiert werden. Dies bietet ihm die Möglichkeit, unter Anleitung durch einen geschulten Hypnotherapeuten das Schmerzgeschehen aus einer neutralen Position heraus zu analysieren und kreative kognitive Lösungsansätze zur Veränderung von Schmerzqualität, -quantität sowie -häufigkeit zu finden. Durch diese Anleitung zur Selbsthypnose kann einerseits eine deutliche Linderung und ein besserer Umgang mit den Beschwerden erzielt, und andererseits die Selbstkompetenz des Patienten gefördert werden, indem er eine gewisse Kontrolle über das Schmerzgeschehen zurückerhält (11).

  • Verhaltenstherapeutisch dient die medizinische Hypnose dazu, den Patienten zur Selbsthypnose und somit zur Stärkung seiner Eigenkompetenz anzuleiten. Dabei soll die Achtsamkeit auf seinen Körper und sein Verhalten erhöht werden, was eine kognitive Veränderung von Verhaltensmustern wie orale und okklusale Parafunktionen erlaubt (11-17).
  • Zudem können in Hypnose kreative Lösungsansätze zur besseren Bewältigung und Reduktion von Alltagsstressoren gefunden und die Selbsthypnose als effektive Entspannungstherapie genutzt werden (8, 18, 19).

Experimentelle Untersuchungen zur Therapie von MAP mit Hypnose

Die folgenden Studien dokumentieren beispielhaft die Wirksamkeit hypnotischer Interventionen bei der Therapie von MAP. Simon & Lewis (7) untersuchten 28 Patienten, die auf eine konservative Therapie nicht angesprochen hatten. Schmerzintensität, -dauer und -häufigkeit sowie kraniomandibuläre Funktion wurden in der Wartephase, unmittelbar vor und nach Therapie sowie anlässlich einer Kontrolle sechs Monate später beurteilt. Die Therapie mit Hypnose umfasste eine Aufklärung über medizinische Hypnose sowie fünf Sitzungen mit Tranceinduktion durch Schliessen der Augen, Suggestionen zur Entspannung, Analgesie und Anästhesie sowie Verwendung von entspannenden sowie verhaltensändernden Metaphern. Die Patienten wurden zudem dazu angeleitet, täglich in Selbsthypnose die auf Tonträger abgespeicherte Therapie zu wiederholen. Die Datenanalyse ergab eine signifikante Reduktion der Schmerzhäufigkeit und –dauer sowie eine Verbesserung der kraniomandibulären Funktion. Es konnte auch gezeigt werden, dass die Linderung der Beschwerden sowie die Verbesserung der Funktion über sechs Monate anhielt.
Winocur et al. (8) verglichen die Hypnorelaxation mit Schienentherapie bzw. Aufklärung über MAP und deren Selbsttherapie durch Kontrolle der Bewegungsaktivität sowie Ernährung. Die Hypnorelaxation beinhaltete Suggestionen zur progressiven Muskelentspannung und Training zur Selbsthypnose mit dem Ziel, die Kiefer- und Gesichtsmuskulatur zu entspannen. 40 weibliche Patienten wurden randomisiert den drei Versuchsgruppen zugeteilt: Hypnorelaxation (n = 15), Schienentherapie (n = 15) und Aufklärung / Selbstkontrolle (n = 10). Die Schmerzstärke wurde mit einer visuellen Analogskala (VAS) vor und nach Therapie bestimmt. Die aktive Therapie mit Hypnose bzw. Aufbissschiene war effektiver als die Patientenaufklärung und -anleitung zur Selbstkontrolle. Allerdings erreichte nur die Hypnorelaxation, nicht aber die Schienentherapie, eine signifikant grössere Reduktion der Schmerzintensität im Vergleich zur reinen Patientenanleitung und -selbstkontrolle, nämlich 57% der durchschnittlichen und 51% der maximalen Schmerzintensität. In einer vergleichbaren Studie beobachteten Freesmeyer & Pfanne (19) ebenfalls eine signifikante Abnahme der Schmerzintensität und -beeinträchtigung durch Selbsthypnose und Schienentherapie. Patienten mit einer hohen Stressbelastung in der Ausgangssituation erreichten dabei positivere Behandlungsergebnisse als Patienten mit geringerer Vorlast.
Abrahamsen et al. (17) untersuchten 40 Frauen, die randomisiert einer Gruppe mit Hypnointervention und einer Kontrollgruppe mit herkömmlicher Entspannungstherapie zugeordnet wurden. Beide Gruppen erhielten über mehrere Wochen vier individuelle einstündige Sitzungen und eine auf Tonträger (CD) abgespeicherte Anleitung zur Selbsttherapie zu Hause. Diese umfasste in der einen Gruppe hypnotische Suggestionen und eine Instruktion zur Selbsthypnose, in der anderen Instruktionen zur selbständigen Anwendung von Entspannungstechniken. Die Rückführbarkeit der Symptomveränderungen auf die Suggestibilität bzw. Hypnotisierbarkeit der Probandinnen in der Hypnosegruppe wurde mit Hilfe der Harvard Group Scale of Hypnotic Susceptibility (20) untersucht. Alle Probanden führten während der gesamten Untersuchungsdauer ein Schmerztagebuch, mit Beginn sieben Tage vor der ersten therapeutischen Intervention. Dabei wurde die mittlere tägliche Schmerzstärke zwischen den beiden Gruppen verglichen. Die schmerzverändernden Strategien der Probanden wurden vor und nach Therapie mittels eines speziellen Fragebogens analysiert. Im Weiteren erfolgte die Erhebung des funktionellen und psychologischen Status, der Schlafqualität und einer etwaigen Pharmakotherapie.
Es konnte gezeigt werden, dass die Schmerzintensität in der Hypnosegruppe mit 50,4% signifikant gesenkt werden konnte, nicht aber in der Kontrollgruppe, in welcher eine Schmerzverstärkung von 0,7% auftrat. 26% der Probandinnen in der Hypnosegruppe erreichten eine Schmerzreduktion von 75%. Niemand in der Kotrollgruppe erzielte dieses Niveau der Schmerzminderung. 52% in der Hypnose-, und lediglich 5% in der Kontrollgruppe gelang eine Schmerzsenkung von 50%. Die Probandinnen in der Hypnosegruppe waren eindeutig kreativer und besser in der Lage, ihre schmerzverändernden Strategien zu optimieren als jene in der Kontrollgruppe. Bei Letzteren wurden keine Veränderungen in der Anwendung der instruierten Methoden beobachtet. Beide Gruppen zeigten eine signifikante Reduktion der Zahl auf Palpation schmerzhafter Muskelstellen sowie der Häufigkeit schmerzbedingter Unterbrechungen des Schlafes. Angstsymptome nahmen in den zwei Gruppen in vergleichbarer Weise ab. Vier Hypnoseinterventionen genügten somit, um den Umgang mit den Schmerzen deutlich zu verbessern und eine signifikante Verminderung der täglichen Schmerzintensität zu erreichen. Nebenwirkungen traten keine auf. In einer ähnlichen früheren Arbeit konnten Stam et al. (18) keinen Unterschied in der Schmerzreduktion zwischen hypnotischer und konventioneller Verhaltenstherapie feststellen. Die medizinische Hypnose scheint somit eine effektive und mit konventionellen Verfahren vergleichbare Therapiemethode zu sein, um MAP-bedingte Schmerzen zu behandeln (21, 22).
In einer weiteren vergleichbaren Studie mit 44 Probanden konnte Abrahamsen et al. (16) auch für die Behandlung idiopathischer orofazialer Schmerzzustände einen signifikanten Behandlungserfolg mit medizinischer Hypnose nachweisen. Die mit einer VAS bestimmte Schmerzstärke reduzierte sich in der Hypnosegruppe um 33,1%, in der Kontrollgruppe lediglich um 3,2%. Probanden mit hoher Suggestibilität und Hypnotisierbarkeit erreichten eine grössere Schmerzreduktion (55%) als solche mit geringeren Werten (17,9%). Bezüglich der Schmerzareale und dem Gebrauch von Schmerzmitteln bestanden ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen den zwei Gruppen. Die Berichte über die Lebensqualität waren dagegen vergleichbar.

