Differentialdiagnosen der Unverträglichkeits- Reaktionen auf Getreide

Heute ist man vermehrt mit den Schlagworten Allergie, Intoleranz und Unverträglichkeit auf Nahrungsmittel, insbesondere auf Milch- und Getreideprodukte konfrontiert. Klare Begriffsbestimmungen sind notwendig. Prinzipiell muss man zwischen echten Allergien und Intoleranzen unterscheiden.

A food allergy is mediated by the immune system reaction to food, leading to clinical symptoms. The most common food allergies are caused by specific antibodies, so-called immunoglobulins E, IgE antibodies, which are detected by skin tests in the immediate reaction or by blood tests (IgE determinations). Symptoms of skin (hives, atopic dermatitis), respiratory tract (runny nose, asthma), gastrointestinal tract (vomiting, diarrhea, convulsions), or circulatory (anaphylactic shock) may be caused by small or moderate amounts of the food in question, but elimination and can be convincingly and reproducibly triggered by a renewed exposure.
A food intoleranceis a nonimmunological food intolerance, ie it is not detectable by immunological methods (skin tests or blood tests). Most often, enzymatic (enzyme defects) or pharmacological mechanisms are responsible for triggering the complaint. Of the enzymatic intolerances, the most common is lactose intolerance due to a lactase deficiency, a deficiency in the enzyme lactase in the intestinal mucosa, which degrades the lactose. Pharmacological intolerances occur in susceptible persons after a high content of histamine (histamine intolerance) and other pharmacologically active biogenic amines, such as tyramine, serotonin and phenylethylamine (vascular or psychoactive biogenic amines),
Mental aversions on food, patient convictions of a food allergy or intolerance, and food intolerances diagnosed by alternative methods, without intolerances being confirmed by conventional medicine, must be delineated from the term food allergies or intolerances. Irritable Bowel Syndrome (IBS) is not considered a food intolerance. (Fig. 1).

Wheat allergy

Eine Weizenallergie ist eine echte IgE-bedingte allergische Erkrankung und die Diagnose wird entsprechend durch eine Blutbestimmung auf IgE-Antikörper gegen Weizenproteine gestellt. Dabei ist zu beachten, dass es sich hier um andere Allergene handelt, als diejenige, welche im Mehlstaub für das Bäckerasthma verantwortlich sind. Die Weizenallergie macht sich in der Regel schon im Säuglingsalter bemerkbar. Bei Erwachsenen ist die Weizenallergie eher selten. Während sich die Weizenallergie bei Kindern oft wieder verlieren kann, ist dies bei Erwachsenen aber eher nicht der Fall.
Eine Sonderform der Weizenallergie ist die weizenabhängige, anstrengungsinduzierte Anaphylaxie (Wheat Dependent Excercise Induced Anaphylaxis, WDEIA). Die Diagnose wird gestellt durch eine Bestimmung der IgE-Antikörper gegen Omega-5-Gliadin.

Gluten-assoziierte Erkrankungen und Symptome

Zöliakie (Gluten-empfindliche Enteropathie)

Die sogenannte Gluten-empfindliche Enteropathie (Zöliakie) ist den immunologisch bedingten Darmerkrankungen zuzuordnen, und die Voraussetzung für die Entstehung der Symptomatik durch glutenhaltige Nahrungsmittel ist eine genetische Veranlagung. Die Zöliakie kommt mit einer Häufigkeit von 1:100 bis 1:400 vor. 10 - 15 % der Verwandten 1. Grades von Zöliakie-Patienten sind ebenfalls betroffen. Die Symptome und die Schwere des Krankheitsbildes können sehr unterschiedlich sein, was das Erkennen erschwert. Durchfall, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Gewichtsverlust, Depressionen und im Kindesalter nicht zuletzt eine Gedeihstörung sind die Leitsymptome.
Heute steht die sogenannte oligosymptomatische (d.h. nur am Darmtrakt) Sprue des Erwachsenenalters häufigkeitsmässig weit im Vordergrund. Bei unspezifischen Symptomen wie chronischer Müdigkeit oder reizdarmartigen Abdominalbeschwerden oder pathologischen Laborbefunden (Eisenmangel, Transaminaseerhöhung) soll auf Zöliakie abgeklärt werden.
Gluten ist als Kleberprotein vieler Getreidesorten (Weizen, Roggen, Gerste) omnipräsent in der westlichen Ernährung. Gluten ist eine Mischung von verschiedenen Eiweissen, die in 2 Gruppen aufgeteilt werden können: Glutenine und Gliadine. 90% des Eiweissanteils von Weizen besteht aus Gluten, worin zu gleichen Teilen Gliadine und Glutenine vorkommen. Im Verdauungstrakt wird Gluten nicht vollständig abgebaut, da es durch die vielen Prolin- und Glutamineinheiten in seiner Aminosäurensequenz gegen menschliche Verdauungsenzyme resistent ist. Nach unvollständiger Verdauung passieren Glutenfragmente die Dünndarmwand und induzieren in Menschen mit Zöliakie eine Autoimmunantwort gegen die Dünndarmmukosa. Das im Endomysium (Darmmuskelzellen) lokalisierte Enzym Tissue-Transglutaminase (tTGA) modifiziert die Gliadinpeptide, die eine lokale Immunreaktion auslösen und spezielle intestinale Immunzellen (T-Lymphozyten) aktivieren. Das tTGA wirkt dabei als Autoantigen. Die nachfolgende entzündliche Autoimmunreaktion führt zum Zelltod der Enterozyten (Darmschleimhautzellen) mit oft ausgedehnter Zottenatrophie. Es kommt zur Malabsorption. Aufgrund dieser Befunde wird die Zöliakie aus pathophysiologischer Sicht als eine Mischform aus Allergie (Gluten als Antigen) und Autoimmunerkrankung verstanden.
Umweltfaktoren wie Darminfektionen, Stress oder hoher Alkoholkonsum können eine erhöhte Aktivität der tTGA bewirken und so die Entstehung der Zöliakie fördern.
Bei klinischem Verdacht auf Zöliakie werden IgA-Antikörper gegen Endomysium und gegen Transglutaminase (ELISA-Methode) sowie der IgA-Spiegel bestimmt.

Nicht-Zöliakie-bedingte Glutensensitivität

Nicht-Zöliakie-bedingte Glutensensitivität (NCGS) beschreibt ein Syndrom von symptomatischen Reaktionen auf die Einnahme von Gluten bei Patienten ohne serologischen oder histologischen Nachweis einer Zöliakie. Die häufigsten Beschwerden sind Bauchschmerzen, Blähungen und/oder Veränderungen der Darmgewohnheiten, aber einige Patienten klagen über extraintestinale Symptome wie Müdigkeit, Kopfschmerzen und Arthralgien. Der Beginn ist in der Regel innerhalb von Stunden oder ein paar Tagen nach der Einnahme von Gluten. Dieser Zeitverlauf unterscheidet NCGS vom schnellen Auftreten von Symptomen bei Weizenallergien (Minuten bis Stunden), kann sich aber mit dem verzögerten Auftreten von Symptomen bei Zöliakie (Tage bis Wochen) überschneiden.
In pathophysiologischer Hinsicht ist Gluten wahrscheinlich bei vielen Patienten mit Symptomen, die sie selbst auf Gluten zurückführen, kein spezifischer Auslöser. Die Symptome replizieren sich oft nicht bei doppelblinder Glutenexposition, was auf eine Plazebowirkung oder einen Effekt eines anderen Prinzipes hindeutet. Ein Beispiel dafür sind Erwachsene, deren gastrointestinale Symptome durch die fermentierbaren, schlecht absorbierten, kurzkettigen Kohlenhydrate (fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide und Polyole; «FODMAP») verursacht zu werden scheinen. Es handelt sich dabei um vergärbare Mehrfach-, Zweifach- und Einfachzucker sowie mehrwertige Alkohole aus Hülsenfrüchten und einigen Obst-, Gemüse- sowie Getreidearten – inklusive Weizen. Auch Laktose (Milchzucker), Fruktose (Fruchtzucker), Fruktane und Galactane sowie Polyole (z. B: Sorbitol, Mannitol, Xylitol und Maltitol) zählen zu den FODMAPs. Da diese Zucker auch in einer glutenfreien Ernährung reduziert werden, kann das klinische Ansprechen eher auf eine Reduktion der Oligosaccharide als auf eine Eliminierung des Glutens selbst zurückzuführen sein. Es handelt sich dabei am Wahrscheinlichsten um Patienten mit Reizdarmsyndrom (IBS), das durch Oligosaccharide und nicht durch NCGS ausgelöst wird.

