Myelodysplastische Syndrome

MDS sind klonale Bluterkrankungen des älteren Menschen und werden vorwiegend bei Personen im Alter über 70 Jahre diagnostiziert. In europäischen Ländern beträgt die alters-standardisierte Inzidenzrate 2-3 pro 100’000 Patientenjahre mit einer zweifach höheren Inzidenz bei Männern als bei Frauen. Die einzige Ausnahme stellt dabei das MDS mit del(5q) dar, welche eine weibliche Prädominanz hat (1-4). Aufgrund der demographischen Alterung und der zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten muss man in Zukunft davon ausgehen, dass die Entität der MDS zu einer der häufigsten hämatologischen Neoplasien aufsteigen wird, mit relevanter Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung (1).

Les MDS sont des maladies clonales du sang des personnes âgées qui sont principalement diagnostiquées chez les personnes de plus de 70 ans. Dans les pays européens, le taux d’incidence normalisé selon l’âge est de 2 à 3 pour 100 000 années-de patients, l’incidence étant deux fois plus élevée chez les hommes que chez les femmes. La seule exception est le MDS avec del (5q), qui a une prédominance féminine (1-4). En raison du vieillissement démographique et de l’augmentation des possibilités de diagnostic, le MDS devrait devenir l’une des néoplasies hématologiques les plus courantes à l’avenir, avec un impact important sur les soins de santé (1).

MDS sind heterogene Erkrankungen, die durch sequenzielle Ansammlung von genetischen Läsionen in den hämatopoetischen Stammzellen (HSC) verursacht werden (5). Die genetischen Läsionen, die bisher bei MDS identifiziert werden konnten, waren strukturelle Chromosomenaberrationen, die sich durch eine konventionelle Metaphasen-Zytogenetik oder Fluoreszenz-In-Situ Hybridisierung (FISH) nachweisen lassen. Die Analyseverfahren und dadurch auch das Verständnis genetischer Veränderungen in MDS und anderen myeloischen Neoplasien haben sich jedoch in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt (6). Dank der Next Generation Sequencing (NGS) ist es nun möglich, rekurrente somatische Driver-Mutationen (RSDM) nachzuweisen. Diese RSDM treten in Genen mit folgenden Funktionen auf: RNA-Splicing, epigenetische Regulation, Transkriptionsfaktoren, Zellzyklus, Kohesinkomplex und Zellsignalling (7 - 11).

Diagnostik und Klassifizierung

Die diagnostischen Empfehlungen bei erwachsenen Patienten mit vermutetem MDS wurden in den ELN-Empfehlungen 2013 zusammengefasst (7). Eine gründliche persönliche Anamnese (symptomatische Anämie, Infekte, Blutungen und insbesondere Expositionen gegenüber Chemo-/Radiotherapie, Pestizide, Insektizide und Lösungsmittel), Familienanamnese (Hinweise für hereditäre Prädisposition bei jüngeren MDS Patienten) sowie eine körperliche Untersuchung (Blutungszeichen, Organomegalien, Lymphadenopathien) stellen eine wichtige Grundlage dar. Zwingende Laboranalysen umfassen die morphologische Beurteilung des peripheren Blutes, des Knochenmarkaspirates/der Biopsie und eine zytogenetische Analyse. Zusätzlich empfohlene Untersuchungen umfassen die FISH (falls Zytogenetik nicht aussagekräftig) sowie die fluoreszenzaktivierte Zellsortierung (FACS). In speziellen Situationen werden zusätzlich auch molekulare Analysen (array-CGH, PCR und NGS) zum Nachweis von kryptischen Gendefekten und RSDMs empfohlen. Für die Klassifizierung der MDS werden die Anzahl von Zell-Linien, die von Zytopenie und Dysplasie betroffen sind, das Vorhandensein von Ringsideroblasten (RS) oder der Mutationen in SF3B1 (das mit RS assoziiert ist), Anzahl Blasten im peripheren Blut oder Knochenmark und das Vorliegen von speziellen MDS-definierenden zytogenetischen Anomalien (zB del 5q) berücksichtigt (Tab. 1) (12).

Zytopenien im Alter

Eine ungeklärte Anämie findet sich bei etwa 10 - 15% der Patienten im Alter von > 65 Jahren und es ist nicht immer einfach, reaktive von klonalen Zuständen abzugrenzen. Patienten mit einer Zytopenie, jedoch ohne ausreichende dysplastische Veränderungen oder MDS-definierende zytogenetische Veränderungen, werden als idiopathische Zytopenie unklarer Signifikanz (ICUS) bezeichnet (13). Bei diesen Patienten wird eine Verlaufskontrolle nach 3 - 6 Monaten und ggf. eine Wiederholung der Knochenmarksuntersuchung empfohlen (7). RSDM können mit einer altersabhängigen, erhöhten Häufigkeit bei älteren Patienten (10-20%) nachgewiesen werden. Diese Personen haben normale periphere Blutwerte oder nur eine leichte Zytopenie, welche aber die diagnostischen Kriterien für MDS nicht erfüllen. Diese Zustände werden als klonale Hämatopoiese mit indeterminiertem Potential (CHIP: normale periphere Blutwerte ohne RSDM) (14, 15) oder klonale Zytopenie unklarer Signifikanz (CCUS: Zytopenie mit RSDM) (16) bezeichnet. Die Anwendung der NGS ermöglicht neuerdings Patienten mit reaktiven und klonalen Zuständen zu unterschieden. Auf diese Weise lassen sich Patienten in frühen Stadien einer klonalen Hämatopoiese identifizieren, welche ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer overten hämatologischen Neoplasie haben.

Allgemeine Überlegungen zum MDS Patientenmanagement

MDS sind sehr heterogene Erkrankungen mit einem sehr variablen natürlichen Verlauf von chronischen, asymptomatischen Zytopenien bis zu einem schnellen Fortschreiten in eine sekundäre AML. Zwei Drittel der Patienten mit MDS sterben an zytopenieassoziierten Komplikationen und ein Drittel erliegt der AML-Progression (17). Das Management basiert auf einer krankheits- und patientenassoziierten Risikostratifizierung. Eine exakte Diagnose und Risikostratifizierung sind für eine korrekte Behandlung daher entscheidend. Patienten mit niedrigem Risiko haben ein medianes Überleben von 3 bis 8 Jahren auf und sterben vorwiegend an zytopenieassoziierte Komplikationen (kardiovaskuläre Ereignisse, Infektionen und Blutungen). Die Ziele einer Behandlung von Patienten mit niedrigem Risiko liegen daher vor allem in der Verbesserung der Lebensqualität, Verringerung von zytopenieassoziierten Komplikationen und einem Hinauszögern eines Progresses in ein höhergradiges MDS (18, 19). Bei MDS Patienten mit hohem Risiko liegt hingegen die mediane Überlebenszeit nur bei 1 bis 3 Jahre und die AML-assoziierte Mortalität steht im Vordergrund. Bei diesen Patienten sollte die Behandlung darauf ausgerichtet sein, die Progression in eine AML hinauszuzögern und das Gesamtüberleben zu verbessern (20, 21).

Krankheitsassoziierte Risikofaktoren

Das Risiko für eine Progression in eine sekundäre AML und das Gesamtüberleben kann durch den International Prognostic Scoring System (IPSS) und den revidierten IPSS (IPSS-R) abgeschätzt werden) (22 - 24). Die Anzahl der Zelllinien, die von Zytopenien betroffen sind, wird in allen Prognosescoring-Systemen verwendet. Zudem sind Blastenzahl und Art der zytogenetischen Veränderungen relevant. Weniger als 5% der Blasten im Knochenmark, keine zirkulierenden Blasten im peripheren Blut, isolierte Anämie, Transfusionsunabhängigkeit und normaler Karyotyp oder günstige zytogenetische Veränderungen charakterisieren weniger fortgeschrittene MDS Formen. Im Gegensatz dazu wird ein fortgeschrittenes MDS durch > 5% Blasten im Knochenmark, Zytopenien mehrerer Zelllinien, komplexe zytogenetische oder andere ungünstige Veränderungen definiert.

Patientenassoziierte Risikofaktoren

Bei onkologischen Behandlungen älterer Patienten ist es stets wichtig, die Wirksamkeit und die Verträglichkeit einander gegenüber zu stellen. Karnofsky und Eastern Cooperative Oncology Group (ECOG) Scoring können verwendet werden, um die Performance zu bewerten. Diese sind jedoch altersbedingt und daher nicht ausreichend, um Komorbidität und Gebrechlichkeit zu beurteilen. Der Charlson Komorbiditätsindex wurde von Sorror für Patienten, die sich einer allogenen, hämatopoietischen Stammzelltransplantation (allo-HSCT) unterziehen, angepasst (25, 26) und wurde auch für MDS-Patienten validiert (HCT-CI) (27). Gebrechlichkeit und Funktionalität im täglichen Leben kann mit allgemeinen geriatrischen Bewertungsinstrumenten bewertet werden. Basierend auf einer steigenden Krebsinzidenz bei älteren Patienten sowie einer steigenden Anzahl von zielgerichteten Therapien, ist die Beurteilung patientenbezogener Faktoren ein zunehmendes Erfordernis für eine geeignete Behandlungszuteilung.

MDS-Patienten mit niedrigem Risiko

Watch-and-wait

Die Lebenserwartung von Patienten > 70 Jahre mit MDS-SLD oder MDS mit del(5q) ist nicht signifikant kürzer, als diejenige einer altersangepassten, älteren Bevölkerung (24). Patienten mit niedrig/intermediär-1 IPSS und asymptomatischen Zytopenien sollten daher nur regelmässig kontrolliert werden ohne Behandlung (7). Diese Empfehlung könnte sich in Zukunft jedoch gegebenenfalls ändern, da mit NGS in dieser Patientengruppe auch ungünstige Mutationen nachgewiesen werden können, welche von einer früheren Behandlung profitieren.

Supportive Massnahmen

Die supportiven Massnahmen umfassen Transfusionen, Infektionsprophylaxe, Antiemetika, Analgetika, Eisenchelation und Wachstumsfaktoren. Eine Transfusionsabhängigkeit ist im Allgemeinen mit einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium und einer schlechteren Prognose assoziiert (24). Erythrozytenkonzentrate (EKs) werden in der Regel ab einem Hämoglobinspiegel < 80 g / l (oder auf höherem Niveau, falls symptomatisch) transfundiert. Thrombozytenkonzentrate sollten nur zurückhaltend zur Prophylaxe von Blutungen eingesetzt werden. Üblicherweise steigt das Risiko spontaner Blutungen bei Thrombozyten < 5 - 10 G / L oder < 20 G / L mit zusätzlichen Risikofaktoren wie Fieber oder Mukositis. Transfusionen sind in der Regel mit einem höheren Risiko für unerwünschte Ereignisse wie Alloimmunisierung und transfusionsassoziierte Komplikationen assoziiert (28). EKs müssen bei Patienten, die potentielle Kandidaten für eine allo-HSCT sind, bestrahlt werden, um das Risiko einer HLA-Alloimmunisierung und transfusionsassoziierten Graft-versus-Host-Erkrankung zu reduzieren.
Bei stark transfundierten Patienten (> 20 - 25 EKs) und/oder Ferritinwerten > 1000 mg / l kann eine Chelation eine Eisenüberladung vorbeugen, Zytopenien in ca. einem Drittel der Patienten verbessern und möglicherweise auch das Gesamtüberleben günstig beeinflussen (29 - 31). Weiterhin bleibt aber die Frage nicht sicher geklärt, welche Patienten cheliert werden sollen, da bei MDS Patienten (noch) keine randomisierten Studien vorliegen (32). Eine Eisenchelation wird im Allgemeinen mit Deferasirox Patienten angeboten, welche Kandidaten für eine allo-HSCT sind oder eine Lebenserwartung von > 1 Jahr haben.
Patienten mit niedrig/intermediär-1 IPSS, mit Hämoglobinwerten < 100 g / l, Serum-Erythropoietin-Werten < 200 - 500 U/L, EK transfusionsunabhängig oder mit < 2 EKs/Monat sind Kandidaten für eine Behandlung mit Erythropoietin Stimulierenden Agenzien (ESA) (29, 33, 34). Zwischen den verschiedenen ESA-Produkten (rekombinantes humanes Erythropoietin (rHuEPO) Alpha und Beta oder Darbepoietin Alpha) wurden keine relevanten Unterschiede festgestellt. Die erforderlichen EPO-Dosierungen sind höher als bei Patienten mit Niereninsuffizienz und man beginnt in der Regel mit 30 000 U / Woche rHuEPO sc (ca. 150 μg Darbepoietin alpha). Bei fehlendem Ansprechen wird die Dosis nach 6-8 Wochen verdoppelt. Der zusätzliche Einsatz von Granulozyten-Colony Stimulaing Factor (G-CSF 3 x 300 - 480 ug / Woche sc) bei Patienten, die nicht genügend auf ESA ansprechen, ist kontrovers und wird in der Schweiz selten eingesetzt (29, 35, 36). Die Einhaltung eines strikten ESA/G-CSF-Substitutionsregimes ist wichtig, um frühzeitig refraktäre Patienten zu identifizieren, die eine schlechtere Prognose haben und allfällige Kandidaten für weiterführende Behandlungen sein könnten.
Thrombopoietin-stimulierende Agenzien (TSA) (Romiplostim, Eltrombopag) wurden in klinischen Studien bei Patienten mit Thrombozytopenie und niedrig/intermediär-1 IPSS getestet. TSA zeigen eine positive Wirkung auf die Thrombozytenzahl und können Blutungen reduzieren haben aber keinen Einfluss auf das Gesamtüberleben (37, 38). Es ist wichtig zu beachten, dass die Behandlungen mit Wachstumsfaktoren bei MDS-Patienten grundsätzlich zugelassen, aber «off-limitatio»  sind und daher eine Kostengutsprache von der zuständigen Krankenkasse notwendig ist.