Fallbeispiel 1: Hypnoseintervention mit verhaltensändernder Metapher

Anamnese: Eine 43jährige Patientin litt unter Bruxismus, der hauptsächlich auf eine schwere, berufsbedingte psychische Belastung zurückzuführen war. Eine Überlastung der Kaumuskulatur mit Kiefer-, Gesichts- und Kopfschmerzen waren die Folge. Eine Anleitung zur Selbstbeobachtung und Selbsttherapie mit Wärme und Muskelmassage führte nur zeitweise zu einer Linderung der Beschwerden, da die Mitarbeit der Patientin aus verschiedenen Gründen ungenügend war. Deshalb wurde eine Intervention in Hypnose beschlossen mit dem Ziel, die Achtsamkeit gegenüber den psychischen Stressoren und der Reaktion des eigenen Körpers auf diese zu stärken. Zudem erhoffte man sich auf diese Weise auch eine Reduktion von Stärke und Häufigkeit der Migräneanfälle, denen die Patientin ebenfalls regelmässig ausgesetzt war. Als Metapher in der Trance sollten in Analogie zum Bruxismus die mahlenden Steine einer Mühle zur Anwendung gelangen.

Tranceprotokoll: Der Patientin wurde in Trance eine Mühle suggeriert, deren Wasserrad durch den Bach angetrieben wurde. In der Mühle konnte die Patientin das Mahlen des Korns zwischen den Mühlsteinen beobachten, in Analogie zur Zerkleinerung der Nahrung durch die Zähne. Dabei wurde ihre innere Aufmerksamkeit auf einen Hebel gerichtet, mit dessen Hilfe die Mühlsteine immer dann getrennt werden konnten, wenn sich kein Korn mehr zwischen diesen befand. Der Patientin wurde nun in Trance angeboten, für sich selbst einen Hebel zu finden, der dafür sorgen würde, immer dann ihre Zahnreihen voneinander zu trennen, wenn es keine Nahrung zu kauen galt. Schliesslich sollte sie diesen Hebel irgendwo in oder an sich verankern, sodass ihr dieser jederzeit zur Vermeidung des Bruxismus zur Verfügung stehen würde.

Verlauf: In den ersten zwei Tagen nach der Hypnosesitzung wurde die Patientin ständig vom Rauschen eines Baches und dem Rattern einer Mühle begleitet. Zudem sah sie in jedem länglichen Gegenstand ihren Hebel. Danach verschwanden die Geräusche und das Bild des Hebels wieder. Die Patientin war zwar nicht mehr in der Lage, sich den Hebel zu visualisieren, der Bruxismus trat jedoch nicht mehr auf und die Gesichtsschmerzen gingen zurück. Auch die Häufigkeit und Intensität der Migräneanfälle nahmen ab. Die Patientin beobachtete an sich während über einem Jahr keine parafunktionellen Aktivitäten mehr. Danach trat der Bruxismus wieder auf. Eine einmalige Wiederholung der Trance führte zur erneuten Beschwerdefreiheit.

Fallbeispiel 2: Hypnoseintervention zur Verbesserung der Stressbewältigung

Anamnese: Eine 46jährige Patientin klagte im Rahmen der Anamnese über Kiefer-, Gesichts- und Kopfschmerzen sowie Verspannungen im Hals-, Nacken- und Schulterbereich. Die Befundaufnahme sowie die zu Beginn verordnete Selbstbeobachtung ergaben die Diagnose eines myofascialen Schmerzsyndroms mit Stressoreneinwirkung als primäre Ursache. Die Selbsttherapie erlaubte zwar das Erkennen belastender Alltagssituationen, reichte aber zur Entspannung der Muskulatur nicht aus. Deshalb wurde eine hypnotische Intervention zur Verhaltensänderung bzw. zur besseren Stressverarbeitung ins Auge gefasst.

