15 Jahre Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich

Einleitung

In vielen Ländern im angloamerikanischen Raum, aber auch in Europa, wie beispielsweise in England, den Niederlanden oder auch in skandinavischen Ländern, hat die Hausarztmedizin eine lange universitäre Tradition. Die akademische Verankerung geht in diesen Ländern mit einer starken Rolle der Hausarztmedizin auch im Gesundheitssystem einher. So sind beispielsweise die Niederländer vergleichbar einem Schweizer Hausarztmodell bei einer Ärztin oder einem Arzt ihres Vertrauens eingeschrieben und konsultieren diesen als primäre Anlaufstelle, ebenso im National Health Service, dem staatlichen Gesundheitssystem Englands. In Deutschland wurde der erste Lehrstuhl an der Medizinischen Hochschule Hannover 1976 eingerichtet, bis zum ersten Lehrstuhl in Bayern 2009 – einem Stiftungslehrstuhl, zur Hälfte von der Krankenkasse AOK finanziert – vergingen somit noch etliche Jahre. Erst 2015 wurde in Bayern als letztem Bundesland ein ordentlicher Lehrstuhl für Allgemeinmedizin in Erlangen etabliert. Demgegenüber war die Schweiz fast fortschrittlich, bereits 2008 wurde dort – nach einem einstimmigen Votum des Kantonsrats – ein Lehrstuhl für Hausarztmedizin geschaffen und besetzt. Neben dem an der Universität Zürich (UZH) verankerten Lehrstuhl wurde – wie bei allen anderen klinischen Fächern – auch ein Institut für Hausarztmedizin am Universitätsspital Zürich geschaffen. Um keine Konkurrenz zur Poliklinik und dem Lehrstuhl für Innere Medizin entstehen zu lassen, erhielt das Institut für Hausarztmedizin (IHAMZ) allerdings keinen klinischen Versorgungsauftrag und ist somit bis heute mit dem reinen Fokus auf Lehre und Forschung ein Exot am Universitätsspital (USZ). Im Nachfolgenden soll eine Bilanz aus den ersten 15 akademischen Jahren gezogen werden.

Lehre

Eine kleine Gruppe von Hausärzt/-innen um Frau Dr. Elisabeth Bandi-Ott war bereits vor Schaffung des Lehrstuhls in der Lehre an der Universität Zürich engagiert. Neben einigen Beteiligungen an Kursen bot man ein Modul im freiwilligen Mantelstudium an. Kurz nach Besetzung des Lehrstuhls wurde das sogenannte Einzeltutoriat, in dem Studierende mehrere Halbtage in eine Hausarztpraxis gehen, eingeführt. In dieser Lehrveranstaltung, die für alle Studierenden Pflicht ist, trifft zum ersten Mal das theoretische, universitär vermittelte medizinische Wissen auf die Realität im hausärztlichen Alltag. Hautnah erleben die Studierenden, was gemeint ist, wenn wir in den Vorlesungen vom «Niedrigprävalenzsetting» und vom Aushalten von Unsicherheit, Stufendiagnostik und «test of time» sprechen. Sie erleben mittels eigener Anamnese und Untersuchung, dass nicht jeder Thoraxschmerz ein Herzinfarkt ist, der eines Herzkatheters bedarf, und nicht jeder Kopfschmerz ein Hirntumor ist, der ein MRI braucht. Das Einzeltutoriat liefert eine Erfahrung, wie sie auch in einem Spital oder einer Notfallabteilung nicht möglich ist, denn an beiden Orten finden sich – meist durch die Hausärzt/-innen – vorselektierte Patient/-innen. Möglich ist diese Lehrveranstaltung nur, weil sich dankenswerterweise jedes Semester eine grosse Zahl von engagierten Kolleg/-innen findet, die bereit sind, Studierende in die eigene Praxis aufzunehmen. Auch wenn wir die individuelle Abstimmung nun maximal flexibilisiert haben und die Entschädigung auf ein adäquates Niveau angehoben wurde, bleibt die Gewinnung einer ausreichenden Zahl von Lehrärzt/-innen eine grosse Herausforderung. Einerseits sind die Studierendenzahlen deutlich gestiegen, von anfangs 250 auf mittlerweile 380. Andererseits führt der Konzentrationsprozess auf Praxisebene zu einem geringeren Angebot, denn die aus mehreren Einzelpraxen gebildete Gruppenpraxis nimmt eben auch oft nur eine(n) Studierende(n) auf. Dennoch ist es beispielsweise im Wintersemester 2023/2024 gelungen, 320 Hausärzt/-innen für dieses Lehrformat zu gewinnen. Viele Kolleg/-innen schätzen es, dem Nachwuchs ihr praktisches Wissen zu vermitteln und empfinden es als bereichernd, sich mit der kommenden ärztlichen Generation auseinanderzusetzen und auszutauschen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass das Einzeltutoriat zu den seitens der Studierenden mit am besten evaluierten Lehrveranstaltungen zählt.

Neben dem Einzeltutoriat existieren zahlreiche weitere Lehrangebote des Instituts. Neben zwei eigenen Angeboten im Mantelstudium, die regelmässig überbucht sind und somit sowohl die Qualität der Lehrveranstaltungen als auch das Interesse am Fach Hausarztmedizin zeigen, wirken Mitarbeiter/-innen noch an zwei weiteren Mantelsstudiumskursen mit. Hervorzuheben sind des Weiteren vor allem der Blockkurs und die Fokuswoche hervorzuheben. Im Blockkurs im 6. Studienjahr erleben die Studierenden einen Querschnitt der Hausarztmedizin, in der Fokuswoche bearbeiten sie Patientenfälle über die gesamte Versorgungskette der Allgemeinen Inneren Medizin hinweg, vom stationären Aufenthalt über die Entlassung bis hin zur Betreuung der chronischen Erkrankungen. Auch in dieses Lehrformat sind erfahrene und engagierte hausärztliche Kolleg/-innen involviert. Den praktisch tätigen Kolleginnen und Kollegen kommt so in der hausärztlichen Lehre eine ganz entscheidende Bedeutung zu, nur dank ihres grossen Engagements ist es möglich, die Lehrveranstaltungen von der theoretischen Ebene der Vorlesung ins richtige Leben zu heben.

Masterstudierende und Doktorierende

Die Betreuung von Doktorierenden ist eine wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Mitarbeiter/-innen des Instituts. Seit 2011 ist zudem die Anfertigung einer Masterarbeit eine essentielle Voraussetzung, um das Medizinstudium erfolgreich abzuschliessen. Im Vergleich zu früher muss man konstatieren, dass das Niveau der Masterarbeit heute qualitativ wie quantitativ das Niveau früherer Dissertationen erreicht hat und die medizinische Dissertation sich im Anspruch immer weiter hin zu den Anforderungen in anderen naturwissenschaftlichen Fächern entwickelt hat. Eine Dissertation neben einer klinischen oder gar praktischen hausärztlichen Tätigkeit ist heute nicht mehr möglich, wird sie doch in einem Vollzeitpensum am Institut absolviert. Seit 2011 wurden am Institut 65 Masterarbeiten erfolgreich abgeschlossen und seit 2010 haben mit 66 abgeschlossenen Dissertationen fast dieselbe Anzahl an Kolleg/-innen promoviert. Neben der rein akademischen Qualifikation bietet eine Masterarbeit oder Dissertation vor allem auch die Möglichkeit, die angehenden Ärztinnen und Ärzte über vielfältige, realitätsnahe, versorgungsrelevante und daher spannende wissenschaftliche Fragestellungen an das Fachgebiet der Hausarztmedizin heranzuführen. Nicht selten endet so eine Masterarbeit auch später in einer hausärztlichen Tätigkeit. Während im Bereich der Grundlagenforschung oder auch gerade in der klinischen Forschung gelegentlich die Betreuung von Doktorand/-innen – der Herausforderung der klinischen Versorgung geschuldet – manchmal verbesserungsfähig ist und Dissertationen abgebrochen werden, so sind wir auf eine nahezu hundertprozentige Erfolgsquote stolz. Bisher wurden nur zwei Dissertationen nicht abgeschlossen, einmal versiegte das Interesse des Kandidaten, einmal war das Engagement einfach zu gering.

PhD

Neben der Möglichkeit der klassischen Promotion gibt es am Institut auch die Möglichkeit einen PhD zu erwerben, entweder im Rahmen des «clinical scientist» Programms der Medizinischen Fakultät der UZH oder im Rahmen des «Swiss Learning Health System, SLHS», einem Verbund zahlreicher Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen. Anders als bei einer klassischen Dissertation wird ein PhD durch gezielte Fortbildungsmassnahmen und methodische Qualifikationsmassnahmen begleitet. International, insbesondere im angloamerikanischen Raum, ist der PhD die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Karriere, die Habilitation existiert nur im deutschsprachigen Raum. Ein PhD steht mit (meist) 4 – 6 Publikationen im Anspruch somit zwischen Promotion, die in der Regel auf einer wissenschaftlichen Publikation beruht, und der Habilitation, die meist um die 15 Arbeiten umfassen muss. Insgesamt konnten acht PhDs erfolgreich abgeschlossen werden, drei weitere sind gerade in der Publikationsphase.

