Best of ASH 2018

Im Rahmen der 60. Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie (ASH, 1.-4.12.2018 in San Diego) wurden wiederum zahlreiche neue Studienergebnisse bei hämatoonkologischen Neoplasien präsentiert, die Eingang finden werden in die alltägliche Patientenversorgung. Sie beinhalten wichtige Fortschritte in Richtung Präzisionsmedizin, also den zielgerichteten Einsatz des richtigen Medikaments beim richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt. Dabei dürfte sich das Erreichen einer MRD (minimal residual disease)-Negativität als ein wichtiges neues Therapieziel etablieren.

CLL

Bei der CLL ist Ibrutinib als primäre Monotherapie oder in Kombination mit einer Immuntherapie hinsichtlich des progressionsfreien Überlebens (PFS) der Chemoimmuntherapie überlegen (ILLUMINATE- und ALLIANCE-Studie). Vor allem Patienten mit einem unmutierten IGHV profitieren von der Dauertherapie mit Ibrutinib. Es ergab sich aber beim Gesamtüberleben kein Unterschied zwischen der Ibrutinib-Monotherapie und der Kombination mit Rituximab.
Bzgl. Rezidivtherapie ist die Kombination Venetoclax plus Rituximab eine effektive Therapie bei einer begrenzten Therapiedauer. Nur 13 Prozent aller mit dieser Kombination behandelten
Patienten entwickelten innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Therapie eine Progression. Dabei erwies sich der MRD-Status als ein wichtiger prädiktiver Marker, der gut mit dem PFS korreliert (MURANO-Studie). Auch die zeitlich begrenzte, MRD-gesteuerte Kombinationstherapie mit Venetoclax plus Obinutuzumab ergab vielversprechende Ergebnisse sowohl in der Gesamtstudienpopulation als auch beim Hochrisiko-Kollektiv (CLL2-BXX-Studien). Bzgl. der CAR-T-Zell-Therapie, die auch bei der CLL machbar ist, konnte die zusätzliche Gabe von Ibrutinib die Rate an Cytokin-Release-Syndromen reduzieren (schweres CRS: 25 Prozent vs. 0 Prozent) und die Wirksamkeit dieser Therapie leicht verbessern (JCAR014-Studie).

Multiples Myelom

Bei dieser sehr heterogenen Erkrankung können im Rahmen der Primärtherapie mit neuen Induktionsregimen hohe Ansprechraten erzielt werden. Dabei kommen zunehmend 4fache Kombinationen zum Einsatz, die neben den etablierten Substanzen auch Carfilzomib oder einen immunaktivierenden monoklonalen Antikörper umfassen. Mit einer solchen Intensivierung der Therapie lassen sich die Ansprechraten erhöhen (Myeloma XI-Studie). Als Standard hat sich die Hochdosistherapie (HDT) etabliert, bei Hochrisikopatienten sollte auch eine Tandem-HDT diskutiert werden. Das gleiche gilt auch für die Erhaltungstherapie mit Ixazomib (TOURMALINE-MM3-Studie). Für nicht HDT-geeignete Patienten empfehlen sich die Kombinationen Daratumumab plus VMP (ALCYONE-Studie) oder Daratumumab plus Rd (MAIA-Studie). Auch für das Frührezidiv steht eine Reihe von Kombinationen zur Verfügung. Eine HDT ist aber nicht vorteilhaft. Bei Spätrezidiven werden jetzt CAR-T-Zellen und Kombinationen mit Pomalidomid erforscht.

Non-Hodgkin-Lymphome

Ein Update der GALLIUM-Studie verfestigt den Stellenwert von Obinutuzumab plus Chemotherapie beim unbehandelten Follikulären Lymphom. Auch hier erwies sich der MRD-Status als zuverlässiger prädiktiver Marker und somit als wichtiger Schritt zu einer individualisierten Therapieentscheidung. Im Rahmen der AUGMENT-Studie konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit einem Rezidiv die Gabe von Lenalidomid zusätzlich zu Rituximab (R2 vs. R) das PFS signifikant verlängert.
Beim diffusen grosszelligen B-Zell-Lymphom (DLBCL) konnte jetzt erstmals gezeigt werden, dass eine Therapiedeeskalation erfolgreich ist. 4 x R-CHOP 21 plus 2 x Rituximab war 6 x R-CHOP 21 nicht unterlegen, weder beim PFS noch beim OS (FLYER-Studie). Diese Dosisreduktion dürfte für Patienten bis 60 Jahre mit einem aaIPI=0 ohne Bulk der neue Standard werden. Ähnlich sind die Ergebnisse der GOYA-Studie, die 8 Zyklen R-CHOP 21 mit 6-Zyklen R-CHOP 21 verglich und keinen signifikanten Unterschired ergab. Nach diesen Daten stellen 8 Zyklen eine Übertherapie dar, die insbesondere bei älteren Patienten vermieden werden sollte.
Eine «Real-World-Analyse» der Daten einer CAR-T-Zell -Therapie (Axicabtagene Ciloleucel) ergab folgendes: Die ORR Tag 30 betrug 80 Prozent, die Rate an kompletten Remissionen lag an Tag 30 bei 47 Prozent, das mediane PFS bei 6,2 Monate und das OS nach 6 Monate bei 72 Prozent und dies bei einem CRS von 7 Prozent. Diese Daten zeigen, dass die CAR-T-Zell-Therapie zwischenzeitlich den Bereich des experimentellen Ansatzes bei den aggressiven Lymphomen verlassen und einen zunehmenden Stellenwert in der Routineversorgung erreicht hat.

Quelle: ASH-Jahrestagung, San Diego, 30.11.-4.12.2018

Dr. med.Peter Stiefelhagen

Parlament verwirft unfaire Erhöhung der Franchise

Weil die Gesundheitskosten und damit die Krankenkassen-Prämien stetig steigen, sucht die Politik verschiedene Massnahmen zur Kostendämpfung. Dabei sollen alle Akteuren in die Pflicht genommen werden. Da Lösungsansätze bei anderen Akteuren schwierig umzusetzen sind, versuchte das Parlament zuerst bei den Versicherten anzusetzen Gleich mehrere entsprechende Geschäfte und Vorstösse wurden in der diesjährigen Frühjahrsession beraten.

Eine der wichtigsten gesundheitspolitischen Debatten wurde zur Anpassung der Franchisen an die Kostenentwicklung (18.036) geführt. Mit dieser Vorlage erfüllte der Bundesrat einen Auftrag des Parlaments. Die Änderung des KVG sah vor, dass die ordentlichen Franchisen automatisch um 50 Franken erhöht werden, sobald die durchschnittlichen Kosten je versicherte Person in der Grundversicherung 13 Mal höher als die Mindestfranchise sind. Bei den heutigen steigenden Gesundheitskosten rechnete man damit, dass dies im Jahr 2020 bereits das erste Mal der Fall ist. Bundesrat Alain Berset ging anschliessend von einer Erhöhung um 50 Franken alle drei bis vier Jahren aus. Die Befürworter glauben, dass mit der Erhöhung der Franchise die Eigenverantwortung der Versicherten gestärkt wird. Allerdings haben bisherige Erhöhungen der Franchisen keinen kostendämpfenden Effekt gehabt, was auch Bundesrat Berset in der Debatte betonte. Nachdem beide Räte der entsprechenden Änderung des KVG in der Detailberatung noch zugestimmt hatten, wurde sie im Nationalrat in der Schlussabstimmung in einer unheiligen Allianz von SP, Grünen sowie – nach einem kurzfristigen Meinungsumschwung – von einer Mehrheit der SVP und zahlreichen Enthaltungen aus der CVP zu Fall gebracht.

Ein weiterer Vorstoss, der «positive Anreize für kostenbewusstes Verhalten» schaffen wollte, um die Prämienbelastung zu senken, war eine Motion der nationalrätlichen Gesundheitskommission (SGK-N) selbst (18.4096). Eine Mehrheit wollte den Bundesrat beauftragen, die ordentliche Franchise gemäss Verordnung über die Krankenversicherung (KVG) auf 500 Franken festzusetzen. Eine Minderheit beantragte hingegen, die Motion abzulehnen. Ebenso der Bundesrat. Er hielt fest, dass «in der Schweiz die Kostenbeteiligung der Versicherten im internationalen Vergleich hoch ist». Er ist der Ansicht, dass eine Anhebung der ordentlichen Franchise um 66 Prozent unzumutbar ist, insbesondere für Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der Nationalrat hat die Motion in der Frühjahrsession abgelehnt, damit ist diese vom Tisch.
Auch eine Parlamentarische Initiative von Roland Borer aus dem Jahr 2015 verlangt die «Stärkung der Selbstverantwortung im KVG» (15.468). Sowohl die SGK-N wie auch die ständerätliche Gesundheitskommission (SGK-S) fanden es ursprünglich eine gute Idee, dass Versicherte ihre Wahlfranchisen nur noch alle drei Jahre wechseln dürfen. Während der Nationalrat auf die Vorlage eingetreten ist und den Entwurf der SKK-N detailliert diskutiert hat, ist der Ständerat in der Frühjahressession nicht darauf eingetreten. Er folgte damit der vorberatenden SGK-S, die zum Schluss gelangte, «dass diese Vorlage die Selbstverantwortung im KVG nicht stärken, sondern im Gegenteil sogar noch schwächen könnte, weil die Versicherten tendenziell risikoscheu seien und eine tiefe Franchise dem Risiko einer mehrjährigen Bindung an eine hohe Franchise vorziehen könnten». Damit ist der Ball wieder beim Nationalrat.