Tranceprotokoll: Die ersten zwei Trancesitzungen dienten der Verankerung und Vertiefung eines sicheren Rückzugsortes im Unterbewussten. Aufgrund der im Vorgespräch evaluierten Freizeitneigungen schlug man der Patientin ein Segelschiff auf dem Meer als sicheren Ort vor. Die Evaluation dieser ersten Trance ergab, dass das Steuern des Segelschiffes die Patientin überforderte. Deshalb wurde in der zweiten Sitzung mit dem Bild eines Seevogels gearbeitet, der frei und unbeschwert über das weite Meer fliegen konnte, wohin er wollte. Entscheidend waren dabei zwei Aspekte: einerseits das Bewusstsein, dass der Vogel zum Fliegen praktisch keine Kraft benötigte und sich völlig entspannt von der vom Meer aufsteigenden warmen Luft tragen lassen konnte, und andererseits die Möglichkeit, durch Aufsteigen in den weiten Himmel Distanz schaffen zu können zwischen sich selbst und den Problemstellungen auf der Erde (Dissoziation).
In Trance wurde daran gearbeitet, die entspannte Haltung des Seevogels zur Relaxation der gesamten Körpermuskulatur sowie im Speziellen der Kopf-, Hals- und Nackenmuskulatur zu nutzen. Zudem wurde geübt, mit Hilfe der Dissoziation Stress auslösende Herausforderungen aus einer anderen, nicht direkt involvierten Perspektive analysieren zu können. Die Patientin wurde aufgefordert, die erlebte Trance im Alltag regelmässig zu wiederholen. In der dritten Sitzung wurde der geschützte Kontext des sicheren Ortes, also das Fliegen über dem weiten Meer, dazu benutzt, eine schwierige Alltagsituation aus der Distanz zu analysieren, um neue Strategien für eine bessere Situationsbewältigung entwickeln zu können.

Verlauf: Die Patientin gelangte mit Hilfe dieser Anleitung zur Selbsthypnose in die Lage, ihren Körper und dabei insbesondere auch die Kopf- und Halsmuskulatur selbst in Stress belasteten Situationen immer besser entspannen zu können. Die Spannungsgefühle und Muskelschmerzen am Kopf verschwanden innerhalb weniger Wochen vollständig. Zudem setzte sie gezielt und kreativ die Möglichkeit der Dissoziation in schwierigen Alltagssituationen ein. Sie erarbeitete auf diese nachhaltige Weise bessere Lösungsansätze und einen abgeklärteren Umgang bei der Bewältigung von bisher belastenden Problemstellungen des Alltags. Sie fand in der Folge die Kraft, die unbefriedigende Arbeitsstelle zu kündigen und eine neue berufliche Herausforderung mit wieder gewonnener Zuversicht und Freude anzunehmen.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die medizinische Hypnose darf aufgrund der zur Verfügung stehenden Evidenz wissenschaftlicher Untersuchungen als eine geeignete Methode zur nachhaltigen Therapie von MAP betrachtet werden
  • Dabei ist aber zu betonen, dass die medizinische Hypnose nicht als alleinstehende Behandlungsmethode zu verstehen, sondern im Verbund mit anderen bewährten Therapieverfahren zu sehen ist
  • Schliesslich soll darauf hingewiesen werden, dass die Anwendung medizinischer Hypnose im zahnärztlichen Praxisalltag eine fundierte Ausbildung in diesem Heilverfahren voraussetzt. Eine Liste geeigneter Therapeuten kann bei der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose SMSH (http://www.smsh.ch) bezogen werden.

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Sinnvolle Phytotherapie in der Hausarztpraxis

Die moderne Phytotherapie versucht, traditionelle Erfahrung mit neuen Erkenntnissen aus wissenschaftlicher Forschung zu vereinen. In den letzten 50 Jahren hat sich die Phytotherapie in der Schweiz zu einer sinnvollen Alternative und wertvollen Ergänzung der Schulmedizin entwickelt, die jedem Arzt, bzw. Ärztin zur Verfügung steht. Die SMGP vermittelt dieses Wissen seit 30 Jahren in ihren Kursen auf einem anerkannt hohen akademischen Niveau für Ärzte und Apotheker. Diese Kurse können mit dem Fähigkeitsausweis Phytotherapie (SMGP) mit Anerkennung durch das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) der FMH abgeschlossen werden.

Ausgewählte Pflanzen wurden seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte als Arzneimittel bei Erkrankungen erfolgreich eingesetzt. Das empirisch gewonnene Wissen über die heilende Wirkung spezieller Pflanzen wurde über Jahrhunderte zuerst mündlich, später durch schriftliche Aufzeichnungen weitergegeben. Dies von der Arzneipflanzenbeschreibung des Dioskurides in der Antike, über die Kräuterbücher des Mittelalters, bis zu den aktuellen ESCOP Monographien (1) zu Arzneipflanzen der EU. Auch die heutigen, synthetischen Medikamente der modernen Medizin wären ohne die Erfahrungen aus der Pflanzenheilkunde so nicht denkbar. Der grösste Teil der chemischen Medikamente stammt ursprünglich aus der Pflanzenwelt.
Mensch und Pflanzen besitzen seit jeher eine enge Beziehung, sei es als Nahrung oder als Blumen, die mit ihren duftenden Blüten unsere Sinne erfreuen. Diesen speziellen und einzigartigen Zugang zum Patienten gilt es als Phytotherapeut zu nutzen, indem die wissenschaftlich nachgewiesene Wirkung einer Arzneipflanze mit der Signatur, dem Wesen der Pflanze kombiniert wird. Dafür muss sich die Therapeutin, der Therapeut die nötige Zeit und Geduld nehmen und sich auf den Menschen in seiner Krankheit einlassen. Dann kann man aus einem grossen Angebot von Arzneipflanzen, diejenigen wählen, die zur Erkrankung wie auch zum Patienten als Mensch und Individuum passen.
Für einen sinnvollen und unkomplizierten Einstieg in die Phytotherapie eignen sich insbesondere die in der Spezialitätenliste (SL) im Kapitel 51–62 Komplementärmedizin (2) aufgeführten gut dokumentierten Arzneimittel. Dies gilt sowohl für die konfektionierten pflanzlichen Arzneimittel, als auch für Teezubereitungen und Tinkturen.