Krankheitsmodifizierende Behandlungen Immunmodulatorische Medikamente

Die immunmodulatorische und anti-angiogenetische Wirkung von Thalidomid wurde schon früher bei MDS Patienten eingesetzt, um den Transfusionsbedarf zu reduzieren (39). Aufgrund der neurologischen Nebenwirkung von Thalidomid, wurde ein 4-Amino-glutarimid Derivat, das Lenalidomid (Revlimid®) ohne diesen ungünstigen Nebeneffekt entwickelt. Mit Lenalidomid lässt sich eine anhaltende Transfusionsunabhängigkeit und zytogenetische Remission bei etwa der Hälfte aller MDS-Patienten mit niedrig / intermediär-1 IPSS und isoliert del(5q) erreichen (40). In einer Phase-3-Studie fand man zudem auch in ca. einem Viertel der Nicht-del(5q)-MDS-Patienten mit niedrig/intermediär-1 IPSS eine Transfusionsunabhängigkeit, während Mutationen in TP53 mit Resistenz und einer Krankheitsprogression assoziiert waren (41, 42) und daher bei fehlendem Ansprechen Abklärungen in Richtung einer Transplantation rechtfertigen. 10% der MDS-Patienten präsentieren sich mit hypoplastischem Knochenmark und sind potentielle Kandidaten für eine immunsuppressive Behandlung mit Antithymozytenglobulin (ATG) in Kombination mit Cyclosporin A (CyA) mit Ansprechraten von etwa einem Drittel (43). Eine Kombination CyA/ATG mit dem TSA Eltrombopag hat einen zusätzlichen Nutzen bei Patienten mit aplastischer Anämie gezeigt, ist aber für hypoplastische MDS Patienten nicht zugelassen (44).

MDS-Patienten mit höherem Risiko

Hypomethylierende Agenzien

MDS-Patienten mit Blastenexzess oder mit höherem Risiko, welche für eine intensive Chemotherapie und allo-HSCT nicht in Frage kommen, sind Kandidaten für eine palliative Behandlung mit hypomethylierende Agenzien (HMAs). Die Pyrimidin-Nukleosid-Analoga, 5-Azacytidin (AZA) und 5 - Aza - 2’ - desoxycytidin / Decitabine (DEC), wurden in Phase-3-Studien an MDS Patienten mit höherem Risiko untersucht (45,46). HMAs sind im Allgemeinen gut verträglich und zeigten signifikant höhere partielle und vollständige Remissionen im Vergleich zu best supportive care, einschliesslich Hydroxyurea und niedrigdosiertem Cytosin Arabinosid (AraC). HMAs bleiben jedoch der intensivierten Induktions-Chemotherapie gefolgt von allo-HSCT unterlegen, für welche jedoch nur eine Minderheit der älteren MDS Patienten in Frage kommt. MDS mit komplexem Karyotyp, sollten aufgrund der niedrigeren Raten vollständiger Remissionen und der höheren Toxizität mit intensiven Chemotherapien, bevorzugt mit HMA behandelt werden (47). Es gibt keine allgemein anerkannten prädiktiven molekularen Marker für das Ansprechen auf HMA und auch die Dauer der Behandlung bleibt unklar. Derzeit gibt es keine etablierte Behandlung nach Versagen von HMAs, diese Patienten sollten daher vorzugsweise auf klinische Studien behandelt werden.

Intensive Induktionschemotherapie

Die AML-basierte Induktions-Chemotherapie, gefolgt von einer allo-HSCT ist MDS Patienten mit höherem Risiko vorbehalten, die für eine intensive Therapie genügend fit sind. Jüngeres Alter, guter Leistungsstatus und günstige Zytogenetik sind unabhängige prognostische Faktoren, die mit einem besseren Überleben assoziiert sind (48). Patienten mit ungünstigen oder komplexen zytogenetischen Veränderungen sowie Mutationen oder Deletionen in TP53 haben ein schlechteres Ansprechen auf eine intensive Chemotherapie und können von einer Behandlung mit HMA mit oder ohne anschliessender allo-HSCT profitieren (47, 49). Die derzeitige Datenlage ist aber im Allgemeinen noch nicht ausreichend, um HMA für die Induktion vor allo-HSCT ausserhalb klinischer Studien zu empfehlen (8).

Allogene hämatopoietische Stammzelltransplantation (allo HSCT)

Die allo HSCT bleibt die einzige kurative Option, ist aber nur für MDS-Patienten geeignet, die genügend fit sind. Die Beurteilung der Komorbiditäten ist wichtig für die Entscheidungsfindung, welche Patienten für eine allo-HSCT in Frage kommen und der HCT-CI Score wird oft für diesen Zweck verwendet (26). Für eine allo HSCT kommen MDS Patienten mit intermediär-2/hoch IPSS in Frage. Das Alter ist der wichtigste prädiktive Faktor für das Gesamtüberleben. Eine retrospektive Analyse der Europäischen Gruppe für Blut- und Knochenmarktransplantation (EBMT) ergab eine behandlungsassoziierte Mortalität von 30% bei Patienten < 20 Jahre, 43% bei Patienten zwischen 20 und 40 Jahren und 50% bei Patienten> 50 Jahre. Reduktion der Intensität der Konditionierung und sorgfältige Auswahl der Patienten haben jedoch gezeigt, dass eine allo-HSCT auch bei Patienten zwischen 60 und 70 Jahren möglich ist. Für MDS-Patienten, die aufgrund von Komorbiditäten nicht für eine myeloablative Konditionierung qualifizieren, kann eine Konditionierung mit reduzierter Intensität in Betracht gezogen werden, vorzugsweise innerhalb klinischer Studien.

Zukunftsperspektiven

Die Entdeckung von RSDM bei Patienten mit myeloischen Neoplasien eröffnet eine ungeahnte Palette neuer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten. Eine klonale Evolution kann damit bereits in frühen Stadien einer klonalen Hämatopoese indentifiziert werden und erlaubt möglicherweise auch die Identifikation von Patienten, welche von einer früheren Intervention profitieren können. Es konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass Mutationen in TP53, EZH2, ETV6, RUNX1 und ASXL1 mit einer schlechten Prognose assoziiert sind und ein molekulares Scoring-System wird derzeit entwickelt (IPSS-R Mole) (50). Bei MDS-Patienten mit niedrigem Risiko und RS- oder SF3B1-Mutationen (MDS-RS-SLD / MLS) führt der TGF-beta ligand-trap Luspatercept in zwei Drittel der Patienten zu einem erythroiden Ansprechen und Transfusionsfreiheit. Luspatercept scheint die Erythropoese durch Mechanismen zu verbessern, die unabhängig von EPO sind. Basierend auf der Annahme, dass eine niedrig dosierte und längere Exposition mit HMAs zu einer Verbesserung der Differenzierung führen kann, werden zur Zeit orale AZA-Formulierungen in klinischen Studien an MDS-Patienten mit niedrigem Risiko getestet (51). Weitere Medikamente, die an MDS Patienten untersucht werden, umfassen Toll-like-Rezeptor-2-Antikörper, CD95-Ligand(FAS-Ligand)-Hemmer, Multikinase-Inhibitoren (z. B. Rigosertib), Checkpoint-Inhibitoren (z. B. Nivolumab, Durvalumab), Telomerase-Inhibitoren (z. B. Imetelstat) und Inhibitoren von mutiertem IDH1 / 2 (zB AG - 120 /  AG-221).
Darüber hinaus ist die Verbesserung der Behandlungsallokation basierend auf Wirksamkeit, Verträglichkeit, Nutzen und Richtlinien-Konformität ein aktives Forschungsgebiet der Versorgungsforschung. Daher ist der Einschluss von MDS-Patienten in longitudinale Kohortenstudien sehr zu begrüssen, so wie es die SAKK 33/18 («I-CARE for MDS») Studie verfolgen wird.
Weiter werden longitudinale Kohorten und Biobanking von biologischem Material von Patienten mit MDS oder frühen Formen einer klonalen Hämatopoese (CCUS) sehr nützlich sein, um detaillierte, gesundheitsbezogene Daten mit Biomarkern zu verknüpfen. Diese Plattform steht seit 2016 mit dem Swiss MDS Regsitry/Biobank zur Verfügung und soll in Zukunft helfen, unser Verständnis der MDS Biologie zu verbessern, um damit auch im Sinne einer «Präzisionsmedizin» die Prognose und das Therapieansprechen der Patienten besser abschätzen zu können.

Zusammenfassung

Die Myelodysplastischen Syndrome (MDS) bilden eine heterogene Gruppe von klonalen Erkrankungen des Blutes mit einer zunehmenden Inzidenz in der älteren Bevölkerung. Aufgrund der demographischen Alterung unserer Gesellschaft werden MDS eine wachsende Bedeutung in unserem Gesundheitswesen haben. MDS werden durch Genmutationen in den hämatopoetischen Stammzellen verursacht und sind gekennzeichnet durch eine ineffektive Hämatopoiese mit Zytopenien und Dysplasien sowie einer Neigung zur Progression in eine sekundäre akute myeloische Leukämie (sAML). Eine exakte Diagnose und Risikostratifizierung sind für eine korrekte Behandlung entscheidend. Patienten mit niedrigem Risiko haben ein medianes Überleben von 3 bis 8 Jahren und sterben vorwiegend an zytopenieassoziierten Komplikationen (kardiovaskuläre Ereignisse, Infektionen und Blutungen). Die Ziele einer Behandlung von Patienten mit niedrigem Risiko liegen daher vor allem in der Verbesserung der Lebensqualität, Verringerung von zytopenieassoziierten Komplikationen und einem Hinauszögern eines Progresses in ein höhergradiges MDS. Bei MDS Patienten mit hohem Risiko liegt hingegen die mediane Überlebenszeit nur bei 1 bis 3 Jahren und die AML-assoziierte Mortalität steht im Vordergrund. Bei diesen Patienten sollte die Behandlung darauf ausgerichtet sein, die Progression in eine AML hinauszuzögern und das Gesamtüberleben zu verbessern. Die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation bleibt die einzige kurative Option für Patienten mit hohem Risiko. Jedoch ist nur eine Minderheit der meistens älteren und polymorbiden MDS Patienten geeignet für eine solche intensive Behandlung. Daher werden die meisten Patienten mit supportiven Massnahmen und palliativen Behandlungen, wie zum Beispiel Wachstumsfaktoren, Immunmodulatoren und hypomethylierenden Agenzien behandelt. Da ältere Patienten mit chronischen Zytopenien häufig in der allgemein internistischen Praxis gesehen werden, ist die Kenntnis über mögliche Präsentationsformen und angemessene Behandlungsoptionen wichtig für alle Ärzte aus der Grundversorgung.

PD Dr. med. Nicolas Bonadies

Leitender Arzt und Koordinator Swiss MDS Study Group
Universitätsklinik für Hämatologie und Hämatologisches Zentrallabor
Inselspital Bern
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Nicolas.Bonadies@insel.ch

Der Autor hat deklariert, keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel zu haben.