Abb. 1. Klassifikation der Unverträglichkeitsreaktionen auf Nahrungsmittel

Bei einer kleineren Anzahl von Patienten mit diesen Symptomen scheint Gluten jedoch tatsächlich selbst der spezifische Auslöser für Symptome zu sein, womit bei diesen die Diagnose eines NCGS zu Recht gestellt werden kann. So konnten bei 39% von Kindern mit vermuteter Glutenempfindlichkeit nach Ausschluss einer Zöliakie die Symptome durch doppelblinde Glutenexposition reproduziert werden oder umgekehrt wurde die Verdachtsdiagnose bei 61% widerlegt.
Zur Diagnose müssen sowohl eine Zöliakie als auch eine IgE-vermittelte Weizenallergie ausgeschlossen sein und die Untersuchungen müssen unter glutenhaltiger Kost erfolgen, da sonst die Gefahr von falsch negativen Befunden droht. Ausser der doppelblinden Glutenexposition existiert kein Test zur zuverlässigen Unterscheidung von einer echten NCGS von einem IBS oder anderen Zuständen, die nicht spezifisch mit Gluten zusammenhängen. Daher sollte die Diagnose von NCGS mit Vorsicht angegangen werden und nicht nur auf einer kurzfristigen Verbesserung der Symptome bei einer glutenfreien Ernährung beruhen. Bevor ein Patient mit Verdacht auf NCGS eine Gluteneliminierungsdiät einleitet, sollten er über diese Problematik informiert sein und auch auf mögliche Ernährungsdefizite hingewiesen werden, die nicht begründeten Diätrestriktionen folgen können.

Therapie

Da es bisher keine pharmakologische Therapie gibt, bleibt Menschen mit Zöliakie nur der vollständige, lebenslängliche Verzicht auf Gluten, insbesondere Elimination von Weizen, Gerste, Roggen, Dinkel. Oftmals erweist sich eine glutenfreie Ernährung jedoch als schwierig, weil Gluten nicht nur in Brot und Teigwaren, sondern auch als Zutat in vielen verarbeiteten Lebensmitteln verwendet wird (z.B. zum Binden von Suppen und Saucen). Zudem können natürlicherweise glutenfreie Nahrungsmittel (z.B. Hirseflocken) verarbeitungsbedingt Kontaminationen enthalten. Für viele Zöliakiebetroffene ist eine glutenfreie Ernährung mit bedeutenden Mehrkosten (200 CHF pro Monat laut IG Zöliakie der Deutschschweiz) und einer verschlechterten Lebensqualität verbunden, die sich besonders auf das Auswärtsessen, Reisen, Familien und Arbeitsleben auswirkt.
Für Personen, die sich glutenfrei ernähren müssen, wäre es äusserst vorteilhaft, wenn kleine Glutenmengen sicher eingenommen werden könnten (z.B. bei Restaurantbesuchen oder auf Reisen).
Dazu erforschen Mitarbeiter des Institutes für Pharmazeutische Wissenschaften, Departement Chemie und Angewandte Biowissenschaften, ETH Zürich in Zusammenarbeit mit der Universität von Montreal, Kanada und der Firma BioLineRx zwei adjuvante Therapieansätze:

  • Mit Poly(hydroxyethylmethacrylat-co-styrolsulfonat) [P(HEMA-co-SS)] haben die Forscher ein Polymer entwickelt, das gezielt an Gluten und Glutenspaltprodukte bindet und Aggregate bildet, die mit den Fäzes eliminiert werden.
  • Die zweite Methode ist die orale Administration von exogenen Enzymen, sogenannten Prolylendopeptidasen (PEPs), die Gluten vollständig abbauen können. Würden diese glutendetoxifizierenden Substanzen gleichzeitig mit potenziell glutenhaltigen Speisen eingenommen, fiele die Autoimmunreaktion schwächer aus oder im Idealfall ganz weg.

Mit GLUTEOSTOP wird ein Präparat als Nahrungsmittelzusatz und nicht als Medikament angeboten, das Prolyloligopeptidase (Pop) enthält, welches in vitro Gluten in Aminosäuren spaltet. Dieser Vorgang soll verhindern, dass durch Spuren von Gluten oder «verstecktes» Gluten in nicht-deklarierten Fertigprodukten bei Patienten, die eine glutenfreie Diät einhalten müssen, Schäden im Darm ausgelöst würden. Leider liegen keine der Öffentlichkeit zugängliche klinische Studien zum Einsatz dieses Präparates bei Zöliakiepatienten vor, so dass ein allfälliger Nutzen nicht gegenüber dem potentiellen Schaden durch Vermittlung eines falschen Gefühls der Sicherheit abgeschätzt werden kann. Dementsprechend schreibt der wissenschaftliche Beirat in einer Stellungnahme der IG Zöliakie ”Wir sind derzeit an fundierten Abklärungen in Bezug auf dieses Produkt. Dieses Produkt kann aus unserer Sicht aber auf jeden Fall n i c h t die glutenfreie Diät ersetzen! Das schreibt auch diese Firma auf ihrer Homepage: «Gluteostop kann weder eine glutenarme Ernährung ersetzen noch eine Glutenintoleranz, Weizenallergie oder Zöliakie vorbeugen oder behandeln»„. Zudem ist GLUEOSTOP für Patienten mit einer echten Weizenallergie nicht geeignet: es könnte trotz Einnahme des Präparates auch bei kleinen Diätfehlern zu schweren allergischen Reaktionen kommen.

Prof. em. Brunello Wüthrich

Facharzt FMH für Allergologie und Immunologie
Facharzt FMH für Dermatologie
Langjähriger Leiter der Allergiestation am Universitätsspital Zürich
8125 Zollikerberg

bs.wuethrich@bluewin.ch

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Eine Nahrungsmittelallergie ist eine durch IgE-Antikörper vermittelte Immunreaktion auf Nahrungsmittel, die zu klinischen Symptomen führt
  • Eine Nahrungsmittelintoleranz ist eine nichtimmunologische Unverträglichkeit auf Nahrungsmittel, die meistens auf enzymatischen (Enzymdefekte, z.B. Laktose-Intoleranz) oder pharmakologischen
    (z.B. Histaminintoleranz) Mechanismen basiert
  • Von diesen müssen psychische Aversionen auf Nahrungsmittel
    abgegrenzt werden
  • Die Zöliakie ist den immunologisch bedingten Darmerkrankungen zuzuordnen
  • Der Nicht-Zöliakie-bedingte Glutensensitivität (NCGS) liegt in der Mehrzahl der Fälle eine unspezifische Unverträglichkeit von FODMAPs zu Grunde, echte Unverträglichkeiten von Gluten sind ausserhalb der Zöliakie möglich, aber selten.

1. Wüthrich B. Unverträglichkeitsreaktionen nach Nahrungsaufnahme (Teil 1).
der informierte arzt 2012;3:13-16.
2. Wüthrich B. Unverträglichkeitsreaktionen nach Nahrungsaufnahme (Teil 2).
der informierte arzt 2012;9:23-25.
3. Wüthrich B. Zöliakie Betroffene: Hände weg von der Bioresonanz. Zöliakie Info 4 / 2012, Dezember 2012, S. 24-26
4. Matoori S, Fuhrmann G., Schulz J D und Leroux J-C. Gluten binden und spalten – zwei neue adjuvante Therapieansätze für die Zöliakie. Schweiz Med Forum 2012;12(37):716–717
5. Studerus D., Wanner R.M. Die 100 Symptome der Zöliakie. der informierte arzt 2017;7(12):19-23
6. Schulthess H.K. Reizdarm bei Weizen- und Lactose-Intoleranz. der informierte arzt 2016;6(12):30-33
7. https://www.zoeliakie.ch/en/news/details/gluteostop-stellungnahme-ig-z%C3%B6lia-bil-wissenschaftlicher-beirat.html (accessed February 21, 2019

Behandlung und Betreuung der fortgeschrittenen Demenz

Der Umgang mit Menschen mit Demenz insbesondere im fortgeschrittenen Stadium wirft neben medizinisch-pflegerischen fast immer auch ethische Fragen auf. An welchen Werten soll mit zunehmender Unterstützungsbedürftigkeit eines demenz-erkrankten Menschen die Betreuung ausgerichtet werden? Wann und in welcher Form kann Zwang gerechtfertigt sein, wenn die kranke Person sich oder andere durch ihr Verhalten gefährdet? Welche Formen von Sterbehilfe sind bei Demenz möglich resp. gesetzlich erlaubt? Auf diese Fragen wird im vorliegenden Artikel aus Sicht der ärztlichen Versorgung eingegangen.