Beispiele aus der Praxis

Um einen Einstieg in die moderne Phytotherapie zu erleichtern, möchte ich beispielhaft die Anwendung von zwei häufig eingesetzten Arzneipflanzen etwas näher beleuchten.
Johanniskraut (Hypericum perforatum) hat sich nicht nur bei Hausärztinnen und Hausärzten als geeignetes Mittel zur Behandlung von Verstimmungszuständen erwiesen. Vor einigen Jahren wurde zusätzlich die Indikation für die Behandlung von leichten bis mittelschweren Depressionen international anerkannt (3). Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP empfiehlt in ihren Richtlinien neu auch Johanniskraut-Extrakte mit Evidenz Level A für die Akutbehandlung depressiver Episoden (4).
Depressive Störungen werden oft spät erkannt und speziell bei Kindern und Jugendlichen zudem nur ungenügend behandelt (5). Die klassischen Antidepressiva sollten in dieser Gruppe restriktiv und nur nach individueller Abklärung von Nutzen und Nebenwirkungen gegeben werden, da sie nur geringfügig besser als Placebo wirken und schwerwiegende Nebenwirkungen haben können (6). Johanniskraut wirkt aber nicht nur antidepressiv, sondern besitzt auch eine angstlösende Wirkung (7), ohne eine Abhängigkeit zu erzeugen. Diese duale Wirkung gilt es auszunutzen. Deshalb eignet sich Johanniskraut als Extrakt (8) oder als Tee ganz besonders bei Kindern (ab 6 Jahren) und Jugendlichen. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass Johanniskraut-Tee weitgehend gleiche Inhaltstoffe enthält wie die konfektionierten Präparate. Mit täglich 2–3 Tassen Hypericum-Tee können ähnliche Mengen an Wirkstoffen (Hypericin und Flavonoide) verabreicht werden. In der Praxis lassen sich damit vergleichbare Erfolge erzielen.
Leichtere Fälle, wie psychische Verstimmungszustände und verschiedene psychosomatische Erkrankungen eignen sich für eine phytotherapeutische Behandlung durch den Hausarzt, bzw. Hausärztin. Diese Gruppe berichtet sehr häufig über unangenehme Nebenwirkungen einer medikamentösen Behandlung. Hier besitzt die Phytotherapie mit ausgesprochen geringen Nebenwirkungen einen entscheidenden Vorteil. Eine stützende Gesprächstherapie wird durch den Einsatz eines geeigneten Phytopräparates mehr als nur unterstützt.
Mit ihrem geringen Nebenwirkungspotential sind pflanzliche Arzneimittel für Mischungen, bzw. Kombinationen verschiedener Pflanzen besonders geeignet. Dadurch kann man viel besser auf das individuelle Beschwerdebild des Patienten eingehen.
Eine bewährte Mischung ist z.B. Baldrian zur Behandlung von Schlafstörungen, Passionsblume bei nervöser Unruhe und Zitronenmelisse zur allgemeinen Beruhigung. Schlafstörungen mit nervöser Unruhe sind ein Symptomenkomplex, wie er häufig in der hausärztlichen Praxis vorkommt.
Weissdorn (Crataegus monogyna/laevigata) ist ein weiteres bewährtes und gut dokumentiertes Arzneimittel der Phytotherapie, der bei kardialen Beschwerden und Erkrankungen eingesetzt werden kann. Allgemein bekannt ist die gute Wirkung bei störenden nächtlichen Palpitationen. Weniger bekannt dürfte die nachgewiesene Wirkung bei Herzinsuffizienz und Durchblutungsstörungen am Herzen sein. Weissdorn und Digitalis gehören zu den wenigen positiv-inotropen Substanzen, die dem Arzt zur Verfügung stehen. Zudem besitzt Crataegus, im Gegensatz zu Digitalis, eine sehr grosse therapeutische Breite und dies praktisch ohne Interaktionen oder Nebenwirkungen.
Weissdornpräparate können deshalb ergänzend zu den üblichen Herzmedikamenten eine spürbare Besserung der Beschwerden und damit der Erkrankung insgesamt bringen. Sinnvolle Einsatzmöglichkeiten sind bei leichten Herzrhythmusstörungen, bei leichter Angina pectoris, aber auch bei Herzinsuffizienz (Stadium I-II) (9) gegeben.
Weissdorn kann auch in Kombination mit Hopfen, Passionsblume und Baldrian bei nächtlichen nervösen Herzstörungen erfolgreich eingesetzt werden.