  • Die Myelodysplastischen Syndrome (MDS) bilden eine heterogene Gruppe von klonalen Erkrankungen des Blutes mit einer zunehmenden Inzidenz in der älteren Bevölkerung
  • MDS werden durch Genmutationen in den hämatopoetischen Stammzellen verursacht und sind gekennzeichnet durch eine ineffektive Hämatopoiese mit Zytopenien und Dysplasien sowie einer Neigung zur Progression in eine akute myeloische Leukämie (AML).
  • Eine exakte Diagnose und Risikostratifizierung sind für eine korrekte Behandlung entscheidend
  • Patienten mit niedrigem Risiko haben ein medianes Überleben von 3 bis 8 Jahren und sterben vorwiegend an zytopenieassoziierten Komplikationen (kardiovaskuläre Ereignisse, Infektionen und Blutungen).
  • Die Ziele einer Behandlung von Patienten mit niedrigem Risiko liegen daher vor allem in der Verbesserung der Lebensqualität, Verringerung von Zytopenie-assoziierten Komplikationen und einem Hinauszögern eines Progresses in ein höhergradiges MDS.
  • Bei MDS Patienten mit hohem Risiko liegt hingegen die mediane Überlebenszeit nur bei 1 bis 3 Jahren und die AML-assoziierte Mortalität steht im Vordergrund. Bei diesen Patienten sollte die Behandlung darauf ausgerichtet sein, die Progression in eine AML hinauszuzögern und das Gesamtüberleben zu verbessern.
  • Die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation bleibt die einzige kurative Option für Patienten mit hohem Risiko. Jedoch ist nur eine Minderheit der meistens älteren und polymorbiden MDS Patienten geeignet für eine solche intensive Behandlung

Take-Home Message

  • Les syndromes myélodysplasiques (MDS) sont un groupe hétérogène de maladies clonales du sang avec une incidence croissante chez les personnes âgées.
  • Les MDS sont causés par des mutations génétiques dans les cellules souches hématopoïétiques et se caractérisent par une hématopoïèse inefficace avec une cytopénie et une dysplasie et une tendance à la progression vers la leucémie myéloïde aiguë (LMA).
  • Le diagnostic exact et la stratification des risques sont cruciaux pour un traitement correct.
  • Les patients à faible risque ont une survie médiane de 3 à 8 ans et meurent principalement de complications associées à la cytopénie (événements cardiovasculaires, infections et saignements).
  • Les principaux objectifs du traitement des patients à faible risque sont donc d’améliorer la qualité de vie, de réduire les complications associées à la cytopénie et de retarder l’évolution vers un MDS de grade supérieur.
  • Chez les patients atteints de MDS à risque élevé, cependant, le temps de survie médian n’est que de 1 à 3 ans et la mortalité associée à la LMA est au premier plan. Chez ces patients, le traitement doit être conçu de manière à retarder la progression vers la LMA et à améliorer la survie globale.
  • La greffe de cellules souches hématopoïétiques allogéniques demeure la seule option curative pour les patients à haut risque. Cependant, seule une minorité des patients atteints de MDS généralement âgés et polymorbides convient à ce type de traitement intensif.

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Immuntherapie des Multiplen Myeloms

Der Begriff Immuntherapie wird heutzutage sehr weit gefasst und beinhaltet viele verschiedene Ansätze. Fokussiert man sich auf Antikörper-basierte Konzepte, so besitzen mono­klonale Antikörper bereits einen festen Platz in der Myelombehandlung und Antikörpervarianten wie Immuntoxine, bispezifische Antikörper oder auch Antikörper-beladene T-Zellen befinden sich in der klinischen Erprobung bzw. Zulassung. Allen Ansätzen gemeinsam ist eine möglichst optimale Aktivierung des patienteneigenen Immunsystems gegen Myelomzellen. Damit könnte das Multiple (MM) ­Myelom in Zukunft eine heilbare Erkrankung werden.

Le terme immunothérapie est aujourd’hui compris dans un sens très large et comprend de nombreuses approches différentes. Si l’accent est mis sur les concepts basés sur les anticorps, les anticorps monoclonaux ont déjà une place ferme dans le traitement du myélome et les variantes d’anticorps telles que les immunotoxines, les anticorps bispécifiques ou les cellules T chargées d’anticorps sont en cours d’essai clinique ou d’approbation. Toutes les approches ont en commun la meilleure activation possible du système immunitaire du patient contre les cellules myélomateuses. Cela pourrait faire du myélome multiple (MM) une maladie guérissable à l’avenir

Monoklonale Antikörper

Die passive Immuntherapie mittels monoklonaler Antikörper (Mab) hat sich in der Lymphomtherapie schon seit fast 20 Jahren und in der Myelomtherapie nun in den letzten Jahren erfolgreich etabliert. Dabei werden in der Myelom-Behandlung vornehmlich Antikörper mit Spezifität für das CS1 Antigen (z.B. Elotuzumab) bzw. das CD38 Antigen (z.B. Daratumumab) verwendet. Diese monoklonalen Antikörper erkennen spezifisch ihr Zielantigen und lösen über eine Komplementaktivierung (CDC) oder Rekrutierung zytotoxischer Zellen (ADCC) eine Immunantwort aus. MAb können als Monotherapie oder in Kombination mit bereits etablierten Therapeutika eingesetzt werden. Den grössten Stellenwert besitzen zur Zeit CD38 spezifische MAb wie Daratumumab, da sie sowohl als Monotherapie als auch in Kombinationstherapien eine hohe Aktivität gegenüber Plasmazellen aufweisen.

Therapie mit dem CD38 spezifischen Antikörper Daratumumab

Daratumumab ist ein humaner CD38-IgG1κ Antikörper, der an zwei β-stranghaltige Aminosäuren 233-246 und 267-280 des CD38 Antigens bindet. Seine Wirkung entfaltet er u.a. über den Fc Anteil des Antikörpers mit Komplementaktivierung im Sinne einer effizienten CDC als auch einer ADCC. Auf Grundlage verschiedener Studien wurde die optimale Dosierung von 16 mg/kg KG mit einer zunächst wöchentlichen (8 Gaben), dann zweiwöchentlichen (8 Gaben) und anschliessend monatlichen Applikation als Standard definiert. Die Gesamtansprechrate (RR) für Patienten mit weit fortgeschrittenem bzw. refraktärem MM beträgt ca. 31% mit einem medianen OS von 20 Monaten (1). Die Daratumumab Monotherapie ist in der Schweiz zugelassen und kassenpflichtig.

Kombinationstherapien Daratumumab plus Velcade/Dexamethason bzw. Revlimid/Dexamethason

Es gibt aktuell 2 grosse, randomisierte Phase III Studien, die Daratumumab (D) + Revlimid/Dexamethason (Rd) bzw. Velcade/Dexamethason (Vd) bei MM Patienten ab der 2. Therapielinie getestet haben. In der CASTOR-Studie (DVd vs. Vd) mit 498 Patienten, die im Median zwei Therapielinien durchlaufen hatten, wurde in beiden Armen nach 8 Zyklen die Therapie mit Vd gestoppt und Daratumumab im experimentellen Arm bis zur Progression weitergegeben. Nach einem medianen Follow-Up von 7,4 Monaten war das mediane PFS im Daratumumab-Arm deutlich länger als im Kontrollarm (nicht erreicht vs. 7,16 Monate, HR 0,39, p<0,0001) (2). Die zusätzliche Gabe von Daratumumab führte zu einer Verdopplung an qualitativ sehr guten Remissionen (VGPR oder CR). In der kürzlich präsentierten Aktualisierung (medianes Follow-up 19 Monate) betrug das PFS für alle Patienten 17 vs. 7 Monate. Auch die Kombination DRd führte im Vergleich zu Rd (POLLUX-Studie) zu einer signifikanten Verlängerung des medianen PFS (nicht erreicht vs. 18 Monate, HR 0,37, p<0,0001) (3). In beiden Studien traten Infusionsreaktionen fast ausschliesslich (>90%) im ersten Behandlungszyklus auf und nur sehr wenige waren Grad 3 (5-10%) Reaktionen, Grad 4 Reaktionen wurden nicht beobachtet. Auch profitierten in beiden Studien alle vordefinierten Subgruppen von der Daratumumab Therapie. Besonders hervorzuheben ist die hohe Rate an MRD Negativität (für DRd im Standardrisikoarm bis 30% und im Hochrisikoarm bis 21%). Diese tiefe Krankheitskontrolle könnte eventuell einen ersten Schritt Richtung Krankheitselimination andeuten.
Monokolonale Antikörper sind in der Regel passive Immuntherapeutika, d.h. ihre Aktivität ist nicht langfristig im Organismus nach Applikation vorhanden und sobald der Wirkspiegel im Blut unterhalb der jeweils erforderlichen Mindestkonzentration fällt (in der Regel nach 2-3 Halbwertszeiten), ist auch kein Effekt mehr vorhanden. Zur Steigerung der Mab Aktivität kann dieser z.B. an ein Zellgift gekoppelt werden (sog. Immuntoxin). Damit wird der Antikörper als Trägermolekül verwendet und führt ein in der Regel hochpotentes Zellgift direkt an die gewünschte Zielzelle.

Immuntoxine

Immuntoxine (IT) machen sich zwei Eigenschaften von Antikörpern zunutze: die Spezifität für das Zielmolekül und die Fähigkeit, nach Bindung an der Zelloberfläche in die Zelle zu internalisieren und dort das gekoppelte Toxin frei zu setzen (sog. Antibody-Drug-Conjugate(ADC) (Abb.1). Prototyp ist Brentuximab Vedotin (BV) als Konjugat eines CD30-spezifischen Antikörpers mit Monomethylauristatin E, das die mitotische Spindel zerstört und damit Apoptose in Lymphomzelle auslöst. Ähnliche Ansätze werden auch in der Myelombehandlung verfolgt und am erfolgversprechendsten sind Konstrukte mit Spezifität für das B cell maturation antigen (BCMA). BCMA wird in späten Stadien der B Zelldifferenzierung membranständig exprimiert und ist für das Überleben langlebiger Plasmazellen erforderlich. Monomethyl-Auristatin-F gekoppelt an einen BCMA spezifischen Antikörper wird nach Bindung an der Myelomzelle rasch internalisiert und setzt sein aktives Toxin frei. In einer offenen Phase-I Studie bei Patienten mit rezidiviertem / refraktärem MM (rrMM) wurde das IT alle 3 Wochen intravenös bei guter Verträglichkeit infundiert. Bei keinem der 24 MM-Patienten gab es unerwünschte Ereignisse, die zum Abbruch der Behandlung führten. Bei vier Patienten war eine Dosisreduktion aufgrund von Nebenwirkungen des Toxins erforderlich: okuläre Toxizität (n = 1), Hornhauterkrankung / okuläre Toxizität (n = 1), trockene Augen (n = 1) und Keratitis (n =  1). Es wurden jedoch keine DLTs berichtet und damit kann auf eine insgesamt akzeptable Verträglichkeit geschlossen werden (4). Sehr rudimentäre Daten existieren bzgl. der Wirksamkeit: Bei 0,24 mg / kg 1 MR und 1 VGPR, bei Dosen ≥ 0,96 mg / kg 3 PR und 1 MR. Damit ergibt sich eine sog. clinical benefit rate (CBR) von 25% und es müssen sicherlich noch grössere Studien durchgeführt werden, um den klinischen Benefit eindeutig zu belegen.

Immunmodulierende Antikörper

Dieser recht neue Immuntherapieansatz verwendet zumeist auch Mab (Abb. 1). Diese erkennen aber nicht zwangsläufig ein Tumor-antigen, sondern schalten das Immunsystem im Sinne einer aktiven Immunisierung an und können zudem durch die Etablierung sog. Gedächtniszellen eine langfristige Immunität – ähnlich einer Impfung – erzielen. Paradebeispiel sind Checkpoint Inhibitoren (CPI) in der Behandlung solider Tumoren, vornehmlich CTLA4 oder PD1/PDL-1 blockierende MAbs. Deren Einsatz hat sich beim Multiplen Myelom (MM) insbesondere aufgrund einer recht hohen (pulmonalen) Toxizität bisher nicht durchgesetzt. Erfolgsversprechend sind derzeit jedoch zwei neue Ansätze basierend auf bispezifischen Antikörpern und Tumor-spezifischen T-Zellen.