Erhöhung der ordentlichen Franchise würde Krebsbetroffene unfair belasten

Die Krebsliga begrüsst diese Entscheide des Parlaments. Denn eine Erhöhung der ordentlichen Franchise würde die Falschen treffen. Eine Mindestfranchise wird von Versicherten insbesondere aufgrund des höheren Alters oder einer chronischen Krankheit gewählt. Die zahlreichen komplexen Behandlungen und Nachuntersuchungen sind neben der individuellen herausfordernden Situation für chronisch kranke Patientinnen und Patienten kostspielig und machen einen Grossteil unserer Gesundheitskosten aus. Es ist weiter zu befürchten, dass die Zahl der Menschen, die aufgrund der höheren Franchise auf eine medizinische Behandlung verzichten, zunehmen wird. Eine zu spät behandelte Erkrankung ist aber schwieriger und aufwendiger zu behandeln – was wiederum teurer ist.
Die Fachleute der Krebsliga stellen fest, dass ein Teil der Krebsbetroffenen vermehrt Schwierigkeiten hat, Krankenkassenprämien, Franchisen und Selbstbehalte zu bezahlen. 2018 betrafen beispielsweise die Hälfte der Gesuche an den Hilfsfonds für Härtefälle der Krebsliga solche Kosten. Denn eine Krebserkrankung kann drastische finanzielle Folgen mit sich bringen. Viele Betroffene können eine gewisse Zeit gar nicht oder nur teilweise arbeiten, was massive finanzielle Einbussen mit sich bringen kann. Zudem müssen sich die Patientinnen und Patienten als Versicherte an den Kosten der Behandlungen beteiligen. Neben den monatlichen Prämien und der ordentlichen Franchise kommt ein jährlicher Selbstbehalt von 10% der Kosten bis zu max. 700 Franken sowie ein Beitrag an die Spitalkosten hinzu. Krankenkassen erheben ausserdem einen Selbstbehalt von 20% für Medikamente, die durch ein günstigeres in der Spezialitätenliste aufgeführtes Medikament austauschbar ist. Nicht zu vergessen sind die weiteren zusätzlichen Kosten wie beispielsweise für nicht rezeptpflichtige Medikamente, Transport, auswärtige Verpflegung, zusätzliche Kinderbetreuung und vieles mehr.
Hinzu kommt, dass fast ein Drittel von erwachsenen Krebsbetroffenen sogenannt «off-label» behandelt wird. Dies sind Behandlung mit Medikamenten, die ausserhalb ihrer zugelassenen Indikation angewendet werden. Ob die Krankenkasse eine off-label-Behandlung vergütet, entscheidet sie nachdem ein Kostengutsprachegesuch gestellt und der Einzelfall beurteilt wurde. Die Unsicherheit, ob ein oft überlebenswichtiges Medikament bezahlt wird, ist für Betroffene sehr belastend. Zudem vergeht oft wertvolle Zeit. Die Entscheide lassen sich auch nicht immer klar nachvollziehen, weil es an Transparenz und Vergleichbarkeit fehlt. Leidtragende sind dabei die Patientinnen und Patienten. Wird die Vergütung von der Krankenkasse verweigert, müssen die Kosten selbst übernommen werden, ansonsten erhalten Betroffene die Behandlung nicht. Formal bleiben noch zwei Möglichkeiten: Patientinnen und Patienten können sich an die Ombudsstelle der Krankenkasse wenden oder den Rechtsweg beschreiten. Allerdings können krebskranke Menschen und ihre Angehörigen in dieser überaus herausfordernden Phase weder die Kraft noch die Zeit hierfür aufbringen.
Können Prämien und Selbstbehalte nicht mehr bezahlt werden, droht Krebsbetroffenen ein «Leistungsstopp». Je nach Kanton werden Betroffene auf einer sogenannten «Schwarzen Liste» aufgeführt und werden nur noch in Notfällen behandelt. In diesem Zusammenhang ist fraglich, was «Notfall» bedeutet. Wird beispielsweise die Vergütung einer Computertomographie oder parenteraler Ernährung verweigert, weil diese nicht als Notfallbehandlung gelten, kann dies für Krebspatientinnen und -patienten lebensbedrohend sein.
Sicher ist, dass es im Schweizer Gesundheitswesen noch viel Potenzial für die nötige Kostendämpfung gibt. Anstatt ältere und chronisch kranke Menschen noch mehr zu belasten, ist ein anderer Fokus angebracht.

Franziska Lenz

Leiterin Politik und Public Affairs Krebsliga Schweiz

Impfungen im Rahmen einer Reiseberatung

Eine geplante Reise ist eine optimale Gelegenheit, das Impfbüchlein (falls vorhanden) wieder einmal hervorzuholen und zusammen mit dem medizinischen Reiseberater zu kontrollieren. Welche Grundimmunisierungen fehlen, sind nicht komplett und müssen deshalb nachgeholt werden? Sind für diese Reise notwendige Impfungen empfehlenswert, notwendig, obligatorisch und ggf. vorzunehmen?

Eine Reiseberatung richtet sich immer nach

  • dem Reiseziel (Kontinent, Staat, Stadt/Ort, Resort …)
  • dem allgemeinen Gesundheitszustand des Reisenden (gesund, krank, immunsupprimiert, schwanger, Säugling, Senior …)
  • dem Reisezweck (Business, Badeferien, Velotour, Verwandten-besuch…)
  • der Art der Reise (Camping, Rucksack, Schiffsreise, Gruppe)
  • dem Reisestil (einfach, Luxus)
  • dem Klima/Jahreszeit in der geplanten Destination
  • der Transportart (Velo, Auto, Flugzeug, zu Fuss…)
  • den lokalen gesundheitlichen Risiken (endemische Krankheiten, allfällige Epidemien) mit deshalb allfällig nötigen Präventivmassnahmen (Impfungen, Malariaprophylaxe etc.)
  • der Sicherheit (Krieg, Unruhen, Politik, Terror … siehe EDA www.eda.admin.ch und https://www.auswaertiges-amt.de/de/).

Der Schweizerische Impfplan 2019, publiziert vom BAG, empfiehlt für die Grundimmunisierung folgende Impfungen: Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, H. influenzae Typ B (für Kleinkinder/Säuglinge), Hepatitis B, (Pneumokokken (PCV13)), Masern, Mumps, Röteln, Varizellen (falls nicht durchgemacht) und HPV (für Kinder und junge Erwachsene). Details s. Schweizerischer Impfplan (Abb. 1.) (1).
Besonderes Gewicht beim Basisschutz sollte auf die Masernimpfung gelegt werden. Die Masern hat letztes Jahr weltweit auf > 307 000 Meldungen zugenommen, die WHO schätzt die Zahl der Erkrankten gar auf über 2 Millionen mit 110 000 Todesfällen.
Polio ist trotz internationalen Impfkampagnen noch nicht ausgerottet, wie einzelne Fälle aus Pakistan, Afghanistan, Nigeria, Indonesien und Papua-Neuguinea zeigen. Dementsprechend ist verständlich, dass für gewisse Situationen, z.B. bei Ausreise aus Indonesien ein Impfobligatorium eingeführt wird.
Für die Hepatitis B besteht das grösste Risiko bei sexuellen Kontakten.

Impfungen und Reisen

Je nach Reiseziel sind gewisse Impfungen obligatorisch oder empfohlen. Aktuelle Informationen dazu werden regelmässig publiziert (2 – 5).
Für Reisen zusätzlich empfohlen (siehe Details unten) sind ggf. Hepatitis A, ev. Hepatitis B, Gelbfieber, Haemophilus influenzae (nur für Kleinkinder/Säuglinge), Humane Papillomaviren (für junge Frauen/Mädchen und Männer/Jungen) und weitere ergänzende Impfungen wie FSME, Meningokokken, Pneumokokken, Influenza, Tollwut, Typhus, Cholera.

Gelbfieber

Gelbfieber ist nur in Afrika und Südamerika verbreitet. Die Krankheit ist eine durch Mücken übertragene Viruskrankheit, die häufig tödlich verläuft. Lokale kleine Ausbrüche sind relativ häufig, grössere seltener, aber bekannt. So grassiert eine anhaltende Epidemie seit 2016 in Brasilien, die sich derzeit nach S/SE bis nach São Paulo und Paranà ausbreitet. Zwischen Jan. 2018 bis zum März 2019 wurde in Europa bei fünf Touristen nach einer Reise nach Brasilien Gelbfieber diagnostiziert. Anfang 2018 starb in der Schweiz ein Tourist nach der Rückkehr aus Brasilien. Er war nicht geimpft gewesen (6). Die Gelbfieberimpfung ist für die Einreise in bestimmte Länder obligatorisch, s. BAG-Bulletin.
Verschiedene Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass mit einer einmaligen Gelbfieberimpfung bei den meisten Personen ein lebenslanger Schutz erzielt werden kann. Trotzdem ist bei einer länger als 10 Jahre zurückliegenden Impfung oder bei Reisen in ein Hochrisikogebiet eine (einzige) Auffrischimpfung zu empfehlen. Zudem halten gewisse Länder an eigenen Einreisebedingungen fest oder ändern sie kurzfristig. Bei Unsicherheiten über die lokalen Vorschriften lohnt es sich, die entsprechende Botschaft in Bern zu konsultieren.
Da es in den letzten Jahren immer wieder zu Liefer- und Versorgungsengpässen beim Gelbfieberimpfstoff (in Europa meist Stamaril®) kam, wird in den USA und Kanada die Fraktionierung des Impfstoffes diskutiert. In Brasilien wird sie in der heutigen Ausnahmesituation praktiziert. Sie ist aber bei uns nicht zugelassen.
Für die Verabreichung der Gelbfieberimpfung braucht es eine Sonderbewilligung. Sie wird vom Bund/BAG an Ärzte mit der dazu erforderlichen Ausbildung (vorwiegend FMH Tropenmedizin) vergeben. Die dazu berechtigen Ärzte und Impfinstitute sind unter 3 und 7 aufgelistet. Die Impfung sollte spätestens 10 Tage vor der Einreise im Gelbfieberland durchgeführt werden, eine Impfauffrischung ist noch am Reisetag möglich. Da es sich um einen Lebendimpfstoff handelt, ist er kontraindiziert bei immunsupprimierten Patienten, Thymusdysfunktion, bei hohem Fieber, in der Schwangerschaft und Stillzeit.