Allgemeine Eigenschaften pflanzlicher Heilmittel

Im Gegensatz zu chemisch-synthetischen Pharmaka mit einem einzigen Wirkstoff, bestehen alle Pflanzen aus einer Vielzahl von komplexen natürlichen Stoffen. Pflanzliche Arzneimittel sind deshalb immer Vielstoffgemische und können nicht auf einen einzigen Wirkmechanismus reduziert werden. Phytopräparate besitzen deshalb ein breites Spektrum mit einem Zusammenspiel verschiedener Wirkmechanismen.
Die moderne Medizin stellt vermehrt neben der direkten Wirkung auf eine Krankheit auch die Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit des Patienten ins Zentrum ihrer Studien. Durch den sinnvollen Einsatz von pflanzlichen Arzneimitteln wurde in zahlreichen Studien eine Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit nachgewiesen. Die moderne Hausarztmedizin muss sich vermehrt um den Menschen kümmern und sich damit auch der Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens widmen. Pflanzliche Arzneimittel können komplementär, d.h. in Ergänzung zu Medikamenten der Schulmedizin sinnvoll eingesetzt werden.
In der Schweiz stehen der behandelnden Ärztin, dem behandelnden Arzt neben den Phytopräparaten der SL auch Tinkturen, Tees und andere Zubereitung der entsprechenden Arzneipflanzen zur Verfügung. In der ALT (Arzneimittel mit Tarif) (10), wird basierend auf den Qualitätsvorgaben der europäischen Pharmakopöe zusätzlich eine grosse Anzahl pflanzlicher Wirkstoffe für die Rezeptur aufgelistet. Diese müssen durch die Krankenversicherungen vergütet werden.
Ein besonderes Augenmerk ist auf die Qualität der Zubereitung zu richten. Empfehlenswert sind zugelassene Präparate anerkannter Hersteller von pflanzlichen Arzneimitteln. Die Schweizerische medizinische Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP) (11) publiziert aktuelle Listen und Hinweise zu den in der Schweiz zugelassenen Präparaten auf ihrer Homepage und im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildung. https://www.smgp.ch/smgp/homeindex/arzneimittel.html

Phytotherapie Ausbildung

Wie jede Behandlung benötigt auch die Phytotherapie gewisse Grundkenntnisse. Zur sinnvollen Verwendung von Arzneipflanzen sollte die behandelnde Ärztin, bzw. der behandelnde Arzt die Wirkung der Pflanze nicht nur kennen, sondern sie auch dem Patienten erklären und näherbringen können.
Die SMGP vermittelt dieses Wissen seit 30 Jahren in ihren Kursen auf einem anerkannt hohen akademischen Niveau für Ärzte und Apotheker. Diese Kurse können mit dem Fähigkeitsausweis Phytotherapie (SMGP) mit Anerkennung durch das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) der FMH (12) abgeschlossen werden. Verschiedene Fachgesellschaften, wie zum Beispiel die SGAIM vergibt Fortbildungscredits für die Kurse der SMGP.

Dr. med. Valerio Rosinus

Birchiweg 10
3984 Fiesch

valerio.rosinus@bluewin.ch

Der Autor hat Interessenskonflikte verneint.

  • Die heutige Phytotherapie versteht sich als Teil der modernen Medizin und kann von jedem Arzt, jeder Ärztin eingesetzt werden.
  • Neben den Phytopräparaten der SL, stehen zahlreiche Arzneipflanzen auch in der ALT (Arzneimittel mit Tarif) z.B. als Tee oder Tinktur für die Rezeptur zur Verfügung. Diese müssen durch die Krankenversicherungen vergütet werden.
  • Die SMGP bietet in ihren Kursen eine Weiterbildung mit Fähigkeitsausweis Phytotherapie und Anerkennung durch das SIWF der FMH an.

1. European Scientific Cooperative on Phototherapy ESCOP: www.escop.com
2. Bundesamt für Gesundheit. SL Spezialitätenliste: Kapitel 51-62, sowie Kapitel 70. www.spezialitätenliste.ch
3. Linde K. et al. St.John`s wort for depression. Cochrane Reviews 2008,Issue 4. Article No. D000448
4. Richtlinien der SGPP: Die Akutbehandlung depressiver Episoden. Swiss Med Forum 2016 ;16(35) 716-724
5. Depressionen in der Schweizer Bevölkerung; Obsan Bericht Nr. 56; 2013
6. Uni-Basel: 2017 Neue Studie zu Placeboeffekt und Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen; www.unibas.ch/de/Aktuell/News/Uni-Research/Neue-Studie-zu-Placeboeffekt-und-Antidepressiva.html
7. Friede M. Wüstenberg P. Johanniskraut zur Therapie des Angstsyndroms bei depressiven Verstimmungen. Z Phytother 1998 ;19; 309-317
8. Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen: Stellenwert von Johanniskraut-Extrakt; Schweiz. Zschr. Ganzheitsmedizin 2009; 21(6) S 272-273
9. Th. Eggeling: Evidenz spricht für Weissdorn-Spezialextrakt. EHK 2012; 61(3): 133-139
10. ALT Arzneimittel-Liste mit Tarif https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/begriffe-a-z/arzneimittelliste-mit-tarif.html
11. Website der SMGP: https://www.smgp.ch/smgp/homeindex/arzneimittel.html
12. SIWF FMH; https://www.fmh.ch/bildung-siwf/fachgebiete/faehigkeitsausweise.html

Welcher Typ Diabetes mellitus liegt vor?

Ausgangssituation:

Bei einem 49-jährigen kaufmännischen Angestellten wurde 2015 bei einer Routineuntersuchung zufällig ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert. Damals wurden ihm bei einem HbA1c von 6.6% Metformin 2 x 1g/Tag und im weiteren Verlauf Janumet 50/1000 mg 2 x pro Tag verschrieben. Darunter blieb das HbA1c praktisch unverändert. Vor ca. 5 Monaten wurde ihm zusätzlich zu Janumet noch Jardiance 10 mg/Tag gegeben. Er hatte beide Präparate gut vertragen, aber das HbA1c blieb in etwa stabil bei ungefähr 6.5%.
Der Patient ist sportlich, geht regelmässig Fussball spielen. Es stört ihn, dass er seit der Diagnose des Diabetes 2015 ca. 6 kg an Gewicht abgenommen hat, obwohl er etwa gleich viel trainiert und die Kohlenhydrate ein wenig reduziert hat. Er fühlt sich ständig müde und abgeschlagen. Er trinkt wenig Alkohol (höchstens 1 Standarddrink pro Woche) und hatte nie Oberbauchschmerzen in der Vorgeschichte.