Habilitationen

Ganz entscheidend für die akademische Etablierung eines Fachgebiets ist es, genügend Kolleg/-innen zu habilitieren und ihnen damit die Möglichkeit zu verschaffen, selbst akademische Positionen an anderen Universitäten zu besetzen. Aber auch in dem oft engagierten und herausfordernden Ringen um wissenschaftliche Erkenntnisse – oder öfter noch in der Interpretation dieser Ergebnisse – mit anderen Fachdisziplinen ist eine methodische Diskussion auf Augenhöhe wichtig. Eine abgeschlossene akademische Laufbahn und namentlich Habilitation sind hierbei oft eine wichtige Voraussetzung. Daher ist es eines der vorrangigen Ziele in Zürich, möglichst viele Kolleg/-innen zu habilitieren. Eine Habilitation hat naturgemäss einen längeren Vorlauf als etwa eine Promotion, bedarf es doch einer recht hohen Zahl (in Zürich 15) wissenschaftlicher Publikationen in angesehenen medizinischen Journals. Daher hatte es nach Gründung des Lehrstuhls natürlich etwas gedauert, bis die ersten Kandidat/-innen für diese akademischen Ehren parat waren. Mittlerweile konnten aber bereits 15 Kolleg/-innen habilitiert werden und drei weitere haben ihre wissenschaftlichen Arbeiten bereits eingereicht. Im Hinblick auf die Geschlechterverteilung sind wir im Institut sehr stolz, dass gerade auch Frauen sich sehr stark wissenschaftlich engagieren, so sind immerhin 6 der 15 Habilitand/-innen weiblich, bei den Masterarbeiten sind es 38 (58%) und bei den Dissertationen 41 (62%). Bei den PhDs dominiert erfreulicherweise das weibliche Geschlecht völlig, alle acht PhDs wurden von Frauen abgeschlossen.

Professuren und Lehrstuhlberufungen

Oliver Senn, der erste wissenschaftliche Mitarbeiter im Institut, erhielt nach seiner Habilitation zunächst eine Assistenzprofessur und zuletzt eine Berufung auf ein Extraordinariat ad personam, einen Ruf auf die Professur nach Mannheim der Medizinischen Fakultät Heidelberg lehnte er ebenso ab, wie Prof. Stefan Neuner-Jehle den Ruf nach Fribourg. Er hat heute eine Assistenzprofessur inne. Ein dritter früherer Mitarbeiter erhielt den Ruf nach Bern, den er allerdings ebenfalls abgelehnt hat, darüber hinaus wurde sechs weiteren Mitarbeiter/-innen die Ehre einer Titularprofessur zuteil. Insgesamt hat das Institut damit bisher acht Professor/-innen hervorgebracht und diese drei Rufe auf Lehrstühle erhalten.

Forschung

In der medizinischen Forschung kann man grundsätzlich drei Bereiche unterscheiden (Abb1.): In der Grundlagenforschung geht es um die theoretische Wirksamkeit unter Laborbedingungen, die sogenannte «efficacy», in der klinischen Forschung wird dieser Ansatz oder dieses Präparat unter kontrollierten Bedingungen an einer selektierten Patientenklientel getestet, die sogenannte «clinical efficacy». Ob diese Präparate oder Versorgungsansätze aber auch unter Alltagsbedingungen funktionieren oder wie sie implementiert werden können, wird im real-life Setting der Versorgungsforschung an einem un­selektierten Patientenklientel getestet. Hier sprechen wir dann von der «effectiveness» oder auch der «efficiency», wenn ökonomische Aspekte mitberücksichtigt werden. Es ist eine Alltagserfahrung, dass vieles, was im kontrollierten Setting der klinischen Studie funktioniert, im Alltag nicht umsetzbar ist oder nicht umgesetzt wird. Dieser «evidence-performance-gap» ist daher oft Gegenstand der hausärztlichen Forschung. Nicht selten bedarf es einer Adaption der rein klinischen Evidenz an die Realität der Versorgung.

In der Vergangenheit wurden Hausärzt/-innen dabei eher beforscht, als dass sie selbst forschten, und dabei wurden die Spezifika des hausärztlichen Settings oftmals zu wenig berücksichtigt und teilweise falsche oder gar diskreditierende Folgerungen gezogen. Forschung in der Hausarztmedizin ist daher kein Selbstzweck, es ist vielmehr das Wesen jeder autarken medizinischen Disziplin, eigene Forschungsfragestellungen zu entwickeln und zu beantworten. Hausärztliche Forschung beschreibt und belegt den Beitrag des Faches im Gesundheitssystem und entwickelt das Fach aber auch weiter im Kontext der Herausforderungen von Multimorbidität, Über- und Fehlversorgung und versucht durch innovative Ansätze wie Multiprofessionalität und evidenzbasierte Versorgungskonzepte die immer grösser werdende klinische Evidenz aus RCTs und Leitlinien in den Alltag zu implementieren.

Im Institut existieren hierzu zwei tragende Säulen, die eine stellt das FIRE-Netzwerk dar, die zweite Säule besteht aus einzelnen Forschungsprojekten. Methodisch werden hier fast alle Studienarten abgedeckt, von qualitativen Arbeiten über Querschnittserhebungen bis hin zur Königsdisziplin der randomisierten Interventionsstudie, dem RCT, oft als «Cluster»-RCT, weil die Randomisierung auf Praxisebene erfolgen muss. Adressiert werden dabei immer klinische Themen, die eine hohe Relevanz im hausärztlichen Alltag haben. Die Themen reichen von chronischen Erkrankungen, insbesondere kardiovaskulären Erkrankungen über Impfen bis hin zu klassischen «smarter medicine» Themen, wie deprescribing (1-7). Oftmals stehen dabei gerade auch Fragen, wie die Versorgung zu organisieren ist, also im Sinne einer Multiprofessionalität, im Fokus (8, 9). Das Ziel dabei ist, «das richtige Mass an Medizin, zum richtigen Zeitpunkt, für den richtigen Patienten» zu finden, ganz im Sinne der Versorgungsforschung (9).

In der Schweiz sind das Verständnis und die Akzeptanz der Versorgungsforschung noch gering ausgeprägt, was wohl mehrere Ursachen hat. Die traditionelle Stärke der Grundlagen- und klinisch-pharmazeutischen Forschung und die bislang grosszügig vorhandenen finanziellen Ressourcen im Gesundheitssystem lassen klassische Versorgungsforschungsfragestellungen oft wenig dringlich erscheinen. Dabei geht es in der Versorgungsforschung nicht primär darum, Kosten einzusparen, sondern vor allem darum, die Versorgung effizienter zu gestalten und das Ergebnis mehr am Patientennutzen zu orientieren, im Sinne einer «value based healthcare». Dies bedeutet oftmals, die Lücke aus medizinischer Evidenz und täglicher Praxis zu minimieren («evidence-performance-gap») (1, 3, 10-12). Denn auch die besten Medikamente wirken nicht, wenn sie nicht verschrieben oder genommen werden. In Bereichen, in denen diese Evidenz nicht vorhanden ist, handelt es sich dann um eine Fehl- oder Überversorgung, zu nennen sind hier als Beispiele sowohl nicht indizierte Bildgebung, arthroskopische Interventionen, aber auch nicht indizierte Vitamin-D- oder Vitamin-B12-Tests (13-15).

Finanzielle Förderung hausärztlicher Forschung in der Schweiz

In den Jahren ab 2008 standen für die hausärztliche Forschung 200’000.- CHF zur Verfügung, die über die Kommission RRMA (Recherches et Réalisations en Médecine appliquée) der SAMW (Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften) ausschliesslich an hausärztliche Institutionen vergeben wurden. Dieses Programm endete 2012 und wurde durch ein Förderprogramm «Versorgungsforschung» abgelöst, das ebenfalls von der SAMW begleitet wurde, und durch die Bangerter-Rhyner-Stiftung während 5 Jahren mit einer Million CHF jährlich gefördert wurde. Im Jahr 2015 erhielt die Versorgungsforschung in der Schweiz einen wichtigen Impuls, unterstützt vom Bundesamt für Gesundheit und der SAMW wurde mein Antrag auf Einrichtung eines nationalen Forschungsprogrammes (NFP) mit dem Fokus auf Versorgungsforschung umgesetzt und dann als NFP 74 «Gesundheitsversorgung» und einer Fördersumme von 20 Mio. CHF eingerichtet. Grundlage bildete das SAMW-Papier «Stärkung der Versorgungsforschung in der Schweiz» (16). Seit dem Auslaufen des NFP 74 steht in der Schweiz allerdings kein Förderprogramm mehr zur Verfügung, das explizit Versorgungsforschung adressiert oder auf die hausärztliche Forschung reflektiert. Mehrere Anträge an den Schweizer Nationalfonds im Rahmen einzelner Forschungsprojekte wurden – trotz positiver externer respektive internationaler Gutachtervoten – letztlich nicht gefördert, was die schwierige Drittmittelbeschaffung der Institute für Hausarztmedizin in der Schweiz verdeutlicht. Dort, wo die Gelder verteilt werden, existiert kein Bewusstsein und Verständnis für die Bedeutung auf der sogenannten «letzten Meile» der Versorgung hin zur/zum Patient/-in zu forschen. Ganz anders übrigens die Situation im Ausland, in Deutschland beispielsweise wurden wiederholt umfangreiche derartige Forschungsförderungen aufgelegt, im angloamerikanischen Raum existieren zahlreiche Finanzquellen für den Bereich «health services research».