Hepatitis A

Die Hepatitis A ist weltweit, v.a. aber in Ländern mit ungenügender sanitärer Versorgung verbreitet. Da das Virus meistens fäko-oral über Essen oder Trinken verbreitet wird, sollten alle Reisenden ausserhalb von Westeuropa, Nordamerika, Japan, Australien oder Neuseeland geimpft sein. Die erste Impfung schützt mindestens während eines Jahres, eine 2. Impfung nach 6-12 Monaten oder auch später (noch nach Jahren möglich) gibt einen lebenslangen Schutz. Sogar eine Impfung zu Beginn der Inkubationszeit gibt noch einen Schutz.

Tollwut

Die Tollwut ist eine tödlich verlaufende Viruskrankheit. 1990 – 2012 erkrankten und starben 60 europäische Touristen, seither 1-2 Reisende jährlich, 95% davon nach einem Hundebiss (8). Reisedestinationen waren Asien (v.a. Indien) und Afrika. Im Verhältnis zur grossen Zahl der Touristen ist das Risiko sehr klein.
Empfohlen wird die Impfung bei Reisen in «high risk areas» von mehr als 30 Tagen oder für längere Aufenthalte in Ländern mit grossem Tollwutrisiko (s. BAG-Bulletin). Weniger zurückhaltend sollte man sein bei der Indikation zur Impfung von Kleinkindern, Joggern, Zweiradfahrern, Reisen in sehr abgelegene Gebiete und Arbeiten mit Tieren (bei Fledermäusen auch in Europa und Australien).
Zur Verfügung stehen die gleichwertigen Impfstoffe Rabipur® und Vaccin Rabique Mérieux®. Das Impfschema wurde von 3 auf 2 Basisimpfungen reduziert (Tag 0 und Tag (7-)28; eine Boosterimpfung nach einem Jahr schützt für weitere 10 Jahre, Postexpositionell sollten geimpfte Personen 2 Booster erhalten am Tag 0 und 3.
Nicht geimpfte Personen können postexpositionell noch geimpft werden (z.B. 4 Dosen Rabipur® i.m. an den Tagen 0-3-7-(21-28)). Zusätzlich sollten sie humanes Immunglobulin (teuer und an vielen Orten nicht erhältlich) lokal und i.m. erhalten (9, 10).

Meningokokken

Meningitis Ausbrüche gibt es meistens während der Trockenzeit in der Region der Subsahara (Meningitisgürtel) in Afrika. Das Risiko angesteckt zu werden ist klein, in beengten Unterkünften und mit engem Kontakt zur Lokalbevölkerung v.a. während der Epidemiezeit − meist von Ende Dez. bis Anfang Mai − etwas erhöht. Die Krankheit verläuft oft rasch und häufig tödlich oder mit Residuen. Die Impfung erfolgt heute mit dem quadrivalenten Konjugatimpfstoff Menveo® (gegen die Serogruppen ACWY). Eine einzige Injektion gibt einen Schutz während mind. 3 Jahren gegen die enthaltenen Serogruppen. Ein Impfstoff gegen die Serogruppe X (v.a. im Niger) ist nicht vorhanden.
Obligatorisch ist die quadrivalente Impfung für Pilgerreisen (Hadsch, Umra) nach Mekka. Empfohlen für Reisende in die Sahelzone Afrikas während der Epidemie- /Trockenzeit.

Japanische Enzephalitis

In S- und SE-Asien ist die japanische Encephalitis mit 30 000-50 000 Fällen jährlich eine nicht seltene Ursache von Hirnentzündungen v.a. bei Kleinkindern. Virusträger (Reservoir) sind Watvögel und Schweine, übertragen wird das Flavivirus durch Culex Mücken am Abend und nachts, v.a. in wasserreichen Gegenden, Reisfeldern etc. Betroffene ist ganz Südostasien, China und Indien. In Japan ist die Krankheit dank systematischer Impfung der Lokalbevölkerung sehr selten geworden. Das JE Risiko für Touristen ist sehr klein (< 2 Meldungen/Jahr bei Touristen weltweit). Ein erhöhtes Risiko besteht in bewässerten Gegenden und im Zusammenhang mit Schweinezucht. Es gibt aber auch Einzelfälle von Kurzaufenthaltern, die sich in Angkor oder in Stadtnähe infizierten. Impfempfehlungen sind deshalb nicht einfach.
1973 bis 2010 wurden 59 Fälle bei Reisenden beschrieben. Da die Krankheit meist nicht meldepflichtig ist, dürfte die Dunkelziffer höher sein.
Eine Impfung mit dem Totimpfstoff Ixiaro®, der seit 2009 auf dem Markt ist, gibt einen guten Schutz und wird v.a. empfohlen bei längeren Aufenthalten auf dem Lande, für Camper, Outdooraktivitäten etc. Es sollten 2 Dosen im Abstand von einem Monat verabreicht werden, und bei anhaltender Exposition ein Booster nach 15 Monaten und 4 Jahren (5).

Abdominaltyphus

Abdominaltyphus (Infektion mit S.e. typhi) kommt weltweit in vielen Entwicklungsländern sporadisch und seltener epidemisch vor. Das Infektionsrisiko ist sehr klein (25 Fälle 2018 in der Schweiz, davon 9 Fälle aus dem indischen Subkontinent, 2 aus Indonesien, sonst nur Einzelfälle). Wegen der Inkubationszeit von 2-3 Wochen sind die meisten Reisenden bei Krankheitsausbruch wieder zu Hause und können antibiotisch behandelt werden.
Der bei uns verfügbare perorale Impfstoff Vivotiv® (je 1 Tbl. an Tag 1,3 und 5) ergibt nur einen beschränkten Schutz von 50-70% (keine Studienresultate bei Reisenden!) und wird deshalb nur zurückhaltend empfohlen, d.h. in erster Linie für Reisen unter ungünstigen hygienischen Verhältnissen z.B. auf dem indischen Subkontinent.

Cholera

Lokale Choleraausbrüche werden immer wieder gemeldet, z.B. aus Flüchtlingslagern Afrikas, Haitis und Bangladeschs (Rohingya) (3).
Eine (orale) Impfung (Dukoral®, 2 Dosen im Abstand von 7 Tagen) ist möglich, selten empfohlen (z.B. bei Arbeit in Flüchtlingslagern mit Cholera) und sehr selten obligatorisch (z.B. Reisen auf gewissen Frachtschiffen).

Pneumokokken

Ab dem Impfplan 2019 wird die Impfung gegen Pneumokokken im Rahmen der Basisimpfung empfohlen. Das BAG empfiehlt, die generelle Impfung mit PPV23 bei den ≥ 65-Jährigen zu sistieren und bei Personen mit einem erhöhten Risiko durch die PCV13-Impfung zu ersetzen. Betroffen sind Personen mit chronischen Erkrankungen von Herz, Lunge, Leber, Nieren, bei Sichelzellanämie, Asplenie und schlecht eingestelltem Diabetes. Weiter bei Neoplasien, nach Transplantationen und bei Störungen des Immunsystems. Spezifische Empfehlungen bei Reisen liegen nicht vor.

Influenza

Wegen des engen Kontaktes zu Mitreisenden in Bus, Zug oder Flugzeug ist die Influenza Impfung allen Reisenden während der Grippezeit zu empfehlen, d.h. auf der Nordhemisphäre im Winter, aber ev. auch Reisenden im (europäischen) Sommer auf die Südhalbkugel. Wichtig ist sie auch für Reisende auf Kreuzfahrtschiffen (11). Leider ist bei uns meist kein Impfstoff für die Südhalbkugel erhältlich.

Tickborne Encephalitis (TBE)

Es existieren 3 Subtypen

  • Frühsommer Meningoenzephalitis (FSME) / European/
    Western Tickborne Encephalitis
  • Russian Spring-Summer Encephalitis (RSSE) TBE/Far Eastern TBE
  • Siberian TBE

Die TBE sind durch Zecken übertragene Flavivirusinfektionen, die nicht nur in der Schweiz, Zentral- und Nordeuropa, sondern v.a. in Osteuropa und Russland, Zentralasien bis in die Mongolei (Einzelfälle in China, Japan) vorkommen (12).
Gefährlicher als FSME sind RSSE und die sibirische Form. Die europäischen Impfstoffe (FSME Immun®, Encepur N®) schützen auch gegen RSSE und den Sibirischen Subtypen. Impfempfehlung bei Reisen bes. Outdoor- und Wanderferien in Osteuropa, im Baltikum und in Russland/Zentralasien. Schweiz: Empfohlen wird die FSME Impfung neu für das ganze Land mit Ausnahme von Genf und dem Kt. Tessin. Für die Grundimmunisierung braucht es 3 Injektionen (Monat 0,1 und nach 5-9-Monate, je nach Impfstoff), ein Rappel nach 10 Jahren. Schnellschemen stehen zur Verfügung. Zu beachten sind gelegentliche Lieferengpässe für Impfstoffe, vor allem beim Tollwut- und Gelbfieberimpfstoff. Der monovalente Polioimpfstoff (Poliorix®) ist in absehbarer Zeit nicht lieferbar. Gegen Polio müssen zur Zeit Kombinationsimpfstoffe (Revaxis® oder Boostrix® Polio etc.) verwendet werden. Der Impfstoff Td-pur® wurde definitiv aus dem Handel genommen. Infos zu lieferbaren Impfstoffen unter (5).