Persönliche Anamnese

Diabetes mellitus Typ 2 seit 2015 ohne Sekundärorganschäden. Gicht.

Familienanamnese

Vater mit Diabetes mellitus Typ 2, Diagnose im 35. Lebensjahr, aktuell unter Insulintherapie, sei immer schlank gewesen.

Aktuelle Medikation:

Allopurinol 300 mg p.o. 1-0-0 unregelmässig genommen
Janumet 50/1000 mg p.o. 1-0-1
Jardiance 10 mg p.o. 1-0-0

Status:

Grösse 183 cm, 69 kg, BMI 20.6 kg/m2, BD 118/75, Puls 56/min, PSR u. ASR symmetrisch, Monofilament 10/10 bds., Vibrationssinn 7/8 bds., Bauchumfang 84 cm.

Labor:

HbA1c 6.3%
eGFR nach CKD-EPI 72 ml/min
LDL 2.6 mmol/L
HDL 1.5 mmol/L
Triglyceride 1.13 mmol/L

Bestehen Zweifel an der Diagnose des Diabetes Typ 2? Weitere therapeutische und diagnostische Überlegungen?

 

  • Bei einem BMI von 20.6 kg/m2 und einem Bauchumfang < 94 cm liegt kein metabolisches Syndrom vor.
    Der ungewollte Gewichtsverlust unter der etablierten OAD mit Metformin, Sitagliptin und Empagliflozin bei unverändertem HbA1c ist für einen klassischen Diabetes mellitus Typ 2 nicht typisch. Bei Gewichtsverlust von 6 kg wäre eine Senkung des HbA1c von mindestens 1-2% zu erwarten.
  • Das hohe HDL-Cholesterin und die normwertigen Triglyceride sprechen gegen einen Diabetes mellitus Typ 2. Typischerweise zeigen sich bei einem
  • Diabetes mellitus Typ 2 ein tiefes HDL-Cholesterin (< 0.9 mmol/L) und erhöhte Triglyceride (> 1.7 mmol/L) im Nüchternlipidstatus. Das LDL-Cholesterin ist zur Differenzierung gar nicht so relevant.
  • Familienanamnese: schlanker Vater, der seit jungen Jahren einen Diabetes mellitus Typ 2 hat, was Zweifel am Diabetes-Typ des Vaters aufkommen lässt.
  • Ist die Indikation eines SGLT-2-Blockers für den Patienten gut? Bei potenziell schlechter Insulinsekretion kann der SGLT-2-Blocker zu einer Zunahme des Glukagons und zur vermehrten Ketogenese und zu vermehrten euglykämen Ketoazidosen führen.

Zusammenfassend

ist die Diagnose eines Diabetes mellitus Typ 1 anhand der Anamnese wahrscheinlich. Die Diabetes-Autoantikörper (Anti-GAD, -IA2, -ZnT8, -Pankreas Inselzellen) waren negativ. Diese sind bei 10-15% aller Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 positiv. Anamnestisch gibt es keine Hinweise auf einen spezifischen Diabetes mellitus (normales Ferritin/Transferrinsättigung schliesst Hämochromatose aus; ein Fehlen von Bauchschmerzen und normaler Stuhl (kein Fettstuhl) spricht gegen chronische Pankreatitis). Nach Sistieren der etablierten oralen Antidiabetika und Beginn zuerst mit Basisinsulin und im weiteren Verlauf mit Bolusinsulin, hat unser Patient wieder sein athletisches Körpergewicht wie vor der Diagnose des Diabetes mellitus bekommen. Zudem ist die Müdigkeit verschwunden.

Prof. Dr. med.Roger Lehmann

UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zurich

Roger.Lehmann@usz.ch

Dr. med. Matthias Ernst

USZ Zürich

matthias.ernst@usz.ch

RL: Teilnahme an Advisory Boards und Referentenhonorare von Novo Nordisk, Sanofi, MSD, Boehringer Ingelheim, Servier und Astra Zeneca
ME: Reise- und Kongressspesen von Eli Lilly und Ipsen.

  • Bei schlanken Patienten an einen Diabetes mellitus Typ 1 oder bei rezidivierenden Bauchschmerzen, Fettstühlen oder erhöhtem Alkoholkonsum an einen spezifischen Diabetes (pankreatopriver Diabetes) denken. Bei Verdacht auf Pankreasinsuffizienz kann die Pankreaselastase-1 im Stuhl bestimmt werden.
  • In der Anamnese immer nach Gewicht/BMI der Diabetiker in der Familie fragen und bei schlanken Diabetikern genauer nachfragen. Weiter ist daran zu denken, dass ein Kind, bei dem ein Elternteil einen Diabetes mellitus Typ 1 hat, ein Risiko von ca. 3-6% hat, auch daran zu erkranken.
  • Der Nüchtern-Lipidstatus hilft zur Differenzierung von einem Diabetes mellitus Typ 2 versus einen Diabetes mellitus Typ 1 oder einen
    spezifischen Diabetes.

10 Jahre SGAD – State of the Art

Anlässlich des diesjährigen Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD), dem 10-jährigen Jubiläum, setzte die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) den State of the Art bei den Behandlungsstandards sowie bei den aktuellen Entwicklungen und Fortschritten im Verständnis der häufigsten psychischen Störungen Angst und Depression ins Zentrum.

Seit genau 10 Jahren erbringt die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) wichtige Aufklärungs- und Fortbildungsarbeit zu den häufigsten psychischen Störungen. Auch am Jubiläumssymposium erhielten Psychiater und Hausärzte einen auf sie zugeschnittenen Überblick zu den neusten Entwicklungen.