Selbstbestimmung und soziale Teilhabe

Selbstbestimmung ist auch für Menschen mit Demenz zentral (1). Weil diese aber in ihrer Fähigkeit, Selbstbestimmung auszuüben, eingeschränkt sind, müssen sie darin nach individuellem Bedarf unterstützt werden (sog. assistierte Autonomie). Zumindest ebenso wichtig wie Selbstbestimmung ist die soziale Teilhabe. Menschen sind soziale Wesen, und soziale Interaktionen sind für deren Entfaltung und Wohlbefinden essenziell – Menschen mit Demenz unterscheiden sich in diesem Bedürfnis in keiner Weise von kognitiv Gesunden. Durch die Erkrankung sind aber menschliche Interaktionen erschwert oder können wegen Überforderung und Missverständnissen ganz scheitern. Betreuungspersonen und Angehörigen sollen darum die Partizipation von Demenzpatienten am sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben aktiv unterstützen.
Anders als bei kognitiv Gesunden, die sich ihr Umfeld selber gestalten können, ist also die Lebensqualität von Menschen mit Demenz ganz entscheidend von der Unterstützung und Betreuung abhängig, die ihnen zuteil wird (2).

Kommunikation mit Menschen mit Demenz

Im verbalen Austausch mit Menschen mit Demenz bewähren sich kurze, klare Sätze mit nicht mehr als einer Botschaft pro Satz (möglichst wenig Nebensätze). Das im klinischen Alltag meist (zu) schnelle Redetempo soll gedrosselt werden. Auch Menschen mit Demenz haben ihren Stolz – der Fokus des Gespräches soll deshalb nicht zu stark auf die potentiellen Defizite gerichtet sein, sondern eher auf die noch vorhandenen Ressourcen.
Eine unter Ärzten viel zu wenig bekannte, sehr hilfreiche Technik in der Kommunikation mit Menschen mit Demenz ist die sog. Validation. Diese wurde von der US-amerikanischen Broadway-Schauspielerin, Gerontologin und Demenzspezialistin Naomi Feil entwickelt (3). Die validierende Gesprächsführung verwendet eine akzeptierende, nicht korrigierende Sprache gegenüber der demenzbetroffenen Person. Falsche Realitätsbezüge werden also ausdrücklich nicht korrigiert. Stattdessen wird im Gespräch eine Ebene angesteuert, in der ein gemeinsames Verständnis möglich ist. Eine validierende Antwort auf die Aussage einer demenzkranken Person, dass sie nach Hause gehen wolle, würde also nicht lauten: «Aber Sie sind nun doch schon seit über einem Jahr im Pflegeheim!». Vielmehr könnte sie beispielsweise lauten: «Nicht wahr, Sie wohnen doch gleich da hinten um die Ecke – ich werde Sie grad zu Ihrem Zimmer begleiten». Es ist immer wieder erstaunlich, wie erfahrene Betreuungspersonen mit dieser Technik auch in schwierigen Situationen eine Deeskalation zu erreichen vermögen. Es kann auch sehr hilfreich sein, pflegenden Angehörigen in einfachen Worten die Grundzüge dieser Technik zu vermitteln.
Ist die Demenzerkrankung stark fortgeschritten, ist oft fast kein sprachlicher Austausch mehr möglich und die Kommunikation erfolgt nun fast ausschliesslich nonverbal. Menschen mit fortgeschrittener Demenz können selbst bei stark eingeschränkter Kognition nonverbale Äusserungen vonseiten ihrer Mitmenschen erstaunlich lange wahrnehmen (z.B. Lächeln, ruhiges Auftreten, Gesten, taktvolle Berührungen). Ihre eigene Mimik und Gestik ist aber oft schwächer, sodass die Gefahr besteht, dass die Betreuenden diese übersehen oder fehlinterpretieren.

Freiheitseinschränkende Massnahmen (FeM)

Menschen mit Demenz zeigen nicht selten Verhaltensweisen, mit denen sie sich selber oder gelegentlich auch andere Personen gefährden. Oftmals stehen diese Verhaltensweisen im Zusammenhang mit nicht-kognitiven Symptomen der Demenz, also den sog. behavioural and psychological symptoms of dementia (BPSD), zu Deutsch Störungen der Emotionen und des Verhaltens (4). Motorische Unruhe im Zusammenhang mit einer verminderten posturalen Kontrolle kann zu einer Sturzgefährdung führen, Agitation und Enthemmung zu Aggression und Zusammenstössen mit anderen Menschen, etc. In diesem Zusammenhang stellt sich dann nicht selten die Frage des Einsatzes von sog. freiheitseinschränkenden Massnahmen (FeM). Hierbei wird unterschieden zwischen direkten Fixierungen und räumlicher Fixierung, im weiteren Sinne werden auch alle Formen von Personenüberwachungssystemen zu den FeM gerechnet (Tab. 1).
Freiheitseinschränkende Massnahmen sind zum einen ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit. Zum anderen sind sie keineswegs ungefährlich. Schädliche Folgen von Fixierungen sind häufig und können im Extremfall bis zum Todeseintritt führen (z.B. durch Ersticken bei Einklemmung zwischen Bettgitter und Matratze). Auch sind sie keineswegs immer zielführend. So kommt es beispielsweise beim Einsatz von FeM mit dem Ziel einer Sturzvermeidung oft dennoch zu Stürzen, welche dann in ihren Folgen oft schwerwiegender sind (Fehlen von Abwehrbewegungen, komplizierte Stürze, dadurch erhöhtes Auftreten von sturzbedingten Verletzungen). Aus all diesen Gründen ist man heute mit dem Einsatz von FeM möglichst zurückhaltend (5), und wird doch ein solcher erwogen, wird zu Recht in aller Regel eine ärztliche Verordnung verlangt.
Da für die Störungen, welche die Frage nach dem Einsatz von FeM aufwerfen, nicht selten ein Delir mitverantwortlich ist, sollte aus ärztlicher Sicht als erster Schritt nach möglichen Delirursachen gefahndet und solche ggf. behandelt werden (z. B. Behandlung eines Harnwegsinfekts). Liegt keine behandelbare Ursache vor, ist zu fragen, ob statt der erwogenen FeM nicht eine weniger einschränkende Massnahme eingesetzt werden könnte, wie z. B. Halb-Bettgitter statt durchgehender Bettgitter, Niedrigbetten oder Bodenpflege bei Sturzneigung aus dem Bett, Anti-Rutsch-Socken und Hüftprotektoren («Sturzhosen») bei Sturzneigung etc. Zu erwägen ist auch die zusätzliche Beaufsichtigung durch eine Pflegefachperson oder freiwillige HelferInnen. Bei Sturzneigung hat die Etablierung eines Kraft- und Balancetrainings eine starke protektive Wirkung. Nicht zuletzt muss auch abgewogen werden, ob nicht die Inkaufnahme eines gewissen Risikos für den Patienten immer noch die akzeptablere Alternative ist als die freiheitseinschränkende Massnahme.
Erweist sich die FeM als unumgänglich, sollen die Art der getroffenen Massnahme, der Grund für die Massnahme sowie deren Ziel schriftlich protokolliert, in jedem Fall regelmässig auf ihre Berechtigung hin überprüft und so rasch als möglich wieder aufgehoben werden. Bezugspersonen resp. Vertretungspersonen müssen zeitgerecht informiert werden.
In diesem Zusammenhang muss auch darauf hingewiesen werden, dass schon die Einweisung in ein Pflegeheim per se oft nicht ganz freiwillig, sondern vor dem Hintergrund eines gewissen sozialen Drucks erfolgt. Anders als bei der Einweisung von Menschen mit einer akuten psychischen Störung in eine psychiatrische Klinik werden in dieser Situation auch bei offensichtlicher Unfreiwilligkeit nur selten formale fürsorgerische Unterbringungen ausgesprochen. Wenn aber Hinweise bestehen, dass die Angehörigen resp. die vertretungsberechtigte Person mit der Heimeinweisung nicht im besten Interesse des Patienten zu handeln scheint, sollte die KESB informiert werden. Der gleiche Schritt sollte auch erfolgen, wenn die adäquate Betreuung einer demenzkranken Person zu Hause offensichtlich nicht mehr möglich ist, sich die Angehörigen aber der Unterbringung in einem Pflegeheim entgegenstellen (2).