Andere nicht impfbare Krankheiten

Denguefieber, eine durch Tigermücken (Aedes aegypti und Ae. albopictus) übertragene Virusinfektion, ist mit mehr als 300 Millionen jährlichen Krankheitsfällen die weltweit häufigste Infektionskrankheit. Sie dehnt sich weiter aus und stellt auch eine potentielle Bedrohung v.a. für Südeuropa dar (16). Impfstoffe sind in Entwicklung. Zur Vermeidung einer Infektion mit dem Chikungunyavirus, das u.a. in Lateinamerika, Afrika und Asien (z.B. Thailand, auch auf der Ferieninsel Phuket) vorkommt (17), ist ein rigoroser Mückenschutz, auch vor überwiegend tagaktiven Stechmücken zu beachten. Das 2012 erstmals nachgewiesene neuartige Coronavirus (MERS-CoV), als dessen natürliches Tierreservoir Dromedare identifiziert werden konnte, führt bei Infizierten zu Pneumonien. Die meisten Fälle sind auf oder in der Nähe der Arabischen Halbinsel aufgetreten, betroffen sind v.a. Saudi-Arabien, aber auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Oman, Kuwait, Jemen und Jordanien. Das Zikavirus ist besonders für Schwangere und deren Ungeborene gefährlich. Verbreitung und Vorsichtsmassnahmen findet man beim STPH (18). Kurz beschrieben sind hier nur vier der vielen nicht impfbaren Infektionskrankheiten, von denen Reisende betroffen sein können. Für die Vielzahl weiterer, bei Touristen seltenen Virusinfektionen wie Ebola, Nipahvirus, RRV, West-Nil-Virus muss auf die Spezialliteratur verwiesen werden, ebenso wegen mangelnden Impfmöglichkeiten auf Protozoen- und Parasitenerkrankungen.
Für Ebola, Lassa Fieber, Marburg Fieber, Chikungunya Virus und Zikavirus sind Impfstoffe noch im Versuchsstadium. Keine Impfung gibt es gegen Hepatitis C, HIV und weitere Viruskrankheiten. Zu guter Letzt sei daran erinnert, dass Unfälle das grösste Reiserisiko darstellen.

Dr. med. Claudia Sigg-Farner

Dolderstrasse 30
8032 Zürich

dr.med.c.sigg@bluewin.ch

Dr. med. Maia Funk

Blümlisalpstrasse 72
8006 Zürich

maia.funk@bluewin.ch

Die Autorinnen haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die ärztliche Reiseberatung stellt eine ideale Gelegenheit dar, den Impfstatus zu überprüfen und zu komplettieren
  • Im Schweizerischen Impfplan 2019 wird eine Grundimmunisierung für Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, H. influenzae Typ B, Hepatitis B, Masern, Mumps, Röteln Varizellen und HPV empfohlen
  • Aktualisierte Impfempfehlungen für Reisende werden regelmässig im Bulletin des BAG publiziert.

1. www.infektiologie.usz.ch/ueber-die-klinik/…/2_Berger_Zinkernagel_Impfen.pdf (abgerufen 18.03.2019
2. https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/cc/Kampagnen/Bulletin/2018/BU_50_18.pdf.download.pdf/BU_50_18_DE.pdf
3. www.safetravel.ch
4. www.swisstph.ch
5. www.infovac.ch
6. https://ecdc.europa.eu/en/news-events/yellow-fever-risk-assessment-high-number-infected-travellers-highlights-needs
7. https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/infektionskrankheiten/gelbfieber/gelbfieber-impfaerzte.pdf.download.pdf/gelbfieber-impfaerzte-de.pdf
8. https://www.researchgate.net/publication/51740154_Imported_Human_Rabies_Cases_in_Europe_the_United_States_and_Japan_1990_to_2010
9. Neues Tollwut­impfschema in der Reisemedizin. Hatz Chr. et al.: Swiss Medical Forum 2018;18 (32):626-627
10. https://www.who.int/immunization/policy/position_papers/pp_rabies_summary_2018.pdf
11. https://www.cdc.gov/quarantine/cruise/management/guidance-cruise-ships-influenza-updated.html
12. https://www.cdc.gov/vhf/tbe/index.html
13. www.SwissTPH.ch
14. www.bag.admin.ch
15. www.tropimed.com
16. https://www.eurosurveillance.org/images/dynamic/EE/V21N21/art22486.pdf
17. https://www.cdc.gov/chikungunya/geo/index.html
18. https://www.swisstph.ch/de/reisemedizin/informationen-zum-zika-virus/

Virus Hepatitis A – E

Suche die chronische, asymptomatische Virushepatitis! Erkenne die Leberfibrose! Die chronische Hepatitis-B-Leberentzündung kann mit Dauertherapie sicher unterdrückt werden, die Heilung aber ist selten. Die orale Hepatitis-C-Therapie heilt in >90% die Infektion und wird von den Kassen bezahlt. Hepatitis E wird durch Schweine- und Wildfleisch oder fäkal oral übertragen. Sie ist eine Differentialdiagnose der akuten Hepatitis. Die Diagnose erfolgt mittels HEV-RNA Bestimmung im Blut, die Heilung ist spontan.

Die Virus-Hepatitis-Infektionen verlaufen in der Regel stumm. Nur wer sucht, findet die Hepatitis Infektionen! Im Gegensatz zu früher bedeutet das Finden einer Virushepatitis heute immer eine therapeutische und prognostische Konsequenz. Bei der Hepatitis C wird heute jede Infektion, unabhängig, ob die Leber erkrankt ist, behandelt. Virus-Hepatitis-Infektionen sind übertragbar. Nur bei einem Teil der mit Hepatitisviren infizierten Patienten entsteht aber eine Lebererkrankung. Die beste Methode, den Krankheitsschweregrad zu diagnostizieren, bleibt die Leberbiopsie. Die Messung der Elastizität der Leber (Fibroscan oder Share Wave Messung) kann diese aber oft ersetzen. Auch die Laborwerte lassen das Risiko für Leberfibrose erkennen. Eine zentrale Funktion haben hier die GOT/AST und die Thrombozytenzahl (APRI Score: [(AST / ULN AST) x 100] / Thr. (109/l)]).

Hepatitis A: Die Schweizer Bevölkerung hat wieder eine geringere Immunität gegen Hepatitis-A-Virus-Infektionen. In der Schweiz wurden 1988 noch 628 akute Hepatitis-A-Fälle gemeldet (9,5/100000 Einwohner), 2016 waren es nur noch 43 Fälle (0,5/100000 Einwohner). 2018 waren es wieder 103 Fälle. Eine akute Hepatitis-A-Infektion führt häufig zu Ikterus, einer mehrwöchigen Erkrankung, Arbeitsausfall und einem Ansteckungsrisiko für die Umgebung. Erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht bei aktiven Drogenkonsumenten und bei Männern, die Sex mit Männern haben. Im Mai 2017 kam es in Berlin zu einer Epidemie unter Männern mit über 100 akuten Hepatitis-A-Fällen, 2017 in Frankreich mit über 800 Männern und im Frühjahr 2013 mit über 350 Fällen in Norditalien. Deshalb soll Hepatitis A bei Risikopatienten geimpft werden. Unverändert entstehen aber nach einer durchgemachten akuten Hepatitis A nie eine chronische Hepatitis und immer eine Immunität und damit nie eine Zweitinfektion.

Hepatitis B: Die Terminologie der Hepatitis-B-Stadien wurde neu modifiziert. Heute unterscheidet man zwischen chronischer Hepatitis-B-Virus-Infektion (früher gesundes HBs-Antigen-Trägertum) im Gegensatz zur chronischen Hepatitis bedingt durch das Hepatitis-B-Virus. Die chronische Hepatitis-B-Virus-Infektion zeigt keine Hinweise für eine Lebererkrankung. Die Transaminasen sind normal und die HBV DNA ist in der Regel < 2000 IU/ml. In der Leberbiopsie finden sich weder Entzündung noch Fibrose. Die Fibroscan Messung ist normal. Gegen diese chronische Infektion ohne Lebererkrankung gibt es noch keine Behandlung, die Leber ist noch gesund. In diesem Stadium ist die Infektiosität vorhanden, aber gering, und die Prognose für die Leber günstig. Diese Patienten sollen lediglich einmal im Jahr mittels der Transaminasen überwacht werden. Zudem soll bei der ersten Diagnose eine ausführliche ärztliche Beratung durch einen Hepatologen, respektive einen in Virushepatitis erfahrenen Arzt erfolgen und die Leber-Elastizität mittels Fibroscan oder Share Wave Elastographie (ARFI) als normal dokumentiert werden. Bei HBV-infizierten Patienten über 40 Jahre gibt es immer wieder Fälle, wo trotz normaler Transaminasen eine relevante Fibrosierung besteht, so dass diese gegebenenfalls genauer abgeklärt werden sollten.
Bei der chronischen HBV bedingten Entzündung der Leber ist die Situation anders. Diese Erkrankung muss medikamentös behandelt werden. Eine fortgeschrittene Fibrose benötigt eine lebenslange Virussuppression mit einem Tenofovir-Präparat unabhängig der Viruslast. Patienten, die zwar noch keine relevante Fibrose zeigen, aber eine relevante Aktivität, gemessen an erhöhten Transaminasen und einer erhöhten HBV-Virus-DNA von in der Regel > 20 000 IU / ml, benötigen ebenso eine lebenslange Virussuppression mit Tenofovir. Bei der Tenofovir Dauertherapie konnten bisher keine Virusresistenzen auch nach > 10 Jahren Therapie nachgewiesen werden. Dies im Gegensatz zur heute weitgehend verlassenen Therapie mit Lamivudin. Entecavir, eine mögliche Alternative zur Tenofovir-Therapie, selektioniert zwar nur selten Virusresistenzen, nach Jahren können diese aber auftreten. Diese Option bleibt dadurch die zweite Wahl bei einem Dauer-Therapiekonzept. Neu gibt es alternativ zum herkömmlichen Tenofovir disoproxil das gleich wirksame Tenofovir alafenamid. Letzteres kann 10 Fach tiefer dosiert werden und weist keine ossären oder renalen Nebenwirkungen auf, wie sie bei Tenofovir disoproxil sehr selten beobachtet werden können. Allerdings liegt der Preis des Tenofovir alafenamid doppelt so hoch, wie beim Generikum des Tenofovir disoproxil.
Jährlich werden über 1300 neue chronische Hepatitis-B-Patienten durch die obligatorischen Labormeldungen vom BAG in der Schweiz erfasst. Ursache dafür ist die Migration. Bei Menschen mit Migrationshintergrund, sei es Südeuropa, Osteuropa, Asien oder Afrika wurde die Infektion fast immer bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren akquiriert. Damit ist der Geburtsort entscheidend für die Risikobeurteilung. Es ist sinnvoll, die Geschwister eines Indexpatienten gegen Hepatitis B zu testen. Sichergestellt werden muss, dass die Angehörigen im gleichen Haushalt eines Indexpatienten effektiv gegen Hepatitis B geimpft worden sind. Die in der Kindheit akquirierte chronische Hepatitis B ist kaum je heilbar. Die Primoinfektion im Erwachsenenalter hingegen führt in 90% zu einer spontanen Ausheilung.
Das Schwangerschaftscreening hat zum Ziel, bisher nicht erkannte Hepatitis-B-Infektionen aufzudecken. Dies hat für die Verhinderung der Übertragung grosse Konsequenzen. Ist die Virusreplikation bei der Mutter im letzten Trimenon hoch (> 20 000 IU / ml) erfolgt heute eine präventive antivirale Therapie im letzten Trimenon, um das Übertragungsrisiko bei der Geburt zu senken. Bei der Geburt erfolgt innerhalb der ersten Stunden nach Geburt eine passive Impfung mit Hepatitis-B-Immunglobulin und später während den ersten 6 Monaten die reguläre aktive Hepatitis-B-Impfung. Eine Sectio Entbindung ist nicht zwingend notwendig. Stillen ist erlaubt.