State of the Art bei Angststörungen – Schwerpunkt Epigenetik

Prof. Dr. Dr. med. Katharina Domschke M.A. (USA), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg, präsentierte spannende Einblicke in die Interaktion zwischen Genetik und Umwelteinflüssen bei der Entstehung von Angsterkrankungen. Genetische Faktoren spielen eine grosse Rolle. Hunderte von Genen sind dafür bekannt, dass sie in einem komplexen Zusammenspiel das Risiko für eine Angsterkrankung erhöhen. Ist eine gewisse genetisch bedingte Vulnerabilität vorhanden, können soziale Ereignisse und Umweltfaktoren dazu beitragen, die Schwelle zur Erkrankung zu überschreiten. Doch wer übernimmt die Aufgabe des Dolmetschers zwischen genetischer Prädisposition und psychosozialen Risikofaktoren? Sogenannte epigenetische Modifizierungen. Dies sind biochemische Veränderungen der DNA und deren Raumstruktur, welche die Genaktivität und damit die Proteinproduktion steuern. Eine Art der epigenetischen Modifizierung ist die Methylierung von regulatorischen DNA-Sequenzen (Promotoren). Ist ein Promotor methyliert, wird das entsprechende Gen weniger aktiv abgelesen. Wird die Methylierung entfernt, steigt die Genaktivität. Dieser Zusammenhang konnte für das Monoaminooxidase-A-Gen (MAOA), ein bekanntes Risikogen für Angsterkrankungen, bestätigt werden. Der MAOA-Methylierungsstatus im Blut korreliert negativ mit der MAOA-Aktivität im Gehirn. Und diese hat wiederum Auswirkungen auf neurobiologische Prozesse, die entscheidend für den psychischen Gesundheitsstatus sind. So wurde bei Patienten mit Panikerkrankungen oder Depressionen im Vergleich zu Gesunden ein niedriger MAOA-Methylierungsstatus festgestellt, welcher somit als Marker oder Risikofaktor für diese Erkrankungen gelten könnte. Zudem kann der MAOA-Methylierungsstatus als Prädiktionsfaktor für das Ansprechen auf eine SSRI-Therapie bei Depression dienen: Patienten mit niedrigem MAOA-Methylierungsstatus erzielten nämlich schlechtere Therapieerfolge als Patienten mit hohem Methylierungsstatus.
Eindrücklich zeigte Prof. Domschke auf, dass epigenetische Modifizierungen durch Lebensereignisse dynamisch verändert werden können: So korreliert die Erfahrung von subjektiv negativen Lebensereignissen mit einem verminderten MAOA-Methylierungsstatus. Positive Lebensereignisse hingegen korrelieren mit einem erhöhten MAOA-Methylierungsstatus. Auch Psychotherapie kann Methylierung wiederherstellen: Es wurde gezeigt, dass Menschen mit einer Panikstörung, die auf eine kognitive Verhaltenstherapie ansprachen, nach der Therapie eine signifikante Erhöhung der MAOA-Methylierung aufwiesen. Bei denjenigen Patienten, die nicht auf die Therapie ansprachen, blieb sie hingegen gleich oder nahm sogar ab.

Prädiktion und Entwicklung von Depressionen im Jugend- und Erwachsenenalter

Prof. Dr. med. Martin Preisig, Psychiatrische Universitätsklinik Lausanne, befasst sich zusammen mit seiner Forschungsgruppe seit über 20 Jahren mit der Frage, welche prädiktiven Faktoren die Entstehung von unipolaren oder bipolaren Affektstörungen begünstigen. Die Identifikation und Kenntnis von modifizierbaren Risikofaktoren ist wertvoll, da dies eine Möglichkeit für präventive Massnahmen darstellt. So ist das Risiko für Kinder, bei denen ein Elternteil eine bipolare Störung (Manie/Hypomanie) hat, um den Faktor 9 erhöht, ebenfalls an dieser Störung zu erkranken. Für Kinder mit einem depressiven Elternteil ist das Risiko immer noch mehr als doppelt so hoch. Generell haben bipolare Störungen oder Depressionen ihren Ursprung bereits im frühen Kindesalter. Die Prädiktoren für bipolare Störungen und Depression sind dabei unterschiedlich. So ist bei Manien/Hypomanien eine bipolare Störung der Eltern und/oder eine schon vorhandene Depression ein ausgeprägter prädiktiver Faktor. Bei Depressionen hingegen spielen Psychotraumata, wie etwa sexueller Missbrauch oder Gewalt in der Familie, eine grössere prädiktive Rolle.
Im Gegensatz dazu ist die Prädikation einer Depression bei Erwachsenen vom Subtyp der Depression abhängig. So sind bei einer unspezifischen Depression Life Events prädiktiv, wohingegen bei der melancholischen Depression Neurotizismus und vorgängige unterschwellige depressive Syndrome eine Rolle spielen. Bei der atypischen Depression ist zusätzlich zu Neurotizismus und vorgängigen unterschwelligen depressiven Syndromen auch ein erhöhter BMI prädiktiv. Zusammenfassend sind die prädiktiven Faktoren von Depressionen im Jugend- und Erwachsenenalter sehr unterschiedlich und bieten so eine Möglichkeit die Krankheit gezielt abzuwenden.