FIRE

Die Herausforderungen der klassischen Forschung mittels RCTs in der Hausarztmedizin sind aber nicht nur finanziell besonders gross, auch die Gewinnung von Kolleg/-innen, insbesondere für Interventionsstudien, ist herausfordernd. Die Bereitschaft neben der praktischen Tätigkeit, sich an Studien zu beteiligen, ist trotz finanzieller Abgeltung und manch Wissenstransfer im Rahmen des jeweiligen Projektes verständlicherweise gedämpft. Umso grösser der Dank und die Anerkennung an all die Kolleg/-innen, die sich trotzdem immer wieder beteiligen und dafür sorgen, dass bisher jedes Rekrutierungsziel erreicht wurde. Neben der direkten Beteiligung an RCTs bietet FIRE eine exzellente Möglichkeit, sich an Forschung zu beteiligen, und dies ohne jeden Zusatzaufwand. Das FIRE-Netzwerk besteht seit 2008 und umfasst mittlerweile mehr als 720 Hausärzt/-innen (400 mit der neuesten Schnittstelle), die die strukturierten Daten vollständig anonymisiert und ohne Freitexteintragungen aus ihren elektronischen Krankenakten automatisiert auf einen geschützten Server der Universität hochladen (17). Über die Jahre ist damit eine der grössten Datenbanken mit hausärztlichen Routinedaten auf freiwilliger Basis weltweit entstanden. Mehr als 1 Mio. Konsultationen mit Diagnose, Labordaten und physiologischen Parametern wie etwa dem Blutdruck können longitudinal verfolgt werden. FIRE ermöglicht aber nicht nur Forschung, es ist auch ein exzellentes Instrument, um die Qualität der hausärztlichen Tätigkeit abzubilden und zu verbessern, denn anders als etwa bei den Versicherern ist es möglich, klinisch relevante Outcomes, wie etwa Blutdruckeinstellungen oder auch das gesamte kardiovaskuläre Risikoprofil abzubilden, mit den anderen Teilnehmern zu vergleichen und über Feedbackreports zurückzuspiegeln (18, 19). Die Eidgenössische Qualitätskommission, wo auch Ansätze künstlicher Intelligenz zum Einsatz kommen, fördert ein derartiges Qualitätsprojekt mit über 1 Mio. CHF. Grösste Herausforderung in FIRE stellen die Anbieter der KG-Software dar, da ihnen weder die immense Bedeutung der Daten für die Hausärzt/-innen noch für die hausärztlichen Netzwerke durch die teilweise an FIRE-Qualitätsindikatoren gekoppelte Steuerungsvergütung der Krankenversicherer bewusst ist und sie nur zögerlich Schnittstellen zur Verfügung stellen.

Guidelines

Spezialärztliche Leitlinien lassen sich nicht einfach auf das Niedrigprävalenzsetting übertragen, dies gilt insbesondere für die Diagnostik, wo es meist nur einer schrittweisen Eskalation bedarf (20). Die SGAIM als zuständige Fachgesellschaft publiziert keine eigenen Guidelines, einige hausärztliche Netzwerke haben dies übernommen, aber letztlich ist es wichtig, dass Leitlinien die aktuelle wissenschaftliche Evidenz widerspiegeln und dass sie weder durch die Pharmaindustrie noch durch wirtschaftliche Überlegungen des Netzwerkes beeinflusst werden. Daher erstellt das IHAMZ eigene, rein evidenzbasierte Leitlinien in einem interdisziplinären Team aus Hausärzt/-innen und Spezialist/-innen des jeweiligen Fachgebietes. Sie stehen frei zugänglich auf der Homepage des IHAMZ zur Verfügung und werden in der Zeitschrift «Praxis» publiziert (20).

Praxisassistenz und Curriculum

Über Vorlesungen, Kurse, Masterarbeiten und Dissertationen kann man den medizinischen Nachwuchs an die Hausarztmedizin heranführen. Früh schon wurde aber auch deutlich, dass die Hausarztmedizin gerade in der Phase der Facharztweiterbildung konkurrenzfähige Angebote machen muss (21). Mit der Gesundheitsdirektion Zürich konnte daher schon 2009 ein umfangreiches Förderprogramm ausgehandelt werden, das über die Jahre zudem sukzessive erhöht wurde. Mittlerweile werden 24 Praxisassistenzen und 6 Curriculumsstellen am USZ, die eine Rotation durch Dermatologie, ORL und Rheumatologie mit abschliessender Praxisassistenz ermöglichen, gefördert. Das Curriculum ist mittlerweile auf Jahre hinaus ausgebucht und auch die Nachfrage der Praxisassistenz entspricht mindestens dem Angebot. Die grösste Herausforderung ist hier die Kurzfristigkeit in der Planung vieler Assistenzärztinnen und Assistenzärzte sowie deren oft sehr dezidierten Vorstellungen, was die Weiterbildungsstätte und deren Engagement in der Weiterbildung anbelangt.

Résumé

Die 2008 mit dem ersten ordentlichen Lehrstuhl für Hausarztmedizin in Zürich begonnene Akademisierung des Faches hat mittlerweile alle Schweizer Universitäten erreicht. An allen medizinischen Fakultäten gibt es mittlerweile entsprechende Professuren. Die finanzielle Ausstattung variiert allerdings sehr stark und damit auch die Möglichkeiten, das Fach in Lehre und Forschung adäquat zu reflektieren. In Zürich existieren vergleichsweise positive Rahmenbedingungen, was sich in einem umfangreichen Lehrangebot niederschlägt. Im Bereich der Forschung hat sich das IHAMZ sogar zum aktivsten Institut im gesamten deutschsprachigen Raum entwickelt: Seit 2008 wurden allein 1’593 Publikationen veröffentlicht, pro Jahr also mehr als 100 Arbeiten. Über Lehre, Masterarbeiten und Dissertationen ist es gelungen, die Studierenden ganz anders an das Fach heranzuführen und via Praxisassistenzen und Curriculum wird ihnen auch niederschwellig der Weg in eine praktische hausärztliche Tätigkeit geebnet. An keiner anderen europäischen Universität wurden im selben Zeitraum so viele Kolleg/-innen habilitiert oder Professor/-innen ernannt, was zur akademischen Verankerung des Fachs an der medizinischen Fakultät wesentlich beigetragen hat. Es bleibt zu hoffen, dass die wichtigen Impulse, die von der Forschungsförderung der SAMW und des NFP 74 ausgingen, ihre Fortsetzung im Bewusstsein des Nationalfonds finden. Nur durch die Möglichkeit, ausreichend Drittmittel einzuwerben, kann die erfolgreiche Forschungstätigkeit langfristig gesichert werden und ihre Erkenntnisse mithelfen, das Gesundheitssystem in der Schweiz auf der Basis solider Evidenz effizient und zukunftsfähig zu gestalten.

Betrachtet man die Faktoren, die gerade in Zürich die Akademisierung so erfolgreich gemacht haben, dann sind dort neben den erwähnten günstigen finanziellen Rahmenbedingungen, die auch auf einer hohen Drittmitteleinwerbung basieren, vor allem zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen ist dies ein hochmotiviertes und talentiertes Team, das sich durch eine extreme Konstanz auszeichnet. So sind viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Anfang an oder mehr als zehn Jahre dabei. Der zweite wichtige Faktor ist die enge Zusammenarbeit und tiefe Verankerung in der lokalen Hausärzteschaft. Nur durch das Engagement vieler engagierter Kolleginnen und Kollegen sind die zahlreichen Lehrveranstaltungen, Forschungsprojekte und auch das FIRE-Projekt möglich. Auch das ist etwas, was die Hausarztmedizin von anderen medizinischen Fächern unterscheidet: Nirgends wird die Zukunft so stark im gegenseitigen Austausch und Vertrauen zwischen akademischer Einrichtung und den niedergelassenen Kolleg/-innen gestaltet.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. Dr. med.Thomas Rosemann

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

thomas.rosemann@usz.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

Grippeschutzimpfung bei Risikopatienten in der Schweiz

In Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (1,2) wird die Impfung gegen die saisonale Influenza in der Schweiz für Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Risiko für Komplikationen wie Personen ≥65 Jahre oder solche mit chronischen Krankheiten empfohlen (3). Das erhöhte Risiko in diesen Gruppen wird durch viele Faktoren bedingt, wie zum Beispiel die nachlassende Immunfunktion und eine geringere Wirksamkeit des Impfstoffs. Darüber hinaus ist Multimorbidität mit erhöhten Krankenhausaufenthalten oder der Sterblichkeit bei Menschen ≥65 Jahren verbunden (4, 5). Nationale Impfquoten liegen bei älteren Menschen und Patienten mit chronischen Krankheiten bei 35% (6) und liegt damit weit unter dem von der WHO empfohlenen Ziel von 75% (7, 8). Die Impfquoten in der Schweiz liegen im mittleren Bereich für Europa (8,9). Die Grippe führt zu bis zu 330’000 Konsultationen und bis zu 5000 Hospitalisierungen pro Jahr in der Schweiz, und landesweite Aktivitäten zielen darauf ab, die Impfraten zu erhöhen (10, 11). Der Rückgang der Impfquoten in den letzten Jahren gibt daher zunehmend Anlass zur Besorgnis und unterstreicht die Notwendigkeit einer genauen Überwachung. Die Überwachung von nationalen Impfquoten ist ein Eckpfeiler des globalen WHO-Programms. In der Schweiz stützt sich die nationale Überwachung der Influenza-Impfquoten auf den selbstberichteten Impfstatus. Das Ziel einer kürzlich publizierten Schweizer Studie aus dem Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich (12) war die Ermittlung der VURs bei Risikopatienten, d.h. Patienten ≥65 Jahre und erwachsenen Patienten mit chronischen Krankheiten, unter Verwendung von Leistungsdaten anstelle von Selbstauskünften, sowie Untersuchung der Faktoren für die Inanspruchnahme von Impfstoffen und verschiedene methodische Ansätze zur Überwachung von Impfungen.

In dieser retrospektiven Querschnittsanalyse wurden die nationalen Impfquoten während drei Influenza­saisons (2015/2016/2017/2018) untersucht. Medikamente, Diagnosen oder medizinische Leistungen wurden als Auslöser für die Identifizierung von Patienten verwendet. Für die Berechnung der nationalen Impfquoten bei Patienten mit chronischen Erkrankungen wurden diese anhand der Auslöser in der jeweiligen Saison (Modell 1) und in der aktuellen und der vorherigen Saison (Modell 2) identifiziert. Es wurde eine Regressionsanalyse verwendet, um Faktoren zu identifizieren, die mit dem Impfstatus in Verbindung stehen.

Die Studie umfasste Daten, die von 214’668 einzelnen Patienten analysiert wurden. Nationale Impfquoten über alle Saisons hinweg reichten von 18,4 % bis 19,8 %. Die meisten Patienten mit chronischen Krankheiten wurden mit dem Medikamenten-Trigger identifiziert, und es wurden keine klinisch signifikanten Unterschiede bei nationalen Impfquoten zwischen den beiden Modellen gefunden. Das Vorliegen einer chronischen Krankheit, Alter, männliches Geschlecht und regelmässige Arztbesuche waren mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit verbunden, geimpft zu werden.