Sterbehilfe

Die Demenzerkrankung ist in der Bevölkerung mit erheblichen Ängsten verbunden: Angst vor Abhängigkeit, Angst vor einer Wesensveränderung, Angst, anderen zur Last zu fallen.
Entsprechend ist eine drohende Demenzerkrankung für viele Menschen ein wichtiges Motiv, in einer Patientenverfügung die Ablehnung von allfälligen lebensverlängernden Massnahmen (sog. passive Sterbehilfe) festzuhalten. Was diese Anweisung konkret bedeuten soll, muss allerdings in einer realen Entscheidungssituation meist nochmals diskutiert werden. Geht es hier eher um den Verzicht auf invasive Massnahmen oder auch schon um den Verzicht auf eine einfache Antibiotikatherapie z.B. bei einer Pneumonie? Wie weit umfasst die Aussage auch den Verzicht auf Diagnostik, z.B. bei einer Anämie? Am besten werden solche Fragen bereits vorausschauend in regelmässigen Standortgesprächen im Rahmen des Advance Care Planning thematisiert.
Neben der passiven Sterbehilfe wird in den letzten Jahren in der Schweiz zunehmend auch die Frage diskutiert, ob und unter welchen Umständen einem Ersuchen um Beihilfe zum Suizid auf Grund einer Demenzerkrankung stattgegeben werden kann (Tab. 2). Gesetzlich ist dies im Prinzip möglich, so lange die Urteilsfähigkeit erhalten ist, also in einem frühen oder allenfalls mittleren Demenzstadium. In aller Regel wird dazu ein fachärztliches Gutachten von einem Geriater, Neurologen oder Psychiater verlangt (6). Der Wunsch nach einer Beihilfe zum Suizid sollte von der betroffenen Person möglichst frühzeitig kommuniziert und regelmässig bekräftigt worden sein.

Standesethisch liegt hier aber ein Graubereich vor: Gemäss den neuen SAMW-Richtlinien «Sterben und Tod» von 2018 ist eine Beihilfe zum Suizid bei Demenz statthaft, sofern ein urteilsfähiger Patient ein «unerträgliches Leiden» an seiner Krankheit geltend machen kann und dies dem Arzt nachvollziehbar erscheint (7). Die Übernahme dieser Richtlinien in die ärztliche Standesordnung wurde von der FMH im Herbst 2018 allerdings genau wegen diesem Passus abgelehnt (8).
Klar ist, dass wenn mit fortschreitender Demenz die Urteilsfähigkeit für die Frage der Selbsttötung nicht mehr gegeben, auch rechtlich keine Suizidbeihilfe mehr möglich ist. Suizidbeihilfe kann auch nicht in einer Patientenverfügung für die Zukunft im Falle einer nicht mehr vorhandenen Urteilsfähigkeit vorausverfügt werden, vielmehr verlangt sie Urteils- und Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt.
Das gleiche – Erfordernis von Urteils- und Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt – gilt übrigens auch für das sog. Sterbefasten resp. den sog. freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Es ist also nicht statthaft, in einer Patientenverfügung für den Fall einer fortgeschrittenen Demenz und nicht mehr vorhandenen Urteilsfähigkeit zu verlangen, dass einem ab einem gewissen Demenzstadium keine Nahrung und Flüssigkeit (per os!) mehr angeboten werden solle (2). Sollte allerdings dieses Angebot durch den fortgeschritten Demenzkranken im Hier und Jetzt abgelehnt werden, signalisiert z.B. durch Nicht-Öffnen des Mundes oder Wegdrehen des Kopfes, dann ist dies zu akzeptieren (vgl. dazu den Abschnitt Ernährung im Teil 1 dieses Artikels).

PD Dr. med.Georg Bosshard

Klinik für Geriatrie
Universitäts Spital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

georg.bosshard@usz.ch

Der Autor hat im Zusammenhang mit diesem Beitrag keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Ausübung der Selbstbestimmung und Teilhabe am sozialen Leben sind (auch) für Menschen mit Demenz von zentraler Bedeutung –
    sie sollen darin nach individuellem Bedarf unterstützt werden.
  • In der Kommunikation mit Menschen mit Demenz bewährt sich eine akzeptierende, nicht korrigierende Sprache (sog. Validation).
  • Freiheitseinschränkende Massnahmen bedeuten einen schweren Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen und sollen nur als
    ultima ratio eingesetzt werden.
  • Solange die Urteilsfähigkeit erhalten ist, ist Beihilfe zum Suizid bei Menschen mit Demenz rechtlich gesehen möglich. Sie ist aber
    standesethisch umstritten.

1. Deutscher Ethikrat (2012) Demenz und Selbstbestimmung – Stellungnahme.
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-demenz-und-selbstbestimmung.pdf
2. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizinethische Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz (2017) https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
3. Feil, Naomi: Validation – Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Reinhardt Verlag 2005.
4. Savaskan E et al (2014) Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD). Praxis 103:135-148.
5. Koczy P et al (2011) Effectiveness of a multifactorial intervention to reduce physical restraints in nursing home residents. JAGS 59:333-339. Siehe auch www.redufix.de
6. Bosshard G (2012) Beihilfe zum Suizid – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte. Schweizerische Rundschau für Medizin – PRAXIS 101:183-189.
7. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizinethische Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod (2018) https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
8. Scheidegger D (2018) Diskussion um die SAMW-Richtlinien Umgang mit Sterben und Tod. Schweiz Ärztezeitung 99:1613.

Advanced Practice Nurses in der Hausarztpraxis

Die Zunahme chronisch kranker und multimorbider Patienten stellt die Hausärzte vor Herausforderungen, die immer schwieriger zu erfüllen und oft mit einem Mehraufwand verbunden sind. Gleichzeitig ist ein Mangel an Hausärzten absehbar. Ein neues Versorgungsmodell mit Advanced Practice Nurses (APN) könnte Hausarztpraxen ergänzen und entlasten. Dieser Artikel beschreibt das in der Schweiz noch wenig bekannte Berufsbild der APN mit besonderem Blick auf die Hausarztpraxis mit seinen Chancen und Risiken.

Future challenges in primary care

The increase in chronically ill and multimorbid patients poses new challenges to GPs (for better legibility, renouncing both sexes). Follow-up visits, disease management guidance, lifestyle changes and preventative measures to reduce or avoid exacerbations play a much more important role than in acute illness. In addition there is the coordination of different specialists and institutions or the inclusion of relatives. All of these tasks require extra work, which can hardly be accomplished in a general practitioner’s office. Home visits can no longer afford many family doctors. At the same time, there is an increasing shortage of family doctors and retired doctors often find no successors.

What are APNs?

In angelsächsischen Ländern wurden ab den 1960er Jahren aus den genannten Gründen neue Modelle eingeführt, in welchen sogenannte APNs tätig sind. APNs sind ausgebildete Pflegefachleute mit Praxiserfahrung und einem Masterstudium in Pflegewissenschaft. Im Studium werden ihre medizinischen Kenntnisse vertieft und sie lernen, eine Anamnese zu erheben und eine klinische Untersuchung durchzuführen. Weiter werden sie in Themen wie Chronic Care, interprofessioneller Zusammenarbeit oder familienzentrierter Pflege unterrichtet. Sie erwerben auch Kenntnisse in Forschung und Anwendung wissenschaftlicher Literatur. APN ist ein Überbegriff für verschiedene Rollen wie zum Beispiel Clinical Nurse Specialist (CNS) oder Nurse Practitioner (NP).
Allen APNs ist gemeinsam, dass sie sich auf eine spezielle Patientengruppe oder ein spezifisches Setting spezialisieren und in einer erweiterten Rolle in direktem Patientenkontakt stehen, sei dies im stationären oder ambulanten Bereich. APNs zeichnen sich durch klinisches Denken aus und sind fähig, Befunde zu interpretieren und mit dem Krankheitsgeschehen zu verknüpfen. Sie verfügen über Entscheidungskompetenz in komplexen Situationen und weisen eine gewisse Autonomie in ihrer Rolle auf (1, 2).