Bispezifische Antikörper

Bispezifische Antikörper (BiMab) entstehen durch die Kombination zweier Antikörperdomänen (Abb.1): Eine erkennt ein Zielantigen auf der Myelomzelle (z.B. BCMA), und die zweite erkennt ein Aktivierungsantigen (z.B. CD3) auf T Zellen. Damit werden T Zellen an Myelomzellen gebunden und lokal aktiviert. Paradebeispiel ist auch hier wieder ein Konstrukt (CD3-CD19, Blinatumumab) zur Behandlung von B Zell Leukämien und Lymphomen. In der Myelombehandlung befindet sich diese Technik noch in der präklinischen Entwicklung, zeigt aber z.B. für einen BCMA-CD3 spezifischen BiMab hoffnungsvolle Resultate. So konnte für die Ko-Kultivierung autologer Myelom- und T Zellen in Präsenz eines BCMA-CD3 Konstrukts unabhängig vom Krankheitsstatus ein hoher Grad der T Zellaktivierung mit entsprechender Tumorzelllyse beobachtet werden. In ersten Primatenversuchen wurde neben der guten Verträglichkeit eine Elimination BCMA-positiver Plasmazellen im Knochenmark verzeichnet (5). Daher befinden sich derzeit mehrere BiMAb Studien in der Planung und werden in Kürze aktiviert.

Tumorspezifische T-Zellen

Die Umprogrammierung autologer oder allogener T Zellen durch viralen Gentransfer tumorspezifischer Antikörpersequenzen (sog. CAR T Zell-Technologie) stellt momentan eines der interessantesten klinischen Forschungsgebiete dar. Bisher werden dafür Abwehrzellen des jeweiligen Patienten aus dem Blut entnommen, im Labor genetisch manipuliert und durch Einschleusung einer Antikörperdomäne (z.B. mit BCMA Spezifität) gegen Myelomzellen gerichtet (Abb.1). Nach Rückgabe in den Patienten können diese modifizierten Abwehrzellen die Myelomzellen aufspüren und zerstören. Hauptnebenwirkung ist das sog. cytokine release syndrome (CRS), das typischerweise zwischen Tag 4 und 8 nach Zellrückgabe entstehen kann. Inzwischen sind aber Massnahmen zur Therapie eines einsetzenden CRS etabliert und damit die Verträglichkeit gegeben. Von den vier bisher präsentierten klinischen BCMA CAR T Zellstudien lässt sich folgern, dass hohe Ansprechraten (bis zu 100%) in den zum Teil doch intensiv vorbehandelten Patienten (median bis zu 7 Vortherapien) mit CR Raten von bis zu 40% erreicht werden können (6-9).
Eine vorgängige Lymphodepletion mittels Chemotherapie (z.B. Cyclophosphamid oder Fludarabin) erwies sich als vorteilhaft, da dadurch eine bessere Verträglichkeit bei höheren Zelldosen erzielt werden konnte Langfristige Remissionen sind trotz der bereits genannten multiplen Vortherapien beobachtet worden, wobei man wahrscheinlich noch einige Jahre warten muss, um zu beurteilen, ob auch die erhofft hohen Heilungsraten ein realistisches Ziel sind. Die Kosten einer Zelltherapie stellen derzeit sicherlich noch eine schwer zu nehmende Hürde dar und es ist ungewiss, wann diese Technologie auch in der Schweiz verfügbar sein wird.

Prof. Dr. med. Christoph Renner

Onkozentrum Hirslanden Zürich und Onkozentrum Zürich
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

Christoph.renner@hirslanden.ch

PD Dr. med. Panagiotis Samaras

Onkozentrum Hirslanden
Witellikerstrasse 40
8032 Zürich

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Monoklonale Antikörper sind 40 Jahre nach ihrer Erstbeschreibung Eckpfeiler einer Immuntherapie bei vielen Tumorerkrankungen und konnten auch beim Multiplen Myelom einen festen Platz im Behand-lungskonzept einnehmen.
  • Antikörpervarianten werden noch effektiver und gezielter Myelom-
    zellen abtöten können und damit hoffentlich die Effektivität als auch Verträglichkeit der Therapie verbessern können.
  • Die neuartigen Zelltherapien versprechen zudem eine langfristige zelluläre Kontrolle der Erkrankung und lassen sogar Heilungen als mögliches Therapieziel erscheinen

Message à retenir

  • 40 ans après leur description initiale, les anticorps monoclonaux sont la pierre angulaire de l’immunothérapie pour de nombreuses maladies tumorales et font désormais partie intégrante du concept de traitement du myélome multiple.
  • Les variantes d’anticorps seront capables de tuer les cellules myélomateuses encore plus efficacement et spécifiquement, ce qui, nous l’espérons, améliorera l’efficacité et la tolérabilité de la thérapie.
  • Les nouvelles thérapies cellulaires promettent également un contrôle cellulaire à long terme de la maladie et font même apparaître la guérison comme un objectif thérapeutique possible.

1 Usmani SZ, Weiss BM, Plesner T et al. Clinical efficacy of daratumumab monotherapy in patients with heavily pretreated relapsed or refractory multiple myeloma. Blood. 2016 Jul 7;128(1):37-44.
2. Palumbo A, Chanan-Khan A, Weisel K et al. Daratumumab, Bortezomib, and Dexamethasone for Multiple Myeloma. N Engl J Med. 2016 Aug 25; 375(8):754-66.
3. Dimopoulos MA, Oriol A, Nahi H et al. Daratumumab, Lenalidomide, and Dexamethasone for Multiple Myeloma. N Engl J Med. 2016 Oct 6; 375(14):1319-1331.
4. Trudel S, MD, Lendvai N, Popat R, et al. Deep and durable responses in patients (Pts) with relapsed/refractory multiple myeloma (MM) treated with monotherapy GSK2857916, an antibody drug conjugate against B-cell maturation antigen (BCMA): preliminary results from part 2 of study BMA117159. Presented at: ASH Annual Meeting and Exposition; Dec. 9-12, 2017; Atlanta, Georgia. Abstract 741.
5. Hipp S, Tai YT, Blanset D et al. A novel BCMA/CD3 bispecific T-cell engager for the treatment of multiple myeloma induces selective lysis in vitro and in vivo. Leukemia. 2017 Aug; 31(8): 1743-1751.
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7. Fan F, Zhao W, Liu J, et al. Durable remissions with BCMA-specific chimeric antigen receptor (CAR)-modified T cells in patients with refractory/relapsed multiple myeloma [abstract]. J Clin Oncol. 2017;35(suppl 18). Abstract LBA3001.
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Behandlung einer Harninkontinenz bei der Frau

Als Grundversorger wird man häufig mit dem Problem «Harninkontinenz» konfrontiert. Mit einer guten Anamnese und einer einfachen klinischen Untersuchung können die Arbeitsdiagnose suffizient geklärt und konservative Therapien begonnen werden. Nach der Darstellung der Abklärungsschritte im ersten Teil in „der informierte arzt“ im Mai dieses Jahres folgt hier der zweite Teil, welcher den Aspekten der Behandlung gewidmet ist.

Nach Ausschluss einer Retention führen die Anamnese und klinische Untersuchung zwangsläufig zu einer vernünftigen Arbeitsdiagnose. Der Grundversorger kann problemlos konservative Therapien beginnen. Weil er die Lebenssituation und die internistische Krankengeschichte der Patientin gut kennt, wird er die Behandlung der Inkontinenz in einen Gesamtkontext bringen können.
Einzig der Leidensdruck der Patientin bestimmt das Tempo und Akzeleration innerhalb der Therapiemodalitäten.

Behandlung Belastungsinkontinenz (SUI)

Die Belastungsinkontinenz ist durch eine gestörte Anatomie bedingt und erfordert demzufolge eine Korrektur derselben.
Physiotherapie: Im Rahmen der konservativen Erstlinienbehandlung der SUI ist die Physiotherapie am wichtigsten. Es ist darauf zu achten, die Patientin in eine beckenbodenorientierte Physiotherapie zu überweisen, die neben Beckenbodentraining auch Biofeedback und Elektrostimulation anbietet. Auf der Webseite der Pelvisuisse, dem Verein der in Beckenboden-Rehabilitation spezialisierten Physiotherapeutinnen, sind Fachfrauen gelistet. Mit einer Verbesserung der Kontinenz kann man in ca. 50% rechnen (1). Vor allem bei offener Familienplanung ist ein physiotherapeutischer Ansatz sinnvoll. Die Physiotherapie verbessert kompensatorisch die Beckenbodenmuskulatur, doch kann sie die muskulären und bindegewebigen Abrisse und Überdehnungen nicht heilen.
Pessare: Ist die Familienplanung nicht abgeschlossen und leidet die Patientin unter einer Belastungsinkontinenz, sind Pessare geeignet, die Zeit bis zu einer Inkontinenzoperation zu überbrücken. Pessare stützen den abgeflachten urethrovesikalen Übergang. Ein gut sitzendes Pessar wird der Patientin wieder erlauben, Tennis zu spielen oder zu Joggen. Es gibt wiederverwendbare Pessare aus weichem Silikon und Einmalpessare aus Schaumstoff. Für die SUI werden typischerweise Ring- oder Schalenpessare mit einer suburethralen Verstärkung verwendet (Abbildung 1). Von den Einmalpessaren existieren praktische Probesets mit verschiedenen Pessargrössen (zum Beispiel RecaFEM® Probepackung). Sie werden wie normale Tampons angewendet, müssen aber vor dem Einführen nass gemacht werden. Bestätigt man der Patientin eine Inkontinenz, hat sie Anrecht auf eine definierte Vergütung pro Jahr für Inkontinenzmaterialien.
Indikation für die Überweisung: Ist die Belastungsinkontinenz sehr störend und führen konservative Massnahmen nicht zu einer Besserung oder wünscht die Patientin eine unmittelbare Lösung, haben wir mit den suburethralen Bandoperationen (z.B. TVT™) einfache und hoch effektive Eingriffe zur Verfügung, die auch langfristig Erfolge zeigen (Abb. 2) (2). Eine abgeschlossene Familienplanung ist günstig.

Behandlung überaktive Blase (OAB)

Die krankheitstypische Anamnese mit Urge und der Ausschluss von Resturin genügen, um die Arbeitsdiagnose OAB zu stellen und eine Therapie einzuleiten. Die überaktive Blase wird nur letztinstanzlich invasiv behandelt. Die Diagnose OAB ist eine Ausschlussdiagnose, die Häufigkeit der OAB nimmt mit dem Alter kontinuierlich zu und die Grenzen zwischen symptomatischen Formen und der idiopathischen OAB sind fliessend. Darum stehen Therapieansätze, die Verhalten, Trophik der Schleimhäute oder Harnwegsinfektionen berücksichtigen, an erster Stelle:
Trinkverhalten: Eine angepasste Flüssigkeitsaufnahme mit Trinken vorzugsweise am Tag und weniger am Abend ist vor allem bei älteren Menschen eine geeignete Strategie, um die Anzahl nächtlicher Miktionen zu reduzieren.
Änderungen im Lifestyle: Gewichtsreduktion bei Übergewicht, Verzicht auf blasentonisierende Getränke wie Kaffee und Cola, Verzicht auf CO2-versetzte Getränke, moderate sportliche Aktivität und Verzicht auf Nikotingenuss können die Kontinenz positiv beeinflussen und sind wichtige Erstlinienempfehlungen (3).
Physiotherapie hat auch bei der Behandlung der überaktiven Blase einen hohen Stellenwert. Einerseits wird die Verschlussfunktion durch Beckenbodentraining gestärkt, andererseits durch Elektrostimulation über Reflexbögen die Überaktivität des Detrusors gedämpft, auch wenn der Mechanismus hier nicht wirklich verstanden ist.
Der Östrogenentzug in der Menopause führt zu einer atrophen, verletzlichen und sensitiven Schleimhaut und in der Folge zu Symptomen des unteren Harntraktes wie Dysurie und häufigem Harndrang (4). Lokale Östrogenapplikation als Estradiol(E2)- oder Estriol(E3)- haltige Crèmen, Vaginaltabletten oder Ovula in einer Langzeittherapie ist eine einfache und meist sehr effektive Massnahme. Eine gute Datenlage existiert zur Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfekte: In der Menopause reduziert lokale Östrogenisierung die Infekthäufigkeit um einen Faktor 10 (5) (Tabelle 1).