Fazit

Die nationalen Impfquoten lagen unter den empfohlenen Schwellenwerten, und die Analyse zeigte, dass Anstrengungen zur Erhöhung der nationalen Impfquoten erforderlich sind. Die Autoren bewerteten die Identifizierung von chronischen Krankheiten anhand von Medikamentenansprüchen und die Berechnung von nationalen Impfquoten auf der Grundlage von Daten der jeweiligen Saison als einen wirksamen Ansatz zur Durchführung der Impfüberwachung. Eine Überwachung auf der Grundlage von Anspruchsdaten kann die nationale Überwachung vervollständigen.

Quelle: Plate A, Bagnoud C, Rosemann T, Senn O. Di Gangi S. Influenza vaccination uptake among at-risk patients in Switzerland—The potential of national claims data for Surveillance. Influenza Other Respi Viruses. 2023;17:e13206.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. Vaccines against influenza: WHO position paper – May 2022. Wkly
Epidemiol Rec. 2022;97(19):185-208.
2. Global Influenza Strategy 2019–2030. World Health Organization; 2019.
3. Swiss Vaccination Schedule. 2023. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/gesundheitsfoerderung-und-praevention/impfungen-prophylaxe/schweizerischer-impfplan.html. Accessed February 2023.
4. Keilich SR, Bartley JM, Haynes L. Diminished immune responses with aging predispose older adults to common and uncommon influenza complications. Cell Immunol. 2019;345:103992.
5. Langer J, Welch VL, Moran MM, et al. High clinical burden of influenza disease in adults aged ≥65 years: can we do better? A systematic literature review. Adv Ther. 2023;40(4):1601-1627.
6. Influenza Season Report 2021/2022. Federal Office of Public Health; 2022.
7. Prevention and Control of Influenza Pandemics and Annual Epidemics. World Health Assembly; 2003.
8. Jorgensen P, Mereckiene J, Cotter S, Johansen K, Tsolova S, Brown C. How close are countries of the WHO European Region to achieving the goal of vaccinating 75% of key risk groups against influenza? Results from national surveys on seasonal influenza vaccination programmes, 2008/2009 to 2014/2015. Vaccine. 2018;36(4): 442-452.
9. Chen C, Liu X, Yan D, et al. Global influenza vaccination rates and factors associated with influenza vaccination. Int J Infect Dis. 2022; 125:153-163.
10. Ammeter T, Lang P, Czock A. Overview of the influenza vaccination activities and legal frameworks in 26 Swiss cantons during the influenza season 2019/20. Vaccine. 2022;40(12):1702-1706.
11. Zürcher K, Zwahlen M, Berlin C, Egger M, Fenner L. Losing ground at the wrong time: trends in self-reported influenza vaccination uptake in Switzerland, Swiss Health Survey 2007–2017. BMJ Open. 2021; 11(2):e041354.
12. Plate A, Bagnoud C, Rosemann T, Senn O. Di Gangi S. Influenza vaccination uptake among at-risk patients in Switzerland—The potential of national claims data for Surveillance. Influenza Other Respi Viruses. 2023;17:e13206.

Kongressausgabe SABCS 2023

Hier finden Sie das PDF der SABCS-Kongresszeitung

Das SABCS 2023 bot auch dieses Jahr den teilnehmenden Fachleuten aus Medizin und Pflege die einzigartige Möglichkeit, persönlich in San Antonio oder virtuell teilzunehmen. Davon machten gegen 11’000 Interessierte aus 102 Ländern Gebrauch. Diskutiert wurde rund 400 Präsentationen und knapp 2’000 Abstracts zur aktuellen Brustkrebsforschung. Unsere Expertinnen und Experten vor Ort Dr. med. Denise Vorburger, Dr. med. Ursula Hasler Strub, PD. Dr. med. Marcus Vetter und Dr. med. Andreas Müller sichteten die Beiträge und diskutierten für «info@­gynäkologie» die wichtigsten Ergebnisse des Symposiums im Rahmen einer Video-Aufzeichnung, die Sie sich hier anschauen können:
www.medinfo-verlag.ch/schweizer-expertinnen-und-experten-diskutieren-wichtige-daten-vom-sabcs-2023.

Viele der in am SABCS 2023 vorgestellten Studien sind praxisverändernd, während andere die bestehenden Behandlungsstandards untermauern. Die Diskussionen konzentrierten sich auf verschiedene klinische Kontexte, einschliesslich unterschiedlicher Brustkrebs-Subtypen, Stadien und Behandlungslinien. Nachfolgend kursorisch eine kleine Auswahl von wichtigen Studien.

Bei den gezielten Therapien für HR-positiven Brustkrebs ist die finale Analyse des Gesamtüberlebens (OS) aus der MONARCH-3-Studie zu erwähnen, in der der CDK4/6-Inhibitor Abemaciclib in Kombination mit einem Aromatasehemmer in der Erstlinienbehandlung von postmenopausalen Patientinnen mit metastasiertem oder rezidiviertem HR-positivem, HER2-negativem Brustkrebs untersucht wurde. Die klinisch signifikante Verbesserung des medianen OS (>13 Monate) in Kombination mit der anhaltenden signifikanten Verbesserung des medianen PFS (>14 Monate) und die signifikante Verlängerung des medianen CFS (>16 Monate) sprechen weiterhin für den Einsatz von Abemaciclib in Kombination mit einem NSAI als Erstlinientherapie beim ABC.

Derzeit ist das triple-negative Mammakarzinom (TNBC) der einzige Brustkrebssubtyp, für den eine Immuntherapie bei Brustkrebs im Frühstadium zugelassen ist. Vorläufige Daten, die auf dem SABCS vorgestellt wurden, deuten jedoch darauf hin, dass eine Immuntherapie auch bei einigen HR-positiven Brustkrebsarten wirksam sein könnte.

Die Studie KEYNOTE-756 untersuchte die neoadjuvante Behandlung mit Pembrolizumab oder Placebo in Kombination mit einer Chemotherapie, gefolgt von einer adjuvanten Behandlung mit Pembrolizumab oder Placebo in Kombination mit einer endokrinen Therapie in der Erstlinienbehandlung von lokal invasivem HR-positivem, HER2-negativem Brustkrebs. Im Vergleich zu Patientinnen in der Placebo-Gruppe hatten Patientinnen in der Pembrolizumab-Gruppe eine höhere Wahrscheinlichkeit für ein pathologisches komplettes Ansprechen (pCR), ein Ergebnis, das auch bei Patientinnen beobachtet wurde, deren Tumoren eine niedrige HR-Expression aufwiesen.

Eine wichtige Beobachtung wurde in der Studie KEYNOTE-522 gemacht: Längere Verzögerungen sind mit einem quantifizierbaren Anstieg des Upstagings und der Wahrscheinlichkeit, bei der Operation einen positiven Tumorbefund zu erhalten, assoziiert.

In der Studie TROPION-Breast01 wurde in allen Subgruppen eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserung des PFS mit Dato-DXd im Vergleich zu ICC beschrieben. Diese Daten unterstützen Dato-DXd als eine mögliche neue Therapieoption für Patienten mit inoperablem oder metastasiertem HR+/HER2- BC, die zuvor 1-2 Linien CT erhalten haben.

Schliesslich noch ein Wort zur klinischen Behandlung von HER2-positivem Brustkrebs. Am SABCS wurden die endgültigen Daten zum invasiven krankheitsfreien Überleben (iDFS) und aktualisierte Daten zum Gesamtüberleben (OS) aus der KATHERINE-Studie vorgestellt. Hierin wurde Trastuzumab Emtansin (T-DM1) mit Trastuzumab bei Patientinnen mit HER2-positivem Brustkrebs verglichen, die nach neoadjuvanter Therapie und Operation noch eine Resterkrankung aufwiesen. Patientinnen in der T-DM1-Gruppe zeigten ein um fast 14 Monate längeres iDFS und ein um 34 % geringeres Sterberisiko als Patientinnen in der Trastuzumab-Gruppe.

Eine weitere Studie, HER2CLIMB-02, untersuchte den Effekt der Zugabe des HER2-Inhibitors Tucatinib zu T-DM1 bei Patientinnen mit HER2-positivem lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs, der nach einer Vorbehandlung mit Trastuzumab und einer Taxan-Chemotherapie fortgeschritten war. Die Kombination von Tucatinib und T-DM1 im Vergleich zu T-DM1 allein führte hierbei zu einer signifikant höheren 3-Jahres-PFS-Rate.

Nun überlassen wir es gerne Ihnen, zur Vertiefung Ihres Wissens die Diskussion der Expertinnen und Expertinnen in der Videoaufzeichnung zu verfolgen sowie die Auswahl von am SABCS vorgestellten und für «info@gynäkologie» zusammengefassten Abstracts zu konsultieren.

Eleonore E. Droux

Dr. med. Thomas Ferber

Kongressausgabe ASH 2023

Hier finden Sie das PDF der ASH-Kongresszeitung

Steter Fortschritt durch ein verbessertes Verständnis molekularer Grundlagen

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Wie jedes Jahr, wurde der Jahreskongress der Amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie (ASH) mit Spannung erwartet und viele Kolleginnen und Kollegen traten die lange Reise an, um in San Diego die neusten wissenschaftlichen und klinischen Daten aus dem Fachgebiet der benignen und malignen Hämatologie präsentiert zu bekommen. Der Kongress wurde erfreulicherweise erneut durch eine Online-Plattform im sog. Hybridkonzept unterstützt und erlaubte Teilnehmenden eine höhere Flexibilität der persönlichen Fortbildung, falls gewünscht auch ganz ohne Reisetätigkeit.

Inhaltlich wies der Kongress wie immer ein hohes wissenschaftliches Niveau auf und ich möchte, ohne den Autoren/-innen dieses Heftes vorzugreifen, kurz meine Highlights mit Schwerpunkt auf dem Gebiet der malignen Hämatologie vorstellen.

Als erster Eindruck verstärkte sich auch dieses Jahr der Trend, dass moderne zielgerichtete Therapien bzw. Immuntherapien klassische Chemotherapien ersetzen oder zumindest in Kombination mit Chemotherapien bessere Therapieergebnisse erzielen können. Ein Beispiel ist die Behandlung der indolenten Lymphome, inklusive der Chronischen Lymphatischen Leukämie (CLL). Nahezu sämtlich vorgestellte Studiendaten beruhten auf zielgerichteten Therapien beziehungsweise Immuntherapie. Eine für den klinischen Alltag relevante Studie der englischen Studiengruppe (UK NCRI FLAIR Studie) stellte die Frage einer zeitlich begrenzten Erstlinientherapie mit Ibrutinib plus Venetoclax (IV) im Vergleich zur Standard Immun-Chemotherapie Fludarabin, Cyclophosphamid und Rituximab (FC-R) bei bisher unbehandelten CLL Patienten/innen (1). IV wurde MRD-gesteuert appliziert und wies ein signifikant verbessertes progressionsfreies Überleben (PFS; HR 0,13; p<0,0001) als auch Gesamtüberleben (OS; HR 0,31; p<0,005) im Vergleich zu FC-R auf. Damit ist nun auch die letzte Indikation für eine Chemotherapie in der Erstlinientherapie der CLL gefallen und sämtliche zur Verfügung stehende Medikamente beruhen auf dem Prinzip der Immun- respektive zielgerichteten Therapie. Diese Arbeit, parallel zur PERSEUS Studie der europäischen Myelom Studiengruppe, wurde zeitgleich im New England Journal of Medicine publiziert. Die PERSEUS Studie (2) belegt, dass in der Erstlinientherapie transplantationsfähiger Myelom-Patienten/innen die Vierfachkombination beruhend auf dem CD38 Antikörper Daratumumab, Lenalidomid, Bortezomib und Dexamethason (D-VRd) der gleichen Dreifachkombination ohne CD38 Antikörper (VRd) bezogen auf das PFS signifikant überlegen ist (medianes follow-up 47,5 Monate: HR 0,42; p <0,0001). Wir hatten bisher mit der GRIFFIN Studie nur eine Phase II Studie zur Verfügung und können nun auf diese für Kostengutsprachen wichtige Phase III Studie zurückgreifen.

Beim klassischen Hodgkin-Lymphom (cHL) sind aus meiner Sicht zwei Studien für den klinischen Alltag relevant: Zum einen die Subgruppenanalyse der SWOG S1826 Studie (3), in der der Einsatz des PD1 blockierenden Antikörpers Nivolumab plus Adriamycin, Vinorelbine und Dacarbazin (N-AVD) versus die gleiche Chemotherapie aber Brentuximab vedotin (Bv) anstelle des PD1 Antikörpers (Bv-AVD Arm) in der Erstlinientherapie aller Altersgruppen getestet wurde. Die Studie hatte bereits im Sommer auf verschiedenen Kongressen für Aufsehen gesorgt, da sich ein früh zu bemerkender Vorteil für den PD1 Arm zeigte. In der nun präsentierten Subgruppenanalyse wurden nur Patienten/-innen > 60 Jahren betrachtet und auch in dieser Altersgruppe zeigte sich ein signifikanter PFS-Vorteil (HR 0,35; p=0,022) für den N-AVD Arm bei gleichzeitig geringerer Toxizität. Damit sollte NAVD als Therapiestandard in der Erstlinientherapie des älteren cHL Patienten/in Verwendung finden. Auch in der Rezidivtherapie (4) zeigte sich, dass eine Re-Induktionstherapie basierend auf einer Chemotherapie plus einem PD1 blockierenden Antikörper vor Hochdosistherapie und autologem Stammzellersatz bei fitten cHL Patienten/innen einer alleinigen Chemotherapie bezogen auf das PFS überlegen ist (HR 0,3; p= <0,001) und damit als Standard zu gelten hat.
Als letztes möchte ich kurz auf die akuten Leukämien eingehen. Die Kombination des BCL2 Inhibitors Venetoclax (VEN) mit dem HMA Azacytidine bzw. Decitabine (DEC) gilt bereits bei den meisten älteren AML Patienten/-innen als Standard in der Erstlinientherapie. Das VEN + DEC Regime wurde nun auch bei jüngeren Patienten vs. einer Standardchemotherapie, dem sogenannten 3 + 7 Regime verglichen und es zeigte sich, dass insbesondere Patienten/-innen >40 Jahre mit intermediärer oder ungünstiger genetischer Risikokonstellation von dem chemotherapiefreien Regime bei höheren MRD-Raten und geringerer Toxizität profitieren (5). Mit dem stetig wachsenden Wissen zu den pathogenetischen Prozessen der Leukämieentstehung halten auch molekular gezielte Therapien weiterhin Einzug in die Behandlung. So wurde mit Revumenib ein Inhibitor der Menin-Histon-Lysin-N-Methyltransferase 2A (KMT2A)-Interaktion bei Patienten/innen mit rezidivierter/refraktärer (R/R) KMT2A-veränderter (KMT2Ar) und Nukleophosmin-1-mutierter (NPM1m) akuter Leukämie untersucht (AUGMENT-101 Studie, 6) und zeigte bei guter Verträglichkeit erfreulich hohe Ansprechraten (MRD-Rate knapp 70%), sodass mit einer beschleunigten Zulassung für diese schwierig zu behandelnden Leukämie zu rechnen ist.

Ich hoffe, mit meiner persönlichen Stellungnahme Ihr Interesse an den nun folgenden detaillierten Studienzusammenfassungen geweckt zu haben und wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!

Prof. Dr. med. Christoph Renner

Behandlung der Osteoporose

Osteoporose ist häufig und die Therapieindikation richtet sich nach dem geschätzten Fraktur-Risiko. Hierfür stehen Medikamente unterschiedlicher Potenz und Wirkweise (antiresorptiv bzw. osteoanabol) zur Verfügung. Die Auswahl der Substanz sollte unter Berücksichtigung des Ausgangs-Fraktur-Risikos getroffen werden. Der chronische Charakter der Erkrankung einerseits und die pharmakologischen Eigenschaften der unterschiedlichen Substanzen andererseits machen in den meisten Fällen eine sequentielle Behandlung erforderlich. Die sinnvolle Umsetzung solcher Therapie-Sequenzen setzt wiederum Kenntnisse über die eingesetzten Osteoporose-Medikamente voraus, die in diesem Beitrag vermittelt werden sollen.

Osteoporosis is common and requires specific drug therapy dependent on estimated fracture risk. Medications with differing potency and mode of action (antiresorptive or osteoanabolic) are available. The choice of substance should be based on the initial fracture risk. Owing to the chronic nature of the disease on the one hand and the pharmacological characteristics of the available drugs on the other, a sequential treatment strategy is usually necessary. This article aims to address and provide insights into the knowledge available in order to facilitate appropriate implementation of anti-osteoporotic drug therapy.
Key Words: estimated fracture risk, major osteoporotic fracture, antiresorptive drugs, osteoanabolic drugs, sequential therapy

Im Jahr 2019 waren in der Schweiz ca. 524‘000 Patient/-innen von einer Osteoporose betroffen, mit einem Frauen­anteil von knapp 80%. Besonders eindrücklich sind die damit verbundenen 82‘000 neuen Frakturen entsprechend 9,4 Frakturen pro Stunde! Die Schweiz ist zudem Spitzenreiter in Europa, was die Kosten durch osteoporotische Frakturen angeht (ca. 3,4 von ges. 74,9 Milliarden Euro) (1). Trotz Zunahme medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren ist immer noch von einer erheblichen Behandlungslücke auszugehen (2).

Therapie-Indikation

Die Indikation für eine Osteoporose-Therapie wird heutzutage anhand des geschätzten Frakturrisikos gestellt. Die Abschätzung erfolgt durch Eingabe der zu erfragenden Risikofaktoren (Tab. 1) und des minimalen T-Scores an LWS, Gesamthüfte bzw. Schenkelhals nach DXA-Messung in einen Kalkulator (z.B. FRAX der WHO oder «Tool der Osteoporose-Plattform», TOP). In erster Linie relevant für die Therapieindikation ist das geschätzte Risiko für eine osteoporotische Hauptfraktur (englisch «major osteoprotic fracture», kurz MOF), d.h. Wirbel-, Hüft-, proximale Humerus- oder distale Radius-Fraktur. Eine altersadaptierte Interventionsschwelle, wie sie die Schweizerische Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO) vorsieht (Abb. 1), wird gegenüber einer fixen Interventionsschwelle (z.B. 10-Jahres-Risiko 20-25%) kontrovers diskutiert. Für die Prophylaxe bei systemischer Glucocorticoid- oder hormonablativer Therapie sind gesonderte Empfehlungen zu beachten, die in diesem Beitrag aus Gründen des Umfangs nicht abgehandelt werden.

Unterschiedliche Erstlinien-Therapie je nach Ausgangsrisiko

Die SVGO hat im Jahr 2020 Behandlungs-Empfehlungen publiziert (3), die auf einer Stratifizierung nach Risikogruppen basieren (Abb. 2). Bei tiefem (densitometrisch Osteopenie ohne weitere Risikofaktoren) bzw. moderatem Risiko (densitometrisch Osteoporose, Frakturrisiko unterhalb der Interventionsschwelle) steht neben einer generell empfohlenen genügenden Calcium- und Vitamin-D-Versorgung die Prävention mittels Hormonersatz, selektiven Östrogen-Rezeptormodulatoren (SERM) oder optional oralen Bisphosphonaten im Vordergrund. Unverzichtbar ist eine knochenspezifische Behandlung bei hohem (Risiko über der Interventionsschwelle), sehr hohem (Risiko mindestens 20% über der Interventionsschwelle) oder imminentem Frakturrisiko. Letzteres liegt dann vor, wenn bei über 65-jährigen Patient/-innen eine MOF innerhalb der letzten 2 Jahre aufgetreten ist (3). Wie in Abbildung 2 ersichtlich, werden bei prävalenter osteoporotischer Fraktur konkrete Empfehlungen zur Erstlinien-Behandlung gemacht: Teriparatid bei vertebraler Fraktur, Zoledronat bei Hüft-Fraktur und Romosozumab bei anderen MOF. Grundlage hierfür bildet die Evidenz, dass entsprechende Medikamente in vorliegenden Ausgangssituationen eine gute bzw. gegenüber oralen Bisphosphonaten überlegene Wirksamkeit aufweisen (4, 5, 6). Zudem ist als Rationale für den Erstlinien-Einsatz von Teriparatid bzw. Romosozumab die Erkenntnis anzuführen, dass der unter osteoanaboler Therapie erreichte Dichtezuwachs ohne antiresorptive Vortherapie höher ausfällt. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sich die Limitationen für die Kostenübernahme der einzelnen Medikamente in der Schweiz nicht grundsätzlich mit den SVGO-Empfehlungen decken.

Die Medikamente (siehe auch Tabelle 2)

Antiresorptiva

Bisphosphonate wirken antiresorptiv durch Osteoklastenhemmung und werden seit ca. 30 Jahren zur Osteoporose-Therapie eingesetzt. Gängige Präparate sind in Tabelle 2 aufgeführt. Aufgrund ihrer Wirkweise durch Anlagerung an die Knochenoberfläche hält der antiresorptive Effekt noch nach Pausierung/Beendigung an, was die Bisphosphonate von allen anderen Osteoporose-Medikamenten unterscheidet. Am ausgeprägtesten ist dieser sogenannte «Tail-Effekt» bei Zoledronat. Seltene Nebenwirkungen sind Kieferosteonekrosen und atypische (=subtrochantäre) Femurfrakturen, wobei das jeweilige Risiko mit der Dauer der Therapie steigt. Entsprechend ist nach 3- bis 5-jähriger Bisphosphonat-Therapie eine Pause zu erwägen, zumal die Knochendichte nach dieser Behandlungsdauer trotz fortgesetzter Behandlung normalerweise nicht weiter zunimmt (7). Bisphosphonate sind kontraindiziert bei Schwangerschaft/Stillzeit und Niereninsuffizienz (GFR<35 ml/min).

Denosumab (Prolia®) ist ein vollhumaner monoklonaler Antikörper gegen RANK-Ligand und wirkt via Osteoklastenhemmung. Im Unterschied zu den Bisphosphonaten zeigt sich auch nach 10-jähriger Anwendung kein Plateau des Knochendichteanstieges (8). Allerdings kommt es nach Beendigung bzw. verzögerter Anwendung unmittelbar zu einem überschiessenden Knochenabbau (sog. «Rebound-Phänomen»), welcher mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten multipler Wirbelkörper-Frakturen einhergeht (9). Denosumab eignet sich daher primär zur Langzeittherapie und sollte keinesfalls ohne Anschlusstherapie gestoppt oder verzögert verabreicht werden. Da die Datenlage für die sichere Langzeitanwendung von Denosumab auf 10 Jahre beschränkt ist (8), sollte die Indikation bei jüngeren Patient/-innen zurückhaltend gestellt werden. Sollte eine Beendigung von Denosumab dennoch nötig werden, hat sich insbesondere Zoledronat als Anschlusstherapie aufgrund seiner antiresorptiven Potenz etabliert. Hiermit lässt sich der Rebound zwar reduzieren, aber meist nicht gänzlich verhindern. Bezüglich optimaler Umsetzung der Anschlusstherapie ist die Datenlage noch ungenügend. Sowohl bei Bisphosphonaten als auch bei Denosumab sollten vor Therapieeinleitung eine Hypolcalcämie sowie ein relevanter Vitamin-D-Mangel ausgeschlossen werden. Zudem ist zur Reduktion des Risikos von Kieferosteonekrosen auf eine gründliche Zahnpflege zu achten;  chirurgische Eingriffe am Kieferknochen (Zahn-Extraktion, Implantat) sollten unter etablierter Therapie möglichst vermieden werden.

Osteoanabolika

Teriparatid ist eine rekombinante Form des humanen Parathormons. Vor Anwendung bedarf es einer Kostengutsprache durch die Krankenkasse. Es wirkt osteoanabol durch Stimulation der Osteoblasten-Proliferation und -Differenzierung. Die Therapiedauer ist auf 24 Monate limitiert, das Präparat muss täglich subcutan gespritzt werden. Neben dem Originalpräparat Forsteo® existieren mittlerweile diverse (kostengünstigere) Biosimilars. Teriparatid ist u.a. kontraindiziert bei malignen Knochenerkrankungen oder vorausgegangener Strahlentherapie des Skeletts. Nach Abschluss von Teriparatid bedarf es einer antiresorptiven Anschlussbehandlung, da der erreichte Dichtezuwachs andernfalls vollständig reversibel ist.

Romosozumab (Evenity®) ist ein humanisierter Antikörper gegen Sclerostin und die zweite in der Schweiz zugelassene osteoanabol wirksame Substanz. Neben der knochenaufbauenden Wirkung besteht auch ein antiresorptiver Effekt; dieser duale Wirkmechanismus hebt die Substanz von allen anderen zugelassenen knochenwirksamen Medikamenten ab. Die Behandlung erfolgt durch monatliche subkutane Injektionen, die Dauer ist auf 1 Jahr beschränkt. Auch für Romosozumab ist eine Kostengutsprache durch die Krankenkasse nötig. Die Substanz ist nur für postmenopausale Frauen zugelassen und kontraindiziert bei Vorgeschichte eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls. Auch die unter Romosozumab gewonnene Knochendichte verliert sich nach Therapieabschluss, sofern keine antiresorptive Anschluss­therapie erfolgt.

Sequentielle Therapie

Aus den Eigenschaften der genannten Medikamente ergibt sich, dass in der Langzeittherapie einer Osteoporose eine sequentielle Behandlungsstrategie häufig unumgänglich ist. Hierzu 2 Fall-Beispiele. Im zweiten Fall wird auch auf die Möglichkeit einer Kombinationstherapie eingegangen.

Fall 1: Eine 62-jährige, postmenopausale, internistisch gesunde Patientin mit frischer LWK1-Fraktur und einem T-Score in der DXA von -4.4 SD an der LWS bzw. -3.3 SD am Schenkelhals erhält bei imminentem Frakturrisiko eine osteoanabole Erstlinien-Behandlung mit Romosozumab. Nach 1-jähriger Behandlung beträgt der T-Score jeweils -2.9 SD an LWS und Schenkelhals; neue Frakturen sind nicht aufgetreten. Aufgrund der Lebenserwartung der Patientin von deutlich über 10 Jahren entscheidet man sich für eine Anschlussbehandlung mit einem Bisphophonat für 3 bis 5 Jahre. Da die Patientin nach Abschluss der Anschlussbehandlung immer noch unter 70 sein wird, ist mit einer erneuten Behandlungsindikation zu einem späteren Zeitpunkt im Leben der Patientin zu rechnen.

Fall 2: Eine 83-jährige, rüstige Patientin erleidet eine Sakrum-Fraktur nach Sturz aus Standhöhe. In der DXA ist der T-Score der Wirbelsäule aufgrund degenerativer Veränderungen nicht aussagekräftig, an der Gesamthüfte beträgt der T-Score -1.3 SD und am Schenkelhals -1.6 SD. In dieser Konstellation ist die Limitatio weder für Teriparatid noch für Romosozumab erfüllt, so dass eine Erstlinienbehandlung mit einem Bisphosphonat oder Denosumab bleibt. In vorliegender Situation fiel der Entscheid aufgrund des Lebensalters >80 auf eine Behandlung mit Denosumab. Nach 4-jähriger Behandlung mittels Denosumab kommt es zu einer spontanen BWK11-Fraktur, weshalb die Optionen einer Therapieeskalation zu prüfen sind. Die Umstellung auf ein Bisphosphonat würde in puncto Wirkpotenz keine Eskalation darstellen, zumal der Rebound nach Beendigung von Denosumab durch ein Bisphosphonat wie erwähnt meist nur unvollständig verhindert wird. Im Falle einer Umstellung von Denosumab auf Teriparatid ist ein ausgeprägtes Rebound-Phänomen beschrieben, so dass diese Sequenz grundsätzlich zu vermeiden ist (10). Für die Sequenz Denosumab gefolgt von Romosozumab ist die Datenlage ungenügend. In vorliegender Situation ist die wirksamste Option eine Kombination von Denosumab mit Teriparatid (10) für 2 Jahre mit nachfolgender Weiterführung von Denosumab bis zum Lebensende.

Zweitabdruck aus «der informierte @rzt/die informierte @rztin» 02-2024

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Gernot Schmid

Leitender Arzt Rheumatologie
Luzerner Kantonsspital
Co-Präsident Osteoporose-Plattform
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die Behandlungsindikation der Osteoporose basiert auf dem geschätzten Frakturrisiko, das sich aus dem tiefsten T-Score in der DXA (LWS, Gesamthüfte, Schenkelhals) und den erfassten Risikofaktoren unter Verwendung eines Risikokalkulators ermitteln lässt.
◆ Es stehen mehrere knochenwirksame Medikamente zur Verfügung, die sich neben der Wirkweise auch in ihrer Wirkpotenz unterscheiden.
◆ Bei der Auswahl des Medikamentes ist das geschätzte Ausgangsrisiko zu berücksichtigen, wobei bei sehr hohem/imminentem Risiko auch der Erstlinieneinsatz von Osteoanabolika erwogen werden sollte.
◆ Die Langzeitbehandlung der Osteoporose bedarf häufig einer sequentiellen Behandlungsstrategie.