Internationale Erfahrungen

APN-Rollen existieren heute in über 70 Ländern. In Ländern mit längerer Erfahrung sind ihre Kompetenzen formal geregelt. In gewissen Staaten haben APNs nach entsprechender Ausbildung die Kompetenz zur Verschreibung von bestimmten Medikamentengruppen oder zur Durchführung von Röntgen- oder Labordiagnostik (Tab. 1). Die Anzahl APN pro Bevölkerung ist auch in diesen Ländern sehr unterschiedlich. Insbesondere in den USA ist die medizinische Grundversorgung ohne APNs nicht mehr denkbar (Tab. 2). Bezüglich Wirksamkeit zeigen Reviews, dass APNs bei ihren Patienten insgesamt etwa gleich gute Resultate erzielen wie Ärzte, und dass bei von ihnen behandelten Patienten eher weniger Hospitalisationen nötig sind (1, 3). Die Patienten erhalten bessere Informationen und Unterstützung im Umgang mit ihrer Krankheit, jedoch verordnen APNs mehr Diagnostik und die Konsultationen dauern etwas länger als bei Ärzten (3). Über die Kosten können erst wenige Aussagen gemacht werden, jedoch scheinen APNs eher weniger oder höchstens gleich hohe Kosten zu generieren wie Ärzte (1, 3, 4).

ANP in der Schweiz

Ein Studium in Pflegewissenschaft ist in der Schweiz seit bald 20 Jahren möglich. Den Universitäten Basel und Lausanne sind mehrere Fachhochschulen gefolgt. 2015 haben in der Schweiz 328 Personen ihr Studium abgeschlossen (1). Seit wenigen Jahren werden auch Postmaster Studiengänge angeboten, um die Kenntnisse in klinischer Tätigkeit weiter zu vertiefen.
Hierzulande sind APNs bis anhin vorwiegend in Spitälern tätig. Sie arbeiten als Pflegeexpertinnen auf den Stationen oder führen eigene Pflegesprechstunden wie z.B. für Patienten mit Lebertransplantation, Herzinsuffizienz oder in Palliativsituationen. Seit wenigen Jahren zeichnet sich eine Entwicklung ab, APNs auch in der Grundversorgung einzusetzen, namentlich in der Spitex und in Pflegeheimen. In Schweizer Hausarztpraxen arbeiten bisher erst vereinzelte APNs.

Herausforderungen

Neue Zusammenarbeitsformen zwischen Ärzten, Medizinischen Praxisassistentinnen (MPA) und APN erfordern von allen Beteiligten die Bereitschaft zu einer neuen Aufgabenteilung und Klärung der Verantwortlichkeiten (5). Bei einer Befragung von Hausärzten aus der Stadt Zürich zeigte sich, dass die Ärzte zwar eine gewisse Qualitätseinbusse der medizinischen Versorgung und Kontinuität befürchten, gleichzeitig aber froh wären, wenn sie Koordinationsaufgaben mit andern Spezialisten oder Institutionen an eine APN delegieren könnten (6). Viele Ärzte können sich jedoch noch kein Bild einer solchen neuen Rolle machen.

Eigene Erfahrungen

Seit knapp drei Jahren arbeite ich als APN in einer Gruppenpraxis. Mein Werdegang ist durch eine mehrjährige Erfahrung in Spitex und Akutgeriatrie geprägt. Durch das Masterstudium und das darauf aufbauende Diploma of Advanced Studies „ANP Plus“ erlangte ich Kenntnisse in Anamnese und klinischem Untersuch, aber auch darin, Befunde zu reflektieren und daraus Schlüsse zu ziehen. In meiner gegenwärtigen klinischen Tätigkeit und der fruchtbaren und kritischen interprofessionellen Zusammenarbeit lerne und vertiefe ich nun die Anwendung dieses theoretischen Wissens, vergleichbar mit der Assistenzzeit angehender Fachärzte.
Meine Aufgaben in der Hausarztpraxis erfülle ich in Delegation der Hausärzte. Sie sind in vier sich überschneidende Tätigkeitsfelder aufgeteilt, welche nachfolgend erläutert werden.

Chronic Care Management

Seit längerer Zeit betreue ich eine 82-jährige multimorbide, jedoch selbständig lebende Patientin mit COPD, Herzinsuffizienz und chronischen Rückenschmerzen. Mein Hauptauftrag sind klinische Verlaufskontrollen (Anamnese, Untersuch, Vitalparameter, Labor), die ich meist selbständig organisiere und bei auffälligen Resultaten an den Hausarzt weiterleite. Ein wichtiger Anteil nimmt auch die Koordination mit andern Spezialisten ein, sowie weitere Interventionen wie Grippeimpfung oder das Erstellen einer Patienten- verfügung. Regelmässig bespreche ich mit der Patientin die Interpretation ihrer eigenen Beobachtungen und instruiere sie, unter welchen Umständen sie sich in der Praxis melden soll.
Eine Herausforderung bei vielen chronisch kranken Patienten ist die Therapieadhärenz. Da suchen wir gemeinsam nach Lösungen, damit eine wirksame Therapie eingehalten wird.

Hausbesuche

Ein grosser Teil meiner Arbeit besteht aus Hausbesuchen. Demenzkranke, multimorbide, gebrechliche oder auch verwahrloste Patienten sind oft nicht mehr in der Lage, die Hausarztpraxis regelmässig aufzusuchen. Ich bin meist in engem Kontakt mit der Spitex, welche auf eine Hausarztpraxis im Hintergrund angewiesen ist. Oft besuche ich auch Alters- und Pflegezentren.

Notfälle/ Nachkontrolle

Ein weiteres Einsatzgebiet ist die Triage bzw. Behandlung von Notfällen. Bei wenig komplexen Krankheiten wie z.B. einem unkomplizierten Harnwegsinfekt reichen in der Regel die medizinischen Guidelines und eine kurze Absprache mit dem Arzt bezüglich Behandlung.
Bei Patienten, welche bereits für eine Behandlung bei einem Hausarzt waren, übernehme ich gelegentlich die Nachkontrolle.

Pflegerische Verrichtungen

Das vierte Tätigkeitsfeld betrifft spezielle pflegerische Herausforderungen wie zum Beispiel die Behandlung chronischer Wunden.

Diskussion

Neue Berufsrollen bringen Veränderungen mit sich und setzen eine gewisse Offenheit und Flexibilität des Teams voraus. Verschiedene Aufgaben werden neu verteilt oder erst jetzt wahrgenommen. Die APN kann teilweise bisher ärztliche Tätigkeiten, aber auch ergänzende Aufgaben übernehmen. MPAs, welche sich entsprechend weitergebildet haben, können ebenfalls einen wichtigen Part im Chronic Care Management leisten. Es empfiehlt sich, die Rollen, ihre Überlappungen und Schnittstellen zum Voraus zu klären und zu definieren (5, 7).
Interessanterweise spielt es den meisten Patienten keine Rolle, ob sie primär von einem Hausarzt oder von einer APN behandelt werden. Für sie ist wichtig, dass eine Kontinuität in der Betreuung vorhanden ist und bei Bedarf eine kompetente Fachperson hinzugezogen wird (8).
Es zeigt sich, dass das Vertrauen des Hausarztes in die Leistungen der APN von der persönlichen Erfahrung mit ihr abhängt. Er braucht die Gewissheit, dass sie sich bei (ärztlichem) Handlungsbedarf oder Unsicherheit meldet. Gleichzeitig muss die APN selbständig arbeiten können und bereit sein, Verantwortung zu tragen, damit ein Benefit aus dieser Zusammenarbeit entsteht.

Reglementierung

In der Schweiz sind die Berufsverbände und Hochschulen daran, die Anerkennung zur APN einheitlich zu reglementieren und Bedingungen wie z. B. eine regelmässige Fortbildung zu formulieren. Von politischer Seite fehlt eine Reglementierung gänzlich, die akademische Pflege ist bis heute nicht im Medizinalberufegesetz vertreten. Ob APNs im neuen Gesundheitsberufegesetz aufgeführt werden, wird derzeit im Parlament diskutiert. Somit ist auch die Finanzierung bis jetzt nicht geklärt und die Verrechnung von Leistungen der APN gestaltet sich vorläufig schwierig. Mit dem heutigen schweizerischen Tarifsystem ist der Einsatz von APNs im Moment fast nur in grösseren Gruppenpraxen im Rahmen von Managed Care möglich.