Hepatitis D: Die Delta Hepatitis ist eine Superinfektion auf eine Hepatitis-B-Infektion. Deshalb müssen bei jedem Hepatitis-B-infizierten Patienten einmal im Leben auch die Hepatitis-D-Antikörper bestimmt und dokumentiert werden. Anders als bei der Hepatitis B gibt es aber unverändert keine sinnvolle, etablierte Behandlung der glücklicherweise seltenen Hepatitis D. Eine Therapie der zu Grunde liegenden B Infektion nützt in der Regel nicht.

Hepatitis C: Neu ist, dass die Hepatitis-C-Virus-Infektion durch eine kurze, wirksame, hervorragend verträgliche, oral eingenommene Therapie geheilt werden kann, und dass die Therapie für alle HCV infizierten Patienten in der Schweiz Krankenkassen-pflichtig geworden ist.
Hepatitis-C-Patienten ohne signifikante Leberfibrose werden während 8-12 Wochen behandelt. Wenn das Virus 3 Monate nach Abschluss der Therapie anhaltend nicht nachweisbar ist (> 90 % Wahrscheinlichkeit), müssen keine weiteren Kontrollen mehr gemacht werden. Diese Patienten sind von der Hepatitis-C-Virus-Infektion definitiv geheilt. Auch nach erfolgreicher Viruselimination bleiben die Hepatitis-C-Antikörper positiv.
Das Vorliegen einer fortgeschrittenen Fibrose oder Zirrhose kann die Wahl der Therapieoption und -dauer beeinflussen. Ganz entscheidend ist hier, dass diese Patienten auch nach erfolgreicher Therapie weiterhin hepatologisch bezüglich möglicher Komplikationen der Zirrhose wie Entwicklung einer portalen Hypertension und eines hepatozellulären Karzinoms (HCC) überwacht werden müssen. Bei Patienten mit Risikoverhalten bezüglich HCV Infektion, insbesondere bei aktiven iv Drogenkonsumenten und MSM verbleibt auch nach erfolgreicher Hepatitis-C-Eradikation ein Risiko einer Wiederansteckung. Auch diese Patienten müssen weiter regelmässig bezüglich einer Reinfektion überwacht werden.
Nachdem der Genotyp des Hepatitis-C-Virus jahrzehntelang der entscheidende Parameter für die Therapiewahl und -dauer war, so spielt er heutzutage nur noch eine untergeordnete Rolle.
Die Hepatitis-C-Patienten werden entweder während 12 Wochen mit der Fixkombination in Form einer Tablette täglich mit Sofosbuvir/Velpatasvir (Epclusa®) oder während 8 Wochen mit der Fixkombination in Form von 1 x 3 Tabletten täglich Glecaprevir/Pibrentasvir (Maviret®) behandelt. Bei Leberzirrhose sind die Therapiekonzepte etwas komplizierter. Die Therapie erfolgt mit 12 Wochen Sofosbuvir/Velpatasvir (Epclusa®), selten mit zusätzlich Ribavirin (Copegus®) kombiniert oder die Alternative mit Glecaprevir/Pibrentasvir (Maviret®) welches aber für 12, selten für 16 Wochen (zum gleichen Preis wie 8 Wochen) eingenommen werden muss. Bei dekompensierter Zirrhose ist Glecaprevir/Pibrentasvir (Maviret®) kontraindiziert und nur eine Therapie mit Sofosbuvir/Velpatasvir (Epclusa®) möglich. Bei chronischer Niereninsuffizienz hingegen ist Sofosbuvir/Velpatasvir (Epclusa®) kontraindiziert und nur eine Therapie mit Glecaprevir/Pibrentasvir (Maviret®) möglich. Unter WWW.SASL.CH können die aktuellen Therapieempfehlungen der Schweizer Hepatologen und Infektiologen abgerufen und ein HCV ADVISOR App gratis heruntergeladen werden.
Hepatitis C wird gelegentlich erst im Rahmen des Schwangerschaftsscreenings bei der Mutter entdeckt. Für Mutter und Kind hat dies im Gegensatz zur Hepatitis B keine relevanten Auswirkungen. Es gibt selten (maximal 5%) ein Übertragungsrisiko während der Schwangerschaft oder während der Geburt auf das Kind. Es konnte nicht überzeugend gezeigt werden, dass ein Kaiserschnitt das Risiko bei monoinfizierten relevant senkt. Eine antivirale Therapie der Mutter während der Schwangerschaft ist kontraindiziert. Sollte eine Übertragung von Mutter auf das Kind stattfinden, hat dies in den ersten Lebensjahren keine gesundheitlichen Konsequenzen. Später kann das Virus wirksam eliminiert werden. Stillen ist mit einer HCV Infektion erlaubt und es besteht kein Übertragungsrisiko.

Hepatitis E: Ursprünglich bekannt wurde diese Infektion wegen der erhöhten Mortalität von schwangeren Frauen in Indien mit einer akuten Hepatitis E vom Genotyp 1. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass das Hepatitis-E-Virus auch bei uns sehr verbreitet ist. Bei uns findet sich primär der harmlosere Genotyp 3. Eine Infektion erfolgt häufig über kontaminiertes Schweine- und Wildfleisch. Hepatitis-E-Infektionen können zu einer akuten ikterischen Hepatitis führen. Die Prognose ist günstig und es kommt zu einer Spontanheilung. Hepatitis E gehört daher heute bei jeder akuten unerklärten massiven Transaminasen Erhöhung zur Differentialdiagnose. Die akute Hepatitis E wird durch die Bestimmung der HEV–RNA im Blut nachgewiesen. Die Bestimmung des HEV Antikörpers ist in der Beurteilung wenig hilfreich. Chronische Hepatitis-E-Infektionen kommen nur im Rahmen einer Immunsuppression vor. Sie gehört daher in der Regel nicht zur Differentialdiagnose einer fortgeschrittenen Leberfibrose.

Dr. med. Beat Helbling

Gastroenterologie Bethanien
Gemeinschaftspraxis Magen Darm Leber Galle
Privatklinik Bethanien
Toblerstrasse 51
8044 Zürich

beat.helbling@hin.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel Teilnahme an Advisory Bords von Abbvie und Gilead deklariert.

  • Die Hepatitis A ist vor allem bei Risikogruppen wieder häufiger zu finden.
  • Die Hepatitis B-, C- und D-Infektionen müssen gesucht werden, da sie meistens asymptomatisch sind.
  • Suche Leberfibrosen, die Klinik ist stumm!
  • Hepatitis-B-Infektionen müssen überwacht, Erkrankungen therapiert werden!
  • Die Hepatitis-C-Therapie ist einfach, verträglich, wirksam und wird immer bezahlt!
  • Die akute Hepatitis E ist eine Differentialdiagnose der massiven Transaminasen Erhöhung

Nebenwirkungen onkologischer Therapien

Nebenwirkungen onkologischer Therapien werden häufig zuerst in der Hausarztpraxis bemerkt. Notfallsituationen können potenziell bei allen onkologischen Therapien zu jedem Zeitpunkt auftreten. Insbesondere der onkologische Notfall einer febrilen Neutropenie sollte unter keinen Umständen verpasst werden. Bei Patienten unter Immuntherapie gelten auch die Diarrhoe und schwer verlaufende Endokrinopathien als potentieller Notfall. Daneben gibt es aber auch viele eher selten oder wenig spezifisch auftretende Symptome, die man im Detail nicht immer sicher als Nebenwirkung erkennen, bzw. von Tumorkomplikationen oder Begleiterkrankungen abgrenzen kann. Beim Auftreten neuer und ungewöhnlicher Symptome sollte man daher den Kontakt zum behandelnden Onkologen suchen, denn letztendlich liegt in einer guten Kommunikation zwischen Hausarzt und Onkologe der Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung unserer Patienten.

Die Behandlung onkologischer Patienten ist komplex und erfordert eine gute Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und den verschiedenen beteiligten Fachdisziplinen. Krebspatienten können mit einer Vielzahl an Symptomen konfrontiert sein, die sowohl durch die Grunderkrankung, als Nebenwirkung onkologischer Therapien oder auch durch ganz andere Faktoren bedingt sein können. Nicht selten ist es in der Hausarztpraxis, dass Symptome erstmals adressiert werden und Notfallsituationen zuerst erkannt werden. In Anbetracht der stetig wachsenden Zahl onkologischer Behandlungen ist es dabei nicht leicht, einen Überblick über typische Nebenwirkungen zu behalten. Jedoch gibt es neben einer Vielzahl an seltenen Nebenwirkungen auch einige, die sehr häufig sind, und daher auch dem Allgemeinmediziner bekannt sein sollten.