Es gibt Phytotherapeutika, die rezeptfrei erhältlich sind. Beispielsweise verhindert der Einfachzucker D-Mannose (Femannose® N, Hänseler D-Mannose) rezidivierende Harnwegsinfekte ähnlich effektiv wie eine Antibiotikaprophylaxe (6). Bryophyllum Kautabletten 50% in einer Dosis von 3 x 2 Tbl. täglich kann bei der Behandlung der OAB eingesetzt werden (7).
Die überaktive Blase ist die Krankheit des alternden Menschen. Gerade bei fragilen polymorbiden Patientinnen ist die Polypharmazie häufig und die Medikamenteninteraktionen schwieriger kontrollierbar, so dass es sinnvoll sein kann, die Medikamentenliste auch unter dem Aspekt der OAB einzudämmen anstatt auszuweiten. So können beispielsweise Diuretika, β-Blocker,
Kalziumantagonisten, NSAR, Antiparkinsonmittel, Psychopharmaka, Barbiturate oder Opiate Symptome des unteren Harntraktes negativ beeinflussen.
Eine medikamentös schlecht eingestellte Herzinsuffizienz oder ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus können Symptome der überaktiven Blase verstärken.
Antimuskarinika sind medikamentöse Grundpfeiler der OAB Therapie (Tabelle 2). Sie können mit anderen konservativen Therapiemassnahmen kombiniert werden. Einige Produkte erlauben eine Dosisakzeleration. Es ist allerdings nicht bei jeder Patientin günstig, die Medikamentenliste mit einem blasenspezifischen Medikament zu ergänzen (Polypharmazie, siehe oben). Antimuskarinika reduzieren im Vergleich zu Plazebo in bescheidenem Mass die Anzahl Miktionen und Inkontinenzepisoden pro Tag. Die verschiedenen Antimuskarinika sind ähnlich effektiv, sie unterscheiden sich vor allem im Nebenwirkungsprofil. Prinzipiell erfolgt die Wirkung nicht selektiv an der Blase, häufige Nebenwirkungen werden durch Blockade der parasympathischen Innervation an anderen Organen verursacht. Typisch sind Mundtrockenheit, Obstipation, Tachykardie, reduzierte Akkommodationsfähigkeit, Erhöhung des Augeninnendruckes bis hin zu kognitiven Störungen. Die Nebenwirkungen können zu einer schlechten Compliance führen. Das quaternäre Amin Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin® Neo oder Spasmex®) sollte die Bluthirnschranke nicht passieren und ist darum bei betagten Menschen günstig.

β - 3 - Agonisten relaxieren den Detrusor durch Stimulation der sympathischen β-Adrenorezeptoren und wirken damit über einen anderen Pfad als die Antimuskarinika (Abbildung 3). Entsprechend sind sympathische Nebenwirkungen ein Problem: Eine unkontrollierte arterielle Hypertonie ist eine Kontraindikation, unter Therapie mit Mirabegron soll der Blutdruck kontrolliert werden. Dafür fehlen die typischen anticholinergen Nebenwirkungen (8). Aktuell gibt es nur ein Präparat auf dem schweizerischen Markt: Mirabegron (Betmiga®). Mirabegron wurde bezüglich Wirksamkeit (Häufigkeit von Miktion, Häufigkeit von Inkontinenzepisoden) gegenüber Placebo (9) untersucht, dem Medikament wurde eine den Antimuskarinika vergleichbare Wirkung attestiert.

Indikation für die Überweisung:

Ist die Inkontinenz therapierefraktär oder persistieren auffällige Befunde wie Mikrohämaturie, ist eine Überweisung an die UrogynäkologIn sinnvoll, welche die Diagnostik fortsetzt: Die Zystoskopie kann relevante Befunde wie einen Blasentumor, Fremdmaterial oder Hunner’sche Ulcera (interstitielle Zystitis) aufdecken und die Urodynamik die Diagnose «OAB» objektivieren, indem eine hypersensitive hypokapazitive oder auch instabile Blase gemessen werden kann.

Invasive Therapieformen der OAB: Die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin (Botox®) ist hierbei die Therapie der Wahl, weil sie sehr effektiv und minimal invasiv ist und sie bei Bedarf hinaufdosiert und repetiert werden kann (10). Botulinumtoxin führt zu einer reversiblen chemischen Denervation der Blase. Konzeptionell wird die parasympathische Innervation isoliert am gewünschten Ort «Blase» ausgeschaltet, was gegenüber einer medikamentösen anticholinergen Therapie mit den systemischen Nebenwirkungen von grossem Vorteil ist. Gerade für polymorbide Patientinnen mit langer Medikamentenliste oder Patientinnen mit dementieller Entwicklung ist die intravesikale Botoxinjektion eine naheliegende Lösung. Botoxinjektionen sind nicht nur bei neurogenen Blasenstörungen, sondern auch bei der idiopathischen OAB eine Kassenleistung, vorausgesetzt, die Patientin ist bezüglich konservativer Massnahmen therapierefraktär.
Die sakrale Neuromodulation (Blasenschrittmacher) ist ein etabliertes und effektives Verfahren in der Behandlung der OAB und gegen medikamentöse Therapien und gegen Botulinumtoxin geprüft (11, 12), wird aber, weil invasiver und teurer, in der Praxis deutlich seltener eingesetzt.

Behandlung «Inkontinenz bei chronischer Retention»

Selten ist eine Inkontinenz bei der Frau durch eine Überlaufsituation bedingt. Ist die Retention als Inkontinenzursache erkannt (hohe Restharnmenge), ist die primäre fachärztliche Abklärung angezeigt.
In der Urogynäkologie können ein massiver Genitaldescensus oder eine Urethralstenose obstruktiv wirken. Die Detrusorkontraktilität kann durch chirurgische (onkologische Chirurgie im kleinen Becken) oder «internistische» Denervierung (z.B. autonome Polyneuropathie bei Diabetes mellitus) verursacht sein. Meist bleiben die intravesikalen Drücke tief und die Nieren werden nicht durch Reflux kompromittiert. (Komplexe neuro-urologische Krankheitsbilder wie echte Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sind nicht Gegenstand dieses Artikels.)
Mittels «Miktion nach Uhr» kann man eine Kontinenz erreichen: Die Patientin wird prophylaktisch und konsequent nach Zeitplan z.B. alle 1½ Stunden auf die Toilette begleitet/geschickt. Medikamentös kann der schlaffe Detrusormuskel mit Cholinergica tonisiert werden, zum Beispiel mit Ubretid®. Die häufigste Nebenwirkung sind Darmkoliken. Den glatten Sphinkter der Urethra öffnet man komplementär mit einem α - 1 - Rezeptor-Blocker, zum Beispiel Pradif 400®. Die häufigste Nebenwirkung ist Schwindel bei Therapiebeginn.
Für das Erlernen des Selbskatheterismus muss man die Patientin an fachspezifische Pflegefachkräfte überweisen, eine gewisse Agilität und Fingerfertigkeit seitens der Patientin ist Voraussetzung.
Auch wenn nicht erwünscht, kann in einer Pflegeeinrichtung eine Versorgung mit einem Dauerkatheter oder einer suprapubischen Harnableitung die ideale Lösung für eine auf Retention basierenden Inkontinenz sein. Wird der Katheter mit einem Ventil bestückt, erspart man der Patientin den Urinbeutel.

Dr. med. Gabriella Stocker

Frauenklinik Stadtspital Weid und Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

Dr. med Ana Somaini

Frauenklinik Stadtspital Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

Dr. med. Daniel Passweg

Frauenklinik Stadtspital Weid und Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

daniel.passweg@triemli.zuerich.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Ist die Patientin therapierefraktär oder persistieren auffällige Befunde wie Mikrohämaturie, ist die Überweisung an die FachärztIn angezeigt.
  • Erstlinientherapie der Belastungsinkontinenz ist Physiotherapie,
    Zweitlinientherapie die suburethrale Bandeinlage.
  • Für die hauptsächlich konservative Behandlung der OAB ist das
    hausärztliche Setting ideal.
  • Inkontinenz bei chronischer Retention gehört primär durch die FachärztIn abgeklärt.

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Ist Selen ein Wundermittel oder ein Ultra-Spurenelement unter vielen ?

In Publikationen für die allgemeine Öffentlichkeit werden Selen positive antivirale Auswirkungen attestiert sowie eine grosse Bedeutung für die erfolgreiche männliche und weibliche Fruchtbarkeit und Fortpflanzung. Auch eine vorbeugende Wirkung vor Krebs-, Autoimmun- und Schilddrüsenerkrankungen (1). Zudem schütze Selen die Körperzellen vor den Angriffen freier Radikale und sei wegen der Stärkung der körpereigenen Abwehrkraft in der Lage, vor sehr vielen Krankheiten zu schützen (2). Solche und ähnliche Aussagen lassen die Vermutung aufkeimen, dass Selen ein wahres Wundermittel sei, womit wohl motiviert werden soll, Selen-Präparate zu kaufen und anzuwenden. In diesem Artikel werden physiologische Aspekte und ein möglicher therapeutischer Einsatz von Selen resümiert.

Selen, ein Halbmetall mit der Ordnungszahl 34, gehört zusammen mit Iod, Molybdän und Chrom und anderen zu den essentiellen Ultra-Spurenelementen, Substanzen deren täglicher Bedarf im µg-Bereich liegt. Zur Erinnerung: Der Bedarf an eigentlichen Spurenelementen wie Eisen, Zink, Kupfer, Fluor und Mangan liegt im mg-Bereich.
Selen hat vielfältige biologische Funktionen. Beobachtungen von endemischer Kardiomyopathie bei einer Population in China, die sich fast Selen-frei ernährt, und auf Supplementation mit Selen anspricht, sprechen für die Essentialität von Selen zum Erhalt der Gesundheit (3). Auch unter totaler parenteraler Ernährung, die früher ohne Selen-Zusatz verabreicht wurde, traten Fälle von unter Selen reversiblen Kardiomyopathien und Skelettmuskel-Dysfunktionen auf. Als weitere Folgen von Selenmangel werden Störungen der Immunfunktion, Thyroiditis, Krebsarten, kardiovaskuläre Krankheiten und Störungen des Glukose-Metabolismus diskutiert, ohne klar etabliert zu sein (4).
Der Selenbedarf eines gesunden Erwachsenen liegt gemäss «Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr der Gesellschaften für Ernährung in Deutschland (DGE), Österreich (ÖGE) und der Schweiz (SGE)» für Frauen bei geschätzten 60 und für Männer bei 70 µg pro Tag, wobei die Grenze zu potentiell zu hoher Einnahme bereits bei rund 400 µg pro Tag erreicht ist. Damit ist der Bereich für eine Supplementation schmal, so dass eine solche höchstens bei Personen mit einem klaren Selen-Mangel sinnvoll und sicher ist (5).
Der Gehalt von Selen in pflanzlichen Lebensmitteln hängt vom Selengehalt des Bodens ab, auf dem sie wachsen. In der Schweiz sind wie im übrigen Europa die Böden eher arm an Selen, während die Böden in den USA noch relativ reich an Selen sind. Bei ​tierischen Lebensmitteln hängt der Selengehalt vom Futter resp. von der Selenzugabe zum Futter ab. In der Schweiz trägt der Teigwarenkonsum mit 15.7 µg /d am meisten zur durchschnittlichen Gesamteinnahme von 66 µg Selen/d bei, gefolgt von Fleisch, Fisch und Ei. Daran hat auch der rückläufige Import von Hartweizen aus Nordamerika mit seinem hohen Selengehalt mindestens bis 2010 nichts geändert. Eine 2010 publizierte Studie kam zum Schluss, dass die Selenversorgung in der Schweiz seit annähernd 25 Jahren stabil und noch ausreichend sei (6). Modellrechnungen zeigen jedoch, dass es im Zusammenhang mit dem Klimawandel in den nächsten Dezennien in rund zwei Dritteln der weltweit landwirtschaftlich genutzten Flächen zu einem durchschnittlichen Selenverlust von rund 9% kommen wird. Damit ist anzunehmen, dass die Zahl von Menschen mit Selenmangel zunehmen wird (7).
Selen liegt in der organischen Natur hauptsächlich in gebundener Form vor, in welcher es vom Menschen überwiegend mit der Nahrung aufgenommen wird. In Pilzen und Pflanzen in Form von Selenmethionin. Es handelt sich dabei um Methionin, bei welchem das Schwefelatom durch Selen ersetzt ist und das auch bei Tieren und Menschen unspezifisch an Stelle von Methionin in viele Proteine eingebaut wird. Die Resorption im Darm erfolgt aktiv, die Bioverfügbarkeit ist hoch. Hingegen wird bei Mensch und Tier Selenocystein als 21. Aminosäure aktiv in sogenannte Selenoproteine eingebaut. Selenocystein, bei dem das Schwefelatom von Cystein durch Selen ersetzt ist, wird sowohl intestinal resorbiert, wie auch aus Selenmethionin oder via eine spezifische Transfer-RNS aus L-Serin synthetisiert. Bei katabolen Prozessen freigesetztes Selen wird hauptsächlich im Urin ausgeschieden (8).
Beim Menschen sind mehr als 30 Selenoproteine bekannt, die wichtigsten sind vier Glutathionperoxidasen (GPX) mit antioxidativer Wirkung und drei Iodo-Thyronin Deiodasen, welche die Umwandlung von T4 zum aktiven T3 und die Deiodierung von T3 zu inaktivem T2 bewirken, sowie die lokale Konzentration von T3 regulieren. Weiter sind die Thioredoxin Reduktasen 1-3 erwähnenswert sowie das humane Selenoprotein P (SEPP1), welches sehr reich an Selenocystein ist und nach Synthese in der Leber zur Hauptsache andere Organe wie Gehirn, Nieren und Testes mit Selen versorgt. Die Plasmakonzentration von SEPP1 fällt bei Selenmangel ab, weshalb es zusammen mit der Aktivität von GPX3 als Index für die aktuelle nutritive Versorgungssituation Verwendung findet (9).
Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen einer Korrektur eines Selenmangels und dem prophylaktischen Einsatz von Selen bei Personen mit normalem Selenstatus. Die Interpretation von Studien über den Effekt von Selen-Supplementation auf diverse Endpunkte ist insofern schwierig, als oft nicht klar ist, ob es sich bei der Studienpopulation um Personen mit normalem Selenstatus oder Selenmangel handle. Die folgenden Kernaussagen beziehen sich auf Populationen mit normalem Selenstatus.