1.  Kanis JA, Norton N, Harvey NC, Jacobson T, Johansson H, Lorentzon M, McCloskey EV, Willers C, Borgström F. SCOPE 2021: a new scorecard for osteoporosis in Europe. Arch Osteoporos. 2021 Jun 2;16(1):82.
2. Lippuner K, Moghadam BY, Schwab P. The osteoporosis treatment gap in Switzerland between 1998 and 2018. Arch Osteoporos. 2023 Jan 18;18(1):20.
3. Ferrari S, Lippuner K, Lamy O, Meier C. 2020 recommendations for osteoporosis treatment according to fracture risk from the Swiss Association against Osteoporosis (SVGO). Swiss Med Wkly. 2020 Sep 29;150:w20352.
4. Kendler DL, Marin F, Zerbini CAF, Russo LA, Greenspan SL, Zikan V, et al. Effects of teriparatide and risedronate on new fractures in post- menopausal women with severe osteoporosis (VERO): a multicentre, double-blind, double-dummy, randomised controlled trial. Lancet. 2018;391(10117):230–40.
5. Saag KG, Petersen J, Brandi ML, Karaplis AC, Lorentzon M, Thomas T, et al. Romosozumab or Alendronate for Fracture Prevention in Women with Osteoporosis. N Engl J Med. 2017;377(15):1417–27.
6. Lyles KW, Colón-Emeric CS, Magaziner JS, Adachi JD, Pieper CF, Mautalen C, et al.; HORIZON Recurrent Fracture Trial. Zoledronic acid and clinical fractures and mortality after hip fracture. N Engl J Med. 2007;357(18):1799–809.
7. Black DM, Reid IR, Cauley JA, Cosman F, Leung PC, Lakatos P, Lippuner K, Cummings SR, Hue TF, Mukhopadhyay A, Tan M, Aftring RP, Eastell R. The effect of 6 versus 9 years of zoledronic acid treatment in osteoporosis: a randomized second extension to the HORIZON-Pivotal Fracture Trial (PFT). J Bone Miner Res. 2015 May;30(5):934-44.
8. Bone HG, Wagman RB, Brandi ML, Brown JP, Chapurlat R, Cummings SR, Czerwinski E, Fahrleitner-Pammer A, Kendler DL, Lippuner K, Reginster JY, Roux C, Malouf J, Bradley MN, Daizadeh NS, Wang A, Dakin P, Pannacciulli N, Dempster DW, Papapoulos S. 10 years of denosumab treatment in postmenopausal women with osteoporosis: results from the phase 3 randomised FREEDOM trial and open-label extension. Lancet Diabetes Endocrinol. 2017 Jul;5(7):513-523.
9. Anastasilakis AD, Polyzos SA, Makras P, Aubry-Rozier B, Kaouri S, Lamy O. Clinical Features of 24 Patients With Rebound-Associated Vertebral Fractures After Denosumab Discontinuation: Systematic Review and Additional Cases. J Bone Miner Res. 2017 Jun;32(6):1291-1296.
10. Leder BZ, Tsai JN, Uihlein AV, Wallace PM, Lee H, Neer RM, Burnett-Bowie SA. Denosumab and teriparatide transitions in postmenopausal osteoporosis (the DATA-Switch study): extension of a randomised controlled trial. Lancet. 2015 Sep 19;386(9999):1147-55.

Bedeutung der Sexualmedizin für Gynäkologen

Eine erfüllte Sexualität fördert die Lebensqualität bis ins hohe Alter. Gynäkologinnen und Gynäkologen spielen hierbei eine entscheidende Rolle, da sie oft erste Ansprechpartner für Frauen mit Anliegen zu ihrer Sexualität sind und entsprechende Beratung Teil der gynäkologischen Primärprävention ist. Daher sollten alle behandelnden Ärzte und Ärztinnen ein Bewusstsein entwickeln, dass Sexualität und ihr individuelles Empfinden durch körperliche, psychische, soziale und partnerschaftliche Faktoren beeinflusst werden. Herausforderungen in der Gesprächsführung bei der sexualmedizinischen Anamnese können zu Kommunikationsproblemen führen. Sensible Kommunikation, Diagnostik und Therapie mit Anlehnung an das biopsychosoziale Modell tragen dazu bei, Frauen zu ermöglichen, ihre Sexualität als erfüllend zu erleben. Eine erfüllte Sexualität fördert somit die Lebensqualität bis ins hohe Alter.

A fulfilled sexuality plays a pivotal role in promoting better aging process by contributing to an overall well-being. Obstetricians/Gynecologists often serve as the primary healthcare professionals consulted by women facing sexual concerns. Consequently, these consultations contribute to the primary prevention through education and sexual medical assessments. Sexuality is a complex interplay of biological, psychological, social and relational components. Challenges in targeted sexual medical histories arise in medical consultations due to communication issues. However, a proactive approach in consultations, incorporating sensitive communication and following the diagnostic and therapeutic process aligned with the biopsychosocial model, empowers women to express their concerns and contributes to their self-determined sexuality. Cultivating a fulfilled sexuality contributes to an enhanced quality of life throughout the aging process.
Key words: Fulfilled sexuality, quality of life, aging process, biopsychosocial model, primary prevention, secondary prevention, tertiary prevention

Welche Bedeutung hat die sexuelle Gesundheit in der Gynäkologie?

Historisch betrachtet wurde das Thema Sexualität aufgrund gesellschaftlicher Normen oft schamhaft betrachtet und tabuisiert. Obwohl in den letzten Jahrzehnten eine allmähliche Enttabuisierung des Themas stattfand, hat die zunehmende Digitalisierung im jetzigen Jahrhundert zu einer omnipräsenten Präsenz der Sexualität geführt. Demzufolge hat sich ein verzerrtes Bild der Sexualität in der Gesellschaft entwickelt, das oft fernab von medizinischem Fachwissen liegt. Vor diesem Hintergrund spielt die fachlich kompetente Patientenberatung im Kontext der sexuellen Gesundheit eine entscheidende Rolle. Gynäkologinnen und Gynäkologen sind oft die ersten medizinischen Ansprechpartner für Frauen mit Anliegen zu ihrer Sexualität. In der Sprechstunde ist die Sekundärprävention fest etabliert, wie beispielsweise die Diagnostik und Therapie von sexuell übertragbaren Infektionen, das Vorgehen nach unge-schütztem Geschlechtsverkehr bis hin zur Beratung im Falle einer ungewollten Schwangerschaft. Die Vorbeugung von Gesundheits-problemen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit liegt auch in der Verantwortung der gynäkologischen Fachdisziplin und ist Teil der Primärprävention. Die Verbesserung der Gesundheit und Lebensqualität jedes Einzelnen in unserer Gesellschaft bis ins hohe Alter, bei demographisch immer weiter steigender Lebenser-wartung, kann nur durch das Bewusstsein des Menschen über die eigene Selbstverantwortung für seinen Körper geschaffen werden. Dabei ist wesentlich, dass die spezifische Thematik der Sexualität jede und jeden über die gesamte Lebensspanne begleitet.

Häufig wird die Sexualanamnese in Routineuntersuchungen vernachlässigt, vergessen oder sogar ignoriert. Um fest Bestand zu haben, ist die Offenheit für dieses sensible Thema unabdingbar. Durch verbesserte Kommunikation und adäquate Aufklärung wird die Selbstverantwortung der Patientinnen gestärkt und dadurch ein entscheidender Beitrag nicht nur zur Sekundär- oder Tertiärprävention, sondern auch zur Primärprävention geleistet. Idealerweise kann einer Patientin durch die Konsultation geholfen werden, ihre Problematik besser einzuordnen, damit sie ferner eine selbstbestimmte Sexualität ausleben kann. Die Autonomie des Individuums ist für ein erfülltes sexuelles Empfinden wichtig (1).

Einfluss der Sexualität auf die Lebensqualität

Die Sexualität ist einer der intimsten Aspekte des Menschen. Dabei bedeutet Sexualität mehr als der penetrative Geschlechtsverkehr: Sie beinhaltet auch Intimität wie beispielsweise der Austausch von Zärtlichkeiten (Küssen, Umarmen, Petting) oder auch die Masturbation.

Einschneidende Ereignisse über die Lebensspanne wie onkologische Erkrankungen, die Gravidität oder hormonelle Umstellungen (z.B. Stillen, Menopause) wirken sich auf Körper und Seele aus. Wichtig ist die Erkenntnis, dass das sexuelle Erleben des Einzelnen durch verschiedene Wechselwirkungen beeinflusst wird. Das biopsychosoziale Modell, ein bekanntes Konzept in der Medizin und Psychologie, veranschaulicht die komplexen Interaktionen zwischen somatischen, psychischen und sozialen Faktoren (2). Zusammen prägen die verschiedenen Einflussfaktoren das subjektive sexuelle Empfinden eines Individuums (Abbildung 1). Die somatische Komponente der physiologischen Grundlagen der Sexualität (sexueller Zyklus mit vier Phasen: Erregungs-/ Plateauphase, Orgasmus und Refraktärphase) und die hormonelle Regulation sind allgemein bekannt (3, 4, 5). Doch auch die psychologischen Faktoren (Emotionen, Verhaltensweisen, sexuelle Biographie) sind ebenso mitentscheidend (6). Diese können Unsicherheiten bis hin zur Entwicklung einer körperdysmorphen Störung auslösen (7), beispielsweise nach einer Operation. Soziokulturelle Normen der Gesellschaft (Erziehung, Bildung, Umwelt), in die das Individuum eingebettet ist, tragen ebenfalls bei. Darüber hinaus muss auch die Partnerschaft der Patientin mit ergänzenden Einflüssen durch deren Dynamik oder etwaige sexuelle Probleme des Partners oder der Partnerin berücksichtigt werden (8). Sie stellt die vierte Komponente im Modell dar. Ein individueller Ansatz ist nötig, um einen Gesamteindruck zu erhalten und auslösende oder prädisponierende Faktoren auf das subjektiv empfundene Problem zu identifizieren. Gleichzeitig darf durch die Konsultation kein Problem suggeriert werden. Der Leidensdruck der Patientin ist entscheidend.