Prinzipien der onkologischen Behandlung

Um das Thema der Nebenwirkungen von Onkologica zu adressieren, muss man zunächst unterscheiden, um welche Art von Therapie es sich handelt. Hier hat sich die Onkologie in den letzten Jahren stark diversifiziert. Während noch vor einigen Jahren klassische Chemotherapien den Grossteil der Behandlungen ausgemacht haben, sind inzwischen zielgerichtete molekulare Therapien und Immuntherapien hinzugetreten, um zunehmend eine immer grössere Rolle zu spielen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Therapieformen wie etwa endokrine Therapien, Radiotherapie oder lokale Ablationsverfahren. Auch Therapiekombinationen sind häufig. Eine wichtige Unterscheidung im Umgang mit Nebenwirkungen ist zudem die Frage, ob es sich um eine kurative oder um eine palliative Therapie handelt. Das Ziel einer palliativen Behandlung ist die Verlängerung der Lebenszeit unter Bewahrung der Lebensqualität, sodass die Vermeidung von Nebenwirkungen, die den Patienten beeinträchtigen, sehr wichtig ist. Demgegenüber werden bei einer kurativen Therapie auch starke Nebenwirkungen eher akzeptiert, um die Therapie möglichst volldosiert fortführen zu können.

Nebenwirkungen

Häufigkeit von Nebenwirkungen

Aussagen über die Häufigkeit von Nebenwirkungen onkologischer Therapien sind schwierig, da systematische Erhebungen und Publikationen meist nur im Rahmen klinischer Zulassungsstudien erfolgen. Die in Studien eingeschlossenen Patientengruppen unterscheiden sich allerdings nicht selten von dem im klinischen Alltag tatsächlich behandelten Patientenkollektiv, etwa bezüglich Alter und Komorbiditäten, weswegen mitunter abweichende Nebenwirkungsfrequenzen beobachtet werden. Häufig zu erwartende Nebenwirkungen können in der Regel dennoch klar von seltenen differenziert werden. Dies betrifft zum Beispiel den Haarverlust, der bei manchen Chemotherapien mit hoher Wahrscheinlichkeit auftritt und bei anderen Therapien nahezu ausgeschlossen werden kann. Vorbeugende Massnahmen zum Toxizitätsmanagement sind in den heutigen Behandlungen fest integriert, z.B. der prophylaktische Einsatz von Antiemetika, wodurch eine starke Übelkeit in der Regel vermieden werden kann. Speziell zur antiemetischen Prophylaxe gibt es eine von der European Society of Medical Oncology (ESMO) herausgegebene Praxis-Guideline (1).

Einteilung von Nebenwirkungen

Eine weitere wichtige Unterscheidung bei Nebenwirkungen onkologischer Therapien ist die Frage der Dauer bzw. Reversibilität. Während viele Symptome akut toxischer Natur sind, gibt es auch kumulative Toxizitäten, die eher verzögert, längerfristig und manchmal auch irreversibel auftreten. Dies ist zum Beispiel bei der Oxaliplatin-bedingten Neurotoxizität der Fall, die oftmals erst nach einigen Monaten oder sogar nach Beendigung der Therapie auftritt und zu einer deutlichen Alltagsbeeinträchtigung führen kann (2). Zur Klassifikation der Art und Schwere von Nebenwirkungen werden in der Onkologie die sogenannten CTCAE (Common Terminology Criteria for Adverse Events) des National Institute of Health angewendet (3). Die Schwere von Nebenwirkungen wird hier in jeweils 5 Grade eingeteilt (Tabelle 1). Klinisch relevant sind in der Regel erst zweit- und drittgradige Nebenwirkungen, da sie häufig eine Pausierung bzw. Dosisanpassung der Chemotherapie erfordern und nicht selten auch behandelt werden müssen. Dies kann gut am Beispiel der Diarrhoe gezeigt werden. Ab einer zweitgradigen Diarrhoe (definiert als 4-6 wässrige Stuhlgänge pro Tag) besteht eine gewisse Alltagseinschränkung des Patienten. Ab einer drittgradigen Diarrhoe (definiert als > 7 wässrige Stuhlgänge pro Tag) ist ein relevanter Flüssigkeitsverlust wahrscheinlich und eine Hospitalisation sollte erwogen werden. In Tabelle 2 sind onkologische Notfälle zusammengestellt, die im Allgemeinen eine Spitalzuweisung erfordern.

Häufige Nebenwirkungen von Chemotherapeutika

Zu den häufigsten Nebenwirkungen einer Chemotherapie jeglicher Art zählen sicherlich Veränderungen des Blutbildes und gastrointestinale Beschwerden wie z.B. Diarrhoe und Nausea. Der Grund hierfür liegt in dem allgemeinen Wirkprinzip der Proliferationshemmung, wodurch sich laufend regenerierende Organe wie etwa die gastrointestinale Mukosa oder das hämatopoetische System gleichermassen mitbetroffen sind wie der Tumor. Aufgrund der Häufigkeit dieser Nebenwirkungen ist es sinnvoll, dass auch den behandelnden Hausärzten geläufig ist, wie man mit ihnen umgehen sollte. Eine gute Hilfestellung bieten diesbezüglich die frei zugänglichen Praxis-Guidelines der europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie (ESMO) sowie die S3 Leitlinie zur supportiven Therapie der DGHO (4, 5). Zudem gibt es eine hilfreiche Gratisbroschüre der Krebsliga Schweiz zum Thema medikamentöser Tumortherapien, die man gut als Ratgeber an Patienten und Angehörige abgeben kann (6). Zur Behandlung der Chemotherapie-bedingten Diarrhoe werden beispielsweise supportive Massnahmen wie auch Antidiarrhoika wie Loperamid eingesetzt. Ein weiteres gutes Beispiel ist die Neutropenie. Eine passagere Neutropenie ist eine zu erwartende Nebenwirkung sehr vieler Chemotherapien. Man unterscheidet zwischen einer moderaten Neutropenie (Neutrophile zwischen 500 und 1000 / μl) und einer schweren Neutropenie (Neutrophile < 500 / μl). Grundsätzlich erfordert die Neutropenie keine zwingenden Massnahmen. Jedoch sollten dem behandelnden Onkologen Labormesswerte mit Nachweis einer Neutropenie mitgeteilt werden. Wenn ein hohes Risiko für eine febrile Neutropenie besteht, wird durch den behandelnden Onkologen bereits bei der Planung der Chemotherapie der Einsatz von G-CSF erwogen. Für die Beurteilung des Infektrisikos ist zudem die Dauer der Neutropenie von Bedeutung. Das Risiko steigt insbesondere, wenn diese länger als eine Woche anhält. Weitere Risikofaktoren für das Auftreten einer febrilen Neutropenie sind in Tabelle 3 aufgezählt. Eine febrile Neutropenie, also das Zusammentreffen von Neutropenie und Fieber (> 38,5°C oder > 38°C zweimal peripher gemessen), ist ein onkologischer Notfall und erfordert eine sofortige Spitalzuweisung, Infekt-Diagnostik und Behandlung mit einem Breitbandantibiotikum. Grundsätzlich gilt Fieber bei Patienten unter Chemotherapie daher als Alarmsignal, und sollte stets unmittelbar abgeklärt werden.

Spezielle Nebenwirkungen

Manche der häufig eingesetzten Chemotherapeutika haben ein sehr spezifisches Nebenwirkungsprofil, so dass es konkreter Massnahmen oder Kontrollen bedarf. Anthrazykline wie z.B. Doxorubicin werden häufig in der Behandlung des Mammakarzinoms eingesetzt. Sie sind potentiell kardiotoxisch, wobei es auch hier sowohl eine akute als auch eine kumulative Kardiotoxizität gibt. Daher sollte man bei Patienten, die mit Anthrazyklinen behandelt werden, auf mögliche kardiale Symptome achten. Cisplatin ist nephrotoxisch, sodass es regelmässiger Kontrollen der Nierenfunktion bedarf. Unter einer Therapie mit Capecitabine (oralem 5-FU) kann es zu einem Hand-Fuss-Syndrom kommen, einer oft schmerzhaften Verhornung der Innenflächen von Händen und Füssen. Hier kann der Einsatz von harnstoffhaltigen Cremes Abhilfe leisten. Oxaliplatin und Taxane (Docetaxel, Paclitaxel) wiederum können periphere Polyneuropathien verursachen mit Taubheit und Kribbelparästhesien der Finger und Zehen.

Nebenwirkungen von Immuntherapeutika

Das Wirkprinzip einer Immuntherapie unterscheidet sich wesentlich von anderen onkologischen Behandlungsmethoden. Die sogenannten «Checkpoint-Inhibitoren» sind monoklonale Antikörper, die es ermöglichen, die T-Zell-Immunität gegenüber Tumorzellen zu überwinden, indem hemmende Rezeptoren/Liganden blockiert werden. So kommt es zur Enthemmung des eigenen Immunsystems, welches den Tumor nun wieder als körperfremd erkennen und attackieren kann. Entsprechend dieses Wirkprinzips unterscheidet sich auch das Nebenwirkungsspektrum der Immuntherapien wesentlich von konventionellen Therapien. So kann es durch die Aktivierung des Immunsystems zu autoimmunen Entzündungen verschiedener Organe kommen. Mögliche Manifestationen sind Dermatitis, Pneumonitis, Kolitis, Hepatitis oder auch die Entzündung endokriner Organe wie der Schilddrüse oder der Hypophyse. Die Häufigkeit hochgradiger immune related adverse events (irAE) durch Mono-Immuntherapien beträgt 7-18% (7). Daher sollte bei Patienten unter Immuntherapie stets auf klinische Symptome geachtet werden und regelmässig Leberwerte und TSH kontrolliert werden. Bezüglich klinischer Notfälle sollte insbesondere die Diarrhoe betont werden, welche bei Patienten unter Immuntherapie stets einer Abklärung bedarf. Unter einer persistierenden Diarrhoe kann es schnell zu einer deutlichen Dehydratation kommen. Es muss eine infektiöse Ursache ausgeschlossen werden und bei dem Verdacht auf eine autoimmune Kolitis frühzeitig eine Behandlung mit Kortikosteroiden erwogen werden. Daher sollte im Fall einer persistierenden Diarrhoe stets der Kontakt zum behandelnden Onkologen gesucht bzw. der Patient an ein Spital zugewiesen werden.