Diabetes mellitus

Nachdem epidemiologische Studien bei Diabetikern eine inverse Korrelation zwischen Selen-Spiegel im Blut resp. -Gehalt in Nägeln und Blutzucker sowie zwischen bestimmten Selenoproteinen und Glukosemetabolismus gefunden haben und in vitro-Versuche eine Verbesserung der Insulin-Synthese und -Sekretion in Inselzellen unter Selen gezeigt hatten, wurde die Hypothese aufgestellt, dass Selen zur Prophylaxe und Behandlung von Diabetes Typ 2 einen Stellenwert haben könnte. Randomisierte, plazebokontrollierte Studien (PCT) zeigten indessen bei Probanden ohne Selenmangel keinen oder sogar einen nachteiligen Effekt auf Blutzucker und Lipidprofil (5, 10–12). Offensichtlich ist die Interaktion von Selen mit Diabetes komplex, diskutiert wird eine U-förmige Interaktion, indem sowohl extremer Selenmangel wie -Überfluss sich nachteilig auf den Glukosemetabolismus auswirken können. Von einer Selen-Supplementation von normal ernährten Personen zur Vorbeugung oder Behandlung von Diabetes Typ 2 muss abgeraten werden.

Karzinomprophylaxe

Ähnlich wie beim Diabetes führten epidemiologische Studien mit dem Nachweis eines möglichen Zusammenhanges zwischen Selen und Krebsmortalität sowie entsprechende Tier- und in vitro-Studien zu zahlreichen Untersuchungen, die den Nachweis einer möglichen Rolle von Selensupplementation zur Karzinomprophylaxe zum Ziel hatten. Die grösste Auswertung solcher Studien findet sich in der 3. Überarbeitung eines Cochrane Reviews, in welchem 83 klinische und kontrollierte Studien ausgewertet wurden (13). Dabei zeigte die Selensupplementation keinen Vorteil in Bezug auf die Inzidenz aller Karzinome und insbesondere nicht auf diejenige von Colon, Nicht-Melanom-Hautkrebse, Bronchial-, Mamma-, Blasen- oder Prostata-Karzinom. Auch in dieser Analyse fand sich zwar eine erniedrigte Karzinom-Inzidenz und -Mortalität in der Kategorie mit der höchsten Selen-Exposition verglichen mit der tiefsten, jedoch wiesen viele Studien erhebliche Mängel auf, wie Fehlklassifikationen und v.a. mangelnde Berücksichtigung von Begleitvariablen. Zudem fehlt eine Dosis-Wirkungsrelation, so dass die Autoren zum Schluss kamen, dass Selen-Supplementation keinen günstigen Effekt in Bezug auf Reduktion des Krebsrisikos zeige. In der Selen und Vitamin E Krebspräventionsstudie SELECT mit 35533 Männern fand sich sogar eine nichtsignifikante Erhöhung des Risikos für Prostata-Karzinom um absolut 0.8 unter Selen- und signifikant um 1.6 unter Vitamin-E-Supplementation (14). Bezüglich Nicht-Melanom-Hautkrebs kam es im Nutritional Prevention of Cancer Trial zu einer signifikanten Erhöhung des Risikos unter Supplementation mit 200 µg/d (15).

Schilddrüse

Basierend auf der Hypothese, dass Selen die Immunfunktion verbessere und insbesondere bei Personen mit relativem Selenmangel in der Lage sei, Entzündungsprozesse zu beeinflussen, wurde bei 55 Patienten mit chronischer Autoimmunthyreoiditis und ​Thyroperoxidase (TPO) Antikörpern in einem RCT der Einfluss von 200 µg / d Selenomethionin gegen Plazebo untersucht (16). Nach 6 Monaten konnte in der Verumgruppe ein hoch signifikanter Abfall von AntiTPO um 20% als Hinweis auf eine günstige Beeinflussung der entzündlichen Aktivität dokumentiert werden. Ebenso war Selen bei Schwangeren mit positiven AntiTPO ab der 12. Gestationswoche in der Dosis von 200 µg/d verabreicht in der Lage, das Risiko für eine Postpartum Thyroiditis von 49 auf 29% und damit auch das Risiko für eine permanente Hypothyreose zu reduzieren (17). Die Fallzahlen dieser Studien sind klein und ein vorbestehender Selenmangel kann bei der Studienpopulation aus Italien nicht ausgeschlossen werden, so dass ein routinemässiger Einsatz von Selen in dieser Situation nicht vorbehaltlos empfohlen werden kann.
Während einzelne Studien einen günstigen Effekt auf die Entwicklung einer endokrinen Orbitopathie vermuten liessen (18), konnte der M. Basedow per se durch Selen-Supplementation in seinem Verlauf nicht beeinflusst werden (19).

Selenmangel

Selenmangel weist eine Korrelation mit der Prävalenz von Erkrankungen wie Atherosklerose, Rheumatoide Arthritis und virale Erkrankungen inkl. HIV auf. Selen spielt eine wesentliche Rolle bei der Initiierung von Immunität und der Regulation von überschiessender Immunreaktion und chronischer Entzündung. Dies kann erklären, warum bei Selenmangel eine Ergänzungsbehandlung Gesundheitszustand und Lebensqualität verbessern kann (20).
Ein klinisch bedeutsamer Selenmangel kann sich nutritiv oder aufgrund von Verlusten ergeben. Personen mit erhöhtem Risiko für einen nutritiven Mangel können reine Vegetarier oder Veganer sein, Personen mit einseitiger Ernährung, z.B. Alkoholiker, extremer Hungerzustand, Anorexia nervosa, Bulimie und solche unter selenfreier oraler oder parenteraler Ernährung (21). Verluste können sich über den Darm einstellen (protrahierte Diarrhoe, Malabsorption, Laxantienabusus), über den Urin (Proteinurie, nephrotisches Syndrom, Diabetes insipidus, Diuretika), unter verlängertem kontinuierlichem Nierenersatzverfahren (22), bei protrahiertem Blutverlust und langer Stillzeit.
Ein Selenmangel wird anhand der Resultate der Messung des totalen Selengehalts mittels Massenspektrometrie (ICP-MS) erfasst, im Serum, um die aktuelle, und im Vollblut, um eher die langfristige Versorgungssituation zu erfassen (Tarif-Code 1665.00, Kosten CHF 105.-, Referenzbereich 0.76 – 1.65 µmol / l, resp. 60 – 130 µg / l) (23). Alternativ kann der Spiegel von Selenoproteinen wie SEPP1 und die Aktivität GPX gemessen werden, wobei v.a. das Letztere rasch auf eine Mangelsituation reagiert. Ein suboptimaler Selenstatus bei Erwachsenen liegt bei einem Selengehalt des Serums von < 0.64 µmol / l resp. < 50 μg / l vor, bei Kindern liegen die Gehalte niedriger. Es ist sinnvoll, einen suboptimalen Selenstatus durch Gabe von Selenpräparaten (Natriumselenit, Selenomethionin, Selenhefe) zu beheben, um den antioxidativen Schutz zu verbessern bzw. wiederherzustellen. Für den peroralen Einsatz ist von der Swissmedic das Präparat selenase® peroral als Monosubstanz mit 166,5 µg Natriumselenit 5 H2O (entsprechend 50 µg Selen) pro ml Lösung in der Abgabekategorie B zugelassen, daneben ist Selen in verschiedensten Kombinationen mit einem Gehalt zwischen ​28 und 60 µg in der Abgabekategorie C (Andreavit®, Premavid®) und D erhältlich (Burgerstein Geriatrikum und TopVital, Pharmaton Vital und Ginseng, Supradyn) (24, 25). Weitere Präparate wie z.B. Burgerstein Selenvital werden als Nahrungsergänzungsmittel und nicht als zugelassene Medikamente vermarktet. Vom deutschen Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) sind Nahrungsergänzungsmittel zum vorbeugenden Gesundheitsschutz bis zu einer Höchstzufuhr von 30 μg Se / Tag zugelassen (21, 26).

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Selen ist ein essentielles Ultra-Spurenelement, das beim Menschen in Form von Selenocystein in mehr als 30 Selenoproteinen enthalten ist, welche antioxidative Funktionen entfalten und am Stoffwechsel der Schilddrüsenhormone beteiligt sind
  • Die Allgemeinbevölkerung in der Schweiz ist ausreichend mit Selen versorg, ein Selenmangel kann jedoch bei Risikopersonen infolge reduzierter Aufnahme oder pathologischer Verluste bestehen
  • Eine Medikation mit einem Selen-Präparat führt bei der gesunden Allgemeinbevölkerung nicht zu einem gesundheitlichen Vorteil
  • Eine Selen-Supplementation ist bei Selenmangel sinnvoll, bei klinischem Verdacht soll der Selenspiegel vorgängig mittels Massenspektrometrie gemessen werden.

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Aspekte des Eisentherapie-Managements

«Wann ist eine Eisentherapie indiziert? Orale versus intravenöse Eisensubstitution – welche der beiden Therapieformen ist vorzuziehen? Oder ist die alleinige eisenreiche Ernährung ausreichend? Ein Eisenmangel führt ohne Behandlung zu einer Eisenmangelanämie, welche die häufigste Form der Anämie ist.

Bei ausgewogener oraler Ernährung werden im Durchschnitt 1-2 mg Eisen täglich im Duodenum und oberen Jejunum resorbiert. Eisen wird für den Transport durch die Blutbahn an das Protein Transferrin gebunden. An Ferritin gebundenes Eisen ist Speichereisen. Ferritin als Eisenreserve des Körpers findet sich in allen Zellen und Körperflüssigkeiten. Vorwiegend in der Leber, Milz und Knochenmark. Der Gesamteisengehalt des menschlichen Organismus liegt nach unterschiedlichen Angaben der Literatur bei etwa 35 bis 45 mg pro kg Körpergewicht. Eisen ist essenzieller Bestandteil des Hämoglobins, Myoglobins und fungiert als Kofaktor etlicher Enzyme. Die physiologische Eisenexkretion von 1-2 mg pro Tag findet u.a. über abgeschilferte Darmepithelzellen statt. Die Menstruationsblutung führt bei Frauen zu einem zusätzlichen Eisenverlust.