Hürden der Kommunikation über das Thema Sexualität

Das Navigieren der Gesprächsführung mit anschliessender kompetenter Problemlösung während der gynäkologischen Konsultation kann bei diesem sensiblen Thema eine Herausforderung darstellen. Die Kommunikation in der Arzt-Patientinnen-Beziehung kann unter anderem durch persönliche Überzeugungen, Wertvorstellungen, oder der begrenzten Zeit in der ärztlichen Sprechstunde beeinflusst werden (9, 11). Die Vergütung stellt eine zusätzliche Hürde dar, da bei tiefergreifenden Fragestellungen Konsultationen nur begrenzt honoriert werden. Patientinnen können ebenfalls auf Hürden stossen, darunter Schamgefühle, Ängste vor Verurteilung oder Unsicherheiten bezüglich des Ansprechens sexueller Themen während der Konsultation. Auch das Ausleben anderer Beziehungsformen neben dem heteronormativen Beziehungs- und Weltbild kann eine zusätzliche Hemmschwelle darstellen (9).

Für eine effektive Exploration der Sexualanamnese ist eine klare, offene Kommunikation entscheidend, um individuelle Aspekte der Patientinnen zu berücksichtigen. Medizinisches Vokabular ist zwar präzise, kann aber unter Umständen für das Gegenüber schwer verständlich sein. Geschickte Fragetechniken in der Gesprächsführung helfen, Barrieren zu überwinden und Vertrauen aufzubauen. Ein Beispiel für eine verbesserte Kommunikation könnte die Beschreibung anderer Frauen in ähnlichen Lebensumständen sein: «Nach einer schwierigen Geburt erleben viele Frauen Veränderungen in ihrer Sexualität. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?» Solche Vergleiche können entlastend wirken und ermöglichen es, offener über eventuelle Symptomatik zu sprechen. Es ist wichtig, Probleme nicht zu bagatellisieren und Suggestivfragen zu vermeiden.

Basisdiagnostik sexueller Dysfunktionen

Die Erfassung der allgemeinen und gynäkologischen Anamnese mit körperlicher Untersuchung ist die Grundlage, um Aspekte wie Vorerkrankungen, Medikation, Zyklus, Lebensphase der Frau und durchgeführte Operationen, die die sexuelle Gesundheit beeinflussen könnten, zu identifizieren. Eine differenzierte Sexual-anamnese, die Aspekte der Beziehungsbiographie, des sexuellen Verhaltens und der aktuellen Partnerschaft erfragt, kann zusätzlich aufschlussreiche Hinweise liefern. Häufige Symptome wie Dyspareunie, Appetenz- und Orgasmusstörungen können so erfasst werden (10). Bei einem spezifischen Beschwerdebild erfolgt eine detaillierte Exploration der Dauer und Manifestation der Symptomatik. Hormonuntersuchungen können bei Verdacht auf Klimakterium praecox (FSH, E2), Schilddrüsenfunktionsstörung (TSH, T3, T4) oder Hyperprolaktinämie (Prolaktin) wegweisend sein. Die Bestimmung der Androgene bleibt kontrovers und wird in diesem Rahmen nicht weiter vertieft.

Therapeutische Interventionen

Therapeutische Interventionen zur sexualmedizinischen Betreuung können sich am PLISSIT-Stufenmodell orientieren (vgl. Abbildung 2). Die schrittweise Abfolge stellt sich zusammen aus: Permission (Erlaubnis für Aspekte wie Fantasien, Masturbation), Limited Information (Vermittlung spezifischer, für das Individuum relevante Informationen), Specific Suggestions (Konkrete Vorschläge) und Intensive Therapie (Intensive Therapie im Einzel-oder Paarsetting) (11, 12). Ein offener Umgang mit dem Thema, proaktives Zuhören und die fokussierte Aufklärung hinsichtlich Konzeptionen und Verständnisse von Sexualität sind effektive psychoedukative Strategien, die einen guten Therapieansatz bieten können.

Medikamentöse Behandlungen mit hormonellen und nicht-hormonellen Ansätzen können eingesetzt werden. Hierzu gehören systemische oder lokal verabreichte Östrogentherapien, die oft in der Peri- oder Postmenopause eingesetzt werden. Gleitgele oder Dilatatoren können unter anderem als nicht-hormonelle Therapien eingesetzt werden. Unter den verschiedenen Therapieoptionen soll kurz auf die topische Applikation von Testosteron auf Liposombasis aufmerksam gemacht werden. Die Testosterontherapie ist in der Schweiz momentan nicht zugelassen, kann jedoch mit einem Magistralrezept im Off-Label-Use verordnet werden. Eine Testosterontherapie kann bei ovarektomierten oder postmenopausalen Frauen mit krankhaft vermindertem sexuellem Interesse (hypoactive sexual desire disorder (HSDD) empfohlen werden (13).

Vertiefte Sexualtherapie als Therapieoption

Es zeigt sich rasch, ob die anfänglichen Interventionen hilfreich waren. Bei länger anhaltenden Störungen oder schwerwiegenden Paarkonflikten ist eine intensivere Einzel- oder Paartherapie indiziert. Die strukturierte Sexualtherapie fokussiert auf aktuelle Symptome, Auslösesituationen und interpersonelle Probleme. In einer ausführlichen Erstkonsultation wird die Sexualanamnese des Individuums oder Paares erhoben inklusive des Gesundheitszustands. Bereits durchgeführte medizinische Untersuchungen werden evaluiert und je nach Beschwerdebild kann eine weitere fachärztliche Untersuchung notwendig sein (u.a. Urologe, Dermatologe, Psychiater). Auch bisherige Lösungsansätze werden besprochen.

Die systematische Befragung gibt Aufschluss über den Leidensdruck und die Motivation zur Therapie. Gemeinsam wird ein realistisches Behandlungsziel definiert, wobei kleine Erfolgsschritte auf dem Weg dorthin betont werden. Dabei werden vorhandene Ressourcen und sexuelle Fähigkeiten identifiziert und ausgebaut. Die Behandlung kann einige Wochen bis mehrere Monate dauern. Sie verfolgt das Ziel einer selbstbestimmten Sexualität und gesteigerten Lebensqualität, die auch den Alterungsprozess positiv beeinflusst.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dipl. Ärztin Johanna Janku

Fachärztin Gynäkologie und Geburtshilfe FMH
Gründerin Praxis Oh yes baby yes
Grossmünsterplatz 9
8001 Zürich

info@ohyesbabyyes.ch

Die Autorin hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.

 

◆ Die Verantwortung der frauenärztlichen Tätigkeit erstreckt sich neben der Sekundärprävention auch auf die Beratung und Prävention von Problemen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit
(Primärprävention).
◆ Komplexe Interaktionen beeinflussen individuell das sexuelle
Empfinden (Biopsychosoziales Modell).
◆ Therapeutische Interventionen orientiert am PLISSIT-Stufenmodell unterstützt die sexualmedizinische Betreuung in der gynäkologischen Sprechstunde.
◆ Sexualität beeinflusst die Lebensqualität und kann den Alterungs­prozess verbessern.
◆ Medikamentöse Therapie oder vertiefte Sexual-/Paartherapie sind
Optionen bei langandauernden Störungen oder schwerwiegenden Paarkonflikten.

 

1. Nappi RE, et al. Female sexual dysfunction (FSD): Prevalence and impact on quality of life (QoL). Maturitas. Volume 94. 2016;p87-91.
2. Engel GL. Die klinische Anwendung des biopsychosozialen Modells. Bin J Psychiatrie. 1980;137:535-44.
3. A Argiolas et al. Die Neurophysiologie des Sexualzyklus. J Endocrinol Invest. 2003; 26(3 Suppl):20-2.
4. Masters WH, Johnson VE (1966). Human sexual response. Boston: Little, Brown & Co.
5. Buddeberg, C (2005). Sexualberatung. Eine Einführung für Ärzte, Psychotherapeuten und Familienberater. Thieme Verlag KG: Stuttgart.
6. Bitzer J, Platano G, Tschudin S, Alder J. Sexual Counseling for Women in the Context of Physical Diseases–A Teaching Model for Physicians. The Journal of Sexual Medicine, Volume 4, Issue 1. 2007: 29–37. DOI: 10.1111/j.1743-6109.2006.00395.x
7. Martin, A., Buhlmann, U. Körperdysmorphe Störung und Körperunzufriedenheit. Psychotherapeut 65. 2020;67–70. https://doi.org/10.1007/s00278-020-00407-z
8. Beier KM, Bosinski H, Loewit H (2021). Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit. 3. Auflage. Elsevier: München.
9. Kathleen A. Bonvicini et al. The same but different: clinician-patient communication with gay and lesbian patients. 2003 Okt;51(2):115-122.
10. Reed MA. Female Sexual Dysfunction. Clin Plast Surg.2022 Oct;49(4):495-504. https://doi.org/10.1016/j.cps.2022.06.009
11. Annon, JS (1976). The PLISSIT-Model: A proposed conceptual scheme for the behavioral treatment of sexual problems. Journal of Sex Education and Therapy: Vol. 2, No1, pp. 1-15. DOI: 10.1080/01614576.1976.11074483
12. M Tuncer, Ümran YO. Sexual Counseling with the PLISSIT Model: A Systematic Review. J Sex Martial Ther. 2022;48(3):309-318. DOI: 10.1080/0092623X.2021.1998270
13. Davis SR, et al. Global Consensus Position Statement on the Use of Testosterone Therapy for Women. Climacteric. 2019;22(5):429-43. DOI: 10.1080/13697137.2019.1637079