Dr. med. Till Wallrabenstein

St. Claraspital AG
Tumorzentrum
Kleinriehenstrasse 30
4058 Basel

tumorzentrum@claraspital.ch

Prof. Dr. med. Dieter Köberle

St. Claraspital AG
Tumorzentrum
Kleinriehenstrasse 30
4058 Basel

tumorzentrum@claraspital.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keien Interessenskonflikte deklariert.

  • Die Erstbeurteilung und Behandlung leichter bis mittelschwerer Nebenwirkungen obliegt der Verantwortung des Hausarztes
  • Febrile Neutropenie unter Chemotherapie oder persistierende Diarrhoe unter Immuntherapie sind Beispiele für schwere onkologische Notfälle und bedürfen der Spitalzuweisung
  • Bei Unsicherheiten bezüglich seltener und spezieller Nebenwirkungen sollte der Kontakt zum behandelnden Onkologen gesucht werden.

1. Roila et al. 2016 MASCC and ESMO guideline update for the prevention of chemotherapy- and radiotherapy-induced nausea and vomiting and of nausea and vomiting in advanced cancer patients. Ann Oncol 27.5: v119-v133 (2016).
2. Grothey. Oxaliplatin-safety profile: neurotoxicity. Semin Oncol 30.15: 5-13 (2003).
3. CTCAE Version 5.0. Published November 27, 2017, National Cancer Institute. https://ctep.cancer.gov/protocoldevelopment electronic_applications/docs/CTCAE_v5_Quick_Reference_8.5×11.pdf (Zugriff am 06.02.2019).
4. https://www.esmo.org/Guidelines/Supportive-and-Palliative-Care (Zugriff am 09.02.2019).
5. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen – Langversion
1.1, 2017, AWMF Registernummer: 032/054OL. http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Supportive-Therapie.95.0.html (Zugriff am 09.02.2019).
6. Krebsliga Schweiz. Medikamentöse Tumortherapien: Chemotherapien und weitere Medikamente. https://shop.krebsliga.ch/files/kls/webshop/PDFs/deutsch/medikamentoese-tumortherapien-011101012111.pdf (Zugriff am 22.03.2019)
7. Naidoo et al. Toxicities of the anti-PD-1 and anti-PD-L1 immune checkpoint antibodies. Ann Oncol 26.12: 2375–2391 (2015).
8. https://ctep.cancer.gov/protocoldevelopment/electronic_applications/docs/CTCAE_v5_Quick_Reference_8.5 x 11.pdf (Zugriff am 06.02.2019).

Therapiemöglichkeit von Funktionsstörungen des Kauorgans

Die medizinische Hypnose ist ein psychosomatisches Therapieverfahren, das sich auch zur kognitiven Schmerzbehandlung und zur Veränderung von Verhaltensmustern bei dysfunktionsbedingten Erkrankungen des Kauorgans bewährt hat. Dabei sollte die Hypnotherapie allerdings nicht als alleinstehende Behandlungsmethode gesehen, sondern im Verbund mit anderen bewährten Therapieverfahren eingesetzt werden. In der vorliegenden Arbeit werden in einer kurzen Literatur-übersicht die wissenschaftlichen Grundlagen vorgestellt und das therapeutische Vorgehen anhand von zwei Fallbeispielen illustriert.

Ätiopathogenese

Dysfunktionsbedingte Erkrankungen des Kauorgans, die auch als Myoarthropathien (MAP) oder Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) bezeichnet werden, sind durch eine komplexe Ätiopathogenese gekennzeichnet und haben in der Regel multiple Ursachen (siehe auch der informierte arzt 2014;4(11):20-22). Es besteht eine grosse Gefahr der Chronifizierung des mit der Erkrankung einhergehenden Schmerzgeschehens. Letzterem liegt eine Störung des funktionellen Gleichgewichtes zwischen Gesichts- und Kaumuskulatur, den Kiefergelenken und den Zahnreihen zu Grunde. Im Zentrum der Erkrankung steht der Muskelhypertonus (1, 2). Zu den prädisponierenden Faktoren werden systemische (Allgemeinzustand), psychische (Persönlichkeit und Verhalten) und strukturelle Rahmenbedingungen gerechnet (3). Die Einwirkung von Stressoren spielt oft eine zentrale Rolle bei der Entstehung von MAP. Der durch die Stressoren verursachte affektive Stau wird über die Zahnreihen und / oder oralen Weichteile entladen. Dies geschieht in Form von Zähneknirschen und -pressen, Zungen-, Lippen- und Wangenbeissen oder –pressen, sowie anderen Gewohnheiten (4, 5).

Hypnotherapeutische Ansätze

Aufgrund der aufgezeigten Ätiopathogenese der MAP eignet sich die medizinische Hypnose zur kognitiven Schmerztherapie und zur Veränderung von Verhaltensmustern (6-10). Dabei stehen verschiedene therapeutische Ansätze zur Verfügung:
So kann der Patient in Trance vom Schmerzgeschehen dissoziiert werden. Dies bietet ihm die Möglichkeit, unter Anleitung durch einen geschulten Hypnotherapeuten das Schmerzgeschehen aus einer neutralen Position heraus zu analysieren und kreative kognitive Lösungsansätze zur Veränderung von Schmerzqualität, -quantität sowie -häufigkeit zu finden. Durch diese Anleitung zur Selbsthypnose kann einerseits eine deutliche Linderung und ein besserer Umgang mit den Beschwerden erzielt, und andererseits die Selbstkompetenz des Patienten gefördert werden, indem er eine gewisse Kontrolle über das Schmerzgeschehen zurückerhält (11).

  • Verhaltenstherapeutisch dient die medizinische Hypnose dazu, den Patienten zur Selbsthypnose und somit zur Stärkung seiner Eigenkompetenz anzuleiten. Dabei soll die Achtsamkeit auf seinen Körper und sein Verhalten erhöht werden, was eine kognitive Veränderung von Verhaltensmustern wie orale und okklusale Parafunktionen erlaubt (11-17).
  • Zudem können in Hypnose kreative Lösungsansätze zur besseren Bewältigung und Reduktion von Alltagsstressoren gefunden und die Selbsthypnose als effektive Entspannungstherapie genutzt werden (8, 18, 19).

Experimentelle Untersuchungen zur Therapie von MAP mit Hypnose

Die folgenden Studien dokumentieren beispielhaft die Wirksamkeit hypnotischer Interventionen bei der Therapie von MAP. Simon & Lewis (7) untersuchten 28 Patienten, die auf eine konservative Therapie nicht angesprochen hatten. Schmerzintensität, -dauer und -häufigkeit sowie kraniomandibuläre Funktion wurden in der Wartephase, unmittelbar vor und nach Therapie sowie anlässlich einer Kontrolle sechs Monate später beurteilt. Die Therapie mit Hypnose umfasste eine Aufklärung über medizinische Hypnose sowie fünf Sitzungen mit Tranceinduktion durch Schliessen der Augen, Suggestionen zur Entspannung, Analgesie und Anästhesie sowie Verwendung von entspannenden sowie verhaltensändernden Metaphern. Die Patienten wurden zudem dazu angeleitet, täglich in Selbsthypnose die auf Tonträger abgespeicherte Therapie zu wiederholen. Die Datenanalyse ergab eine signifikante Reduktion der Schmerzhäufigkeit und –dauer sowie eine Verbesserung der kraniomandibulären Funktion. Es konnte auch gezeigt werden, dass die Linderung der Beschwerden sowie die Verbesserung der Funktion über sechs Monate anhielt.
Winocur et al. (8) verglichen die Hypnorelaxation mit Schienentherapie bzw. Aufklärung über MAP und deren Selbsttherapie durch Kontrolle der Bewegungsaktivität sowie Ernährung. Die Hypnorelaxation beinhaltete Suggestionen zur progressiven Muskelentspannung und Training zur Selbsthypnose mit dem Ziel, die Kiefer- und Gesichtsmuskulatur zu entspannen. 40 weibliche Patienten wurden randomisiert den drei Versuchsgruppen zugeteilt: Hypnorelaxation (n = 15), Schienentherapie (n = 15) und Aufklärung / Selbstkontrolle (n = 10). Die Schmerzstärke wurde mit einer visuellen Analogskala (VAS) vor und nach Therapie bestimmt. Die aktive Therapie mit Hypnose bzw. Aufbissschiene war effektiver als die Patientenaufklärung und -anleitung zur Selbstkontrolle. Allerdings erreichte nur die Hypnorelaxation, nicht aber die Schienentherapie, eine signifikant grössere Reduktion der Schmerzintensität im Vergleich zur reinen Patientenanleitung und -selbstkontrolle, nämlich 57% der durchschnittlichen und 51% der maximalen Schmerzintensität. In einer vergleichbaren Studie beobachteten Freesmeyer & Pfanne (19) ebenfalls eine signifikante Abnahme der Schmerzintensität und -beeinträchtigung durch Selbsthypnose und Schienentherapie. Patienten mit einer hohen Stressbelastung in der Ausgangssituation erreichten dabei positivere Behandlungsergebnisse als Patienten mit geringerer Vorlast.
Abrahamsen et al. (17) untersuchten 40 Frauen, die randomisiert einer Gruppe mit Hypnointervention und einer Kontrollgruppe mit herkömmlicher Entspannungstherapie zugeordnet wurden. Beide Gruppen erhielten über mehrere Wochen vier individuelle einstündige Sitzungen und eine auf Tonträger (CD) abgespeicherte Anleitung zur Selbsttherapie zu Hause. Diese umfasste in der einen Gruppe hypnotische Suggestionen und eine Instruktion zur Selbsthypnose, in der anderen Instruktionen zur selbständigen Anwendung von Entspannungstechniken. Die Rückführbarkeit der Symptomveränderungen auf die Suggestibilität bzw. Hypnotisierbarkeit der Probandinnen in der Hypnosegruppe wurde mit Hilfe der Harvard Group Scale of Hypnotic Susceptibility (20) untersucht. Alle Probanden führten während der gesamten Untersuchungsdauer ein Schmerztagebuch, mit Beginn sieben Tage vor der ersten therapeutischen Intervention. Dabei wurde die mittlere tägliche Schmerzstärke zwischen den beiden Gruppen verglichen. Die schmerzverändernden Strategien der Probanden wurden vor und nach Therapie mittels eines speziellen Fragebogens analysiert. Im Weiteren erfolgte die Erhebung des funktionellen und psychologischen Status, der Schlafqualität und einer etwaigen Pharmakotherapie.
Es konnte gezeigt werden, dass die Schmerzintensität in der Hypnosegruppe mit 50,4% signifikant gesenkt werden konnte, nicht aber in der Kontrollgruppe, in welcher eine Schmerzverstärkung von 0,7% auftrat. 26% der Probandinnen in der Hypnosegruppe erreichten eine Schmerzreduktion von 75%. Niemand in der Kotrollgruppe erzielte dieses Niveau der Schmerzminderung. 52% in der Hypnose-, und lediglich 5% in der Kontrollgruppe gelang eine Schmerzsenkung von 50%. Die Probandinnen in der Hypnosegruppe waren eindeutig kreativer und besser in der Lage, ihre schmerzverändernden Strategien zu optimieren als jene in der Kontrollgruppe. Bei Letzteren wurden keine Veränderungen in der Anwendung der instruierten Methoden beobachtet. Beide Gruppen zeigten eine signifikante Reduktion der Zahl auf Palpation schmerzhafter Muskelstellen sowie der Häufigkeit schmerzbedingter Unterbrechungen des Schlafes. Angstsymptome nahmen in den zwei Gruppen in vergleichbarer Weise ab. Vier Hypnoseinterventionen genügten somit, um den Umgang mit den Schmerzen deutlich zu verbessern und eine signifikante Verminderung der täglichen Schmerzintensität zu erreichen. Nebenwirkungen traten keine auf. In einer ähnlichen früheren Arbeit konnten Stam et al. (18) keinen Unterschied in der Schmerzreduktion zwischen hypnotischer und konventioneller Verhaltenstherapie feststellen. Die medizinische Hypnose scheint somit eine effektive und mit konventionellen Verfahren vergleichbare Therapiemethode zu sein, um MAP-bedingte Schmerzen zu behandeln (21, 22).
In einer weiteren vergleichbaren Studie mit 44 Probanden konnte Abrahamsen et al. (16) auch für die Behandlung idiopathischer orofazialer Schmerzzustände einen signifikanten Behandlungserfolg mit medizinischer Hypnose nachweisen. Die mit einer VAS bestimmte Schmerzstärke reduzierte sich in der Hypnosegruppe um 33,1%, in der Kontrollgruppe lediglich um 3,2%. Probanden mit hoher Suggestibilität und Hypnotisierbarkeit erreichten eine grössere Schmerzreduktion (55%) als solche mit geringeren Werten (17,9%). Bezüglich der Schmerzareale und dem Gebrauch von Schmerzmitteln bestanden ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen den zwei Gruppen. Die Berichte über die Lebensqualität waren dagegen vergleichbar.