Zusammenfassung

Trotz den aktuell noch ungünstigen politischen Voraussetzungen ist der Einsatz von APNs ein zukunftsträchtiges Versorgungsmodell. Es entlastet die Situation in den Hausarztpraxen und bietet attraktive Berufsrollen für Pflegefachpersonen, vor allem aber ermöglicht es eine Versorgung, die den heutigen Bedürfnissen der medizinischen Grundversorgung entspricht.

Verdankung

Ich bedanke mich bei PD Dr. med. Georg Bosshard für seine wertvollen Hinweise beim Verfassen des vorliegenden Texts.

Corinne Steinbrüchel-Boesch, MScN

MediX Praxis Zürich Altstetten
Hohlstrasse 556
8048 Zürich

corinne.steinbruechel@medix.ch

Die Autorin hat im Zusammenhang mit diesem Beitrag keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Der Einsatz von APNs nimmt weltweit zu. In der Schweiz arbeiten sie bisher hauptsächlich in Spitälern. Es zeigt sich jedoch ein Trend, sie auch vermehrt in der Grundversorgung einzusetzen.
  • APNs können Hausärzte entlasten, aber auch in ihren Aufgaben ergänzen, indem sie z.B. chronisch Kranke betreuen und dadurch Exazerbationen vorbeugen, Hausbesuche stellvertretend übernehmen, Notfälle triagieren und allenfalls behandeln und Koordinationsleistungen vornehmen.
  • APNs erreichen bei chronisch Kranken etwa gleich gute Resultate wie Ärzte und leisten einen wichtigen Beitrag zur Reduktion von Hospitalisationen.
  • Neue Zusammenarbeitsformen erfordern von allen Beteiligten Flexibilität und die Bereitschaft zu einer neuen Aufgabenteilung. Die Verantwortlichkeiten müssen zum Voraus geklärt werden.

1. Maier C, Aiken, L., Busse, R. Nurses in advanced roles in primary care: Policy levers for implementation. Health Working Papers, No. 98. OECD Publishing, Paris; 2017.
2. Pulcini J, Jelic M, Gul R, Loke AY. An international survey on advanced practice nursing education, practice, and regulation. Journal of nursing scholarship : an official publication of Sigma Theta Tau International Honor Society of Nursing. 2010;42(1):31-9.
3. Horrocks S, Anderson E, Salisbury C. Systematic review of whether nurse practitioners working in primary care can provide equivalent care to doctors. BMJ. 2002;324(7341):819-23.
4. Lovink MH, Persoon A, Koopmans R, Van Vught A, Schoonhoven L, Laurant MGH. Effects of substituting nurse practitioners, physician assistants or nurses for physicians concerning healthcare for the ageing population: a systematic literature review. J Adv Nurs. 2017;73(9):2084-102.
5. Giger M, De Geest S. Neue Versorgungsmodelle und Kompetenzen sind gefragt. Schweizerische Ärztezeitung. 2008;89(43):1839 – 43.
6. Steinbruchel-Boesch C, Rosemann T, Spirig R. Neue Zusammenarbeitsformen mit Advanced Practice Nurses in der Grundversorgung aus Sicht von Hausarzten – eine qualitativ-explorative Studie. Praxis. 2017;106(9):459-64.
7. Bailey P, Jones L, Way D. Family physician/nurse practitioner: stories of collaboration. J Adv Nurs. 2006;53(4):381-91.
8. Waibel S, Henao D, Aller MB, Vargas I, Vazquez ML. What do we know about patients’ perceptions of continuity of care? A meta-synthesis of qualitative studies. International Journal of Quality in Healthcare: Journal of the International Society for Quality in Health Care. 2012; 24 (1): 39-48.

Symposium der Vereinigung Zürcher Internisten 2019

Das VZI-Symposium 2019 ist seinem Ruf als hervorragende Fortbildungsveranstaltung für Internisten aller Couleur einmal mehr gerecht geworden. Unter der wissenschaftlichen (und praktischen) Organisation von Dr. med. Barbara Himmelmann und Prof. Stefan Vavricka wurde ein breit gefächertes hochstehendes Programm präsentiert, das stets in einem engen Bezug zur täglichen Praxis stand, Neues vermittelte und Bewährtes vertiefte.

Die Nachmittagssitzung wird durch klinische Updates eingeleitet, wovon im Folgenden das Referat zur Kardiologie resümiert wird.

Prof. Dr. med. Jan Steffel, Zürich beschränkt sich auf die für den Grundversorger wesentlichen Neuerungen in der Kardiologie. Die perkutane Reparatur der Mitralklappe stand im letzten Jahr im Zentrum der Diskussion. Während der Nutzen dieses Verfahrens bei Insuffizienz infolge struktureller Mitralklappenveränderungen belegt ist, gab es zur Frage nach dem Nutzen bei der wesentlich häufiger vorkommenden funktionellen Mitralinsuffizienz keine Evidenz. Bei der französischen MITRA-FR Studie blieb der primäre Endpunkt (Tod aller Ursachen und ungeplante Hospitalisation wegen Herzversagen innert 12 Monate) durch die Intervention unverändert im Vergleich einer alleinigen medikamentösen Therapie (Obadia et al. NEJM 2018). Im Gegensatz dazu fanden sich in der amerikanischen COAPT Studie ein gewaltiger Unterschied in der Anzahl der Hospitalisationen infolge Herzversagens und auch ein signifikanter Unterschied in der Gesamtmortalität (Stone et al. NEJM 2018). Was diesen eher widersprüchlichen Resultaten zu Grunde liegt, wird aktuell in der Kardiologie heftig diskutiert. Neben Fragen der
Patientenselektion scheint vor allem ein wesentlicher Unterschied in der medikamentösen Therapie in den beiden Studien zu bestehen. Zusammenfassend hält Prof. Steffel fest, dass diese beiden Studien erneut zeigen, dass es in der Kardiologie keine Einzelmassnahme gibt, die allen Patienten nützt, dass aber die perkutane Reparatur der Mitralklappen bei ausgewählten Fällen mit funktioneller Mitralinsuffizienz durchaus einen Platz hat.

PCSK9-Hemmer

Neben dem bekannten Evolocumab wurde nun ein zweiter Vertreter, das Alirocumab, mit der riesigen ODYSSEY OUTCOMES-Studie ins Rennen geschickt (Schwarzt et al. NEJM 2018). Bei 18 924 Patienten die innert 1-12 Monaten vorher ein akutes koronares Ereignis durchgemacht hatten und unter Hochdosistherapie oder der höchsten tolerierten Dosis von Statinen standen, konnte in dieser randomisierten, doppelblinden, Plazebo-kontrollierten Studie gezeigt werden, dass mit dem neuen Medikament nicht nur ein eindrücklicher weiterer Abfall von LDL-Cholesterin erreicht werden konnte, sondern auch eine signifikante Reduktion des primären Endpunktes (koronarer Tod, Herzinfarkt, ischämischer Insult, unstabile Angina pectoris mit Hospitalisationsbedürftigkeit). Der Referent wertet diese Resultate als klinisch relevanten Fortschritt in der Betreuung von Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Intravasale Untersuchungen haben sogar gezeigt, dass mit solchen Substanzen eine Regredienz von Plaques erreicht werden kann.

Katheterablation für Vorhofflimmern

Im Gegensatz zu reinen Rhythmusstörungen wie z.B. einem WPW-Syndrom basiert das Vorhofflimmern (VHF) sehr häufig auf einer Herzerkrankung, so dass Massnahmen bezüglich Rhythmus niemals isoliert betrachtet werden können. Dementsprechend kann mit einer Katheterablation ein VHF nicht geheilt werden, sondern das VHF bleibt bei vielen Patienten ein Marker für ein erhöhtes Risiko und diese müssen entsprechend weiter antikoaguliert werden, wenn sie vor der Ablation eine Indikation für eine Antikoagulation hatten. Gleichwohl zeigte die CASTLE-AF Studie im Vergleich von Ablation bei VHF mit Herzinsuffizienz zu optimaler medikamentöser Therapie einen eindrücklichen Vorteil der Intervention mit 40%-iger Reduktion des primären Endpunktes und auch einer signifikanten Reduktion der Gesamtmortalität (Marrouche et al. NEJM 2018). Diese Befunde wurden in der zweiten, wesentlich grösseren CABANA-Studie mit je 1100 Patienten pro Arm, in welcher VHF mit und ohne Herzinsuffizienz eingeschlossen wurden, numerisch aber nicht signifikant bestätigt. Es gab jedoch mit je 10 bis 15% viele ungeplante Gruppenwechsel und eine Auswertung der Patienten, die tatsächlich eine Ablation bekommen haben, zeigte ebenfalls einen eindrücklichen, signifikanten Effekt bezüglich primärer und sekundärer Endpunkte auf (Packer et al. Heart Rhythm Society scientific sessions 2018).