Diagnostik

Das Endstadium des Eisenmangels (Stadium 3) ist die hypochrome mikrozytäre Eisenmangelanämie. Die körpereigenen Eisenspeicher sind in diesem Stadium vollständig ausgeschöpft.
Schwäche, Müdigkeit, Leistungsintoleranz, Kopfschmerzen, Haarausfall, Restless - Legs sind nur einige Symptome des fehlenden Eisens. Eine Anämie muss im Stadium 2 einer eisendefizitären Erythropoese nicht zwingend vorliegen. Im Stadium 1 handelt es sich um einen Mangel an Speichereisen mit normalem Hämoglobin und normalen erythrozytären Indizes (Tab 1.).
Im Folgenden seien nur einige wegweisende labordiagnostische Parameter erwähnt. Ein erniedrigtes Serum-Ferritin ist das frühe Zeichen einer negativen Eisenbilanz. Das erhöhte Serum-Transferrin und die abfallende Transferrin-Sättigung sind weitere Warnsignale für die schwindenden Eisenreserven mit eisendefizitärer Erythropoese. Das Hämoglobin (Hb), das mittlere Erythrozytenvolumen (MCV), und die mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration (MCHC), die richtungsweisenden Parameter für eine hypochrom-mikrozytäre Anämie, sinken erst später.

Indikation Eisentherapie

Eine Eisenmangelanämie erfordert unabhängig von der vorliegenden Symptomatik immer eine Abklärung der Ursache und eine Behandlung. Die Therapie der Wahl ist die Eisensubstitution. Bluttransfusionen sind in der Regel nur bei schwerer Anämie mit hämodynamischer Instabilität indiziert. Patienten mit symptomatischem Eisenmangel ohne Anämie können von einer Eisensubstitution profitieren. Das Auffüllen der Eisenspeicher kann allfällige Beschwerden lindern. Ein Therapieversäumnis dagegen würde höchstwahrscheinlich zu einer Anämie mit dem Risiko für ischämische Organschäden führen. Insbesondere bei chronischen Herz- und Nierenerkrankungen. Klinische Studien mit jüngeren (14. bis 21. Lebensjahr) und prämenopausalen Frauen belegten den positiven Effekt der intravenösen Eisensubstitution bei Eisenmangel assoziierter Müdigkeit (1, 2). Eine Eisensubstitution ist nur bei einem dokumentierten Eisenmangel indiziert. Die Behandlung des Eisenmangels mit oder ohne Anämie beinhaltet mehr als nur das Ersetzen des Eisens. Die Ursachen des Eisenmangels (Tab. 2) sollten identifiziert und nach Möglichkeit mittels kausaler Therapie behoben werden. Anämien ohne gesicherten Eisenmangel, Zustände mit Eisenüberladung wie z.B. die Hämochromatose oder die chronische Hämolyse, sowie Hämoglobinopathien mit Eisenverwertungsstörung wie z.B. die Thalassämie (ebenfalls eine hypochrome mikrozytäre ​Anämie) sind Kontraindikationen für jegliche Formen der Eisensubstitution.

Eisenreiche Ernährung

In wirtschaftlich entwickelten, rohstoffreichen Ländern wie der Schweiz kann der physiologische Eisenverlust durch die Verfügbarkeit von Eisen in vielen Fleischsorten und Gemüsen gedeckt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Bioverfügbarkeit des Eisens im Gemüse niedriger ist als im Fleisch. Durch die hochregulierte Eisenabsorption können sogar minime Verluste ausgeglichen werden. Ein chronischer Eisenverlust durch Hypermenorrhoe oder okkulte gastrointestinale Blutungen kann dagegen nicht zur Genüge kompensiert werden. Von einem ernährungsdefizitären Eisenmangel sind oft Säuglinge, Kleinkinder, Jugendliche, Vegetarier, aber auch Alkoholsuchtkranke betroffen.
Die Optimierung der oralen Eisenzufuhr mittels der täglichen Nahrung dient vielmehr als Prophylaxe in der oben erwähnten Populationsgruppe. Ein durch Malnutrition bedingter Eisenmangel mit oder ohne Anämie bedarf, um die Eisenspeicher zu füllen, immer einer Substitutionstherapie. Die Ernährungsberatung ist ein zusätzlicher Support mit dem Ziel, ein Rezidiv zu verhindern.

Orale Eisentherapie

Die Einnahme oraler Eisenpräparate ist die sicherere und kostengünstigere Therapievariante. Orale Eisenpräparate werden im Allgemeinen bei Eisenmangel bzw. der hypochromen mikrozytären Anämie ohne schwere Symptome oder unkontrollierten Blutverlust verwendet. Die Dosierung ist abhängig vom geschätzten Eisendefizit und der Schnelligkeit mit der dieses korrigiert werden soll. Bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen ist die orale Substitution zu bevorzugen. Beispielsweise empfiehlt die Schweizer Arzneimittelinformation (3) für die 100 mg Eisen(II)-Fumarat-Formulierung täglich 1 Kapsel einzunehmen, bei schwerem Eisenmangel auch 2-3 Kapseln über den Tag verteilt. Dabei muss man sich bewusst sein, dass bei Gabe von mehreren täglichen Dosen die fraktionierte Resorptionsrate wegen Stimulation von Hepcidin sinkt. Eine höhere Einzeldosis wird im Vergleich zu mehreren Teildosen ebenfalls resorbiert (4). Als alternatives Dosierungsschema bewirkte die Verabreichung von Eisenpräparaten an alternierenden Tagen bei Frauen mit Eisenmangel eine verbesserte Eisenresorption (5). Eine Normalisierung der laborchemischen Werte ist nach drei Monaten zu erwarten. Um die Eisenspeicher aufzufüllen sind weitere 3-6 Monate erforderlich. Eisen-II-sulfat, Eisen-II-gluconat oder Eisen-II-fumarat haben eine vergleichbare Effizienz und müssen nüchtern eingenommen werden. Eisen-III-Polymaltose muss hingegen während oder direkt nach dem Essen eingenommen werden. Das dreiwertige Eisen muss durch die Fe-Reduktase im Dünndarm zu zweiwertigem Eisen reduziert werden, da es nur in dieser Form intestinal resorbiert werden kann. Präparate mit Eisen(III)-Verbindungen sind daher nicht ideal. Häufige unerwünschte Arzneimittelwirkungen der oralen Eisentherapie sind abdominelle Schmerzen, Diarrhoe, Obstipation, Nausea und Dyspepsie. Die oft berichtete Schwarzfärbung des Stuhls ist auf die Ausscheidung des nicht resorbierten Eisens zurückzuführen und ergibt keine falsch positiven Ergebnisse bei der Testung auf okkultes Blut. Ein reduzierter Säuregehalt des Magens, verursacht durch Antacida, Protonenpumpenhemmer oder H2-Rezeptor-Antagonisten, kann sich negativ auf die Eisenresorption auswirken. Eisen bildet mit Chinolonen, Bisphosphonaten, Levodopa und Levothyroxin schwer lösliche Komplexe. Die Resorption und somit Bioverfügbarkeit aller an der Interaktion beteiligten Substanzen wird vermindert. Eine um 2 bis 3 Stunden versetzte Einnahme des Eisenpräparates kann diesem Mechanismus entgegenwirken. Obwohl besser verträglich, kann die gleichzeitige Einnahme mit der Nahrung die Bioverfügbarkeit von zweiwertigen Eisen deutlich senken.

Intravenöse Eisentherapie

Die parenterale Eisentherapie ist indiziert bei Erkrankungen, die mit einer Resorptionsstörung des Gastrointestinaltrakts einhergehen, wie chronisch entzündliche Magen-Darmerkrankungen, bei unkontrolliertem Blutverlust, bei einer renalen Anämie unter Erythropoietin-Therapie und in präoperativen Situationen mit Eisenmangel, in denen ein rasches Auffüllen der Eisenspeicher erforderlich ist sowie bei Non-Compliance peroraler Präparate. Auch bei der Herzinsuffizienz NYHA II-III führte die intravenöse Gabe von Eisen(III)-Carboxymaltose in zwei Studien zur Besserung, wobei Ferritin als Einschlusskriterium in dieser Patientengruppe weniger gut definiert ist (in einer der Studien fand sich kein Unterschied im Therapieerfolg zwischen Patienten mit und Patienten ohne vorbestehende Anämie) (6, 7). Neuere, dextranfreie Präparate wie Eisen(III)-hydroxid-Saccharose-Komplex oder Eisen(III)-Carboxymaltose sind gut verträglich. Parenterale Eisenpräparate bergen neben dem Problem der höheren Kosten die seltene Gefahr einer akuten Überempfindlichkeitsreaktion vom Soforttyp. Hautreizung und Thrombophlebitis mit Thrombosegefahr sind lokale unerwünschte Reaktionen an der Einstichstelle. Akzidentelle paravasale Gaben führen zu einer langanhaltenden braunen Hautverfärbung. Häufige unerwünschte Wirkungen sind Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Bauchschmerzen, Obstipation, Diarrhoe und Hautausschlag. Bei unsachgemässer Anwendung kann es zur – iatrogenen – Eisenüberladung kommen, wenn zu hohe, individuell nicht benötigte Eisenmengen verabreicht werden (Tab. 3). Die kumulative Gesamtdosis von parenteralen Eisenpräparaten sollte individuell berechnet und nicht überschritten werden. Die Hersteller der meisten Präparate empfehlen die Formel nach Ganzoni zu verwenden, basierend auf Körpergewicht, aktuellem Hämoglobinwert und der Menge an elementarem Eisen des jeweiligen Eisenprodukts (vgl. Arzneimittelinformation) .

Dr. med. Livia Hajbok

Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

livia.hajbok@usz.ch

Prof. Dr. med. Gerd A. Kullak-Ublick

Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Jede Form eines nachgewiesenen Eisenmangels erfordert neben der Abklärung der Ursache eine Substitutionstherapie.
  • Der Eisenersatz ist eine symptomatische, aber keine kausale Therapie.
  • Grundleiden, Begleiterkrankungen, Alter des Patienten, Verträglichkeit des Präparates, individuelle Patientenbedürfnisse und nicht zuletzt die Behandlungskosten sind entscheidend bei der Auswahl und Verabreichungsform des Eisenersatzproduktes.
  • Perorale Eisentherapien sind die Erstlinientherapien bei stabilen
    Patienten. Parenterale Therapien sind u.a. indiziert bei ungenügender Wirksamkeit oder Unverträglichkeit peroraler Präparate, bei chronisch entzündlichen Magen-Darmerkrankungen oder bei Non-Compliance

1. Sharma R, Stanek JR, Koch TL, et al. Intravenous iron therapy in non-anemic iron-deficient menstruating adolescent females with fatigue. Am J Hematol 2016; 91:973.
2. Krayenbuehl PA, Battegay E, Breymann C, et al. Intravenous iron for the treatment of fatigue in nonanemic, premenopausal women with low serum ferritin concentration. Blood 2011; 118:3222.
3. Arzneimittelinformation Swissmedic (abgerufen 07/2018)
4. Moretti D. et al.: Oral iron supplements increase hepcidin and decrease iron absorption from daily or twice-daily doses in iron-depleted young women. Blood. 2015 Oct 22;126:1981-9.
5. Auerbach M, Schrier S. Treatment of iron deficiency is getting trendy. Lancet Haematol 2017; 4:e500.
6. Anker S. D., Comin-Colet J., Filippatos G. et. al. Ferric Carboxymaltose in Patients with Heart Failure and Iron Deiciency. The New England Journal of Medicine. 2009;361:2436-48.
7. Ponikowski P., van Veldhuisen D. J., Comin-Colet J. Beneficial effects of long-term inravenous iron threapy with ferric carboxymaltose in patients with symptomatic heart failure and iron deficiency. European Heart Journal (2015) 36, 657–668.

• Schrier S. L., Auerbach M. Treatment of iron deficiency anemia in adult. In:UpToDate® (abgerufen: 06/2018).
• Thomas Karow und Ruth Lang-Roth. Allgemeine und Spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 26. Auflage 2018.
• Aktories Förstermann und Hofmann Starke. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 11. Auflage 2013.

Herzerkrankungen im Kindesalter

Nebst der Tatsache, dass das Thema «Herz» mit sehr vielen Emotionen verbunden ist, gibt es im Kindes- und Jugendalter einige kardiale Probleme, die man weiter abklären sollte. ca. 1 von 100 Kindern in der Schweiz hat einen angeborenen Herzfehler, das Spektrum reicht von einem kleinen, hämodynamisch nicht relevanten muskulären Ventrikelseptumdefekt (VSD) bis zum komplexen «hypoplastischen Linksherzsyndrom». Nebst den angeborenen Vitien sind Herzrhythmusstörungen, Synkopen und Herzgeräusche aber ebenso häufige Probleme, mit denen nicht nur Kinderkardiologen, sondern v.a. die GrundversorgerInnen in der Praxis konfrontiert sind.

Spezialisten haben den Vorteil, ein vorselektioniertes Patientengut zu sehen. Ärzte in der Grundversorgung müssen aber die Kinder identifizieren, welche zum Kinderkardiologen überwiesen werden müssen, und festlegen mit welcher Dringlichkeit. In diesem Artikel werden einige wichtige «red flags» und eine Art Leitfaden für die häufigeren kinderkardiologischen Probleme vorgestellt.

Herzgeräusche

Herzgeräusche bei Kindern und Jugendlichen sind sehr häufig (60-80%). Prinzipiell kann man sagen, je jünger das Kind, desto breiter sind die Differentialdiagnosen und umso relevanter die Konsequenzen für das Kind. Eine gute klinische Untersuchung in Kombination mit einer guten Anamnese, lassen uns «harmlose» Herzgeräusche von den weiter abzuklärenden Herzgeräuschen unterscheiden.
Bei neugeborenen Kindern sind Trinkverhalten und Gedeihen zwei sehr wichtige Faktoren. Trinkt das Kind zügig ohne Pausen oder vermehrtes Schwitzen und gedeiht perzentilengerecht, ist eine relevante Herzinsuffizienz sehr unwahrscheinlich.
Bei älteren Kindern sind ein Leistungsknick oder angeborene Herzfehler in der Familie immer Angaben, die uns aufhorchen lassen.
Im klinischen Status sind die Inspektion und Palpation genauso wichtig wie die Auskultation. Zeigt das Kind Dysmorphiezeichen oder Zeichen der Atemnot? Ist es zyanotisch?
Bei der Palpation sind ein verstärktes Präkordium, ein Schwirren präkordial oder jugulär Symptome, die uns an ein zugrundeliegendes (Aortenstenose, Pulmonalstenose oder Ventrikelseptumdefekt) Vitium denken lassen.

Bei den Neugeborenen / Säuglingen sollte man nie vergessen die Leistenpulse zu tasten um eine mögliche Aortenisthmusstenose nicht zu verpassen.
Falls in der Praxis die Möglichkeit besteht, sollte man versuchen, eine transkutane Sauerstoffsättigung prä- und postductal sowie Blutdrücke an allen 4 Extremitäten zu messen.

Bei der kardiale Auskultation zu beachten:

  • Herztöne: 2. Herzton fix gespalten, erst bei Kindern ab Vorschulalter verwertbar (z.B. relevanter Atriumseptumdefekt), frühsystolischer
  • Ejektionsklick (Pulmonal- / Aortenstenose).
  • Lokalisation/Ausstrahlung: Pumonalis, Aorta oder über Erb.
  • Timing: systolisch, diastolisch, systolo-diastolisch.
  • Lautstärke (1-6/6).
  • Dynamik.

Harmlose Herzgeräusche

Akzidentelles Herzgeräusch: gesunde Kinder, oft über Erb, midsystolisch, max. 3/6, «musikalisch», nieder-mittelfrequent, evtl. leiser beim Aufrichten. Ursachen unklar, Strömungsgeräusch, bei Fieber/Anämie häufiger. Nicht abklärungsbedürftig.
Periphere Pulmonalstenose: Häufigstes Herzgeräusch bei Neugeborenen und Säuglingen bis 6 Monate: Kurzes, mittelfrequentes Systolikum, ubiquitär, im Rücken
Nonnensausen: Turbulenz in den Jugularvenen, Alter 3-6 Jahre, systolisch-diastolisch, links und rechts infraclaviculär, nur in aufrechter Position, verschwindet bei Kopfdrehung

Organische Herzgeräusche

VSD: über Erb/4. ICR parasternal links, kurz/hochfrequentes Systolikum (kleiner, muskulärer VSD), hochfrequent/holosystolisch (mittelgrosser VSD).
Valvuläre Pulmonalstenose: rau/niederfrequentes Systolikum 2. ICR links, Ausstrahlung in den Rücken, frühsystolischer Klick.
Grosser Atriumseptumdefekt (ASD): mittelfrequentes Systolikum 2. ICR links (relative Pulmonalstenose durch vermehrten Fluss), fix gespaltener 2. HT (meist asymptomatische Kinder).
Aortenisthmusstenose: mittelfrequentes Systolikum 2. ICR links, im Rücken links und axillär.
Valvuläre Aortenstenose: niederfrequentes, raues Systolikum 2. ICR rechts mit frühsystolischem Klick und evtl. Schwirren im Jugulum.
Persistierender Ductus arteriosus (PDA): systolo-diastolisches Geräusch 1. und 2. ICR links.

Welche Herzgeräusche bedingen eine überweisung an die Kinderkardiologie

  • Diastolische Herzgeräusche
  • Herzgeräusch mit zusätzlichem Schwirren oder verstärktem Präkordium
  • Herzgeräusch und Herzinsuffizienzzeichen
  • Herzgeräusch und Zyanose
  • Herzgeräusch und Dysmorphiezeichen
  • Herzgeräusch mit fix gespaltenem 2. HT.
  • Systolikum lauter als 3/6
  • CAVE: bei Neugeborenen ist alles möglich, evtl. PDA noch offen, rasche Zuweisung

Thoraxschmerzen

Konsultationen wegen Thoraxschmerzen sind v.a. bei Jugendlichen häufig, kardiale Ursachen sind aber eher selten (Tabelle 1). An eine ernsthafte Erkrankung ist v.a. bei akutem Auftreten zu denken (Tab. 2).

Kardiale Ursachen

Akute Thoraxschmerzen
Im Rahmen einer Perikarditis treten häufig Thoraxschmerzen auf, oft mit Fieber und Infektzeichen vergesellschaftet. Auskultatorisch finden sich evtl. ein Reibungsgeräusch oder sehr leise Herztöne. Im EKG sieht man die typischen ST-Streckenveränderungen. Nach herzchirurgischen Eingriffen kann eine Perikarditis (Postkardiotomiesyndrom) bis 4 Wochen postoperativ auftreten. Neben den viralen und bakteriellen Perikarditiden, treten idiopathische und Begleitperikarditiden (paraneoplastisch, Kollagenosen, Nierenleiden) auf.
Im Unterschied zu den Erwachsenen sind Koronarischämien bei Kindern und Jugendlichen selten und praktisch nur bei prädisponierenden Faktoren zu sehen. Im Rahmen einer Kawasaki Vaskulitis können Koronaraneurysmen auftreten, welche im Verlauf zu Koronarkomplikationen führen können. Treten bei diesen Patienten Thoraxschmerzen auf, sollte man immer an eine mögliche Koronarischämie denken.
Frühe Herzinfarkte in der ersten oder zweiten Dekade, können ebenfalls bei homo- oder heterozygoter Hypercholesterinämie auftreten.
Sehr selten sind auch angeborene Koronaranomalien, wie z.B. der Fehlabgang der linken Koronararterie aus der Pulmonalis (ALCAPA) für Thoraxschmerzen verantwortlich. Bei diesen Anomalien können Thoraxschmerzen oder Synkopen unter Belastung hinweisende anamnestische Angaben sein.
Aortendissektionen sind im Kindesalter eine Rarität und treten praktisch nur im Rahmen eines Traumas oder einer Bindegewebserkrankung (Marfan-Syndrom, Ehlers-Danlos) auf.
Sehr selten können Arrhythmien (Extrasystolen, Palpitationen bei tachykarden Rhythmusstörungen) v.a. von kleineren Kindern als «Schmerzen» wahrgenommen werden.

Chronisch-rezidivierende Thoraxschmerzen
Häufig treten bei Jugendlichen über einen längeren Zeitraum etwas unspezifische Thoraxschmerzen auf. Meistens handelt es sich um idiopathische, gutartige Beschwerden, die im Verlauf spontan rückläufig sind. Oft liegen auch muskuloskelettale Beschwerden oder psychisch überlagerte Probleme zugrunde. Relevante kardiale Ursachen sind selten und häufig handelt es sich um harmlose Zufallsbefunde, wie Mitralklappenprolaps oder Extrasystolen. Ein hoher Leidensdruck oder familiäre Belastung führen schlussendlich öfters zu einer kardiologischen Abklärung. Meistens helfen bereits die kardiologische Untersuchung und die Aufklärung über den gutartigen Spontanverlauf, um die Beschwerden zu lindern.

Differentialdiagnosen

Pneumologisch: (Pleuro)-Pneumonie, Asthma, Pneumothorax, Lungenembolie (sehr selten).
Gastrointestinal: Gastritis, Oesophagitis, gastro-ösophagealer Reflux.

Synkopen

Auch Synkopen sind im Kindes- und vor allem Jugendalter etwas Häufiges. Im Kleinkindesalter können Synkopen eigentlich nur im Rahmen von Affektkrämpfen beobachtet werden. Im Teenageralter stehen die neurokardiogenen Synkopen im Vordergrund. Dazwischen sind Synkopen eher untypisch. Selten (< 5%) liegen im Kindesalter organische kardiale Ursachen zugrunde. Aber genau diese kardialen Ursachen sind potentiell lebensgefährlich und es gilt, sie aus den vielen harmlosen Ursachen herauszufiltern (Tab. 3).
Nebst einer gründlichen körperlichen Untersuchung ist eine gute, gezielte Anamnese das wichtigste Instrument bei einer Synkopenabklärung. Als zusätzliche Untersuchung sollte ein Ruhe-EKG durchgeführt werden. Aufgrund dieser Angaben und Befunde kann man in den meisten Fällen sehr gut eingrenzen, welche Kinder weitere kardiologische Abklärungen benötigen.

Strukturelle Herzfehler

Selten, evtl. schwere Aortenstenose. Patienten nach Herzoperation (atriale und ventrikuläre Arrhythmien auch Jahre nach OP). Koronar- anomalien.

Arrhythmie-Syndrome

Hierbei handelt es sich um genetisch bedingte Störungen der Ionenströme an der Zellmembran mit Veränderungen der Repolarisation. Bei diesen Syndromen gibt es stets einen Trigger, (z.B. Emotionen, körperliche Anstrengung, akustische Reize), der zu polymorphen ventrikulären Kammertachykardien (meistens Torsades-de-pointes) führt und dadurch zu Synkopen oder gar zum plötzlichen Herztod. Oft sind diese Erkrankungen familiär gehäuft. In diesen Fällen ist meistens die Anamnese in Kombination mit einem auffälligen EKG bereits wegweisend. Bei sehr suggestiver Anamnese und initial normalem EKG sind evtl. repetitive EKGs, eine Ergometrie oder eine pharmakologische Provokation notwendig, da der Phänotyp im EKG transient vorhanden sein kann.

Kardiomyopathien

Jede Form einer Kardiomyopathie birgt ein relevantes Arrhythmierisiko. Am häufigsten sind die Patienten mit obstruktiver, hypertropher Kardiomyopathie oder arrhythmogener rechtsventrikulärer Dysplasie betroffen. Oft sind die Kardiomyopathien familiär. Die Synkopen treten meist unter verdächtigen Umständen, wie körperliche Belastung auf. Oft gibt es Auffälligkeiten im Ruhe-EKG, welche aber auch sehr diskret sein können. Eine fachärztliche Abklärung ist stets indiziert.

Dr. med. Dina-Maria Jakob

Universitätsklinik für Kardiologie
Schweizer Herz- und Gefässzentrum Bern
Inselspital
Universitätsspital Bern
3010 Bern

dina.jakob@insel.ch

Die Autorin hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Relevante kardiale Erkrankungen im Kinder- und Jugendalter sind selten, aber falls sie verpasst werden, können sie zu tödlichen Verläufen führen.
  • Generell gilt, dass man Neugeborene und Säuglinge einem Kinderkardiologen niederschwelliger zuweisen sollte.
  • Angeborene oder familiäre Erkrankungen stehen im Kindesalter im Vordergrund, degenerative oder sekundäre Herzerkrankungen sind eine Rarität.
  • Eine gründliche, fokussierte Anamnese, kombiniert mit einem guten klinischen Status und evtl. zusätzlichem Ruhe-EKG, lässt in den meisten Fällen differenzieren, ob es sich um ein relevantes kardiales Problem handeln könnte und weitere spezialärztliche Untersuchungen notwendig seien.