Omega-3-Fettsäuren gegen mittelgradige und schwere Depressionen im Kindes- und Jugendalter

PD Dr. med. Gregor Berger, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich, betonte, dass Depressionen bei Kindern und Jugendlichen häufig nicht oder falsch diagnostiziert werden. So erfüllt beispielsweise ein Grossteil der Kinder und Jugendlichen mit der Diagnose «Anpassungsstörung» auch die Kriterien einer – zumindest leichten – Depression. Zur Problematik bei der Diagnosestellung kommt erschwerend eine bei Kindern und Jugendlichen sehr eingeschränkte Zahl an pharmakologischen Therapieoptionen hinzu. So ist in der Schweiz kein Antidepressivum zur Behandlung der klinischen Depression zugelassen. Dabei wäre gerade bei dieser Patientengruppe eine optimale, langfristige Behandlung der Schlüssel zum Erfolg. Nach der ersten depressiven Episode erleidet die Hälfte der Betroffenen eine zweite Episode. Nach der zweiten Episode erhöhte sich das Risiko für eine zusätzliche Episode bereits auf 80% und man kann von einer Chronifizierung ausgehen. Spätestens nach der dritten depressiven Episode ist eine lebenslange Rückfallprophylaxe empfohlen.
PD Dr. Berger forscht intensiv zur antidepressiven Wirkung von Omega-3-Fettsäuren bei Kindern und Jugendlichen und leitet die derzeit laufende multizentrische Schweizer Studie Omega-3-pMDD – mit einer angestrebten Zahl von 220 eingeschlossenen depressiven Kindern und Jugendlichen die grösste Studie dieser Art weltweit. Die Omega-3-pMDD-Studie ist randomisiert und placebokontrolliert. In der Behandlungsgruppe werden zusätzlich zur Basistherapie die beiden Omega-3-Fettsäuren Eicosapentaensäure (eicosapentaenoic acid, EPA, 1000 mg täglich) und Docosahexaensäure (docosahexaenoic acid, DHA, 500 mg täglich) verabreicht. Die bisherige Evidenz zur antidepressiven Wirkung von mehrfach ungesättigten Fettsäuren legt nämlich nahe, dass EPA einen Anteil von mindestens 60% der Gesamtmenge ungesättigter Fettsäuren ausmachen sollte und dass eine Kombination von EPA und DHA effektiver ist als EPA bzw. DHA allein. Die Omega-3-pMDD-
Studie wird untersuchen, ob besonders Kinder und Jugendliche, die einen vorbestehenden Mangel an Omega-3-Fettsäuren oder einen erhöhten inflammatorischen Grundstatus haben, von dieser neuen Therapieoption profitieren.

Quelle: 10th Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD), 4. April 2018, Zürich

Sonia Fröhlich de Moura

Roger Konrad

Die Zukunft der Selbstdispensation – mit oder ohne Marge?

An unserer diesjährigen APA-Informationsveranstaltung im März durften wir wieder über 120 Gäste begrüssen. Das Thema des Anlasses lautete «Die Zukunft der Selbstdispensation – mit oder ohne Marge?».

Vermeidung von Fälschungen

Dr. René P. Buholzer, Direktor der Interpharma, berichtete über das Engagement der Pharmaindustrie bezüglich der Einführung eines Systems zur Verhinderung von Medikamentenfälschungen, des Aufbaus von Pflichtlagern zur Verringerung von Versorgungsengpässen sowie bezüglich eines rascheren Zugangs zu Innovationen.

Neuer QR-Code

Seit Februar dieses Jahres werden Arzneimittel in der EU mit speziellen QR-Codes ausgestattet, so dass Fälschungen erkannt werden. Dieselben Codes kommen auch in der Schweiz zur Anwendung. «Die Pharmaindustrie leistet so einen wichtigen Beitrag zur Medikamentensicherheit», sagte Dr. Buholzer. Dabei sei sie jedoch auf die Mithilfe der Ärzteschaft angewiesen. Er hoffe, dass der «Check-out» aus der Hersteller- und Lieferkette zukünftig in den Arztpraxen und den Apotheken erfolge.

Faireres Abgeltungsmodell

Einen anregenden Vortrag hielt Pius Zängerle, Direktor von curafutura. Mit seinem Modell einer anreizneutraleren Vertriebsmarge eröffnete er Perspektiven für eine neue Margenordnung. Das Modell würde im Vergleich zu den vorgesehenen Einsparungen des BAG für eine fairere Verteilung der Lasten bei den Leistungserbringern sorgen.

Fehlmedikationen vorbeugen

Als CIRS-Verantwortliche der SGAIM erklärten die Allgemeinmediziner Dr. med. Markus Gnädinger und Dr. med. Esther Henzi in ihrem Vortrag das CIRS-Tool: Die Datenbank ist ein System, welches Medikations- und Kommunikationsfehler aus Praxen und Spitälern anonym rapportiert und zugänglich macht. Das Tool leistet einen wertvollen Beitrag für eine verbesserte Patientensicherheit, kann Fehlmedikationen reduzieren und wirkt einer unnötigen Medikamentenverschwendung entgegen. Ärztinnen und Ärzte können sich unter www.forum-hausarztmedizin.ch registrieren lassen.

Globalbudget: Alternativen werden gefordert

Die Gemüter erhitzte einmal mehr der «Bericht aus Bern» unseres geschätzten FMH-Präsidenten, Dr. Jürg Schlup. In seinem Vortrag räumte er mit medialen «Fakenews» im Gesundheitswesen auf und warnte vor Leichtgläubigkeit. Zudem thematisierte er die allfällige Einführung eines Globalbudgets. Gegen ein solches müssten wir uns nach bestem Wissen und Gewissen wehren, stelle es doch eine Limitation dar, die weder im Interesse der Patienten noch der Ärzteschaft sei. Die geeignete Antwort darauf müsse ein revidiertes Tarifsystem sein. «Wir stehen in der Verantwortung, Alternativen zu liefern und Massnahmen zu ergreifen», betonte der FMH-Präsident.

APA: Alle packen an!

Die Zukunft der Selbstdispensation als gleichwertiger und wichtiger Abgabekanal ist mittlerweile rechtlich gesichert, nicht aber die hierfür nötige Abgeltung. Unser politischer Einsatz ist deshalb nach wie vor nötig. Es gilt, zusammenzustehen und mit vereinten Kräften unsere Position lautstark zu vertreten.

Dr. rer. publ. Sven Bradke