Ein sympathischer Auftritt der Jungen Hausärztinnen und -ärzte Schweiz

ASCEND

Ein grosses Thema 2018 war der Stellenwert von Aspirin in der Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Der ASCEND Studie folgten 4 weitere Studien mit immer dem Hauptbefund in die gleiche Richtung; Die präventive Wirksamkeit ist bestenfalls sehr bescheiden (in der ASCNED Studie Risikoreduktion 12%), aber es besteht unter Aspirin konsistent ein nicht unerhebliches Risiko schwerer Blutungen (Risikosteigerung um 29% in ASCEND). Eine generelle Indikation für Aspirin in der Primärprävention ist mit diesen Befunden nicht mehr gegeben, gleichwohl kann der Einsatz im Einzelfall nach Abwägen aller Vor- und Nachteile erwogen werden.

NOACs

Der Referent war wesentlich in die Entwicklung der praktischen Leitlinien der European Heart Rhythm Association zum Einsatz von NOACs bei VHF involviert, in welcher viele praktische Problemkreise beleuchtet werden, die einzeln in Studien nicht abgebildet sind. Für das perioperative Management von Patienten unter NOACs wird das individuelle Blutungsrisiko (minimal, klein, hoch) berücksichtigt. Bei allen Kategorien wird auf ein Bridging verzichtet. Bei minimalem Risiko volle Antikoagulation (AK) bis am Vortag und Wiedereinsatz am Abend oder spätestens am ersten postoperativen Tag. Bei kleinem Risiko AK bis 2 Tage vor Eingriff und Wiedereinsatz am Abend oder Folgetag. Bei hohem Risiko Therapiepause ohne Bridging von Tag-2 bis Tag+2, postoperativ allenfalls Thromboseprophylaxe gemäss Spitalrichtlinien. In praktischer Hinsicht kann nicht genug betont werden, wie wichtig die gute Kommunikation unter allen beteiligten Behandelnden ist.
Dass die AK bei VHF tatsächlich sinnvoll ist, zeigt eine Studie aus einem riesigen englischen Register, wo bei Rückgang des Gebrauchs von Plättchenhemmern mit gleichzeitig steigendem Einsatz von NOACs erstmals ein deutlich sinkender Trend bezüglich Schlaganfälle dokumentiert werden konnte (Campbell et al. EHU 2018). Ähnliche Daten stammen aus Schweden, das bekannt ist für seine hervorragenden Register. Einerseits zeigte sich, dass von 2012 bis 2017 NOACs markant häufiger verschrieben wurden zu Lasten von Aspirin und Vitamin-K-Antagonisten und zwar speziell auch bei betagten Patienten, solchen mit hohem CHA2DS2-VASc Score und bei hohem Blutungsrisiko (HAS-BLED 3+). Der Referent insistiert, dass der HES-BLED Score zwar wichtig ist, dass er aber niemals allein als Argument gegen eine AK eingesetzt werden sollte! Andererseits konnte in allen Altersgruppen ein signifikanter Rückgang der zwar altersabhängig ansteigenden Rate an ischämischen Schlaganfällen beobachtet werden bei gleichzeitig pro Alterskategorie unveränderter Rate an schweren, lebensbedrohlichen Blutungen (Komen et al. ESC 2018).

Quelle: VZI-Symposium, 31. Januar 2019, Sitzung Update Kardiologie

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

9. Wiler Symposium der SRFT

«Zum Glück alle Jahre wieder», ist man auch beim Wiler Symposium versucht zu sagen. Es wurde schon zum 9. Mal von den Ärzten der Spitalregion Fürstenland Toggenburg durchgeführt und vermochte auch diesmal eine grosse Zahl an Haus- und Spital-Ärzten anzuziehen. Dies ist nicht verwunderlich, denn das Fortbildungsprogramm ist jedes Mal vielfältig und attraktiv zusammengestellt. Der Mix von «Magistralvorlesungen» mit abschliessender Diskussion und von interaktiven Workshops wird immer positiv beurteilt. So auch am diesjährigen Kongress, welcher wiederum unter der Hauptleitung von Dr. Marc Looser, Spital Wil, unter dem Motto «Querbeet III» stand.

In der ersten Präsentation im Plenarsaal beleuchtete Dr. Dario Fontanel (SRFT)

Dr. med. Dario Fontanel

«Sinn und Unsinn der PPI-Behandlung». Ein wichtiges Thema, werden doch die Protonenpumpenhemmer allzu unkritisch eingesetzt. Nach den ersten erfolgreichen Magentherapeutika wie Antacida und H2-Blocker begann der unvorstellbare Boom der PPI (Antra seit 1992), weltweit wird ihr Umsatz auf jährlich 30-50 Milliarden geschätzt. In den EU-Ländern sei jede 14. Medikamentenpackung ein PPI. Die Indikationenliste ist zwar sehr gross, die Verträglichkeit und Wirkung mehrheitlich auch sehr gut (NNT angeblich 3-10). Gleichwohl enthalten die Beipackzettel eine auffallend lange Liste von Warnhinweisen. Der Referent besprach vor allem die Gefahr von Knochenbrüchen (Risiko 1 > 2000), die verminderte Wirkung von Clopidrogel und anderen Medikamenten (angeblich aber nicht gesichert), die Gefahr eines Vit. B12- oder Magnesium-Mangels (regelmässiges Screening zwar nicht nötig!) und das diskutierte Demenzproblem (aber ohne gesicherte Daten, ev. nur Zusammenhang mit Vit. B12-Mangel?). Zusammenfassend wurden die Zuhörer klar aufgefordert, PPI in tieferer Dosis und nur so lange wie nötig zu verschreiben und eine Langzeittherapie möglichst zu vermeiden; Motto: «Weniger ist mehr».
Das Thema «Zusammenarbeit Ärzteschaft und Pharmaindustrie» wurde von Ernst Herzig (Mundipharma Basel) aus der Sicht der Pharmaindustrie angegangen. Er verstand es aber, das verbreitete Vorurteil, alle Studien seien pharmagesponsert und daher manipuliert, zu hinterfragen und ins rechte Licht zu rücken. Forschungsprojekte sind ohne die Pharmaindustrie kaum möglich, zudem ist die Zusammenarbeit ganz besonders in der Schweiz streng reglementiert. Die Ärzteschaft und die Pharmaindustrie sitzen gegenüber den Behörden und Gesetzesauflagen im gleichen Boot und sollten zusammen arbeiten. E. Herzig postulierte, Ärzte und Pharmafirmen seien glaubwürdige Partner, und deshalb gelte: «Der Ärztebesucher stiehlt dem Arzt keine Zeit, vielmehr schenkt er sie ihm…(?)»

Dr. med. Marc Looser

Dr. Marc Looser, LA Wil, änderte den vorgesehenen Titel seines Referates «Rückblick und Ausblick der Medizinischen
Klinik Wil» ab in «Eine Erfolgsgeschichte!» und gab eine höchst humoristische, ehrenvolle Laudatio für den scheidenden langjährigen medizinischen Chefarzt,
Dr. Urs Trümpler, zum Besten. Dessen Verdienste sind gross, jetzt tritt er leider ins zweite Glied zurück.
Diese Würdigung leitete über zum nachfolgenden Vortrag des zukünftigen Chefarztes Innere Medizin Spital Wil, Dr. Markus Rütti. Sein Referat «Das Blutbild in der Hausarztpraxis» richtete sich an alle Grundversorger, gehören doch die Blutuntersuchungen zum Rüstzeug jedes praktisch tätigen Arztes. Das automatische Blutbild vermag bei korrekter Interpretation (vor allem auch des Histogrammes gegenüber dem mikroskopischen Blutbild) auszureichen, lediglich unreife Zellen und vor allem Blasten lassen sich nicht genau erkennen. Übrigens: Die Chronische myeloische Leukämie und die myeloproliferative Dysplasie können häufig ambulant abgeklärt werden, die akute Leukämie hingegen ist immer ein Spital-Notfall.
Es ist eine bewährte Tradition, am Wiler Symposium auch besonders eindrückliche und lehrreiche Praxisfälle von zwei Hausärzten vorgestellt zu erhalten.
Dr. Thomas Clerc, Aadorf, stellte einen allzu lange verschleppten Fall eines Psoasabszesses mit Osteomyelitis im Sacrum (nach einer fistelnden Divertikulitis) vor – ein unklarer Nebensatz-Hinweis in einem früheren MRI wurde zu spät weiter verfolgt.
Als Quintessenz seiner Ausführungen riet Dr. Mark Kliebens, Wil, keine «Fälle», sondern eher gesamtheitliche «Geschichten» (der Arzt ist wie der Patient auch Teil davon) im Auge zu behalten.

