Warum geht Kalzium in die Gefässe und fehlt im Knochen?

Es ist hinlänglich bekannt, dass Patienten mit Osteoporose ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten aufweisen. Im folgenden Beitrag werden die Mechanismen und einige ausgewählten «Lifestyle»-abhängige Faktoren und ihre Effekte auf die «Vascular-Bone Axis» diskutiert.

Epidemiologie

Schon vor Jahren war festgestellt worden, dass PatientInnen mit osteoporotischen Frakturen der Lendenwirbelsäule (feststellbar in seitlichen Röntgenaufnahmen) gehäuft Verkalkungen der abdominalen Aorta aufweisen, was mit einem erhöhten Risiko für Myokardinfarkt und Hirnschlag assoziiert ist (1). Eine kürzlich publizierte grosse retrospektive Kohortenstudie aus Taiwan untersuchte 19 456 PatientInnen mit Osteoporose (80% Frauen) ohne koronare Herzkrankheit und verglich sie mit einer identischen Anzahl gleichaltriger und gleichgeschlechtlicher Kontrollpersonen. Die Inzidenz der koronaren Krankheit im Verlauf nach Einschluss in die Kohorten war bei Nicht-OsteoporotikerInnen mit 16.7/1000 Personenjahren signifikant geringer als die 23.5/1000 Patientenjahre bei PatientInnen mit Osteoporose (2). Eine neue systematische Meta-Analyse zur Klärung der Assoziation von verminderter Knochendichte und Arteriosklerose schloss alle Vergleichs- und Beobachtungsstudien bei über 18jährigen, welche technisch zuverlässigen Knochendichtemessungen unterzogen worden waren, bis Ende 2015 ein (3). Die Daten von 5850 Teilnehmern aus 7 Studien, welche für Alter, Geschlecht, Body-Mass-Index, Hypertonie und andere vaskuläre Risikofaktoren korrigiert worden waren, ergaben eine rund 3fach erhöhte Inzidenz atherosklerotischer Gefässläsionen bei Individuen mit verminderter im Vergleich zu jenen mit normaler Knochendichte (3).

Die «Vascular-Bone Axis»

Abb. 1 erinnert daran, dass mannigfache Zelltypen mit den verschiedensten Funktionen im menschlichen Organismus aus einer gemeinsamen Stammzelle hervorgehen. Auf molekularer Ebene kommunizieren die ursprünglich aus der gleichen Stammzelle hervorgegangenen spezifischen Zellen miteinander. Im Falle von vaskulären Glattmuskelzellen und Osteoblasten ist diese Kommunikation unter dem Begriff «Vascular-Bone Axis» experimentell eingehend untersucht worden (4). Folgende Faktoren fördern im Rahmen eines sog. «phenotypic switch» die Umwandlung von Gefässglattmuskelzellen in Osteoblasten mit nachfolgender Präzipitation von Hydroxyapatit in Gefässwänden und konsekutiven Gefässverkalkungen (4):

  • BMP (bone morphogenetic protein)
  • Rank-L (Receptor Activator of NF-kB Ligand)
  • Oxidativer Stress
  • Inflammatorische Prozesse
  • Chronische Niereninsuffizienz
  • Östrogenmangel gAnstieg von Interleukin 6, Interleukin 1 und TNF-α

Dazu passend wurden klinisch folgende Faktoren identifiziert, welche sowohl bei beschleunigtem Knochenmassenverlust als auch kardiovaskulären Pathologien involviert sein können (4,5):

  • Vermehrte inflammatorische Zytokine
  • Mangel an Geschlechtshormonen
  • Oxidierte Lipide
  • Diabetes mellitus
  • Chronische Niereninsuffizienz
  • Calciumzufuhr
  • Vitamin D und Vitamin K
  • Früchtekonsum
  • Statine und Bisphosphonate
    Die vorliegende Übersicht befasst sich mit einigen ausgewählten «Lifestyle»-abhängigen Faktoren und analysiert deren Effekte auf die «Vascular-Bone Axis».

Kalzium

Aus Knochengründen ist eine tägliche Kalziumzufuhr von 1000-1200 mg unbestritten (6). Wie steht es aber mit der Kalziumzufuhr in Bezug auf Gefässverkalkungen? Eine prospektive Studie in 6 US-Bundesstaaten und den Metropolitan Areas von Atlanta und Detroit schloss 219 000 Männer und 169 000 Frauen zwischen 50 und 71 Jahren ohne Karzinome, Herzkrankheiten, Hirnschlag, Diabetes und terminale chronische Niereninsuffizienz ein (7). Der Endpunkt kardiovaskulärer Tod während 3 549 364 Personenjahren Follow-up war nicht von der Menge zugeführten Kalziums bis zu 2500 mg/d aus natürlichen Quellen abhängig. Hingegen zeigte sich, dass die Zufuhr von 1 g und mehr Kalzium pro Tag als Supplemente bei Männern, nicht aber bei Frauen, das Risiko für kardialen und cerebrovaskulären Tod signifikant steigerte (7).
Die EPIC-Heidelberg-Studie mit rund 24 000 Teilnehmern im Alter von 35-64 Jahren ohne kardiovaskuläre Krankheiten wies für eine tägliche Kalziumzufuhr von im Mittel 820 mg aus natürlichen Quellen eine 31%-ige Risikoreduktion für Myokardinfarkt nach. Demgegenüber war dieses Risiko bei ausschliesslicher Einnahme von Kalzium als Supplemente um 139% gesteigert (8). Die Konklusion war, dass die Einnahme von grösseren Dosen von Supplementen während einigen Stunden zum Anstieg des Serumkalziumspiegels über den Normalbereich hinausführen könnte, was potentiell Arteriosklerose begünstigend wäre (8). Dieser vermutete passagère Anstieg des Serumkalziumspiegels über die Norm hinaus war, wie Abb. 2 zeigt, tatsächlich bereits viel früher in eigenen Studien nach Einnahme von 1 g Kalzium als Supplement mit einem Frühstück nachgewiesen worden (9).
Die neueste Meta-Analyse englischer Publikationen zum Thema Kalziumzufuhr und kardiovaskuläres Risiko umfasste 4 randomisierte, 1 Fallkontroll- und 26 prospektive Kohortenstudien zwischen 1966 und Mitte 2016, in denen die tägliche Kalziumzufuhr zwischen 200 und 2400 mg betrug (10). Die Hauptkonklusion nach Auswertung aller Daten war, dass in einer gesunden Allgemeinbevölkerung das kardiovaskuläre Risiko (in erster Linie koronare Herzkrankheit und Hirnschlag) nicht mit der Menge des täglich eingenommenen Kalziums (natürliche Quellen und/oder Supplemente) korreliert war (10).
Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass eine normale Kalziumzufuhr (1000-1200 mg/Tag) für das kardiovaskuläre Risiko ungefährlich ist. Bemerkenswert bleibt aber dennoch, dass unter Kalziumsupplementen in Einzeldosen von 1g oder mehr pro Tag in guten Studien ein signifikant erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, koronare Herzkrankheit inkl. Myokardinfarkt und kardialen Tod resultiert hat (7, 8, 11). Dies ist wahrscheinlich Folge der unter hochdosierten Kalziumsupplementen nachweisbaren passagèren Hyperkalzämien (siehe Abb. 2) mit möglichen konsekutiven Gefässverkalkungen.

Vitamin D

Die Rolle von Vitamin D im Knochenstoffwechsel ist bestens etabliert. Mit sinkenden Serumspiegeln von 25-OH-Vitamin D unterhalb 75 nmol/l (30 ng/ml) wird zunehmend die Parathormon Sekretion im Sinne eines sekundären Hyperparathyreoidismus stimuliert, was den Knochenabbau fördert (12,13). Zudem wird die von den Osteoblasten produzierte Knochenmatrix bei ungenügenden Vitamin-D-Reserven nicht ausreichend mineralisiert, und es kommt im Extremfall zur Osteomalazie (13). Eine neuere Erhebung in der Schweiz (14) wies nach, dass nur 25.3% der untersuchten 1309 Erwachsenen aus allen Landesteilen einen normalen 25-OH-Vitamin-Spiegel (> 75 nmol/l) aufwiesen; 36.5% hatten eine Vitamin-D-Insuffizienz (25-OH-D 50-75 nmol/l), und 38.2% hatten einen manifesten Mangel (25-OH-D < 50 nmol/l).1
Vielfach werden leider die sog. «nicht-klassischen» Funktionen von Vitamin D unterschätzt resp. verkannt. Dazu gehören nebst der Prävention von Autoimmun- und Tumorkrankheiten (13) die Suppression des Renin-Angiotensin-Aldosteron Systems und von inflammatorischen Zytokinen (Interleukin 6 und TNF) ebenso wie die Hemmung der Proliferation von Gefässglattmuskelzellen, alles Arteriosklerose-begünstigende Faktoren (15). Tierexperimentell beschleunigt eine Vitamin-D-arme Ernährung während 16 Wochen die Verkalkung von Aortenklappe und abgehender Aorta thoracica und stimuliert zudem die Transdifferenzierung von Gefässzellen in Osteoblasten-ähnliche Zellen, welche Knochematrixproteine produzieren und somit die Gefässverkalkungen induzieren (16).
Klinische Studien zeigen ein heterogenes Bild. Eine noch unveröffentlichte neue Meta-Analyse weist nach, dass Vitamin-D-Mangel (25-OH-D < 50 nmol/l) signifikant häufiger zu duplexsonografisch detektierbaren Carotisplaques führt, während Vitamin-D-Insuffizienz (25-OH-D 50-75 nmol/l) lediglich eine signifikant grössere Intima-Media-Dicke der Carotiden bewirkt (17). In der prospektiven deutschen ESTHER-Studie (Epidemiologische Studie zu Chancen der Verhütung, Früherkennung und optimierten THerapie chronischer ERkrankungen in der älteren Bevölkerung), in welche rund 10 000 Männer und Frauen zwischen 50 und 74 Jahren eingeschlossen worden waren, stieg die Gesamtmortalität mit abnehmenden 25-OH-Vitamin-D-Spiegeln unter 75 nmol/l progedient an, und ein manifester Vitamin-D-Mangel im Vergleich zu normalen 25-OH-D-Spiegeln war mit einer um 39% erhöhten kardiovaskulären Mortalität vergesellschaftet (18).
Ähnliche Beobachtungen in epidemiologischen und Kohorten-Studien wurden nicht nur für Myokardinfarkt, sondern auch für plötzlichen Herztod, cerebrovaskulären Insult und Herzinsuffizienz publiziert (zitiert in 19). Leider konnten all diese experimentellen und epidemiologischen Daten in Bezug auf einen möglichen kardiovaskulären Benefit einer Vitamin-D-Supplementierung bisher in prospektiv-randomisierten Untersuchungen nicht bestätigt werden, so dass zusätzliche grossangelegte prospektiv-randomisierte Studien gefordert werden (20).
Aufgrund der vorhandenen Evidenz ist es sicher richtig, bei fehlender resp. zu vermeidender Sonnenexposition (Hauttumoren !) mit regelmässigem Auftragen eines Sonnenschutzfaktors > 15 (13) eine Supplementierung mit Vitamin D in der Grössenordnung von 1000-2000 E pro Tag (auch als höhere wöchentliche oder 2-wöchentliche Dosen) durchzuführen, nicht zuletzt aus Knochengründen (6). Die Konzentration von 25-OH-Vitamin D im Serum sollte mindestens 75 nmol/l betragen (6).

Vitamin K

Der Mensch nimmt Vitamin K aus der Nahrung als Phyllochinon (Vitamin K1) und Menachinon (Vitamin K2) auf (21). Phyllochinon ist vor allem in grünen Blattgemüsen und Pflanzenöl enthalten, Menachinon in Fleischprodukten, Käse und Quark (21). Vitamin K ist essentiell für die Aktivierung von Vitamin-K-abhängigen Eiweissen, von denen mindestens 17 bekannt sind (21, 22). Als Co-Faktor des Enzyms γ-Glutamyl-Carboxylase ist Vitamin K für die Carboxylierung wichtiger Proteine wie Gerinnungsfaktoren, Osteocalcin und Matrix-GLA-Protein unerlässlich. Diese Proteine erlangen erst durch die Carboxylierung die Fähigkeit, Calcium-Ionen zu binden und damit ihre Funktion auszuüben. Für unsere Diskussion sind die in Abb. 3 dargestellten Proteine Matrix-Gla-Protein und Osteocalcin wichtig, welche in erster Linie unter Einfluss Vitamin K2, d.h. von Menachinon, carboxyliert werden. Das carboxylierte Matrix-GLA-Protein hemmt die Verkalkung von Gefässen, und carboxyliertes Osteocalcin fördert die Knochenneubildung.

Vitamin K und Gefässe
In einer prospektiven Populationsstudie (Rotterdam Study, 21) wurden zwischen 1990 und 1993 4807 Probanden ohne Anamnese von Myokardinfarkt eingeschlossen und bis 1. Januar 2000 regelmässig bezüglich Ernährungsgewohnheiten anhand von standardisierten Ernährungsfragebogen interviewt. Die Ernährungsfragebogen wurden im Hinblick auf eine Vielzahl von Nahrungskomponenten, u.a. Phyllochinon (Vit. K1) und Menachinon (Vit. K2), analysiert. Anvisierte Endpunkte während des Follow-up waren akute koronare Herzkrankheit, Gesamtmortalität und abdominale Aortensklerose, letztere gemessen anhand lateraler Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäulenregion (21). In multivariat-korrigierten Analysen waren nach 7-10 Jahren Follow-up akute koronare Herzkrankheit, Gesamtmortalität und schwere Aortenkalzifikation signifikant invers mit der Menachinon-Einnahme korreliert, d.h. eine höhere Zufuhr von Menachinon (Vitamin K2) wirkte präventiv gegen Arteriosklerose und koronare Herzkrankheit. Umgekehrt war die Einnahme von Phyllochinon (Vitamin K1), obwohl dieses ca. 90% der gesamten Vitamin-K-Zufuhr ausmacht, mit keinem der untersuchten Endpunkte korreliert (21). Die Autoren der Studie folgerten deshalb, dass die in Käse enthaltenen Menachinon 8 und 9 einen kardiovaskulären Benefit ausüben und die in gewissen mediterranen Ländern mit hohem Käsekonsum beobachtete tiefere Prävalenz der koronaren Herzkrankheit erklären könnten (21).

Vitamin K und Knochen
Eine neuere doppeltblind-randomisierte Studie untersuchte 244 gesunde postmenopausale Frauen ohne Osteoporose zwischen 55 und 65 Jahren, welche keine Medikamente wie Vitamin K-Supplemente, Kortikosteroide, Bisphosphonate oder Hormonersatzpräparate einnehmen durften (22). Die Frauen wurden randomisiert in eine Plazebogruppe und eine Therapiegruppe, wobei die Therapie in der Gabe von 180 μg Menaquinon-7 täglich (gewonnen aus fermentierten Sojabohnen) in Kapselform bestand (22). Nach 3 Jahren Follow-up hatte die Therapiegruppe den Anteil an konjugiertem, knochenaktivem Serum-Osteocalcin signifikant gesteigert, und der mit zunehmendem Alter resultierende Knochenmassenverlust an Lendenwirbelsäule und Schenkelhals war unter Menachinon-7-Therapie signifikant geringer (22). Die Konklusion war, dass Menachinon-7 den altersbedingten «normalen» Knochenmassenverlust vermindern und antiosteoporotische Eigenschaften haben könnte (22).
Ähnliche Resultate hatte eine kleine koreanische Studie ergeben, wo 78 über 60-jährige Frauen ohne Vitamin-K-Supplemente, Hormonersatztherapie oder den Knochenmetabolismus irgendwie beeinflussende Medikamente eingeschlossen worden waren (23). Die Frauen wurden randomisiert in eine Gruppe mit täglich 2 x 315 mg Calciumcarbonat und 400 IE Vitamin D und in eine Gruppe mit gleichen Dosen von Calcium und Vitamin D plus 3 x 15 mg Vitamin K2 (Menatetrenon). Bereits nach 6 Monaten war vermindert carboxyliertes Osteocalcin im Serum der mit Vitamin K2 behandelten Gruppe signifikant geringer, und die Knochen-dichte am 3. Lendenwirbel hatte nur unter zusätzlichem Vitamin K2, nicht aber unter Calcium und Vitamin D allein zugenommen (23). Eine soeben präsentierte Schweizer Studie, in welcher allerdings Vitamin K-Metaboliten nicht gemessen worden waren, wies nach, dass bei postmenopausalen Frauen der Konsum fermentierter Milchprodukte (z. B. Joghurts und Frischkäse) unabhängig vom Kalzium- und Proteingehalt der Produkte im Verlauf von 3 Jahren signifikant mit einem verminderten Knochenmassenverlust assoziiert war (24). Dies könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die in diesen Produkten enthaltenen Mengen von Vitamin K2 möglicherweise die Carboxylierung von Osteocalcin steigern und damit den Knochenanbau begünstigen könnten.

Früchte respektive Alkali

Früchte und Gefässe
Zwei neuere Studien weisen signifikante Zusammenhänge zwischen Früchtekonsum und Arteriosklerose nach: in der «CAlcium Intake Fracture Outcome Study» (CAIFOS«) in West-Australien wurden 1052 Frauen über 70 Jahre im Rahmen einer Osteoporose-Präventionsstudie mittels validierter Ernährungsfragebogen zu ihrem alltäglichen Früchtekonsum befragt (25). Im Rahmen der Knochendichtemessungen wurde in seitlichen Aufnahmen der Lendenwirbelsäule die Kalzifikation der abdominalen Aorta quantifiziert und mit dem Früchtekonsum korreliert (25). Dabei zeigte sich, dass der Konsum von Äpfeln, nicht aber anderen Früchten, auch nach multivariater Korrektur für andere Faktoren signifikant mit einem verminderten Risiko für Arteriosklerose der abdominalen Aorta einherging: ein zusätzlicher halber Apfel pro Tag verringerte das Risiko der abdominalen Aortensklerose um 24% (25).
In der prospektiven China Kadoorie Biobank Kohortenstudie in 10 Regionen Chinas wurden total 512 891 Probanden zwischen 30 und 79 Jahren ohne kardiovaskuläre Krankheiten oder Antihypertensiva eingeschlossen (26). Über einen Follow-up von 3.2 Millionen Personenjahren zeigte sich eine signifikante inverse Korrelation zwischen den Risiken für kardiovaskulären Tod, akutes koronares Ereignis und Hirnschlag (ischämisch und hämorrhagisch) mit dem Früchtekonsum: je höher der Früchtekonsum, desto geringer das kardiovaskuläre Risiko. So verringerten sich bei täglichem Konsum von einer frischen Frucht die multivariat korrigierten Risiken für kardiovaskulären Tod um 40, für akutes Koronarereignis um 34, für ischämischen Hirninsult um 25 und für hämorrhagischen zerebralen Insult um 36 Prozent (26).
Da auch in den untersuchten chinesischen Regionen der Konsum frischer Früchte an erster Stelle aus Äpfeln bestand (26), scheint deren Bedeutung für die Gefässprotektion besonders gross zu sein. In beiden zitierten Studien wurde denn auch als mögliche Erklärung dieses Gefässbenefits von Äpfeln nicht einfach deren Vitamingehalt, sondern vor allem deren Reichtum an Oxidantien und Polyphenolen (Flavonoiden) genannt (25, 26). In der Tat scheint also das alte Sprichwort «An apple a day keeps the doctor away« aufgrund dieser neuen Forschungsergebnisse noch vermehrt an Bedeutung zu gewinnen!

Alkali und Knochen
Unsere eher Fleischprotein-reiche westliche Ernährung induziert eine geringgradige metabolische Azidose, welche zu vermehrter Knochenresorption führt (27). Die vermehrte Knochenresorption kann durch eine Alkali-Therapie mit Kalium-Bikarbonat reduziert werden (28). In einer eigenen Langzeitstudie zeigten wir zudem, dass der Knochenmassenverlust bei Osteopenie/Osteoporose und gleichzeitig vorhandener distaler renal-tubulärer Störung der Ansäuerung (verminderte H+-Ionensekretion) durch Gabe von Alkalipräparaten signifikant reduziert werden kann (29).
Und wie steht es mit «natürlichen« Basenlieferanten? Früchte und Gemüse sind alkalireiche Lebensmittel, welche deshalb ebenfalls eine knochenschützende Wirkung entfalten könnten. Eine jüngst publizierte Studie bei über 3000 chinesischen Männern und Frauen zwischen 40 und 75 Jahren wies in einer multivariat korrigierten Analyse tatsächlich nach, dass vermehrter Früchtekonsum mit zunehmenden Knochendichtewerten an LWS, gesamter Hüfte und Schenkelhals assoziiert war (30). Dies galt in erster Linie wiederum für Äpfel, aber auch Birnen, Pfirsiche, Ananas und Pflaumen. Der Konsum von Zitrusfrüchten, Litschis und Bananen war interessanterweise nur mit verbesserten Knochendichtewerten am Schenkelhals assoziiert (30). Hingegen war die vermehrte Zufuhr von Gemüse, ebenfalls alkalireiche Nahrungsmittel, in dieser Studie nicht mit verbesserten Knochendichtewerten korreliert (30).

Einfache Konsequenzen für Ernährung / Supplemente

Die praktischen Alltagstipps für Ernährung und Einnahme von Supplementen, welche sowohl der Arteriosklerose entgegenwirken als auch knochenschützend sind, zeigt Tab. 1. Diese Massnahmen können eine Grundlage bilden, Kalzium in die «richtigen Bahnen« zu lenken.

PD Dr. med. Bernhard Hess

Innere Medizin & Nephrologie/Hypertonie
NierensteinZentrumZürich
Klinik Im Park
Bellariastrasse 38
8038 Zürich

bernhard.hess@hirslanden.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Individuen mit verminderter Knochendichte und/oder osteoporotischen Wirbelfrakturen haben ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Die aus einer gemeinsamen Stammzelle hervorgehenden Gefässglattmuskelzellen können sich im Rahmen eines «phenotypic switch»
    in Osteoblasten umwandeln, was Gefässverkalkungen induziert («Vascular-bone axis»)
  • Die Zufuhr genügender Mengen von Kalzium (1000-1200 mg/Tag) aus natürlichen Quellen führt nicht zu einer Steigerung des kardiovaskulären Risikos. Hingegen können hochdosierte Kalziumsupplemente (1 g /Dosis) wegen nachfolgender passagèrer Hyperkalzämie Gefässverkalkungen begünstigen.
    Nebst dem unbestrittenen Benefit für den Knochen sind gute Vitamin D-Reserven (25-OH-Vitamin D mind. 75 nmol/l) in epidemiologischen und Kohorten-Studien mit einer Reduktion der kardiovaskulären und Gesamtmortalität assoziiert.
  • Vitamin K2-Metaboliten (Menachinon), enthalten v.a. in Fleisch, Käse und Quark, sind hauptsächlich für die Carboxylierung und damit Aktivierung wichtiger Proteine wie Matrix-GLA-Protein (hemmt Gefässverkalkungen) und Osteocalcin (fördert Knochenanbau) verantwortlich.
  • Die regelmässige Zufuhr von Alkali in Form von Früchten, in erster Linie Äpfeln, geht mit verminderter Arteriosklerose und signifikant geringeren Risiken für kardiovaskuläre und cerebrovaskuläre Morbidität und Mortalität einher. Zudem steigert vermehrter Konsum von Äpfeln, Birnen, Pfirsichen, Ananas und Pflaumen die densitometrisch bestimmte Knochendichte an Lendenwirbelsäule und Hüfte.

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Meningitis beim Kind

Die Meningitis beim Kind stellt ein gefährliches Krankheitsbild mit einer hohen Letalität dar. Es ist entscheidend, dass beim Erstkontakt in der Praxis die Verdachtsdiagnose gestellt und korrekt gehandelt wird. Dieser Artikel soll für solche Situationen eine Hilfestellung sein, nicht im Sinne einer Übersichtsarbeit, als vielmehr eines praktischen Leitfadens.

Fallvignette

Ein 3-jähriges Mädchen wird im November beim diensthabenden Hausarzt vorgestellt. Sie hat seit 3d Schnupfen, etwas Husten, Fieber bis 38.9 °C (tympanal), eine linkseitige Otalgie und zweimalig erbrochen. Ihre beiden Geschwister sind auch erkältet. Die persönliche Anamnese ist unauffällig. Es wurden nur die Basisimpfungen verabreicht. Ihr Allgemeinzustand ist leicht reduziert, sie ist weinerlich und anhänglich. Im Status fällt ein gerötetes Trommelfell links und ein leicht geröteter Rachen auf. Die Auskultation der Lunge (durch das T-Shirt, da die Patientin weint und sich wehrt) ist normal. Es wird die Verdachtsdiagnose einer Otitis media acuta links gestellt. Die Patientin wird mit fixer Analgesie und Empfehlung einer Verlaufskontrolle am Folgetag beim Kinderarzt, entlassen. Beim Verlassen der Praxis weigert sich das Mädchen zu gehen, sie wird von der Mutter herausgetragen. Zwei Stunden später zuhause erbricht sie mehrmals und krampft. Der Rettungsdienst wird avisiert. Auf der Notfallstation Kinderspital: GCS 13, AF 30/min, HF 160/min, Rekapillarisationszeit zentral 4sec, kühle Peripherie. Ein Meningismus fällt auf. Abnahme von Blutkulturen und Sepsislabor, Volumen- und Antibiotikagabe. Bei weiterer Verschlechterung Verlegung auf die Intensivstation, dort Intubation und Beatmung. Im Verlauf der nächsten Stunden Stabilisierung des Zustandes, keine weiteren Krampfanfälle. Bildgebung des ZNS unauffällig. Durchführung einer Lumbalpunktion. Liquorpleozytose. Die Mikrobiologie meldet Wachstum von Gram positiven Diplokokken aus der Blutkultur. Die Liquor PCR zeigt S. pneumoniae. Nach 3d kann das Mädchen auf die Normalstation verlegt werden.

Nach der Einleitung mit allgemeinen Informationen werden die wichtigsten Punkte aus Anamnese und Untersuchung in Abhängigkeit der verschiedenen Alterskategorien zusammengefasst. Weiter soll die Sepsis als möglicher Krankheitsverlauf in Erinnerung gerufen werden und zum Schluss auf die Prävention und damit die empfohlenen Impfungen eingegangen werden.

Einleitung

Eine bakterielle Meningitis im Kindesalter entsteht meistens durch Schleimhautinvasion der Bakterien nach Kolonisation des Nasopharynx. Im weiteren Verlauf kommt es zur hämatogenen Ausbreitung und schliesslich zur Invasion des ZNS durch Überwindung der Bluthirnschranke. Abhängig von der Immunitätslage und der Bakterienlast, kann es dabei auch zu einer Sepsis kommen. In der Pädiatrie wird die Sepsis als eine dysregulierte Immunantwort auf eine Infektion, die zu einer oder mehrerer Organdysfunktionen führt, definiert. Die Krankheitsbilder Sepsis und Meningitis können parallel ablaufen. Es gilt, beim Kind neben Meningitiszeichen auch aktiv nach Sepsiszeichen zu suchen, weil dies für das unmittelbare Management entscheidend sein kann.
Die für die akute eitrige Meningitis verantwortlichen Bakterien sind hauptsächlich S. pneumoniae, N. meningitidis, H. influenzae Typ b (Hib) und Gruppe B Streptokokken (GBS). Bei Neugeborenen und Säuglingen < 3 Monate sind Gruppe B Streptokokken, bei Säuglingen > 3 Monate bis zu 9-jährigen Kindern S. pneumoniae sowie N. meningitidis und bei Jugendlichen N. meningitidis die häufigsten Erreger. Der Häufigkeitsgipfel für bakterielle Meningitis liegt in den ersten beiden Lebensjahren. Meningokokken-Erkrankungen weisen einen 2. Häufigkeitsgipfel im Adoleszentenalter auf. Bei Säuglingen und Kleinkindern verursachen Pneumokokken die schwerste Form einer bakteriellen Meningitis. Komplikationsreiche Verläufe und neurologische Defektheilungen sind häufiger als bei einer Meningokokken- oder Hib-Meningitis. Die Pneumokokken-Meningitis weist die höchste Letalität unter den klassischen Meningitis-Erregern auf (1-3). In der Schweiz bei Kindern < 5 Jahren hat seit Einführung der Hib Impfung 1991 die Inzidenz invasiver Infektionen (inkl. Meningitiden) innert 21 Jahren von 44 auf 1.5 pro 100 000 dramatisch abgenommen. Die Einführung der Pneumokokken Konjugatimpfstoffe (PCV7 und PCV13 im Jahr 2005 resp. 2011) bewirkte eine Inzidenzreduktion innert 6 Jahren von 37 auf 9. Bei den invasiven Meningokokken-Infektionen sank diese nach Einführung der Konjugatimpfstoffe (MCV-C und MCV-ACWY im Jahr 2006 resp. 2011) innert 9 Jahren von 6.3 auf 3.9 bei Kindern < 5 Jahren resp. bei Jugendlichen von 2.3 auf 0.7. Nach wie vor sind aber in der Schweiz die Pneumokokken die häufigsten Erreger bakterieller Meningitiden bei Kindern > 1 Monat (4-6). In der Gesamtschau ist die aseptische oder virale Meningitis wesentlich häufiger (Inzidenz 70 pro 100 000 bei Säuglingen). Am häufigsten (80-90%) wird diese Form durch Enteroviren, gehäuft während der Sommer- und Herbstmonate, verursacht (7, 8).

Risikofaktoren für eine bakterielle Meningitis (9):

  • Alter < 2 Jahren und Jugendliche
  • Keine Impfung (Pneumokokken, Hib, Meningokokken)
  • Asplenie, Immunschwäche (primär oder sekundär), systemische Grunderkrankung
  • Kürzliche Infektionserkrankung (Atemwege oder Otitis media)
  • Anatomische Fehlbildungen (HNO, ZNS)
  • Cochleaimplantat
  • Kürzlicher Kontakt mit Meningitispatienten (Schule, Kita, Hort)
  • «Crowding» (Militärdienst, Auffangeinrichtungen)
  • Reise in Meningokokken endemische Gebiete wie Sub-Sahara Afrika

Präsentation – was Eltern berichten oder erfragt werden muss

Die in Tabelle 1 sortierten Zeichen und Allgemeinzustandsveränderungen können sich langsam progredient über einige Tage, jedoch auch fulminant innert weniger Stunden, manifestieren. Kinder unter zwei Jahren stellen für die Evaluation eine grosse Herausforderung dar (1, 10, 11). Was die Eltern berichten (was ihnen aufgefallen ist, was ihnen Sorgen macht) hat bei diesen Patienten einen besonders hohen Stellenwert. Lassen Sie sich von Eltern leiten, wenn sie zum Beispiel sagen… ihr Säugling sei ungewöhnlich schläfrig, schreie anders, atme komisch oder stelle keinen Augenkontakt mehr her. Kinder mit akut eitriger Meningitis sind allgemein in einem schlechteren Allgemeinzustand als Kinder mit viraler Meningitis.

Status

Ängstliche Kleinkinder sollten, wenn immer möglich, nicht von den Eltern getrennt werden. Die primäre Untersuchung kann auch beim sitzenden oder liegenden Kind auf dem Schoss der Betreuungsperson erfolgen. Eine systematische Vorgehensweise und damit die rasche Evaluation eines kranken Kindes ist notwendig. Hilfreich bei der ersten Risikoeinschätzung ist die Beurteilung

  • des Allgemeinzustands: Bewusstsein, Tonus, Augenkontakt, Interaktion, Kommunikation, Tröstbarkeit, Schmerzen
  • der Atmung: Körperposition, Geräusche, Dyspnoezeichen, Atemfrequenz, Sättigung
  • des Kreislaufs: Blässe, Zyanose, kühle Extremitäten, Rekapillarisationszeit, HerzfrequenzDanach muss ein genauer und umfassender Status durchgeführt werden. Das Kind soll für die Untersuchung IMMER völlig entkleidet und von Kopf bis Fuss untersucht werden. Im Status gilt es neben den neurologischen Zeichen (wie Irritabilität, Berührungsempfindlichkeit, Meningismus, fokale Ausfälle) auch Sepsiszeichen (Tab. 2) zu suchen, da diese bereits als Vorbote oder zeitgleich mit einer Meningitis auftreten können. Erwachsene reagieren im Rahmen einer Sepsis primär mit einem verminderten systemisch-vaskulären Widerstand (warmer Schock). Neugeborene und Kleinkinder dagegen haben in der Frühphase einer Sepsis häufig einen erhöhten vaskulären Widerstand (kalter Schock). Eine verlängerte Rekapillarisationszeit, kühle Extremitäten und eine Tachykardie sind die klassischen Zeichen eines frühen Schockzustands bei noch erhaltenem Blutdruck (kompensierter Schock). Im dekompensierten Zustand sind eine Bewusstseinseintrübung und eine beginnende arterielle Hypo-
    tonie typisch. Der Blutdruckabfall ist bei Kindern ein Spätzeichen und steht oft kurz vor dem vollständigen Kreislaufzusammenbruch (11,12). Das korrekte Messen des Blutdrucks beim Säugling und Kleinkind ist nicht immer einfach und muss in der Praxis nicht durchgeführt werden können.

Merke

Man sollte die Eltern ermutigen, sich mit dem Kind wieder vorzustellen, sollte es sich verschlechtern. Eine Verdachtsdiagnose ist nur die «beste Vermutung» und nie unfehlbar, solange sie nicht mit entsprechenden Befunden bestätigt werden konnte. Wenn die Symptome fortschreiten und der Verlauf nicht zur Verdachtsdiagnose passt, muss man dies erkennen und bereit sein, den Fall neu zu überdenken. Fehler passieren, wenn Ärzte auf ihre initiale Verdachtsdiagnose fixiert bleiben.

Management in der Praxis

Bei Verdacht auf eine eitrige Meningitis oder Sepsis (siehe Warnzeichen aus Tab. 1-3) sollte das Kind unverzüglich mit der Ambulanz in die nächste Kinderklinik geschickt werden. Das rasche Einleiten der Therapie (parenterales Antibiotikum und Volumen) rettet Leben. Bei Säuglingen < 3 Monaten in reduziertem Allgemeinzustand muss immer eine Zuweisung erfolgen. Durchführung von laborchemischen Abklärungen (z.B. Blutbild, CRP) sind nicht sinnvoll, da auch nicht wegweisend.
Bei Verdacht auf eine Meningitis aber gutem Allgemeinzustand und stabilen Kreislaufparametern, kann das Kind mit Privattransport verlegt werden. Durchführung von laborchemischen Abklärungen ist auch hier nicht sinnvoll. Eine Meningitis kann nur mittels Lumbalpunktion diagnostiziert werden. Falls eine sofortige Verlegung bei Verdacht auf eitrige Meningitis und/oder Sepsis nicht möglich sein sollte oder es zu Verzögerungen kommt, ist folgende Initialtherapie sinnvoll:

  • Sauerstoffzufuhr
  • Volumenbolus mit balancierter, kristalloider Lösung (z.B. Ringerfundin) 20 ml/kg aus der Hand
  • Ceftriaxon (einmalig) als Kurzinfusion i.v. / i.m. Dosis: 100mg/kg KG (maximale Einzeldosis: 4g)

Prävention – Impfungen

Wie die Fallzahlen aus den vergangenen Jahren zeigen, lässt sich das Risiko, an einer Meningitis mit potentiell tödlichen Folgen oder neurologischen Langzeitschäden zu erkranken, durch eine korrekte Immunisierung deutlich senken. Die Impfungen, gemäss Tabelle 4 sind aktiv zu empfehlen.

Fabia D. Büttcher

Praxis Ottenbach
Affolternstrasse 21
8913 Ottenbach

Dr. med. Michael Büttcher

Leitung Pädiatrische Infektiologie,
Luzerner Kantonsspital
6000 Luzern 16

michael.buettcher@luks.ch

Die Autoren geben an, dass in Zusammenhang mit diesem Artikel kein Interessenskonflikt besteht.

  • Obschon die Inzidenz der bakteriellen Meningitis sinkt, ist deren Letalität unverändert hoch
  • Am häufigsten betroffen sind Kinder < 2 Jahren. Die Präsentation ist in dieser Alterskategorie unspezifisch. Daher: daran denken!
  • S. pneumoniae ist der häufigste Erreger der bakteriellen Meningitis bei Kindern < 5 Jahren. Es gibt eine wirksame Impfung. Sie gehört nun zu den Basisimpfungen. Aktiv empfehlen!
  • Meningokokken Erkrankungen haben einen zweiten Altersgipfel im Jugendalter. Erneute Impfung nicht vergessen!
  • Sepsis und Meningitis können zusammen auftreten. Auf altersent-sprechende Warnsymptome aus der Anamnese sowie Warnzeichen aus dem Status sind zu achten
  • Ein Kind mit Verdacht auf bakterielle Meningitis oder Sepsis soll unverzüglich mit der Ambulanz in die nächste Kinderklinik verlegt werden.

Neuheiten in der Hämophiliebehandlung 2019

Hämophilie A und B sind angeborene, X-chromosomal vererbte Erkrankungen, bei denen es zu einer Verminderung der Gerinnungsfaktoren VIII (Hämophilie A) bzw. IX (Hämophilie B) kommt. In diesem Artikel werden nach einem kurzen Überblick über die konventionelle Behandlung neue Therapieoptionen präsentiert, welche sowohl Verbesserungen in Bezug auf Faktor-Substitution wie auch Faktor-freie Behandlungsmöglichkeiten umfassen.

Hämophilien werden abhängig von der restlichen Faktoren-Aktivität in 3 Schweregrade unterteilt: schwer < 1%; mittelschwer 1-5%; mild 6-40% (1). Epidemiologisch treten sie weltweit auf. Die Inzidenz der Hämophilie A beträgt 1/5000 männliche Geburten (Prävalenz 1/12 000) und die der Hämophilie B 1/25 000 männliche Geburten (Prävalenz 1/19 000). Durch die verminderte Faktoren-Aktivität kommt es zu einer Blutungsneigung – neben akuten Blutungen sind hier auch die Folgen rezidivierender Gelenkblutungen, die zu schwerer Arthrose führen, relevant (1).
Erwähnenswert und abzugrenzen ist die Gruppe der sogenannten «erworbenen» Hämophilien (Autoimmunhämophilie), bei denen es zu einer Antikörper-Entwicklung und infolge dessen zu einer Verminderung der Gerinnungsfaktoren (am häufigsten Faktor VIII) kommt (Inzidenz 1:1 Mio. in der allgemeinen Bevölkerung).

«Konventionelle» Therapie der Hämophilie

Der Grundpfeiler der Hämophilie-Therapie besteht seit langem in der Substitution des jeweiligen Gerinnungsfaktors durch i.v. Injektion. Hierfür standen bisher plasmatische (aus menschlichem Plasma gewonnene) und rekombinante (synthetisierte) Präparate zur Verfügung. Bei der Auswahl müssen das Risiko einer möglichen Infektions-Übertragung (heute durch effiziente Pathogeninaktivierungsverfahren praktisch eliminiert) und das Risiko einer Immunisierung gegen das Präparat abgewogen werden. Bei der Therapie werden zwei Prinzipien unterschieden:

  • die bedarfsweise Faktoren-Gabe («on-demand») bei Blutungen oder geplanten Eingriffen (alle Hämophilie-Formen) und
  • die prophylaktische Faktoren-Gabe (regelmässig 2 x-3 x/Woche, schwere und z.T. mittelschwere Hämophilie).

Eine prophylaktische Therapie wird üblicherweise bereits in der frühen Kindheit nach der ersten relevanten Gelenkblutung (grosses Gelenk) initiiert mit dem Ziel, die basale Faktoren-Aktivität anzuheben (2). Mehrfach konnte gezeigt werden, dass eine konsequente Prophylaxe das Auftreten von Gelenkschädigungen verhindern kann (3,4). Die Halbwertzeit der in der Vergangenheit verfügbaren Faktoren-Präparate lag bei ca. 12h (Faktor VIII) bzw. ca. 20h (Faktor IX). Dadurch waren Injektionen 3 x /Woche (Faktor VIII) bzw. 2 x /Woche (Faktor IX) notwendig. Viele Hämophilie-Patienten lernen, die intravenöse Substitution selbstständig durchzuführen. Die häufigen Injektionen stellen jedoch für die Betroffenen und Ihre Familien eine z.T. erhebliche Belastung dar (2).

Neue Therapieoptionen

Nachdem die beschriebenen Therapie-Optionen seit Ende der 70er Jahre lange Zeit unverändert waren, haben letzte Entwicklungen grosse Bewegung in die Therapie-Möglichkeiten der Hämophilie gebracht. Hier sind insbesondere relevant:

  • Präparate mit längerer Wirkdauer
  • Neue Wirkmechanismen (Alternativen zu der Faktoren-Gabe)
  • Neue Applikationsarten (subkutane Gabe)
  • Gentherapie

Faktoren-Präparate mit längerer Halbwertzeit

Um die Injektions-Häufigkeit zu reduzieren und höhere basale Faktoren-Spiegel zu erreichen, haben verschiedene Hersteller Präparate mit einer verlängerten Halbwertzeit entwickelt. Dies wurde durch verschiedenartige Modifikationen des Faktor VIII-Moleküls erreicht (5):

  • Pegylierung: Konjugation mit Polyethylenglycol (PEG) als Schutz vor Abbau und Verminderung der renalen Ausscheidung
  • Fusionsmoleküle: Kopplung des Gerinnungsfaktors an ein Molekül mit längerer Halbwertzeit (Albumin oder IgG-Fc-Protein).

Derzeit sind in der Schweiz fünf Faktoren-Präparate mit verlängerter Halbwertzeit verfügbar, zwei weitere befinden sich im Zulassungsverfahren (Tab. 1).
Diese Modifikationen haben für Faktor VIII eine Verlängerung der Halbwertzeit (HWZ) auf das ca. 1,5 fache (d.h. ca. 18h) erreichen können. Die Injektionsfrequenz in der prophylaktischen Therapie konnte dadurch je nach Situation auf 2 x /Woche reduziert werden. Faktor VIII wird physiologisch an das Von Willebrand-Molekül gebunden transportiert und ist damit von dessen HWZ abhängig. Dieser Umstand erschwert eine weitere Verlängerung der Wirkdauer (6).
Für Faktor IX konnte eine wesentlich deutlichere HWZ-Verlängerung auf 80 – 100h (d.h. das 5 fache) erreicht werden. Die Injektionsfrequenz liess sich auf 1 x alle 1-2 Woche reduzieren – mit Faktor IX-Talspiegeln von > 3%. Die Verbesserung der Hämophilie B-Behandlung durch diese therapeutische Option ist immens.
Durch die umfangreichere Modifikation der Faktorenmoleküle besteht die Sorge, dass die Immunogenität und damit das Risiko einer Antikörper-Entstehung («Inhibitor») zunimmt. Die bisherigen – limitierten – Erfahrungen konnten dies erfreulicherweise nicht bestätigen (5).

Neue Wirkmechanismen / «non-factor-replacement»

Neben der Modifikation der Gerinnungsfaktoren VIII und IX wurden alternative Ansätze zur Beeinflussung und Verbesserung der Hämostase verfolgt. Diese Ansätze werden als «non-factor-replacement» bezeichnet. Sie stellen eine grosse therapeutische Hoffnung dar bei Patienten, die einen Antikörper gegen Faktor VIII oder IX entwickelt haben (im Rahmen der Faktoren-Substitution bei Hämophilie A oder B oder einer «erworbenen» Hämophilie). Zudem besteht die Möglichkeit einer subkutanen Applikation. Die derzeit entwickelten Medikamente sind:

  • Bispezifische Antikörper: Emicizumab (Hemlibra®) ist ein bispezifischer, rekombinant hergestellter IgG-Antikörper, der – vereinfacht – in der plasmatischen Gerinnung die Funktion von Faktor VIII ersetzt, indem er aktivierten Faktor IX und Faktor X zusammenführt und dadurch Faktor X aktivieren kann. Emicizumab kann daher auch bei Faktor VIII-Inhibitoren eingesetzt werden. Der Antikörper wird s.c. verabreicht und hat eine Halbwertzeit von 4-5 Wochen, die Gabe erfolgt 1 x / Woche oder 1 x alle zwei Wochen. Eine «Normalisierung» der Gerinnung bei der schweren Hämophilie A wird formal nicht erreicht, jedoch war der Rückgang der Blutungsereignisse bei Patienten mit oder ohne Inhibitor in Phase III-Studien relevant gross (79-87% resp. 95-96%). Vorsicht ist bei dem gleichzeitigen Verabreichen von anderen plasmatischen Gerinnungsprodukten geboten, welche zum Teil aktivierte Faktorenmoleküle beinhalten (FEIBA factor eight bypassing agents). Unter deren kombinierter Wirkung traten Thromboembolien und thrombotische Mikroangiopathien auf. Emicizumab hat die Zulassung in der EU erhalten, in der Schweiz ist das Produkt von der Swissmedic zugelassen für die Hemmkörperhämophilie; das Zulassungsverfahren für die Hämophilie ohne Hemmkörper ist auch aktiviert (7, 8).
  • Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI)-Antikörper (z.B. Concizumab): In Entwicklung befinden sich verschiedene monoklonale Antikörper, die den TFPI blockieren und somit zu einer verbesserten Aktivierung des Tissue Factors (TF) führen (Blockade des negativen Feedback-Mechanismus). TF und Faktor VIIa aktivieren Faktor X zu Faktor Xa und gleichen so einen FVIII- oder FIX-Mangel teilweise aus. Concizumab ist in einer Phase I-Studie untersucht worden, eine Phase II-Studie ist derzeit aktiv (9); zwei weitere Anti-TFPI monoklonale Antikörper (Marstacimab und BAY-109) sind aktuell in Entwicklung.
  • Antithrombin-Verminderung mittels siRNA (Fitusiran): Antithrombin hemmt Thrombin (FIIa), welches für die Thrombusbildung verantwortlich ist. Ein Antithrombinmangel führt daher zu einer potentiellen Gerinnungsaktivierung. Es besteht die Hoffnung, hierdurch den Faktoren Mangel der Hämophilie A und B «auszugleichen». «Antithrombin small interfering RNA» (siRNA) soll die Antithrombin-Bildung durch Blockierung der Antithrombin mRNA in den Hepatozyten reduzieren. Die Substanz Fitusiran wird s.c. einmal monatlich appliziert und konnte bei Hämophilie-Patienten den Antithrombin-Spiegel um bis zu 88% senken. Die Gerinnungsteste in dieser Konstellation zeigten einen deutlichen Anstieg der Thrombinbildung. Derzeit befindet sich das Produkt in Phase III-Studien (ATLAS Trial) (10).
  • Prokoagulatorische Moleküle: In experimenteller Entwicklung befinden sich weitere Konzepte, wie ein Protein C-Inhibitor oder prokoagulatorisch wirkende monoklonale Antikörper gegen Faktor IXa oder Faktor X.

Gentherapie

Mit den Fortschritten der Gentherapie der letzten Jahre besteht seit langem auch die Hoffnung, Hämophilie A und B heilen zu können (11).

Prinzip: Das Therapieprinzip beruht aktuell auf dem Transfer eines funktionierenden F8- oder F9-Gens oder Genteiles in die Hepatozyten der Person mit Hämophilie. Der Transfer erfolgt via virale Vektoren, am besten haben sich dafür aktuell die «gutted» Adenoviren bezüglich Effizienz und Nebenwirkungen bewährt. Das transferierte Genom der Vektoren (F8- oder F9-Gen) nutzt die Umgebung der Hepatozyten aus, um FVIII- oder FIX-Moleküle zu produzieren ohne sich ins Genom der Hostzelle zu integrieren. Die Herausforderung besteht im Erreichen eines adäquaten FVIII- oder FIX-Spiegels (z.B. > 2%) über längere Zeit. Die Transformation der Hämophilie von der schweren (FVIII < 1%) in die mittelschwere oder milde Form (FVIII 2-4% oder höher) würde die Lösung des klinischen Problems bedeuten.

Vektoren und Ergebnisse: Erfolgreiche Studien wurden mit dem Transfer des F9-Gens und mit einem an der Länge reduzierten F8-Gen durchgeführt. In beiden Ansätzen haben die Patienten Faktorenspiegel von 10-50% über längere Zeit (aktuell 2-4 Jahre nach Beginn der Studien) erreicht. Es ist noch unbekannt wie haltbar diese Intervention bleiben kann (11).
Nebenwirkungen: Als häufige Nebenwirkungen wurden eine – meist transiente – Hepatitis beobachtet, welche gut auf Steroid-Therapie anspricht. Unsicher ist derzeit, wie lange die Gen-Expression anhält, zudem sind langfristige, derzeit unbekannte, Folgen der Vektor-Integration in die Hepatozyten unklar (11).

Dr. med. Julia Engels

Diagnostische Hämatologie
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel

Prof. Dr. med. Dimitrios A. Tsakiris

 SYNLAB Suisse SA
Alpenquai 14
6002 Luzern

dimitrios.tsakiris@usb.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Die Therapie der schweren und z.T. der mittelschweren Hämophilie besteht heute weiterhin in der regelmässigen intravenösen Faktorensubstitution. Vorwiegend rekombinant hergestellte Produkte stehen hier zur Verfügung.
  • Personen mit Hämophilie unter regelmässiger Sekundärprophylaxe (z.B. Substitution 2 x-3 x / Woche) lernen das Selbstmanagement und meiden erfolgreich die chronischen Schäden der Hämophilie.
  • Einen wesentlichen Fortschritt in der Behandlung brachte die Entwicklung und Einführung der Faktorenkonzentrate mit verlängerter Halbwertszeit (1.5 x für FVIII- und 4.8 x für FIX-Produkte) (vergl. Tab. 1).
    Dieser erlaubt ein individualisiertes, angenehmeres und effizienteres Management.
  • Weitere innovative Therapien («non-factor replacement»), wie z.B.
    der bispezifische Antikörper Emicizumab sind bereits zugelassen bzw. stehen zum Teil vor der Zulassung und Einführung. Die Entwicklung gezielter Gentherapien hat grosse Fortschritte gemacht und diese werden in Phase I/II Studien mit Erfolg geprüft.

Literatur:
1. Blanchette VS, Key NS, Ljung LR, Manco-Johnson MJ, van den Berg HM, Srivastava A. Definitions in hemophilia: Communication from the SSC of the ISTH. J Thromb Haemost. 2014;12(11):1935–9.
2. Srivastava A, Brewer AK, Mauser-Bunschoten EP, Key NS, Kitchen S, Llinas A, et al. Guidelines for the management of hemophilia. Haemophilia. 2013;19(1): e1-47.
3. Manco-Johnson MJ, Soucie JM GJ. Joint Outcomes Committee of the Universal Data Collection USHTCN. Prophylaxis usage, bleeding rates, and joint outcomes of hemophilia, 1999 to 2010: a surveillance project. Blood. 2017;129:2368–74.
4. Manco-Johnson MJ, Kempton CL, Reding MT, Lissitchkov T, Goranov S, Gercheva L, et al. Randomized, controlled, parallel-group trial of routine prophylaxis vs. on-demand treatment with sucrose-formulated recombinant factor VIII in adults with severe hemophilia A (SPINART). J Thromb Haemost. 2013;11(6):1119–27.
5. Laffan M. New products for the treatment of haemophilia. Br J Haematol. 2016;172(1):23–31.
6. Tiede A. Half-life extended factor VIII for the treatment of hemophilia A. J Thromb Haemost. 2015;13(S1):S176–9.
7. Oldenburg J, Mahlangu JN, Kim B, Schmitt C, Callaghan MU, Young G, et al. Emicizumab Prophylaxis in Hemophilia A with Inhibitors. N Engl J Med 2017; 377: 809-18
8. Mahlangu JN, Oldenburg, J, Paz-Priel I, et al. Emicizumab prophylaxis in patients who have hemophiia A without inhibitors. N ENgl J Med 2018; 379: 811-22.
9. Chowdary P, Lethagen S, Friedrich U, Brand B, Hay C, Abdul Karim F, et al. Safety and pharmacokinetics of anti-TFPI antibody (concizumab) in healthy volunteers and patients with hemophilia: A randomized first human dose trial. J Thromb Haemost. 2015;13(5):743–54.
10. Pasi KJ, Rangarajan S, Georgiev P, Mant T, Creagh MD, Lissitchkov T, et al. Targeting of Antithrombin in Hemophilia A or B with RNAi Therapy. N Engl J Med 2017; 377: 819-28.
11. Pierce GF, Iorio A. Past, present and future of haemophilia gene therapy: From vectors and transgenes to known and unknown outcomes. Haemophilia 2018; 24 Suppl. 6: 60-7.

Langzeiteffekt von Finasterid auf die Mortalität an Prostatakarzinom

Einer von neun Männern erhält im Laufe seines Lebens die Diagnose eines Prostatakarzinoms. Im Prostate Cancer Prevention Trial, bei dem 18882 Männer während 7 Jahren randomisiert entweder mit Finasterid oder Plazebo behandelt wurden, schien es, dass unter Behandlung mit Finasterid ein höheres Risiko für ein hochgradiges Karzinom mit einem Gleason-Score von 7 bis 10 vorhanden sei, wobei das Risiko für Prostatakarzinom insgesamt um 24.8% von 24,4% auf 18,4% reduziert war. Die Fragen, ob sich diese Befunde in der Überlebenskurve oder der Mortalität an Prostatakarzinom niederschlage, wurden in Analysen der Langzeitresultate nun geklärt.

Bereits 2013 wurde publiziert, dass die 15-Jahr-Überlebensraten in beiden Therapiegruppen mit 78% resp. 78,2% faktisch gleich sind. Neu wurde nun die Mortalität an Prostatakarzinom sowie allen anderen Ursachen über im Median 18.4 Jahre ausgewertet. Von den 9423 zu Finasterid randomisierten Männern sind 3048 verstorben, 42 an den Folgen des Prostatakarzinoms. Von den 9457 Männern unter Plazebo sind 2979 verstorben, 56 an den Folgen eines Prostatakarzinoms. Die daraus berechnete Risikoreduktion um 24.7%, an den Folgen eines Prostatakarzinoms zu versterben, ist wegen der kleinen Fallzahl nicht signifikant.
Das Paradox einer höheren Inzidenz von nachgewiesenen hochgradigen Karzinomen unter Finasterid bei gleichzeitig mindestens nicht erhöhter Mortalität kann erklärt werden durch eine verbesserte Testperformance des PSA-Tests unter Finasterid, einer aussagekräftigeren rektalen Palpation und besseren Trefferquote der Biopsie (Redman 2008).
Zusammenfassend kommen die Autoren zum Schluss, dass Finasterid als generischer Wirkstoff verwendet werden kann, um Symptome des unteren Harntraktes zu behandeln und Komplikationen solcher Symptome zu vermeiden. Zudem kann er eine Rolle spielen in der Prävention von Prostatakarzinom. Die früheren Befürchtungen, dass eine Assoziation zwischen Finasterid und erhöhtem Risiko für vorzeitigen Tod infolge eines hochgradigen Prostatakarzinoms bestehe, sind nicht bestätigt worden.

Quelle: Goodman P.J. et al. Long-Term Effects of Finasteride on Prostate Cancer Mortality. N Engl J Med 2019; 380:393-394

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Die Stiftung EFA stellt sich vor

Asbest galt lange als das Material der Zukunft. Leider wurde erst spät erkannt, dass Asbest gesundheitliche Schäden verursacht. Die Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer EFA gewährt Mesotheliomerkrankten und Angehörigen rasch, unbürokratisch und kostenlos finanzielle Unterstützung.

Die Stiftung EFA richtet Entschädigung an Personen aus, die ab 2006 an einem Mesotheliom erkrankt sind. Sie ist die Folge eines von Alain Berset eingesetzten Runden Tisches und sieht ihre Hauptaufgabe darin, die Ansprüche der Betroffenen abzuklären und die Finanzierung des Fonds aus Spenden der Wirtschaft und Industrie sicherzustellen. Pro Jahr erkranken 120 Personen an einem asbestbedingten Mesotheliom, rückwirkend bis 2006 wird mit 1500 Anspruchsberechtigten gerechnet.

Leider kennen viele Betroffene und deren Angehörige die Stiftung noch nicht. So konnten bis heute erst gegen 60 Gesuche zu deren Gunsten beschlossen werden.

Als mögliche Kontaktstelle zu Patienten mit einer Mesotheliomerkrankung sind Sie als Leserin und Leser wichtige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Die Stiftung EFA bedankt sich bei Ihnen für die Bekanntmachung ihrer Leistungen bei den Betroffenen.

Um Sie in Ihrer Kommunikation zu unterstützen gibt es einen Flyer (www.stiftung-efa.ch/stiftung/downloads/), der auch per E-Mail admin@stiftung-efa.ch in D/F/I gratis bestellt werden kann.

Dani Ernst

Medienstelle Stiftung EFA,
Monbijoustrasse 61
3007 Bern

Chronische Bauchschmerzen

Die Abklärung und Betreuung von Patienten mit chronischen Bauchschmerzen stellen hohe Anforderungen an alle Beteiligten, sowohl in der Grundversorgung wie auch in der gastroenterologischen Ambulanz. In diesem Artikel werden eine mögliche Herangehensweise vorgeschlagen und aktuelle Aspekte beleuchtet.

Chronische Bauchschmerzen stehen im Spannungsfeld von organischen und funktionellen Erkrankungen in dem Sinne, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen von funktionellen Erkrankungen mit zunehmender Krankheitsdauer zwar zunimmt, aber die Möglichkeit von organischen Erkrankungen nie ausgeschlossen ist. Dieser Umstand kann gerade bei anfälligen Patienten ständiger Anlass für entsprechende Befürchtungen und Forderung nach neuen Abklärungen sein. Eine etablierte Definition für die Chronizität von Schmerzen liegt nicht vor, vielmehr liegt es in der klinischen Beurteilung, abzuschätzen, ob ein progredienter Prozess, ein intermittierender langdauernder Prozess, eine Exazerbation eines chronischen Problems oder aber ein neues unabhängiges Problem besteht. Aber immerhin wird in den neuen ROME IV-Kriterien gefordert, dass Symptome mindestens 6 Monate bestehen müssen, um die Diagnose eines abdominalen Schmerzsyndroms stellen zu können (1).

Erste Schritte (2)

Funktionelle Erkrankungen positiv identifizieren
In Anbetracht der hohen Prävalenz von funktionellen Verdauungsstörungen (FGID) könnte man zur raschen Annahme verleitet werden, dass ein Patient, der sich mit chronischen Bauschmerzen präsentiert, an einer Form einer funktionellen Magen-Darmkrankheit leidet, wie z.B. einem IBS oder einem zentral vermittelten abdominalen Schmerzsyndrom. Diese Annahme kann aber trügerisch sein und man sollte versuchen, funktionelle Erkrankungen positiv zu identifizieren und nicht einfach im Ausschlussverfahren unter dem Motto «Sie haben nichts» zu diagnostizieren. Dazu dient eine psychosoziale Anamnese mit Fragen wie «Warum kommen Sie gerade jetzt in die Sprechstunde», «Sind traumatische Erlebnisse vorgefallen», «Wie interpretieren Sie Ihre Beschwerden», «Leidet Ihre Lebensqualität unter den Beschwerden» und eine Abklärung von assoziierten psychiatrischen Diagnosen, der Rolle von Familie und Kultur (3). Bei der körperlichen Untersuchung beachtet man das für funktionelle Erkrankungen typische Fehlen von vegetativen Zeichen wie Tachykardie, Blutdruckanstieg oder Schwitzen bei Schmerzprovokation, das Vorhandensein multipler Narben ohne klare Indikation, die Äusserung von Schmerzen mit geschlossenen Augen und die Abnahme von Schmerzäusserungen, wenn die Druckschmerzhaftigkeit mit dem Stethoskop geprüft wird. Zum Nachweis von nicht seltenen Bauchwandschmerzen eignet sich der Carnett’s Test, bei dem zuerst in Ruhe die Region der maximalen Schmerzhaftigkeit ertastet wird. Wenn der Schmerz dann bei gleichzeitigem Anspannen der Bauchmuskulatur zunimmt, spricht man von einem positiven Test, der als Argument gegen einen viszeralen Schmerz gewertet werden kann (3). Ob den Beschwerden primär Blähungen und ein vermehrter abdominaler Gasgehalt zugrunde liegt, kann anamnestisch und klinisch geklärt werden.

Ausschluss von organischen Erkrankungen
Zum Ausschluss von organischen Erkrankungen gilt es, Alarmsymptome wie Alter über 50 Jahre, rektale Blutung, Gewichtsverlust, kürzliche Veränderung der Darmgewohnheit und ganz allgemein eine Dynamik betreffend der Schmerzdimensionen (also z.B. Änderung in Charakter, Lokalisation oder Intensität der Schmerzen) zu beachten. Folgende Charakteristika sprechen eher für organische Erkrankungen: Kürzere Krankheitsdauer, Beschreibung von sensorischen Qualitäten und nicht von Emotionen, präzisere anatomische Zuordnung zu neuroanatomischen Strukturen, meistens einfachere interpersonelle Beziehung. Nebst einem unauffälligen abdominalen Tastbefund, insbesondere Ausschluss von Massen oder Hepatomegalie, ist eine basale Diagnostik mit Blutstatus, CRP / Calprotectin im Stuhl und eine
Zöliakie-Serologie sinnvoll, ergänzt durch eine Sonographie des Abdomens. Endoskopien sind ausser bei Alarmsymptomen indiziert bei Beschwerden, die einen zeitlichen Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme und/oder Darmtätigkeit aufweisen. Jedoch gilt die Diagnose eines Reizdarmsyndroms anhand der ROME IV-Kriterien bei fehlenden Alarmsymptomen in der Praxis als sicher (2, 3). Weitere Abklärungen erfolgen gezielt nach Klinik.

Grundpfeiler der Behandlung von chronischen funktionellen Bauchbeschwerden
Der Grundpfeiler der Behandlung von chronischen FGIDs ist zuerst die Erstellung einer guten Arzt-Patienten-Beziehung mit Empathie, Ernstnehmen der Beschwerden, Beruhigung, Erziehung und Setzen vernünftiger Behandlungsziele. Sodann das Aufstellen eines für den Patienten spezifischen und verständlichen Behandlungsplans mit Offerte verschiedener Optionen. Dabei kann dem Patienten geholfen werden, Verantwortung zu übernehmen, z.B. im Bereich Lebensstil, Fitnesstraining, Stressreduktion und Schlafmanagement. Die Behandlung soll dem Schweregrad der Symptome und der Behinderung angepasst werden, gegebenenfalls unter Beizug von psychologisch-/psychiatrischer Hilfe. Die eigentliche Behandlung kann diätetischer, medikamentöser und psychologischer Natur sein. Auch kann es für den Patienten von Bedeutung sein, vom Arzt zu erfahren, dass er mit seinen Beschwerden zu einer Mehrheit der Bevölkerung gehört und das «Finden von Nichts» nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel bei einer derartigen Klinik darstellt.
Obwohl praktisch alle Patienten mit FGIDs Zusammenhänge zwischen ihrer Diät und den Bauchschmerzen wittern, ist die Evidenz für den effektiven Nutzen einer Ernährungstherapie sehr tief. Am besten haben Studien zur FODMAP-Diät abgeschnitten, der Stellenwert einer Gluten-reduzierten Diät ist nach Ausschluss einer Zöliakie umstritten (4, 5). Nach dem heutigen Kenntnisstand kann eine solche Restriktion nicht empfohlen werden. Wenn der Patient diesbezüglich motiviert ist, muss davon zwar nicht abgeraten werden. Der Erfolg sollte aber mit Unterstützung durch den Arzt vom Patienten möglichst kritisch und genau evaluiert werden.
An Medikamenten haben sich periphere Analgetika und Opioide ebenso wenig bewährt wie Benzodiazepine. Bei gleichzeitiger Verstopfung steht der Einsatz von Quellstoffen zur Diskussion, dabei haben sich lediglich lösliche Quellstoffe als bescheiden wirksam erwiesen. Für Polyethylenglycol besteht keine Evidenz eines Nutzens gegen funktionelle Schmerzen, wohl aber für seine laxierende Wirkung. Spasmolytika können mit tiefer Evidenz kurzfristige Wirkungen entfalten, die aber je nach Substanz durch anticholinerge Nebenwirkungen überschattet werden. Pfefferminzöl scheint mit mittlerem Evidenzgrad nebst einer spasmolytischen Wirkung auch die viszerale Hypersensitivität abschwächen zu können. Der Einsatz von Antidepressiva, sowohl von Trizyklika wie auch von SSRIs, ist insbesondere bei Personen mit einer depressiven Begleitsymptomatik mit hoher Evidenz und mit einer Number Needed to Treat (NNT) von 4 in der Lage, Symptome von funktionellen Erkrankungen zu beeinflussen, wegen der häufigen und für Patienten oft limitierenden Nebenwirkungen ist ihr Einsatz aber nur schwach empfohlen (4). Zudem fühlen sich viele Patienten stigmatisiert durch die Verschreibung eines psychiatrischen Medikamentes, was die schlechte Compliance erklärt (2). Gegen Letzteres hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, dem Patienten die Begründung, nämlich Therapie der viszeralen Hypersensitivität und eben nicht einer zentralnervösen Störung, eingehend zu erläutern (Vergleichbar etwa Begründung: Antiepileptika bei neuropathischem Schmerz hat nichts mit der Behandlung einer Epilepsie zu tun).

«Wenn normal bedrohlich wird»
In der Perpetuierung von FGIDs spielen Magen-Darm-Symptom-spezifische Ängste eine wesentliche Rolle. Sie stellen einen wichtigen und dauerhaften Faktor von FGIDs dar und zeichnen sich durch Sorgen und Hypervigilanz um GI-Sensationen aus, die von normalen Körperfunktionen (Hunger, Sättigung, Gas) bis hin zu Symptomen im Zusammenhang mit einem GI-Ereignis (Bauchschmerzen, Durchfall, Dringlichkeit) reichen können. Im weiteren Verlauf verallgemeinern sich die Sorgen und Hypervigilanz in der Regel in Ängste bereits hinsichtlich des Potenzials für das Auftreten von Empfindungen oder Symptomen. Und dann weiter hinsichtlich der Situationen, in denen sie am ehesten auftreten könnten. Magen-Darm-Symptom-spezifische Angstzustände können zu Vermeidung und Verhalten führen, das in keinem Verhältnis zu den Symptomen steht (6). Diese und weitere Mechanismen sind einer psychologischen Behandlung wie z.B. einer Verhaltenstherapie zugänglich und Metaanalysen haben gezeigt, dass psychologische Behandlungen mit einer NNT von 2 bis 4 mindestens mässig effektiv sind zur Symptomlinderung bei FGIDs (6).

Einige Änderungen der ROME-Kriterien von Version III zu IV

Erkrankungen der Interaktion von Gehirn-Darm
Die Benennung von Schmerzen und anderen Symptomen ohne offenkundiges pathologisches anatomisches Korrelat als «funktionell» bedeutet für viele Menschen unter dem Missverständnis «ist halt nur psychisch oder eingebildet» eine Stigmatisierung. Dieses Verständnis erweist sich auch zunehmend als inhaltlich falsch, da wissenschaftliche Forschung gezeigt hat, dass viele sogenannte funktionelle Erkrankungen durch organische Veränderungen charakterisiert sind, sei es im Sinne von niedrig-gradiger Entzündung im Falle eines Reizdarms oder von Veränderungen des Mikrobioms des Darmes oder einer gestörten Motilität oder einer veränderten zentralen Verarbeitung von Afferenzen aus dem Gastrointestinaltrakt. Aus diesem Grunde werden funktionelle gastro-intestinale Beschwerden neu als Erkrankungen der Interaktion von Gehirn-Darm definiert (7, 8) und im Rahmen eines biopsychosozialen Konzeptes beurteilt (6).

Kriterien für die Diagnose von Reizdarm und von einem zentral vermittelten abdominalen Schmerzsyndrom
Neu ist, dass zur Diagnose eines IBS das Symptom «Schmerz» vorhanden sein muss und dass die Subkategorien eines IBS heute eher als Kontinuum angesehen werden mit wechselhaftem Spektrum von Symptomen wie Durchfall oder Verstopfung im Laufe der Zeit. Die aktuellen diagnostischen Kriterien C1 für IBS und D1 für das zentral vermittelte abdominale Schmerzsyndrom sind in der Tabelle zusammengefasst.

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Bei fehlenden Alarmsymptomen und zunehmender Dauer von abdominalen Schmerzzuständen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass funktionelle Schmerzzustände vorliegen.
  • Die Abklärung und Betreuung von Patienten mit Verdacht auf funktionelle Bauchschmerzen basieren auf einer guten Arzt-Patienten-Beziehung als Fundament. Darauf aufbauend soll versucht werden, die Diagnose positiv zu stellen und organische Erkrankungen angemessen auszuschliessen, womit eine gute Chance besteht, ein solides Behandlungsresultat zu erzielen. Ohne dieses Fundament hingegen droht von Anfang an die Gefahr einer Frustration und zwar gleichermassen bei Patienten und Arzt. Die Beachtung der ROME IV-Kriterien kann helfen, in der Diagnostik Sicherheit zu erlangen
  • Die Behandlung umfasst einen für den Patienten spezifischen und verständlichen Behandlungsplan und reicht von Lebensstil-verändernden Massnahmen über diätetische Beratung, Medikamente bis zu verschiedenen Formen von psychologischer Behandlung z.B. Verhaltenstherapie.

Literatur
1. Keefer L, Drossman DA, Guthrie E, Simrén M, Tillisch K, Olden K et al. Centrally Mediated Disorders of Gastrointestinal Pain. Gastroenterology 2016; 150(6):1408–19. doi: 10.1053/j.gastro.2016.02.034.
2. Camilleri M. Management of patients with chronic abdominal pain in clinical practice. Neurogastroenterol Motil 2006; 18(7):499–506. doi: 10.1111/j.1365-2982.2005.00744.x.
3. Drossman DA. Functional abdominal pain syndrome. Clin Gastroenterol Hepatol 2004; 2(5):353–65.
4. Ford AC, Moayyedi P, Lacy BE, Lembo AJ, Saito YA, Schiller LR et al. American College of Gastroenterology monograph on the management of irritable bowel syndrome and chronic idiopathic constipation. Am J Gastroenterol 2014; 109 Suppl 1:S2-26; quiz S27. doi: 10.1038/ajg.2014.187.
5. Mearin F, Lacy BE, Chang L, Chey WD, Lembo AJ, Simren M et al. Bowel Disorders. Gastroenterology 2016; 150(6):1393–407. doi: 10.1053/j.gastro.2016.02.031.
6. van Oudenhove L, Crowell MD, Drossman DA, Halpert AD, Keefer L, Lackner JM et al. Biopsychosocial Aspects of Functional Gastrointestinal Disorders. Gastroenterology 2016; 150(6):1355–67. doi: 10.1053/j.gastro.2016.02.027.
7. Drossman DA, Hasler WL. Rome IV-Functional GI Disorders: Disorders of Gut-Brain Interaction. Gastroenterology 2016; 150(6):1257–61. doi: 10.1053/j.gastro.2016.03.035.
8. Tack J, Drossman DA. What’s new in Rome IV? Neurogastroenterol Motil 2017; 29(9). doi: 10.1111/nmo.13053.