Fallbeispiel 1: Hypnoseintervention mit verhaltensändernder Metapher

Anamnese: Eine 43jährige Patientin litt unter Bruxismus, der hauptsächlich auf eine schwere, berufsbedingte psychische Belastung zurückzuführen war. Eine Überlastung der Kaumuskulatur mit Kiefer-, Gesichts- und Kopfschmerzen waren die Folge. Eine Anleitung zur Selbstbeobachtung und Selbsttherapie mit Wärme und Muskelmassage führte nur zeitweise zu einer Linderung der Beschwerden, da die Mitarbeit der Patientin aus verschiedenen Gründen ungenügend war. Deshalb wurde eine Intervention in Hypnose beschlossen mit dem Ziel, die Achtsamkeit gegenüber den psychischen Stressoren und der Reaktion des eigenen Körpers auf diese zu stärken. Zudem erhoffte man sich auf diese Weise auch eine Reduktion von Stärke und Häufigkeit der Migräneanfälle, denen die Patientin ebenfalls regelmässig ausgesetzt war. Als Metapher in der Trance sollten in Analogie zum Bruxismus die mahlenden Steine einer Mühle zur Anwendung gelangen.

Tranceprotokoll: Der Patientin wurde in Trance eine Mühle suggeriert, deren Wasserrad durch den Bach angetrieben wurde. In der Mühle konnte die Patientin das Mahlen des Korns zwischen den Mühlsteinen beobachten, in Analogie zur Zerkleinerung der Nahrung durch die Zähne. Dabei wurde ihre innere Aufmerksamkeit auf einen Hebel gerichtet, mit dessen Hilfe die Mühlsteine immer dann getrennt werden konnten, wenn sich kein Korn mehr zwischen diesen befand. Der Patientin wurde nun in Trance angeboten, für sich selbst einen Hebel zu finden, der dafür sorgen würde, immer dann ihre Zahnreihen voneinander zu trennen, wenn es keine Nahrung zu kauen galt. Schliesslich sollte sie diesen Hebel irgendwo in oder an sich verankern, sodass ihr dieser jederzeit zur Vermeidung des Bruxismus zur Verfügung stehen würde.

Verlauf: In den ersten zwei Tagen nach der Hypnosesitzung wurde die Patientin ständig vom Rauschen eines Baches und dem Rattern einer Mühle begleitet. Zudem sah sie in jedem länglichen Gegenstand ihren Hebel. Danach verschwanden die Geräusche und das Bild des Hebels wieder. Die Patientin war zwar nicht mehr in der Lage, sich den Hebel zu visualisieren, der Bruxismus trat jedoch nicht mehr auf und die Gesichtsschmerzen gingen zurück. Auch die Häufigkeit und Intensität der Migräneanfälle nahmen ab. Die Patientin beobachtete an sich während über einem Jahr keine parafunktionellen Aktivitäten mehr. Danach trat der Bruxismus wieder auf. Eine einmalige Wiederholung der Trance führte zur erneuten Beschwerdefreiheit.

Fallbeispiel 2: Hypnoseintervention zur Verbesserung der Stressbewältigung

Anamnese: Eine 46jährige Patientin klagte im Rahmen der Anamnese über Kiefer-, Gesichts- und Kopfschmerzen sowie Verspannungen im Hals-, Nacken- und Schulterbereich. Die Befundaufnahme sowie die zu Beginn verordnete Selbstbeobachtung ergaben die Diagnose eines myofascialen Schmerzsyndroms mit Stressoreneinwirkung als primäre Ursache. Die Selbsttherapie erlaubte zwar das Erkennen belastender Alltagssituationen, reichte aber zur Entspannung der Muskulatur nicht aus. Deshalb wurde eine hypnotische Intervention zur Verhaltensänderung bzw. zur besseren Stressverarbeitung ins Auge gefasst.

Tranceprotokoll: Die ersten zwei Trancesitzungen dienten der Verankerung und Vertiefung eines sicheren Rückzugsortes im Unterbewussten. Aufgrund der im Vorgespräch evaluierten Freizeitneigungen schlug man der Patientin ein Segelschiff auf dem Meer als sicheren Ort vor. Die Evaluation dieser ersten Trance ergab, dass das Steuern des Segelschiffes die Patientin überforderte. Deshalb wurde in der zweiten Sitzung mit dem Bild eines Seevogels gearbeitet, der frei und unbeschwert über das weite Meer fliegen konnte, wohin er wollte. Entscheidend waren dabei zwei Aspekte: einerseits das Bewusstsein, dass der Vogel zum Fliegen praktisch keine Kraft benötigte und sich völlig entspannt von der vom Meer aufsteigenden warmen Luft tragen lassen konnte, und andererseits die Möglichkeit, durch Aufsteigen in den weiten Himmel Distanz schaffen zu können zwischen sich selbst und den Problemstellungen auf der Erde (Dissoziation).
In Trance wurde daran gearbeitet, die entspannte Haltung des Seevogels zur Relaxation der gesamten Körpermuskulatur sowie im Speziellen der Kopf-, Hals- und Nackenmuskulatur zu nutzen. Zudem wurde geübt, mit Hilfe der Dissoziation Stress auslösende Herausforderungen aus einer anderen, nicht direkt involvierten Perspektive analysieren zu können. Die Patientin wurde aufgefordert, die erlebte Trance im Alltag regelmässig zu wiederholen. In der dritten Sitzung wurde der geschützte Kontext des sicheren Ortes, also das Fliegen über dem weiten Meer, dazu benutzt, eine schwierige Alltagsituation aus der Distanz zu analysieren, um neue Strategien für eine bessere Situationsbewältigung entwickeln zu können.

Verlauf: Die Patientin gelangte mit Hilfe dieser Anleitung zur Selbsthypnose in die Lage, ihren Körper und dabei insbesondere auch die Kopf- und Halsmuskulatur selbst in Stress belasteten Situationen immer besser entspannen zu können. Die Spannungsgefühle und Muskelschmerzen am Kopf verschwanden innerhalb weniger Wochen vollständig. Zudem setzte sie gezielt und kreativ die Möglichkeit der Dissoziation in schwierigen Alltagssituationen ein. Sie erarbeitete auf diese nachhaltige Weise bessere Lösungsansätze und einen abgeklärteren Umgang bei der Bewältigung von bisher belastenden Problemstellungen des Alltags. Sie fand in der Folge die Kraft, die unbefriedigende Arbeitsstelle zu kündigen und eine neue berufliche Herausforderung mit wieder gewonnener Zuversicht und Freude anzunehmen.

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die medizinische Hypnose darf aufgrund der zur Verfügung stehenden Evidenz wissenschaftlicher Untersuchungen als eine geeignete Methode zur nachhaltigen Therapie von MAP betrachtet werden
  • Dabei ist aber zu betonen, dass die medizinische Hypnose nicht als alleinstehende Behandlungsmethode zu verstehen, sondern im Verbund mit anderen bewährten Therapieverfahren zu sehen ist
  • Schliesslich soll darauf hingewiesen werden, dass die Anwendung medizinischer Hypnose im zahnärztlichen Praxisalltag eine fundierte Ausbildung in diesem Heilverfahren voraussetzt. Eine Liste geeigneter Therapeuten kann bei der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose SMSH (http://www.smsh.ch) bezogen werden.

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