Ganz besonderes Interesse finden am Symposium alljährlich die vier verschiedenen Workshops, in denen praxisnahe Themen durch Spezialisten moderiert und im Plenum interaktiv diskutiert werden. Leider ist es jeweils nur möglich, an drei von vier Workshops teilzunehmen. Der Berichterstatter musste auf «Geschlechtskrankheiten – Update» mit Dr. Philipp Kohler und Dr. Ana
Steffen, beide KSp St.Gallen – leider verzichten. Er entschied sich in der ersten Runde für das Seminar «Herzinsuffizienz (HI) – praktische Fälle», geleitet vom Kardiologen Dr. D. Nobel (SRFT) und hörte dabei viel Neues. Die Definition der HI wurde modifiziert, die neuen ESC-Richtlinien (mit unterschiedlichem Therapieplan) sind zu beachten. Die diastolische Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion (HPpEF) ist von der systolischen HPrEF (mit reduzierter Auswurfmenge) zu unterscheiden. Bei einem BNP-Wert unter 100 ng/l (oder NT-proBNP unter 300 ist eine HI) sehr unwahrscheinlich, bei einem Wert von 400 (bzw. 2000) sehr wahrscheinlich. Besonders die dazwischen liegende Grauzone muss durch die Begleitsymptomatik und die Echokardiographie entschlüsselt werden. Der erste vorgestellte Fall betraf eine «tachycardieassozierte Myopathie», welche sich nach Frequenzregulierung erstaunlich rasch normalisierte. Aber Cave: «Ein zerebrovaskulärer Insult nach Kardiokonversion ohne Embolieprophylase gilt als Kunstfehler!» Weniger bekannt ist die «Peri-Partum-Kardiomyopathie», möglicherweise verursacht durch Prolactin-Spaltprodukte (?). Die Behandlung einer Amyloid-Kardiopathie kann neuerdings mit Tafamidis (Pfizer) versucht werden.
Im 2. Wokshop-Block besuchte ich die Diskussionsrunde «Lumbago aus physiotherapeutischer Sicht» (moderiert von A. Luty und S. Krüsi, beide Physiotherapie SRFT). Sie schöpfen beide aus langer praktischer Erfahrung. Sie entwickelten einen typischen Fall von Rückenschmerzen von der ersten zielgerichteten Diagnostik bis zum erfolgreichen Abschluss mit einer nur kurzen praxisgerechten physiotherapeutischen Behandlung. Als Engramme blieben haften: Nur 10% der Rückenschmerzen sind spezifisch, 90% hingegen unspezifisch (davon 30% nicht mechanisch, 70% aber mechanisch (bewegungs- oder haltungsabhängig). Die neurodynamische Untersuchung und verschiedene Provokationstests helfen neben einer genauen Protokollierung anhand von Evaluationsformularen weiter, die Rückenschmerzen zu differenzieren. Nur 10% davon chronifizieren, die restlichen sind nach 6 Wochen weitgehend gebessert. Die Moderatoren wiesen darauf hin, dass die «mitfühlende» Begleitung des ängstlichen Patienten sehr wichtig ist, er wünscht dabei nicht nur Beratung, sondern auch die «körperliche Berührung».
Schliesslich der 3. Workshop: «Angiologie Querbeet» mit
Dr. Philipp Schweizer, Wil. Auch seine vorgestellten Fälle waren von grossem praktischem Interesse. Ein Poplitealaneurysma ist bis zu 50% mit anderen Aneurysmata kombiniert; ein Aneurysma-Screening bei Rauchern und wenn über 65-jährig ist deshalb nötig. Besprochen wurde auch das Lipödem (besonders an der unteren Extremität, mit dem typischen «Schnürring» und fast nur bei Frauen nach hormonellen Veränderungen). Dabei sind Diuretika kontraindiziert und eine Liposuktion wird kontrovers beurteilt. Schliesslich wurden die rezidivierenden venösen Lungenembolien VTE diskutiert: Der Referent unterschied die provozierten VTE (nach Operationen, Traumen, Immobilität: Antikoagulation 3 Monate) und die unprovozierten VTE, mit deutlich erhöhtem Rezidiv-Risiko, und er diskutierte dabei die Notwendigkeit eines Tumorscreenings (in kleinerem Umfang angezeigt) und der Gerinnungsabklärung beim Hämatologen (wird kontrovers beurteilt, da meistens keine therapeutische Konsequenz).
Das Satirische Schlusswort vom Publizisten und Psychoanalytiker Peter Schneider und die «Netzwerk-Aperos» rundeten das wiederum sehr lehrreiche und angenehme Symposium ab. Der für diese qualifizierte Fortbildung aufgewendete Tag hat sich mehr als gelohnt, und ich freue mich aufs nächste Jahr (10. Wiler Symposium am 28. November 2019).

Quelle: 9. Wiler Symposium unter dem Motto «Querbeet III» der Spitalregion Fürstenland Toggenburg

Husten und Erkältung

Akuter Husten im Rahmen einer Erkältungskrankheit (CACC) führt zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität. Wenn die Beschwerden auch spontan ausheilen, ist doch eine Behandlung erwünscht, welche die lästigen Symptome limitiert.

Eine Gruppe von amerikanischen Pharmakologen und Ärzten hat im Auftrag von CHEST einen systematischen Review über die Behandlungsmöglichkeiten von CACC durchgeführt, um die diesbezügliche CHEST Guideline zu aktualisieren. Die Fragestellung lautet: Gibt es Evidenz für klinisch relevante Therapieeffekte von pharmakologischen und nichtpharmakologischen Behandlungen zur Reduktion der Dauer/des Schweregrads der akuten CACC?
In 6 systematischen Reviews und 4 Primärstudien wurden Daten zu 6496 Patienten mit akutem CACC gefunden, welche eine oder mehrere Arten von Behandlung bekamen.
Die Evidenz für die Behandlung der CACC war insgesamt von tiefer Qualität. Die Autoren zogen aus der besten derzeit erhältlichen Evidenz folgende Schlussfolgerungen und Empfehlungen:

  • Eine Behandlung mit Acetylcystein oder Carbocystein zeigt statistisch signifikante Effekte. Da es sich bei CACC im Allgemeinen um einen selbstlimitierten Krankheitsprozess handelt, bei dem sich die meisten Symptome innerhalb von 5 bis 7 Tagen bessern, konnten keine spezifischen Empfehlungen ausgesprochen werden.
  • Für erwachsene und pädiatrische Patienten mit CACC wird die Verwendung von rezeptfreien Husten- und Erkältungsmedikamenten sowie von NSAIDs nicht empfohlen, bis nachgewiesen wurde, dass sie in der Lage sind, Intensität und Dauer von Husten zu reduzieren.
  • Bei pädiatrischen Patienten (im Alter von 1-18 Jahren) mit Erkältungskrankheiten scheint Honig mehr Linderung zu bieten als keine Behandlung, Diphenhydramin oder Placebo, aber ist nicht besser als Dextromethorphan. Von der Verwendung von codeinhaltigen Medikamenten wird abgeraten, da es zu schweren Nebenwirkungen wie Atemwegsbeschwerden kommen kann.
    Die Autoren bedauern, dass fast nur kleine Studien und solche mit anderen Limitationen oder Bias zum Problem der Behandlung einer so häufigen Erkrankung vorliegen. Studien zum Nachweis der Wirksamkeit von mukoaktiven Medikamenten und auch von Kombinationspräparaten und solchen, die für Erwachsene und Kinder sicher sind, sind dringend erwünscht.

Quelle: Pharmacologic and Nonpharmacologic Treatment for Acute Cough
Associated With the Common Cold. Malesker MA et al.: CHEST 2017;152(5):1021-1037

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch