Ausgewählte Studien zu soliden Tumoren

FDA genehmigt erste Gentherapien zur Behandlung von Patienten mit Sichelzellanämie

https://www.fda.gov/news-events/press-announcements/fda-approves-first-gene-therapies-treat-patients-sickle-cell-disease

Die U.S. Food and Drug Administration (FDA) hat einen Meilenstein gesetzt und heute am 8. Dezember 2023 zwei bahnbrechende Behandlungen, Casgevy und Lyfgenia, zugelassen, die die ersten zellbasierten Gentherapien zur Behandlung der Sichelzellanämie bei Patienten ab 12 Jahren darstellen. Darüber hinaus ist eine dieser Therapien, Casgevy, die erste von der FDA zugelassene Behandlung, bei der eine neuartige Genom-Editing-Technologie zum Einsatz kommt, was einen innovativen Fortschritt auf dem Gebiet der Gentherapie signalisiert. Für Lyfgenia wurde allerdings eine Black Box Warnung betreffend «blood cancer» als Folge der Behandlung im Beipackzettel angeordnet. Deren verktorgestützte Stammzellgenmodifizierung codiert für HbAT87Q,das ähnlich wie das natürliche HbA funktioniert und weniger sichelt.

Die Sichelzellanämie ist eine genetisch bedingte Krankheit, deren größte Verbreitung in den Malariagebieten Afrikas und Asiens ist. In Äquatorialafrika sind 25 bis 40 % der Bevölkerung heterozygote Merkmalsträger. Die Häufigkeit des Defekts nimmt mit dem Abstand zum Äquator deutlich ab. Bei der schwarzen Bevölkerung Amerikas liegt die Häufigkeit nur noch zwischen 5 und 10 %. Dieses Phänomen lässt sich dadurch erklären, dass heterozygote Merkmalsträger eine relative Resistenz gegen Malaria besitzen – ein Umstand, der in Malariagebieten einen deutlichen Selektionsvorteil darstellt. In gemäßigten Breiten ist der Selektionsvorteil aufgrund der fehlenden Malaria nicht wirksam.

“Die Sichelzellkrankheit ist eine seltene, schwächende und lebensbedrohliche Blutkrankheit mit erheblichem ungedecktem Bedarf, und wir freuen uns, das Feld insbesondere für Personen, deren Leben durch die Krankheit stark beeinträchtigt wurde, voranzubringen, indem wir heute zwei zellbasierte Gentherapien zugelassen haben”, sagte Nicole Verdun, M.D., Direktorin des Office of Therapeuticproducts im Center for Biologics Evaluation and Research der FDA. “Die Gentherapie verspricht gezieltere und wirksamere Behandlungen, insbesondere für Menschen mit seltenen Krankheiten, bei denen die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten begrenzt sind.”

CRISPR/Cas9 kann so gesteuert werden, dass DNA in bestimmten Bereichen geschnitten wird, was die Möglichkeit bietet, DNA an der Stelle, an der sie geschnitten wurde, genau zu bearbeiten (zu entfernen, hinzuzufügen oder zu ersetzen). Die modifizierten Blutstammzellen werden zurück in den Patienten transplantiert, wo sie sich im Knochenmark einnisten (anheften und vermehren) und die Produktion von fetalem Hämoglobin (HbF) erhöhen. Bei Patienten mit Sichelzellanämie verhindert ein erhöhter HbF-Spiegel die Sichelbildung der roten Blutkörperchen.

“Diese Zulassungen stellen einen wichtigen medizinischen Fortschritt dar, da innovative zellbasierte Gentherapien eingesetzt werden, um potenziell verheerende Krankheiten zu bekämpfen und die öffentliche Gesundheit zu verbessern”, sagte Peter Marks, M.D., Ph.D., Direktor des Center for Biologics Evaluation and Research der FDA.

Diese Stammzellentransplantation ist teuer: Die Einmalbehandlung mit Casgevy hat einen Listenpreis von 2,2 Millionen Dollar, wie Vertex auf Anfrage der Nachrichtenagentur AWP schrieb.
Als Folge der FDA-Zulassung erhält das Zuger Biotechunternehmen von Vertex nun eine Meilensteinzahlung von 200 Millionen Dollar, wie beide Firmen weiter mitteilten. CRISPR Therapeutics erhält 40 Prozent der Gewinne, Vertex 60 Prozent.
Für die CRISPR-Technologie hatten die CRISPR Therapeutics-Co-Gründerin Emmanuelle Charpentier und die Amerikanerin Jennifer Doudna im Jahre 2020 den Nobelpreis erhalten.
Alles schön und gut. Die Frage, wie das Medikament die vielen Patienten in Äequatornähe, aber selbst in den USA erreichen soll, bleibt vorerst ungelöst.

Prof. Dr. med. Beat Thürlimann

Brustzentrum, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St.Gallen

ESMO in the Alps 2023

Parallel zum ESMO-Kongress organisierte die SAKK ESMO in the Alps, ein Live-Meeting sowie ein live übertragenes Webinar. Das wissenschaftliche Komitee wählte die wichtigsten Neuigkeiten aus und diskutierte sie nach Themenbereichen, gegliedert in fünf Blöcken. Der Präsident der SAKK, Prof. Dr. med. Miklos Pless, Winterthur, konnte zahlreiche Teilnehmer zum diesjährigen ESMO in the Alps, welches zum vierten Mal durchgeführt wurde, begrüssen.

Brustkrebs und gynäkologischer Krebs

Die Experten waren Dr. med. Lorenzo Rossi, Bellinzona, Dr. med. Ilaria Colombo, Bellinzona, Dr. med. et phil. Julian Wampfler, Bern

LBA40: Doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Phase-III-Studie mit Atezolizumab in Kombination mit Carboplatin und Paclitaxel bei Frauen mit fortgeschrittenem/rezidivierendem Endometriumkarzinom
Die von Prof. Nicoletta Colombo, Milano, präsentierte Studie zeigte, dass die Zugabe von Atezolizumab zur Standard-CP-Chemotherapie eine statistisch signifikante Verbesserung des PFS bei Patientinnen mit fortgeschrittenem/rezidivierendem Endometriumkarzinom mit einem erheblichen Nutzen bei Patientinnen mit dMMR-Karzinomen ergab.

LBA41: DUO-E/GOG-3041/ENGOT-EN10: Durvalumab plus Carboplatin/Paclitaxel, gefolgt von einer Erhaltungstherapie mit Durvalumab ± Olaparib als Erstlinienbehandlung bei neu diagnostiziertem fortgeschrittenem oder wiederauftretendem Endometriumkrebs.

Die Phase III DUO-E/GOG-3041/ENGOT-EN10 Studie erreichte beide primären Endpunkte und zeigte eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserung des PFS durch die Zugabe von Durvalumab zu Carboplatin/Paclitaxel, gefolgt von einer Erhaltungstherapie mit Durvalumab ± Olaparib gegenüber Carboplatin/Paclitaxel allein, wie Dr. S Westin zeigte. Mtx Olaparib verbesserte das PFS bei Patientinnen mit pMMR-Erkrankung weiter.

LBA38: ENGOT-cx11/KEYNOTE-A18. Eine Phase 3 randomisierte, doppelblinde Studie mit Pembrolizumab mit Chemotherapie bei Patientinnen mit Hochrisiko lokal fortgeschrittenem Zervix-Karzinom. Die auf dem ESMO-Kongress von Dr. Domenica Lorusso, Rom, vorgestellten Daten zeigen, dass Checkpoint-Inhibitoren erstmals die Ergebnisse bei lokal fortgeschrittenem Hochrisikogebärmutterhalskrebs verbessern können. Die ermutigenden Ergebnisse wurden für die Kombination von Pembrolizumab und gleichzeitiger Chemoradiotherapie (CCRT) in der KEYNOTE-A18-Studie berichtet. Sie zeigen eine signifikante Verbesserung des progressionsfreien Überlebens (PFS) – dem co-primären Endpunkt der Studie – für Patientinnen, die Pembrolizumab und CCRT erhielten, im Vergleich zu Placebo und CCRT (HR 0,70; 95% CI 0,55-0,89; p=0,0020). Die Daten zum Gesamtüberleben sind noch nicht ausgereift, aber es wurde ein günstiger Trend für die Pembrolizumab-Gruppe berichtet (HR 0,73; 95% CI 0,49-1,07). Darüber hinaus zeigte die Kombination von Pembrolizumab und CCRT ein überschaubares Sicherheitsprofil.

LBA8: Die GCIG INTERLACE Studie: Eine randomisierte Phase-III-Studie zur Induktionschemotherapie mit anschliessender Radiochemotherapie im Vergleich zur alleinigen Radiochemotherapie bei lokal fortgeschrittenem Gebärmutterhalskrebs. Zu der von Dr. M. McCormack präsentierten Studie bemerkte Prof. Oaknin, Barcelona, dass die Ergebnisse ermutigend sind für eine Krankheit, bei der seit mehreren Jahrzehnten keine Verbesserungen der Langzeitergebnisse über die mit der CRT allein erzielten Ergebnisse hinaus zu verzeichnen sind und bei der ein hoher ungedeckter Bedarf an neuen Therapien besteht. Er räumte aber ein, dass es wichtig sei, die rekrutierte Population und den grossen Anteil der Patienten – 58 % – zu berücksichtigen, die eine knotennegative Erkrankung aufwiesen, da bekannt ist, dass positive Lymphknoten auf ein hohes Rückfallrisiko hinweisen (Am J Clin Oncol 2009;32:411-416). Weitere Analysen in Bezug auf den Knotenstatus wären nützlich, um die Eignung der Induktionschemotherapie für verschiedene Rückfall­risikogruppen zu bestimmen.

LBA17: Adjuvantes Abemaciclib plus endokrine Therapie bei HR+, HER2- Brustkrebs im Frühstadium mit hohem Risiko: Resultate einer vorgeplanten MonarchE Gesamtüberlebens- Interimsanalyse, einschliesslich des 5-Jahres Wirksamkeitsergebnis.
An der entscheidenden 5-Jahres-Marke für adjuvante early breast cancer (EBC)-Studien reduzierte Abemaciclib plus endokrine Therapie weiterhin das Risiko eines invasiven Krankheitsrezidivs weit über den Abschluss der Therapie hinaus, wie Prof. Nadia Harback, München, am ESMO-Kongress feststellte. Die zunehmende absolute Verbesserung nach 5 Jahren steht im Einklang mit einem Carryover-Effekt und spricht weiter für den Einsatz von Abemaciclib bei Patientinnen mit Hochrisiko-EBC. Die OS-Daten entwickeln sich zugunsten des Abemaciclib-Arms. Die Nachbeobachtung wird fortgesetzt, so die Referentin.

LBA23: Invasives krankheitsfreies Überleben (iDFS) in den wichtigsten Untergruppen der Phase-III-NATALEE-Studie zu Ribociclib (RIB) + einem nichtsteroidalen Aromatasehemmer (NSAI) bei Patientinnen mit HR+/HER2- frühem Brustkrebs (EBC)
Der iDFS-Benefit von Ribociclib + NSAI stimmte im Allgemeinen mit dem in der NATALEE-Population überein und wurde nicht durch eine bestimmte Untergruppe bestimmt. Die Ergebnisse unterstützen RIB + NSAI als neue Therapie der Wahl in einer breiten Population von Patientinnen mit HR+/HER2-EBC, wie aus der Präsentation von Dr. Aditya Bardia, Boston, hervorging.

LBA11: Datopotamab-Deruxtecan vs. Chemotherapie bei vorbehandelten inoperablem oder metastatischem Hormonrezeptor-positivem, HER2 -negativem, Brustkrebs. Primäre Resultate der randomisierten TROPION-Breast01 Studie.
TROPION-Breast01 hat den primären Endpunkt des PFS erreicht, wie Dr. Aditya Bardia feststellte. Die Studie wird bis zum endgültigen OS fortgesetzt. Die Patientinnen, die Datopotamab-Deruxtecan erhielten, wiesen eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserung des PFS im Vergleich zu ICC (investigator’s choice of CT, Eribulin, Vinorelbine, Capecitabine, oder Gemcitabine) auf, zusammen mit einem günstigen und überschaubaren Sicherheitsprofil. Die Ergebnisse unterstützen Datopotamab-Deruxtecan als neuartige Behandlungsoption für Patienten mit inoperablem oder metastasiertem HR+/HER2-BC, die zuvor 1-2 Chemotherapie-Linien erhalten haben.

Urogenitalkarzinom

Die Experten waren PD Dr. med. Aurelius Omlin, Zürich, PD Dr. med. Arnoud Templeton, Basel, Dr. med. Stefanie Aeppli, St. Gallen, Dr. med. Katharina Hoppe, Zürich.

LBA6: VA302/Keynote-A39: Open-label, randomisierte Phase 3 Studie zu Enfortumab Vedotin in Kombination mit Pembrolizumab (EV + P) vs. Chemotherapie bei vorher unbehandeltem, lokal fortgeschrittenem metastatischem Urothel Karzinom.

Es ist das erste Mal, dass eine platinbasierte Chemotherapie bei Patienten mit zuvor unbehandeltem. Lokal fortgeschrittenem metastatischem Urothel-Karzinom in Bezug auf das Gesamtüberleben übertroffen wurde. EV+P zeigte eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserung der Wirksamkeit im Vergleich zur Chemotherapie.

PFS HR: 0,45, OS HR: 0,47, mPFS und OS waren in der EV+P-Gruppe im Vergleich zur Chemotherapie fast doppelt so hoch. Der Nutzen in den vordefinierten Untergruppen und Stratifizierungsfaktoren war mit der Gesamtpopulation konsistent. Das Sicherheitsprofil von EV+P war im Allgemeinen überschaubar, und es wurden keine neuen Sicherheitssymptome beobachtet.

Diese Ergebnisse unterstützen EV+P als potenziellen neuen Behandlungsstandard für 1L Ia/mlUC.

LBA7: Nivolumab plus Gemcitabine-Ciplatin vs. Gemcitabine-Cisplatin allein bei vorher unbehandeltem nicvht resezierbarem oder metastatischem Urothelkarzinom: Resultate der Phase 3 CheckMate 901 Studie.
Die am ESMO von Dr. Michiel van der Hejiden, Amsterdam, präsentierte Studie zeigte, dass die Zugabe von Nivolumab zur Chemotherapie (Gemcitabine-Cisplatin) das mediane OS signifikant verlängerte (21.7 Monate gegenüber 18.9 Monaten; HR 0.78; 95% CI 0.59-0.88; p=0.0012) im Vergleich zur alleinigen Chemotherapie bei einer medianen Nachbeobachtungszeit von 33.6 Monaten bei 608 Patienten mit zuvor unbehandeltem, inoperablem oder metastasiertem Urothelkarzinom. Die objektiven Ansprechraten betrugen 57.6% mit Nivolumab plus Chemotherapie und 43.1% mit Chemotherapie allein, mit entsprechenden Ansprechraten von 21.7% und 11.8%. Die Kombination von Nivolumab + GC ergab keine neuen Toxizitätssignale und das Sicherheitsprofil war konsistent mit der etablierten Sicherheit dieser Agenzien in früheren Urothelkarzinom-Studien. Die Lebensqualität blieb bei Zugabe von Nivolumab zu GC erhalten.
Nivolumab + GC ist die erste gleichzeitige Kombination aus ICI und Chemotherapie, die das OS in dieser Situation verbessert. Die Ergebnisse Nivolumab plus Chemotherapie auf Cisplatin-Basis unterstützen als neuer Standard of Care Patienten mit inoperablem oder metastatischem Urothelkarzinom.

LBA8: Belzutifan vs. Everolimus bei Patienten mit vorbehandeltem fortgeschrittenem klarzelligem Nierenzellkarzinom: die randomisierte, open-label Phase 3 Studie LITESPARK-005.
Dr. Laurence Albiges, Gustave Roussy, präsentierte die Resultate der LITESPARK Studie in einer Late Breaking Abstract Session. Studienendpunkte waren das progressionsfreie Überleben (PFS) und das Gesamtüberleben (OS). Die Studie erreichte den primären Endpunkt PFS mit 22,5% der Belzutifan-Gruppe und 9% der Everolimus-Gruppe ohne Progression nach 18 Monaten Therapie (HR: 0,74, 95%-KI: 0,63-0,88). Ein Überlebensvorteil wurde noch nicht gesehen. Die objektive Ansprechrate betrug 22,7% unter Belzutifan und 3,5% unter Everolimus. In beiden Armen kam es in ca. 62% zu Grad 3 oder höheren unerwünschten Ereignissen, die in 6% der mit Belzutifan und in 15% der mit Everolimus behandelten Patienten zum Therapieabbruch führten.

Zusammenfassend zeigte die Studie eine signifikante Verbesserung des PFS, jedoch (noch) nicht des OS unter Belzutifan im Vergleich zu Everolimus bei vorbehandelten Patienten mit fortgeschrittenem RCC.

LBA13: Phase 3 Studie mit (177Lu) Lu-PSMA-617 bei Taxan-naiven Patienten mit metastasierendem Kastrations-resistentem Prostatakrebs (PSMAfore).
An der von Dr. Oliver Sartor, Rochester, präsentierten Studie nahmen 468 Patienten mit Taxan-naivem metatasiertem kastrationsresistentem Prostatakarzinom (mCRPC) und mindestens einer Prostata-spezifischen Membranantigen (PSMA)-positiven Läsion teil. Bei einer medianen Nachbeobachtungszeit von 7,3 Monaten zeigte die primäre Analyse eine 59%ige Verringerung des Risikos einer radiologischen Progression unter 177Lu-PSMA-617 im Vergleich zu einer Androgenrezeptor-Signalweg-Inhibitor (ARPI)-Änderung (Abirateron/Zalutamid) (Hazard Ratio [HR] 0,41; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,29-0,56; p<0,0001). Dies wurde durch eine zweite Zwischenanalyse mit einer medianen Nachbeobachtungszeit von 15,9 Monaten bestätigt, die ein medianes rPFS für 177Lu-PSMA-617 und den ARPI-Wechsel von 12,02 Monaten bzw. 5,59 Monaten ergab (HR 0,43; 95% CI 0,33-0,54; p<0,0001).

Die PSMAfore-Studie hat ihren primären Endpunkt erreicht, indem sie eine Verbesserung des röntgenologischen progressionsfreien Überlebens mit dem PSMA-gezielten Radioliganden 177Lu-PSMA-617 im Vergleich zu einem ARPI-Wechsel bei mCRPC, der nach einer vorherigen ARPI-Therapie fortgeschritten ist, nachgewiesen hat.

Take Home Message – Prostata ESMO2023

PSMAfore: LuPSMA ist eine 1st Line Option bei Kastrations-resistentem Prostatakrebs. Die Patientenauswahl ist entscheidend.
Patienten mit Lebermetastasen und/oder starker Progression werden besser mit Docetaxel behandelt.
EnzaP: Weitere Studien sind notwendig im Hinblick auf die Kombination von LuPSMA und ARPI bei CRPC. Sehr interessante adaptive Dosierung von LuPSMA.
Keynote 641 und 991: Keine Behandlung mit Pembrolizumab in Kombination mit Enzalutamid bei unselektierten Patienten mit metastasiertem Hormon-sensitivem Prostatakarzinom oder mCRPC.

Diskussionspunkte waren

► Wie sieht es im Vergleich zu den Avelumab-Daten aus?
o Andere Patientenpopulation als JAVELIN Blasentumor 100,
o In JAVELIN 100 nur Patienten mit CR/PR/SD nach Chemotherapie (prognostisch bessere Population)
► Ist Nivolumab während der Chemotherapie wichtig oder ist die Pflege entscheidend?
o 20% weniger PD während des ersten Teils («Chemo Teil») der Studie
o 74% der Patienten mit Cis/Gem/Nivolumab waren in der Lage, eine Erhaltungstherapie zu machen, im Chemo-Arm beendeten nur 55% die geplanten Chemo-Dosen
► Warum funktioniert es mit Nivolumab, aber nicht mit Pembrolizumab und Atezolimab?
Wir wissen es nicht. Es gibt viele Studienvergleiche, aber keine wirkliche Antwort.
Cisplatin scheint besser mit Immunonkologie zu funktionieren.

HOT TOPICS

Experte war Dr. med. Daniel Helbling, Zürich
Liquid Biopsy: Das Konzept
Definition: Analyse von Tumorzellen oder ihrer Produkte (z.B. DNA, mRNA, extrazelluläre Vesikel) und Wirtszellen (z.B. Immunzellen, Endothelzellen) im Blut.
Rationale: Gewebsbiopsien sind invasiv. Blut ist ein Pool von Tumorzellen (und ihrer Produkte) und einige Lokalisationen sind schwer zugänglich. Bei der Einzelbiopsie metastatischer Läsionen können relevante Tumorklone aufgrund der Heterogenität des Tumors innerhalb eines Patienten übersehen werden (ITH). Blut ist ein Pool von Tumorzellen, die aus primären und metastatischen Läsionen freigesetzt werden, und zwar an allen Orten bei Krebspatienten (räumliche ITH). Sequenzielle Biopsien bei einzelnen Patienten zur Echtzeitüberwachung der Tumorentwicklung und des Therapieansprechens sind in der klinischen Praxis weniger praktikabel (zeitliche ITH). Überwachung und Früherkennung von MRD/Rückfällen Monate vor der Bildgebung. Umfassende Tumorinformationen in Echtzeit durch die Analyse von Blut (oder anderen Körperflüssigkeiten).
Guidelines/Empfehlungen bei Patienten mit Krebs:
ESMO-Empfehlung zur Verwendung von Tests zu zirkulierender Tumor DNA ein Bericht von der ESMO Working Group Precision Medicine (Pascual J et al. Annals of Oncology 2022;33: 750-768).

Gastrointestinale Tumoren

Die Experten waren Prof. Dr. med. Ulrich Güller, Thun, PD Dr.ssa De Dosso, Bellinzona.

15110: Pembrolizumab plus Trastuzumab und Chemo­therapie für HER2+ metastasiertes Adenokarzinom des Magens oder des gastroösophagealen Übergangs (mG/GEJ). Überlebensergebnisse aus der randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten KEYNOTE-811-Studie der Phase III.
Für die Wirksamkeit einer kombinierten PD-1- und HER2-Blockade mit Chemotherapie auf das progressionsfreie und das Gesamtüberleben bei HER2-positivem Magen-Ösophagus-Krebs gibt es nur wenige Belege. Die erste Zwischenanalyse der randomisierten Phase-3-Studie KEYNOTE-811 zeigte ein besseres objektives Ansprechen mit Pembrolizumab im Vergleich zu Placebo, wenn es mit Trastuzumab plus Fluoropyrimidin- und Platin-basierter Chemotherapie kombiniert wurde. Am ESMO-Kongress berichtete Dr. Yelena Janjigian, über die Ergebnisse der nach dem Protokoll vorgeschriebenen Zwischenanalysen von KEYNOTE-811. Es zeigte sich, dass im Vergleich zu Placebo Pembrolizumab das progressionsfreie Überleben signifikant verbesserte, wenn es mit der Erstlinienbehandlung mit Trastuzumab und Chemotherapie bei metastasiertem HER2-positivem gastroösophagealem Krebs kombiniert wurde, insbesondere bei Patienten mit Tumoren mit einem kombinierten PD-L1-Positiv-Score von 1 oder mehr. Die Nachbeobachtung des Gesamtüberlebens läuft noch und wird bei der abschliessenden Analyse berichtet werden.

Prof. Güller würde die Therapie morgen einführen, wenn sie von den Kassen bezahlt würde. Dr.ssa DeDosso schliesst sich dieser Meinung an.

LBA75: Neoadjuvante Radiochemotherapie mit anschliessender Operation versus aktive Überwachung bei Speiseröhrenkrebs (SANO-Studie): Eine randomisierte Phase-III-Cluster-Studie mit gestuftem Verlaufsschema
Die aktive Überwachung nach einer neoadjuvanten Radiochemotherapie kann für einige Patienten mit Speiseröhrenkrebs eine Alternative zur Operation sein. Dies legen ermutigende Daten aus der SANO-Studie nahe, die auf dem ESMO-Kongress von Dr. Berend van der Wilk, Rotterdam, vorgestellt wurden.

Die Ergebnisse zeigten, dass das Gesamtüberleben (OS) ab dem Tag des klinisch vollständigen Ansprechens (CCR) – dem primären Endpunkt – bei Patienten mit Speiseröhrenkrebs, die sich einer aktiven Überwachung unterzogen, nach zwei Jahren einer Operation nicht unterlegen war (Hazard Ratio [HR] 1,14, 95% Konfidenzintervall [CI] 0,74-1,78; p=0,55). Darüber hinaus war die globale gesundheitsbezogene Lebensqualität unter Verwendung des EORTC QLQ-C30 nach 6 und 9 Monaten bei den Patienten, die sich einer aktiven Überwachung unterzogen, signifikant besser als bei den operierten Patienten, wobei die Unterschiede auf einen mittleren Effekt hinweisen.

Bei der SANO-Studie handelte es sich um eine nicht unterlegene, randomisierte Stepped-Wedge-Cluster-Studie, in der Patienten mit CCR (d. h. keine Resterkrankung 6 und 12 Wochen nach neoadjuvanter Radiochemotherapie, einer aktiven Überwachung oder einer Standardoperation unterzogen wurden. Im Arm der aktiven Überwachung wurde die chirurgische Resektion nur Patienten angeboten, bei denen ein lokoregionäres Wiederwachstum stark vermutet oder nachgewiesen wurde und die keine Fernausbreitung aufwiesen.

Nach einer Nachbeobachtungszeit von zwei Jahren wiesen Patienten, die sich einer aktiven Überwachung unterzogen, im Vergleich zur Standardoperation ein nicht schlechteres OS und eine bessere kurzfristige HRQOL auf. Die aufgeschobene Ösophagektomie bei lokoregionärem Nachwachsen war sicher. Zur Bewertung der langfristigen Wirksamkeit der aktiven Überwachung ist eine längere Nachbeobachtung erforderlich, wie der Referent berichtete. Die Kritik an der Studie war, dass sie vorwiegend asiatische Populationen umfasste.

16160: Nab-Paclitaxel plus Gemcitabin versus modifiziertes FOLFIRINOX oder S-IROX bei metastasiertem oder rezidivierendem Bauchspeicheldrüsenkrebs (JCOG1611, GENERATE): Eine multizentrische, randomisierte, offene, dreiarmige, Phase II/III-Studie.
Sowohl nab-Paclitaxel plus Gemcitabin als auch modifiziertes FOLFIRINOX werden bei Patienten mit metastasiertem Bauchspeicheldrüsenkrebs und gutem Leistungsstatus als gleichwertige Erstlinienbehandlung empfohlen. S-IROX (S-1, Irinotecan und Oxaliplatin) hat in einer Phase-Ib-Studie bei dieser Patientengruppe Wirksamkeit gezeigt. Das Ziel der Studie war es daher, die Wirksamkeit und Sicherheit dieser drei Therapien direkt zu vergleichen, wie Dr. Akhiro Ohba, Tokio, am ESMO-Kongress feststellte.

Die Studienautoren empfehlen aufgrund der Resultate Nab-Paclitaxel plus Gemcitabin als Erstlinienbehandlung für Patienten mit metastasiertem oder rezidiviertem Bauchspeicheldrüsenkrebs im Vergleich zu modifiziertem FOLFIRINOX oder S-IROX.

LBA10: CodeBreak 300 Phase III Studie: Sotorasib plus Panitumumab vs. Standardbehandlung bei chemorefraktärem KRAS G12C-mutiertem metastatischem Kolorektalkarzinom.
Die Forscher testeten die Kombination mit zwei verschiedenen Dosierungen von Sotorasib und stellten bei beiden Dosierungen ein verbessertes progressionsfreies Überleben (PFS) fest. Allerdings waren die Ergebnisse mit der höheren Sotorasib-Dosis besser. “Sotorasib 960 mg plus Panitumumab ist eine potenzielle neue Standardtherapie für Patienten mit vorbehandeltem metastasiertem KRASG12C-Kolorektalkarzinom”, sagte Studienleiter Dr. Filippo Pietrantonio, vom Fondazione IRCCS – Istituto Nazionale dei Tumori in Mailand, Italien.

LBA27 Systemische Erstlinienbehandlung bei Patienten mit anfänglich inoperablen Lebermetastasen des kolorektalen Karzinoms (CRLM): Gesamtüberleben der Phase-III-Studie CAIRO5 der niederländischen Kolorektalkrebsgruppe
Die von Dr. Cornels Punt präsentierte Studie CAIRO5 zielte darauf ab, das optimale systemische Induktionsschema für die Umstellung von zunächst inoperablen CRLM auf eine lokale Behandlung zu finden. Zuvor hatten wir gezeigt, dass bei Patienten mit rechtsseitigen und/oder RAS/BRAFV600E-mutierten Tumoren das PFS signifikant länger und die vollständige lokale Behandlung (R0/R1-Resektion und/oder Ablation) mit FOLFOXIRI im Vergleich zu FOLFOX/FOLFIRI, beide plus Bevacizumab, höher war. Bei Patienten mit linksseitigen und RAS/BRAFV600E-Wildtyp-Tumoren unterschieden sich diese Parameter nicht zwischen dem Zusatz von Panitumumab und Bevacizumab zu FOLFOX/FOLFIRI.

Bei Patienten mit anfänglich inoperablem CRLM unterschied sich das OS weder zwischen FOLFOXIRI-Bevacizumab und FOLFOX/FOLFIRI-Bevacizumab bei rechtsseitigen und/oder RAS/BRAFV600E-mutierten Tumoren noch zwischen der Zugabe von Panitumumab und Bevacizumab zu FOLFOX/FOLFIRI bei linksseitigen und RAS/BRAFV600E-Wildtyp-Tumoren.

Kommentar: Bei jedem Meeting eine CAIROS Episode. Der primäre Endpunkt wurde erreicht, aber kein Unterschied im OS. Die Resultate sind ziemlich verwirrend. PFS ist kein guter Endpunkt in diesem Setting.

LBA32: Pembrolizumab im Vergleich zur Chemotherapie bei metastasiertem Kolorektalkarzinom (mCRC) mit hoher Mikrosatelliteninstabilität (MSI-H)/Mismatch-Repair-Defekt (dMMR): 5-Jahres-Follow-up der randomisierten Phase-III-Studie KEYNOTE-177.
In der Phase-III-Studie KEYNOTE-177 (NCT02563002) verbesserte Pembrolizumab (Pembro) im Vergleich zur Chemotherapie (Chemo) das PFS und zeigte einen Trend zur Verbesserung des OS bei MSI-H/dMMR mCRC, was Pembro als Erstlinientherapie unterstützt. Dr. Kai-Keen Shiu berichtete über Wirksamkeit und Sicherheit nach 5 Jahren Nachbeobachtung. Nach einer Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren war das Ansprechen auf Pembrolizumab dauerhafter als auf die Chemotherapie, und der Trend zu einem verbesserten OS mit Pembrolizumab hielt trotz einer effektiven Crossover-Rate von 62 % bei Patienten mit MSI-H/dMMR mCRC an.

Die Kritik an der Studie war, dass man nicht weiss, welche Patienten von der Therapie nicht profitieren.

Lungenkrebs

Die Experten waren Dr. med. Sabine Schmid, Bern, Dr. med. Laetitia Mauti, Winterthur

LBA57: Neoadjuvantes Nivolumab (N) + Chemotherapie (C) in der Phase-III-Studie CheckMate 816: 3-Jahres-Ergebnisse nach Tumor-PD-L1-Expression
Die Daten wurden von Dr. Mariano Provencia Pulla, Majadahonda, präsentiert. Diese explorativen Analysen der CheckMate 816-Studie bestätigen den klinischen Nutzen und das überschaubare Sicherheitsprofil von neoadjuvantem N + C bei Patienten mit resezierbarem NSCLC unabhängig von der PD-L1-Expression des Tumors.

LBA1: CHECKMATE 771: perioperatives Nivolumab für Patienten mit resezierbarem NSCLC
CheckMate 771 zeigt ein signifikant besseres ereignisfreies Überleben mit neoadjuvantem Nivolumab plus Chemotherapie gefolgt von adjuvantem Nivolumab im Vergleich zu Chemotherapie und adjuvantem Placebo.

LBA56: Gesamtüberleben in der KEYNOTE-671-Studie zu perioperativem Pembrolizumab bei nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) im Frühstadium.
Die von Dr. J. Spicer präsentierten Daten zeigten, dass neoadjuvante Behandlung mit Pembrolizumab und Chemotherapie, gefolgt von Resektion und adjuvanter Pembrolizumab–Behandlung, zu einer statistisch signifikanten und klinisch bedeutsamen Verbesserung des Gesamtüberlebens im Vergleich zur neoadjuvanten Chemotherapie und Resektion allein bei Patienten mit resezierbarem NSCLC im Stadium II, IIIA oder IIIB (N2) führte. Die in der KEYNOTE-671-Studie beobachteten OS-Verbesserungen und das Fehlen neuer Sicherheitssignale machen die perioperative Pembrolizumab-Therapie zu einem neuen Behandlungsstandard für resezierbares NSCLC im Frühstadium.

LBA2: Wirksamkeit und Sicherheit von adjuvantem Alectinib vs. Chemotherapie bei Patienten mit ALK+ NSCLC im Frühstadium.
Die von Prof. Ben Solomon, Melbourne, präsentierte Zwischenanalyse der ALINA-Studie ergab, dass die adjuvante zielgerichtete Behandlung mit Alectinib im Vergleich zu einer platinbasierten Chemotherapie mit signifikanten Vorteilen beim krankheitsfreien Überleben (DFS) verbunden war, wobei die Ergebnisse für Alectinib sowohl in der Gruppe der Patienten im Stadium II-IIIA als auch in der Gruppe der Patienten im Stadium II-IIIA günstig waren.

Alectinib ist der erste ALK-Inhibitor, der in einer Phase-III-Studie das DFS über alle Krankheitsstadien hinweg signifikant verbessert.

LBA66: Afatinib im Vergleich zur Chemotherapie bei nicht-naivem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs mit einer sensibilisierenden ungewöhnlichen Mutation des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors: Eine Phase-III-Studie (ACHILLES/TORG1834)
Die von Dr. Satoru Miura präsentierte Studie zeigte, dass Afatinib einer Platin-Doublett-Chemotherapie als Erstbehandlung von fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC), der eine seltene oder zusammengesetzte EGFR-Mutation aufweist, überlegen ist.

LBA5: Resultate der PAPILLON Studie, einer randomisierten Phase III globalen Studie.
Die Zugabe von Amivantamab zur Chemotherapie verlängerte das PFS bei unbehandeltem fortgeschrittenem NSCLC mit EGFR-Exon-20-Insertionsmutation, so Dr. N. Girard, Paris, am ESMO in Madrid.

LBA 14: Amivantamab plus Lazertinib vs. Osimertinib als Erstlinienbehandlung bei Patienten mit EGFR-mutiertem, fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC): Primäre Ergebnisse von MARIPOSA, einer globalen, randomisierten, kontrollierten Phase-III-Studie
Amivantamab+Lazertinib war statistisch gesehen Osimertinib überlegen und führte zu einer klinisch bedeutsamen Verbesserung des PFS, mit einer höheren DoR und einem günstigen OS-Trend. Das Sicherheitsprofil von Ami+Laz stimmte mit früheren Berichten überein. MARIPOSA etabliert Ami+Laz als neue Standardtherapie für die Erstbehandlung von EGFR-mutiertem fortgeschrittenem NSCLC.

LBA15 Amivantamab plus Chemotherapie (mit oder ohne Lazertinib) vs. Chemotherapie bei EGFR-mutiertem fortgeschrittenem NSCLC nach Progression unter Osimertinib: MARIPOSA-2, eine globale, randomisierte, kontrollierte Phase-III-Studie.
Amivantamab plus Chemotherapie und Amivantamab-Lazertinib-Chemotherapie verbesserten das PFS, die ORR und das intrakranielle PFS gegenüber Chemotherapie bei EGFR-mutiertem fortgeschrittenem NSCLC nach Progression unter Osimertinib und könnten einen neuen Behandlungsstandard darstellen, so der Präsentator Dr. A. Passaro, Mailand.

Zum Schluss dankte Prof. Jörg Beyer, Bern, Ko-Organisator von ESMO in the Alps den Referenten, den Sponsoren und auch den zahlreichen Zuhörern, die bis zum Schluss den gut präsentierten, interessanten Neuigkeiten aus der Onkologie zuhörten.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Neue Organisationsstruktur mit eigenem Bereich Überwachung Medizinprodukte – Eveline Trachsel wird Leiterin des Bereichs Zulassung und Vigilance Arzneimittel

Mit einer Reorganisation, die sowohl die Zuständigkeiten bei den Medizinprodukten als auch die Marktüberwachung sichtbarer macht, ist das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic ins 2024 gestartet. Gleichzeitig wurde die Leitung des Bereichs Zulassung und Vigilance Arzneimittel mit Dr. Eveline Trachsel neu besetzt.

Für die Strategieperiode 2023-2026 hat Swissmedic unter anderem das Ziel, die gesetzlichen Zuständigkeiten bei Medizinprodukten besser sichtbar zu machen und die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich zu intensivieren. Dies ist sehr wichtig, weil die Regulierung der Medizinprodukte bisher global wenig harmonisiert, der Markt jedoch sehr international ausgerichtet ist. Zudem werden in der Schweiz und in Europa diese für die Behandlung von Patientinnen und Patienten zentralen Produkte nicht behördlich zugelassen. Ihre Konformität wird, je nach Risikoklasse, durch den Hersteller alleine oder ergänzend durch staatlich benannte und überwachte Prüfstellen (auch Konformitätsbewertungsstellen, Benannte Stellen oder Notified Bodies genannt) bewertet. Der Fokus von Swissmedic liegt entsprechend auf der Marktüberwachung.

Der neue Geschäftsbereich Überwachung Medizinprodukte verantwortet, wie bisher der Bereich Marktüberwachung, die Sicherheit der klinischen Versuche, die Materiovigilance und die Marktkontrolle der Medizinprodukte. Zu seinen Aufgaben gehört auch die Überwachung der Aufbereitung und Instandhaltung von Medizinprodukten in Spitälern. Für eine bessere Marktübersicht sieht die neue Regulierung eine Registrierung von Wirtschaftsakteuren sowie eine Selbstregistrierung der Medizinprodukte im Schweizer Markt durch die verantwortlichen Marktakteure vor. Die hierfür erforderliche Datenbank (Swissdamed) wird derzeit aufgebaut und im Laufe des Jahres bereitgestellt.

Die Marktüberwachungstätigkeiten von Swissmedic im Bereich Arzneimittel wurden auf den 01. Januar 2024 neu zugeordnet:
Der Bereich Bewilligungen und Überwachung Arzneimittel ist zuständig für die behördlichen Bewilligungen und Inspektionen bei klinischen Versuchen sowie der Herstellung und des Vertriebs von Arzneimitteln. Das OMCL-Labor nimmt für die Sicherheit der Arzneimittel auf dem Schweizer Markt Prüfungen und Chargenfreigaben vor. Der Bereich ist neu auch für die Marktkontrolle der zugelassenen Arzneimittel zuständig, bearbeitet Meldungen zu Qualitätsmängeln und bekämpft den illegalen Handel mit Arzneimitteln.

Der neu «Zulassung und Vigilance Arzneimittel» benannte Bereich ist verantwortlich für die Zulassung von Arzneimitteln (inkl. Impfstoffe), die Erfassung und Abklärung von Nebenwirkungsmeldungen aus dem Markt (sog. Pharmakovigilance) sowie die Durchsetzung der erforderlichen sicherheitsrelevanten Korrekturmassnahmen.

Neue Leiterin Zulassung und Vigilance Arzneimittel

Ebenfalls auf das neue Jahr hat Swissmedic das Geschäftsleitungsmitglied Eveline Trachsel willkommen geheissen. Die promovierte Pharmazeutin bringt breite Erfahrung in der Forschung und Entwicklung von Behandlungen verschiedener Erkrankungen mit und verfügt über ein Executive MBA in General Management mit Fokus auf Digitale Transformation. Sie übernimmt die Leitung des Bereichs Zulassung und Vigilance Arzneimittel und folgt auf Claus Bolte, der diese Funktion Mitte 2023 abgegeben hat.

Nicht-Verlängerung der befristeten Zulassung in der Indikation «Medulläres Schild­drüsenkarzinom mit RET- Mutation»

Roche Pharma (Schweiz) informiert über die Nicht-Verlängerung der befristeten Zulassung in der Indikation «Medulläres Schilddrüsenkarzinom mit RET-Mutation».

Diese Entscheidung erfolgt nach Rücksprache mit Swissmedic, basierend auf der Machbarkeit der konfirmatorischen Studie CO42865 (AcceleRET-MTC) und in Übereinstimmung mit den Anforderungen der befristeten Zulassung.

Diese Entscheidung basiert nicht auf neuen Daten zur Sicherheit oder Wirksamkeit von Gavreto in dieser Indikation.

Diese Veränderung wirkt sich NICHT auf andere zugelassene Gavreto-Indikationen in der Schweiz aus: Die Verlängerung der befristeten Zulassung von Gavreto für die Indikationen «RET-Fusion-positives Nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom» und «RET-Fusion-positives Schilddrüsenkarzinom» wurde bis 12.11.2025 durch Swissmedic genehmigt.

Aktuelle Krebspolitik

Aktueller Stand: Der Bundesrat will die Prämienbelastung für die Menschen in der Schweiz dämpfen. Nach einem ersten Massnahmenpaket hat er an seiner Sitzung vom 7. September 2022 das zweite Massnahmenpaket zur Kostendämpfung zuhanden des Parlaments verabschiedet. Die Massnahmen verbessern die medizinische Versorgung und bremsen das Kostenwachstum im Gesundheitswesen.

Der Nationalrat behandelte das Geschäft als Erstrat am 28. September 2023. Die Detailberatung wurde in zwei Blöcke aufgeteilt. Der Block 1 betraf die Netzwerke zur koordinierten Versorgung, Leistungen der Apothekerinnen und Apotheker und weitere Massnahmen. Der Nationalrat definierte die Kompetenzen der Apotheken und Hebammen und lehnte die Errichtung der neuen Leistungserbringer “Netzwerke zur koordinierten Versorgung” ab. Der zweite Block thematisierte die differenzierte Prüfung der WZW-Kriterien, Preismodelle und Rückerstattungen und die Ausnahme vom Zugang nach BGÖ. Der Nationalrat entschied sich für vertrauliche Preisabsprachen trotz verschiedenen Minderheiten, die dagegen argumentierten. Das Geschäft wurde in der Gesamtabstimmung mit 131 zu 28 Stimmen bei 32 Enthaltungen angenommen. Am 12.10. und 7.11. hat die SGK-S die Vorlage behandelt. Mit ihren bisher beschlossenen Anträgen folgte sie im Wesentlichen den Beschlüssen des Nationalrates.

Ausblick: Die SGK-S wird ihre Beratungen des umfassenden Massnahmenpakets an der nächsten Sitzung Anfang 2024 fortsetzen. Sie wird sich dann auch eine Auslegeordnung zur Vergütung der Medizinprodukte präsentieren lassen.

Position Oncosuisse: Oncosuisse setzt sich grundsätzlich für ein effizientes Gesundheitssystem ein, das den gleichberechtigten Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Qualität der Behandlungen und deren Sicherheit gewährleisten soll. Im Rahmen des Geschäfts 22.062 ist aus onkologischer Sicht vor allem Artikel 52c relevant: die vorgesehene Ausnahme vom Zugang gemäss Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) bezüglich Höhe, Berechnung und Modalitäten von Rückerstattungen im Rahmen von Preismodellen (kein Zugang zu amtlichen Dokumenten im Zusammenhang mit Verhandlungen über die Preise neuer Medikamente). Nach Ansicht des Bundesrates sollten diese vertraulichen Preismodelle, die im Ausland und auch in der Schweiz weit verbreitet sind, aber keinen gesetzlichen Rahmen haben, ebenfalls im Gesetz verankert werden. Dies betrifft besonders teure innovative Medikamente.

Bei den meisten dieser vertraulichen Rabatte handelt es sich um Krebsmedikamente. Diese Ausnahme vom Transparenzgesetz würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und den Zugang zu dringend benötigten Behandlungen nicht verbessern. Im Gegensatz zu den Zielen, die mit diesen geheimen Rabatten verfolgt werden, steigen die Preise für Onkologie Medikamente immer weiter an.

Die SGK-N und der Nationalrat schlagen als Kompromiss vor, dass eine unabhängige Stelle öffentlich Rechenschaft ablegt, um die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Umsetzung dieser vertraulichen Preismodelle zu überprüfen. Oncosuisse erachtet dies als ungenügend. Eine nationale und internationale Preispolitik kann jedoch nur mit der notwendigen Transparenz zu fairem und raschem Zugang zu Medikamenten für alle Patientinnen und Patienten führen und eine Diskriminierung verhindern. Eine stärkere Kooperation unter den Staaten sowie die Schaffung von Transparenz ist für eine echt wirksame Preispolitik mittel- und langfristig unabdingbar. Die Schweiz soll sich daher entsprechend der 2019 unterzeichneten Resolution ((World Health Assembly 72.8. Improving the transparency of markets for medicines, vaccines, and other health products) international für mehr Transparenz einsetzen.

Aktueller Stand: Die Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kostenbremse-Initiative)» verlangt die Einführung einer Kostenbremse in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Der Bundesrat anerkennt das Anliegen der Kostendämpfung, lehnt die Initiative aber ab, weil die verlangte ausschliessliche Koppelung der Massnahmen an die Wirtschafts- und Lohnentwicklung zu kurz greift. Er stellt der Initiative einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber: Der Bundesrat und die Kantone sollen ausgehend vom medizinischen Bedarf einen Prozentsatz für den maximalen Anstieg der Kosten der OKP im Vergleich zum Vorjahr festlegen (Kostenziel). Werden die Kostenziele nicht eingehalten, prüfen die Kantone und der Bundesrat, ob Massnahmen zur Korrektur von Fehlentwicklungen notwendig sind. Das bestehende Instrumentarium dafür wird gezielt ergänzt. Der Ständerat und der Nationalrat bereinigten die Differenzen in der Herbstsession 2023. In der Schlussabstimmung wurde das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (Massnahmen zur Kostendämpfung – Vorgabe von Kosten- und Qualitätszielen) vom Nationalrat einstimmig mit 163 Stimmen bei 33 Enthaltungen und vom Ständerat mit 39 zu 1 Stimmen bei 4 Enthaltungen angenommen. Der Bundesbeschluss über die Volksinitiative “für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kostenbremse-Initiative)” wurde vom Nationalrat mit 110 zu 31 Stimmen bei 55 Enthaltungen und vom Ständerat mit 39 zu 1 Stimme bei 1 Enthaltung angenommen. Die Bundesversammlung empfiehlt Volk und Ständen, die Initiative abzulehnen.

Ausblick: Das Bundesgesetz untersteht dem fakultativen Referendum. Die Frist läuft bis zum 18. Januar 2024. Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.

Position Oncosuisse:
Oncosuisse lehnt die Kostenbremse-Initiative ab. Sie teilt das Anliegen der Initianten, welche das Kostenwachstum im Gesundheitswesen dämpfen möchten. Die Koppelung an die Lohn- und Wirtschaftsentwicklung ist allerdings zu starr. Sie ignoriert den medizinischen Fortschritt und die demographische Entwicklung. Mit der starren Ausgabenregelung besteht die Gefahr, dass die Versorgung von Krebspatientinnen und –Patienten unter Druck gerät und dringend notwendige medizinische Leistungen nicht mehr für alle Betroffene zur Verfügung stehen. Insbesondere der Zugang zu innovativen und teuren wie auch lebensrettenden innovativen Therapien ist durch die Annahme der Initiative gefährdet. Auch die vom Bundesrat befürchteten Rationierungen gefährden die Krebsversorgung. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass ein Kapazitätsabbau zu Wartefristen führt, welche gerade bei Krebsbetroffenen einschneidende Effekte auf die Lebenserwartung haben.

Weitere Informationen: info@oncosuisse.ch

KVG-Änderung: Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2

Mehr Transparenz bei der Preisfestsetzung onkologischer Arzneimittel

Der Bundesrat möchte im Rahmen der KVG-Änderung mit Artikel 52c die Rabatte auf Medikamentenpreise geheim halten, in der Hoffnung, damit die Versorgung zu sichern und die Kosten unter Kontrolle zu halten. Informationen über die Höhe, Berechnung oder Modalitäten von Rückerstattungen an die Krankenversicherer wären somit für Dritte unzugänglich. Eine Ausnahme der Medikamentenpreise vom Geltungsbereich des Öffentlichkeitsgesetzes (BGÖ) schafft für Patient:innen keinen nachweislichen Vorteil. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) und Nationalrat schlagen stattdessen eine unabhängige Stelle vor, die die Umsetzung der vertraulichen Preismodelle in aggregierter Form untersucht. Die Verankerung der Vertraulichkeit von Preismodellen steht im Widerspruch zu den Verpflichtungen, die die Schweiz gegenüber der WHO eingegangen ist. In 2019 hat sie die World Health Assembly 72.8 (Improving the transparency of markets for medicines, vaccines, and other health products) unterzeichnet. Die Krebsliga Schweiz fordert die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-S) deshalb auf, sich zu mehr Transparenz zu bekennen.

Krebsmedikamente dreimal teurer

Mit ein Grund für den starken Anstieg der Krankenversicherungsprämien sind auch die überhöhten Preise für Krebsmedikamente. Aktuelle Daten belegen, dass in der Onkologie die Preise höher sind als in anderen Bereichen. Eine neue Studie (1) von Prof. Dr. Kerstin Vokinger an der Universität Zürich zeigt, dass Krebsmedikamente in Deutschland, den USA und der Schweiz dreimal teurer sind als andere Medikamente. Zudem zeigen mehrere Studien (2), dass Preismodelle weder zu schnellerem noch zu günstigerem Zugang zu Medikamenten führen.

Zwischenstaatliche Zusammenarbeit nötig

Eine Aufwärtsspirale hat sich aufgrund der Schaufensterpreise in diesen Ländern bereits eingestellt, wodurch der internationale Vergleich völlig verzerrt wird. Laut dem Europäischen Netzwerk für faire Preise (EFPN), dem die Krebsliga Schweiz angehört, verschärft die Undurchsichtigkeit bei der Festlegung der Preise dieses Problem, anstatt es zu lösen. Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Staaten für mehr Transparenz, zumindest bei den Nettopreisen, ist daher unerlässlich.

Der Zugang zu innovativen Therapien bleibt damit eine Herausforderung. Für eine faire Preisfindung von innovativen Arzneimitteln ist Transparenz im gesamten System notwendig, angefangen bei Forschung und Entwicklung bis hin zu Herstellung, Vermarktung, Handel und Finanzierung. Geheime Preismodelle verbessern den Zugang zu lebensrettenden oder dringend benötigten Therapien erwiesenermassen nicht, womit die KVG-Revision, zumindest in diesem Punkt, ihr Ziel zu verfehlen droht.

Weitere Informationen: aline.descloux@krebsliga.ch

1. Miquel Serra-Burriel M., Perényi G., Laube Y., Mitchell A., Vokinger K. (2023): The cancer premium – explaining differences in prices for cancer vs non-cancer drugs with efficacy and epidemiological endpoints in the US, Germany, and Switzerland: a cross sectional study, eClinical Medicine, https://www.thelancet.com/journals/eclinm/article/PIIS2589-5370(23)00264-X/fulltext
2. Gamba S., Pertile P., Vogler S. (2020): The impact of managed entry agreements on pharmaceutical prices, Health Economics, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/hec.4112
Carl D, Vokinger K., (2021): Patients’ access to drugs with rebates in Switzerland _ Empirical analysis and policy implications for drug pricing in Europe, The Lancet Regional Health Europe, https://www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S2666-7762%2821%2900027-2

Joint-Session Oncosuisse / NICER am SOHC-Kongress 2023

«Krebsregistrierung in der Schweiz – Rückmeldung an die Meldepflichtigen»

Seit dem 1. Januar 2020 schreibt das Krebsregistrierungsgesetz vor, dass alle Krebserkrankungen in der Schweiz gemeldet und einheitlich erfasst werden müssen. Es besteht somit eine Meldepflicht für alle Leistungserbringer:innen (Personen und Institutionen), die eine Krebserkrankung diagnostizieren oder behandeln.

Die Ziele des Krebsregistrierungsgesetzes (KRG) und der Krebsregistrierungsverordnung (KRV) sind vielfältig. Einerseits geht es um eine einheitliche, flächendeckende Erfassung und Beobachtung von Krebserkrankungen, um die Erarbeitung von Präventions- und Früherkennungsmassnahmen und andererseits aber darum, die Versorgung-, Diagnose- und Behandlungsqualität zu evaluieren und zu verbessern. Um dies zu erreichen, wurde am SOHC in der Joint-Session von Oncosuisse und NICER vom November 2023 das Thema «Rückmeldungen an die Meldepflichtigen» diskutiert und Lösungen gesucht.


Die Sitzung begann mit einem Input Vortrag von Dipl.-Math. Tobias Hartz, Geschäftsführer des Klinischen Krebsregisters Niedersachsen (KKN). Er erläuterte uns, dass in Deutschland seit Jahren Rückmeldungen in Form von Rückmeldeberichten (RMB) und Qualitätskonferenzen (QK) erfolgreich durchgeführt werden. Obwohl die letzten Hürden, wie z.B. die zeitliche Verzögerung der Rückmeldungen, noch nicht vollständig überwunden sind, werden zum einen Daten, die die Krebsregister (KR) erhalten, an die Melder zurückgemeldet und zum anderen hat Deutschland bereits jetzt einen hohen Standard bei der automatisierten Datenübermittlung von den Einrichtungen an die Krebsregister über Schnittstellen.
Anschliessend fand eine Podiumsdiskussion zum Thema ‘Rückmeldungen an Leistungserbringer in der Schweiz’ statt.

Welches sind die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für solche Rückmeldungen in der Schweiz? Was wird von den Leistungserbringern gewünscht und was ist aus Sicht der kantonalen Krebsregister und der Nationalen Krebsregistrierungsstelle (NKRS) machbar? Sind gesetzliche Anpassungen in der Schweiz notwendig?
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass seitens der Meldepflichtigen aus Klinik und Forschung ein grosses Interesse an Rückmeldungen besteht, um die eigenen Dienstleistungen einschätzen und vergleichen zu können. Am besten geeignet wäre dafür ein Rückmeldebericht in elektronischer Form mit Abrufverfahren. Ausserdem könnten Rückmeldeberichte einen Anreiz schaffen zur Verbesserung der Meldepflicht und Qualität der Meldungen.

Die Möglichkeiten und Grenzen aus Sicht der kantonalen Krebsregister und der NKRS können wie folgt zusammengefasst werden. Grundsätzlich sind Rückmeldungen an Leistungserbringer auf gesetzlicher Basis mit gewissen Einschränkungen in der Schweiz möglich. Die NKRS verfügt nicht über Angaben zu den Leistungserbringer:innen im nationalen Krebsdatensatz. Sie kann somit keine Auswertungen zu einzelnen Leistungserbringenden durchführen. Es ist jedoch möglich, nationale und kantonale Statistiken zu bestimmten Tumoren oder Indikatoren (z.B. zur Diagnose- oder Behandlungsqualität, seltene Tumore) zu publizieren, mit denen sich die Leistungserbringer:innen basierend auf ihren eigenen Daten vergleichen können. Bei den kantonalen Krebsregistern sind die Angaben zu den Leistungserbringer:innen vorhanden und die Möglichkeit einer direkten Rückmeldung ist gegeben. Jedoch ist dies derzeit in der Schweiz gesetzlich nur erlaubt, wenn der betroffene Leistungserbringer:innen dem Krebsregister einen entsprechenden Auftrag erteilt.

Darüber hinaus ist die Unvollständigkeit der Daten, die die Krebsregister erhalten, derzeit der zeitaufwändigste Faktor bei der korrekten Erfassung der Meldungen, die die Grundlage für die Rückmeldungen bilden. Eine Verbesserung der Erfüllung der Meldepflicht mit vollzähligen und vollständigen Meldungen könnte den kantonalen Krebsregister helfen, die zeitliche Verzögerung in der Registrierung zu verkürzen und die Datenqualität zu erhöhen. Eine zentrale Datenbank und ein gemeinsamer Datensatz könnten hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten unter anderem durch die Reduktion des administrativen Aufwands auf allen Seiten.

Die Motivation für Rückmeldungen an Leistungserbringer ist hoch, so dass von Seiten der Krebsregistrierung die Möglichkeit von Rückmeldeberichten weiterverfolgt wird, mit dem Ziel, Grundlagen für die Verbesserung der Versorgungs-, Diagnose- und Behandlungsqualität zu schaffen.
Weitere Informationen: info@oncosuisse.ch

Oncosuisse Session am SOHC-Kongress 2023

«Ein nationaler Krebsplan für die Schweiz»

Seit dem Ende der Nationalen Strategie gegen Krebs (NSK) 2020 hat die Schweiz keinen von Bund und Kantonen getragenen Krebsplan mehr. Es besteht also dringender Handlungsbedarf und es braucht die Zusammenarbeit aller Akteur:innen – auch von Bund und Kantonen.

Nur mit einer vorausschauenden und gut koordinierten Zusammenarbeit aller Akteur:innen kann den Herausforderungen der Krebsversorgung effizient begegnet werden. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S) hat 2023 die Kommissionsmotion 23.3014 „Nationaler Krebsplan“ ausgearbeitet. Darin wird der Bundesrat beauftragt, auf der Grundlage der Nationalen Strategie gegen Krebs 2014-2020 einen nationalen Krebsplan zu erarbeiten. Der Bund, die Kantone sowie relevante Organisationen und Expert:innen sollen in die Entwicklung des Krebsplans einbezogen werden.
Der Ständerat hat die Motion ohne Gegenstimme angenommen. Demnächst wird auch der Nationalrat über die Motion Nationaler Krebsplan abstimmen.
Um wichtige Eckpunkte der Umsetzung eines solchen Nationalen Krebsplans zu diskutieren, hat Oncosuisse am Swiss Oncology and Hematology Congress (SOHC) 2023 in Basel Expert:innen aus
den relevanten Bereichen zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Folgende Vertreter:innen haben an der Podiumsdiskussion teilgenommen:
Politik: Ständerat Erich Ettlin, die Mitte OW
Behörden: Salome von Greyerz, MAE, NDS MiG, Bundesamt für Gesundheit (BAG)
Krebsversorgung: Jakob Passweg, Onkologie/Hämatologie
Patientenorganisation: Daniela de la Cruz, Krebsliga Schweiz
NSK/Krebsprogramme: Thomas Cerny
Oncosuisse: Michael Röthlisberger, Geschäftsführer (Moderation)

Deutschland als Vorbild und die Rahmenbedingungen in der Schweiz

Als einleitendes Inputreferat stellte Simone Wesselmann von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) kurz den Nationalen Krebsplan in Deutschland vor. Als einen der Kernpunkte ihres Vortrags hob sie die Bedeutung des Engagements des Bundesministeriums für Gesundheit hervor. Die Möglichkeit, Gesetze zu entwickeln und zu verabschieden, sei zentral für die effiziente Umsetzung des Deutschen Krebsplans. Als weiteren wichtigen Punkt nannte sie die Möglichkeit, sichtbare Ergebnisse aus den Projektaktivitäten präsentieren zu können.

Die Situation der gesetzlichen Grundlagen für einen Nationalen Krebsplan in der Schweiz gab in der Folge Anlass zur Diskussion: Eine gesetzliche Grundlage, die es dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) erlauben würde, die Koordination im Kampf gegen nichtübertragbare Krankheiten – wie bspw. Krebs oder Demenz – im Sinne eines nationalen Plans zu übernehmen, gibt es bisher nicht. Dies im Gegensatz zu den übertragbaren Krankheiten, bei denen das Epidemiengesetz (EpG) dem Bund eine Verantwortung – und damit auch einen Handlungsspielraum – einräumt, wie wir alle im Rahmen der Covid-19-Pandemie erlebt haben. Die Forderung nach einem analogen Gesetz für nicht übertragbare Krankheiten, einem «Gesundheitsgesetz», wurde in den letzten Jahren immer wieder erhoben und auch in der Podiumsdiskussion wurde betont, dass es langfristig wohl unumgänglich sein wird, diese gesetzliche Grundlage zu schaffen.

Eine Schweizer Lösung

Es gibt aber auch kurzfristige Lösungen, so wurde die Umsetzung der Nationalen Strategie gegen Krebs 2014-2020 von Bund und Kantonen an Oncosuisse delegiert. Grundlage dafür war damals ebenfalls eine Motion aus dem Parlament, welche eine Nationale Strategie gefordert hatte. Ähnliches gilt bei der Bekämpfung der Demenz: hier konnte das BAG eine Plattform aufbauen, welche den «Austausch der Akteur:innen» fördert und durch Forumsveranstaltungen dazu beitragen will, dass «Synergien genutzt werden». Koordiniert werden die Arbeiten der Plattform von einer Koordinationsstelle, die im BAG selbst angegliedert ist.

In der Motion «Nationaler Krebsplan» der ständerätlichen Gesundheitskommission wird nun gefordert, dass der Bund auch im Krebsbereich wieder zusammen mit den Kantonen und den Akteur:innen der Krebsversorgung einen nationalen Plan im Sinne eines «gemeinsamen Vorgehens» entwickelt und umsetzt. Bei einer Annahme der Motion «Nationaler Krebsplan» durch den Nationalrat würde das BAG somit den Auftrag erhalten, einen Nationalen Krebsplan zu erarbeiten bzw. erarbeiten zu lassen. Während das BAG im Bereich der Krebsregistrierung durch das im Jahr 2020 in Kraft tretende Krebsregistrierungsgesetz eine grosse Expertise aufgebaut hat, ist der Bund bei anderen krebsrelevanten Themen wie Früherkennung, Cancer Survivorship oder Forschung für die Umsetzung eines nationalen Krebsplans auf die Zusammenarbeit mit den Krebsorganisationen angewiesen. Ein Mandatsmodell mit Oncosuisse als Umsetzungspartner erscheint den Teilnehmenden als zielführende Lösung.

Jakob Passweg bekundete als Vizepräsident von Oncosuisse die Bereitschaft, die Federführung bei der Umsetzung eines Nationalen Krebsplans zu übernehmen. Vorgängig müssen jedoch die Zuständigkeiten und die Strukturfinanzierung zwischen Bund, Kantonen und Krebsorganisationen geklärt werden.

Fokussierte Themen

In der Diskussion über mögliche Inhalte eines Nationalen Krebsplans waren sich die Teilnehmenden einig, dass eine Fokussierung auf einige zentrale Themen notwendig ist, auch wenn damit dem Thema Krebs nicht in seiner ganzen Breite Rechnung getragen werden kann. Dafür gibt es zwei Hauptgründe:
► Erstens sind die vorgesehenen Ressourcen für die Umsetzung eines Nationalen Krebsplans bei den Krebsorganisationen wie auch bei Bund und Kantonen beschränkt und die Zusammenarbeit der Krebsorganisationen mit Bund und Kantonen müsste im Falle einer Annahme der Motion unter Berücksichtigung der rechtlichen Möglichkeiten erst noch (bzw. bezogen auf die NSK 2014-2020 wieder) aufgebaut werden.
► Zweitens sind verschiedene andere Initiativen im Gesundheitswesen im Gange, die wichtige Themen der Krebsversorgung krankheitsübergreifend aufgreifen, so z.B. Digisanté (Digitalisierung), die NCD-Strategie (Prävention nichtübertragbarer Krankheiten), die Plattform Palliative Care oder auch die Initiative «i14Y» des Bundes (Dateninteroperabilität). Die im Rahmen dieser Initiativen verfolgten Ziele sollen als komplemetär angesehen und nicht parallel auch noch onkologiespezifisch angegangen werden.

Unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen sollen nach Ansicht aller Beteiligten die Krebsorganisationen die thematischen Inhalte eines Nationalen Krebsplans definieren. Oncosuisse hat hier mit den Themenplattformen unter Einbindung der Akteur:innen der Krebsversorgung bereits grosse Vorarbeit geleistet und wird im Sommer 2024 im «Masterplan 2030» Vorschläge für thematische Schwerpunkte veröffentlichen (www.oncosuisse.ch).

Wirkungsmessung in der Umsetzung

Bei der Umsetzung der beschlossenen Massnahmen sollen die Fortschritte engmaschig gemessen und evaluiert werden, um die Wirksamkeit sicherzustellen und gegebenenfalls steuernd eingreifen zu können. Um gleichzeitig genügend Zeit für die Umsetzung der Maßnahmen zu haben, sollte die Laufzeit eines Nationalen Krebsplans nicht von vornherein knapp bemessen sein. Die Podiumsteilnehmenden waren sich einig, dass eine Laufzeit von mindestens 8 Jahren angestrebt werden sollte. Die Koordinierung im Bereich Krebs ist jedoch keine Aufgabe, die per se ein Verfallsdatum hat, sie muss auch nach Ablauf dieser Zeit weitergeführt werden. Dies sollte idealerweise auf einer zu schaffenden gesetzlichen Grundlage erfolgen.
Bei der Umsetzung eines Nationalen Krebsplans ist auch dem föderalistischen System der Schweiz Rechnung zu tragen. Die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung liegt bei den Kantonen. Eine pragmatische und effiziente Form der Zusammenarbeit zwischen Organisationen, Bund und Kantonen ist daher unerlässlich. Auf dem Podium wurde die Idee der «Regionalisierung» bei der Umsetzung von Massnahmen diskutiert. So könnten beispielsweise Projekte in einem ersten Schritt als Zusammenarbeit verschiedener Kantone realisiert werden. So könnten ressourcenschwächere Kantone von der Kraft ressourcenstärkerer Kantone profitieren, innovative Modelle einzelner Kantone/Regionen könnten adaptiert und auf andere übertragen werden. Ziel solcher Pilotprojekte muss aber letztlich immer eine gesamtschweizerische Lösung sein.

Der Wille zur Umsetzung eines Nationalen Krebsplans ist also allseits vorhanden, Fragen zu Rahmenbedingungen, Inhalten und Abläufen sind noch zu klären und als erster Schritt muss der Nationalrat – voraussichtlich in der Frühjahrssession – grünes Licht geben.
Drücken wir die Daumen!
Weitere Informationen bei Dr. Michael Röthlisberger, Geschäftsführer Oncosuisse: m.roethlisberger@oncosuisse.ch

Publizierter Bericht zu den Handlungsempfehlungen zum Thema «Forschung» im Krebsbereich

Als Resultat zum erfolgreich durchgeführten Netzwerkanlass vom 18. September 2023 mit rund 100 Repräsentant:innen von Krebsforschungs-Organisationen (wie KFS / SAKK), Gesundheitsbehörden, Bund, Krankenversicherungen, Patientenorganisationen, Krebsregister (kantonal und national), Universitäten, Industrie, forschende Ärzt:innen sowie Pflegende und Vertreter:innen von Public Health, publiziert Oncosuisse die von den Expert:innen erarbeiteten Handlungsempfehlungen zu «Forschung» im Krebsbereich. Die an diesen Workshops erarbeiteten Resultate und daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen wurden nun im Bericht «Handlungsempfehlungen für die Schweizer Krebsversorgung zum Thema «Forschung» festgehalten.

Inhaltlich wurden einerseits 4 übergeordnete Themen wie Forschungsfinanzierung, Daten als Forschungsgrundlage, Rechtliche Grundlagen und Wissenstransfer behandelt und unter den Akteur:innen diskutiert und andererseits fanden weitere Workshops zu spezifischen Krebsforschungsgebieten statt.

Bei den übergeordneten Themen im Bereich der rechtlichen Grundlagen zum Beispiel wurde einerseits aufgezeigt wie die verschiedenen Gesetze (das Humanforschungsgesetz oder das Datenschutzgesetz) Anwendung finden und andererseits wurde diskutiert wie diese gesetzlichen Regelungen für die Weiterverwendung von Daten zu Forschungszwecken angepasst und vereinfacht werden könnten.

Bei den spezifischen Krebsforschungs-Themen wurden des weiteren Fragestellungen, wie beispielsweise die klinische Krebsforschung gestärkt werden kann oder welches die besonderen Bedürfnisse der Kinderkrebsforschung sind diskutiert und nach Lösungen gesucht.
Im Bereich Supportive Care bei Krebs geht es um die Behandlung von körperlichen und psychischen Symptomen und Nebenwirkungen während der gesamten Krebserkrankung. Wo steht die Schweiz in Bezug auf Förderung und Implementierung von «patient-public involvement» (PPI)?
Der Workshop «Versorgungs- und Epidemiologische Forschung» setzte den Fokus auf die Notwendigkeit von guten Daten und beschäftigte sich mit der Frage wie unnötige Hürden bezüglich Datennutzung, Datenschutz und Datenverknüpfung abgebaut werden könnten.

Genaue Details aller wichtigen Themen der Krebsforschung erfahren Sie im gesamten Bericht «Forschung» – mit dem QR-Code oder via Link auf unsere Webseite. Alle publizierten Berichte sind einsehbar unter: www.oncosuisse.ch/berichte-themenplattformen/

Ausblick

Der Inhalt dieses Berichts wird zusammen mit den anderen Berichten der 3 weiteren Themenplattformen «Prävention und Früherkennung», «Daten und Register» sowie «Behandlung, Nachsorge und Qualität» in den Oncosuisse «Masterplan 2030» einfliessen, welcher aktuell in Bearbeitung ist und Ende Juni 2024 fertigerstellt sein sollte.
Weitere Informationen: info@oncosuisse.ch

Dr. sc. nat. Michael Röthlisberger

Co-Gesamtprojektleiter NSK
Nationale Strategie gegen Krebs
c/o Oncosuisse
Effingerstrasse 40
Postfach
3001 Bern

michael.roethlisberger@nsk-krebsstrategie.ch

Toxizitäten bei Therapie mit Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten

Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (Antibody Drug Conjugates, ADC) gewinnen bei der Therapie zahlreicher Krebserkrankungen zunehmend an Bedeutung. Die ADC verbinden die Spezifität von Antikörpern mit der Wirkung von Toxinen. Doch obschon ADC sehr gezielt in den Tumorzellen wirken, weist jedes einzelne ADC-Arzneimittel spezifische Toxizitäten auf, die in der Onkologie nicht häufig beschrieben sind. Dieser Artikel bietet einen Überblick über die Nebenwirkungen, insbesondere auch das dermatologische Nebenwirkungsprofil, und zeigt präventive und therapeutische Interventionsstrategien auf.

Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADC) haben aufgrund ihrer effektiven Wirkungsweise zu erheblichen Fortschritten in der Onkologie geführt. Zahlreiche ADC sind zugelassen und mehr als 100 befinden sich in der klinischen Entwicklung (1, 2). ADC bestehen aus drei Bestandteilen:
• Monoklonaler Antikörper, der gegen ein bestimmtes Tumorantigen gerichtet ist
• Zytostatikum (als Payload oder Warhead bezeichnet)
• Linker, der das Zytostatikum mit dem Antikörper verbindet

Die Antikörper der ADC sind als natürliche Bestandteile des Immunsystems in der Lage, Antigene zu erkennen und an diese zu binden. Antigene sind Strukturen, die sich auf der Oberfläche oder im Inneren einer Zelle befinden. An die Antikörper im ADC wird ein Zytostatikum gekoppelt. Ein ADC funktioniert wie ein trojanisches Pferd: Sobald der Antikörper an die Zielzelle angedockt hat, wird der ADC als Ganzes in die Zelle aufgenommen. Das Zytostatikum wird im Zellinneren vom Linker gelöst, und erst dann beginnt seine Wirkung. In manchen ADC werden Zellgifte verwendet, welche die Mikrotubuli-Polymerisation blockieren und dadurch den programmierten Zelltod einleiten. Die malignen Zellen lösen die zelltoxischen Prozesse über zelleigene, ADC-spaltende oder ADC-abbauende Enzyme selbst aus (Abb. 1).

ADC wirken sehr präzise, weil die Antikörper spezifisch gegen Antigene gerichtet sind, die auf den Krebszellen vorkommen. Zytostatika können so in definierte Tumorzellen eingeschleust werden. Gesunde Zellen ohne das spezifische Oberflächenantigen werden weitgehend geschont. So lassen sich systemische Auswirkungen des eingesetzten Zellgifts und damit verbundene Nebenwirkungsrisiken minimieren. Und dennoch, ganz nebenwirkungsfrei sind auch ADC nicht (Tab. 1).

Spezifische ADC-Toxizitäten

Die Nebenwirkungen von ADC können je nach spezifischem Konjugat und individueller Reaktion der Patientinnen und Patienten stark variieren. Augen, Lungen, Haut und Nervensystem sind besonders häufig betroffen. Die Inzidenz von Infusionsreaktionen variiert je nach Konjugat und kann zwischen 10% und 50% liegen; die Symptome umfassen Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Hautausschlag und Atembeschwerden. Im Allgemeinen berichten etwa 50% der Patientinnen und Patienten über Fatigue und Asthenie. Auch die Inzidenz hämatologischer und gastrointestinaler Toxizitäten variiert je nach Konjugat und Dosierung (10-40%).

Dermatologisches Nebenwirkungsprofil

Häufigkeit und Schwergrad der Reaktionen an Haut, Schleimhaut, Haaren und Nägeln können je nach spezifischem ADC und individueller Reaktion variieren. Toxizität an Haarfollikeln (Alopezie an Kopfhaut oder Follikulitis an anderen Lokalisationen), Nägeln (Brüchigkeit, Struktur- oder Pigmentveränderungen bis zur Onycholyse) und Mukosa (generalisierte Mukositis, insbesondere oral, genital und okulär) zeigen sich bei vielen ADC. So führt die Behandlung mit Belantamab mafodotin und Tisotumab vedotin sehr häufig zu Konjunktivitis, Keratitis sicca sowie verringertem und verschwommenem Sehen. Bei der Anwendung von Enfortumab vedotin als Monotherapie leiden etwa 55 % der Patientinnen und Patienten innerhalb des ersten Behandlungszyklus an dermatologischen Reaktionen (Abb. 2). Die häufigsten Manifestationen sind makulopapulöses Exanthem (44%) und Pruritus (33%). Von einem Schweregrad ≥3 sind etwa 14,5% der Patientinnen und Patienten betroffen; die Symptome sind makulopapulöses oder erythematöses Exanthem, symmetrisches intertriginöses und flexurales Exanthem, bullöse oder exfoliative Dermatitis und palmar-plantares Erythrodysästhesie-Syndrom (4). Alopezie zeigt sich bei >45% der Behandelten (5/6). Unter Belantamab mafodotin und Tisotumab vedotin zeigt sich insbesondere die okuläre und mukosale Toxizität (5).

Präventive Strategien und Empfehlungen zur Basispflege

Es ist wichtig, dermatologische Reaktionen möglichst früh zu erkennen. Daher sollen Patientinnen und Patienten ab Behandlungsbeginn und während dem gesamten Therapieverlauf engmaschig und regelmässig auf dermatologische Nebenwirkungen überwacht werden (5). Eine frühzeitige Erfassung von Veränderungen kann den Bedarf an Notfallinterventionen deutlich verringern, das Risiko für Dosisreduktionen oder Therapieabbrüche reduzieren und die Lebensqualität verbessern. Die Patientinnen und Patienten müssen informiert werden über mögliche Symptome, Basispflege-Interventionen und «Red Flags» für die Kontaktaufnahme mit dem Behandlungsteam (Tab. 2).

Allen Patientinnen und Patienten wird ab Behandlungsbeginn eine konsequente, alkohol- und parfümfreie, hydratisierende oder rückfettende Hautpflege dem Hautzustand entsprechend (Hydro- oder Lipolotionen) empfohlen. Unter Therapien mit Enfortumab vedotin wird zudem empfohlen, die intertriginösen Hautbereiche wie Achselhöhlen oder Leistengegend mit einer zinkhaltigen Feuchtigkeitscreme zu schützen. Die Belastung der Haut mit UV-Strahlung sollte während der ganzen Behandlung vermieden werden mittels Hautschutz durch lichtundurchlässige Kleidung und die Anwendung eines wirksamen Sonnenschutzproduktes (UVA-UVB-Breitbandfilter SPF 50). Ansonsten gelten die gleichen präventiven Interventionen wie bei anderen Onkologika-Therapien. Es werden milde, seifenfreie, möglichst pH-neutrale Waschlotionen oder Reinigungsöle empfohlen. Nach dem Baden oder Duschen sollte die Haut vorsichtig abgetrocknet werden, um Reizungen zu vermeiden (Tab. 3).

Da bei den ADC Belantamab mafodotin und Tisotumab vedotin eine okuläre Toxizität erwartet wird, empfiehlt man den Patientinnen und Patienten, ab Behandlungsbeginn mindestens 4x täglich konservierungsstofffreie Tränenersatzprodukte anzuwenden und auf das Tragen von Kontaktlinsen zu verzichten.

Die Broschüre der Onkologiepflege Schweiz zur Prävention von Veränderungen an Haut, Schleimhaut, Haaren und Nägeln bietet dazu eine gute Unterstützung (auf Deutsch, Französisch und Italienisch kostenlos zum Download verfügbar unter www.onkologiepflege.ch).

Therapeutische Interventionsstrategien

Die Behandlung ADC-assoziierter dermatologischer Reaktionen erfordert eine individuelle Herangehensweise, abhängig vom Schweregrad. Situativ kann eine Dosisreduktion oder Therapiepause erforderlich sein. Bei milden Hautreaktionen ist die Behandlung mit topischen Kortikosteroiden oder juckreizlindernden Dermatika in der Regel ausreichend, wobei die Empfehlungen zur Basispflege bis zu einem Schweregrad 2 fortgesetzt werden sollen. Bei schwerwiegenderen Reaktionen kann eine systemische Behandlung mit oralen oder intravenösen Steroiden indiziert sein, um die Entzündung zu kontrollieren. Antihistaminika und kühlende Dermatika können zur Symptomlinderung beitragen. Dabei ist die frühzeitige multiprofessionelle und multidisziplinäre Herangehensweise entscheidend, wie der Einbezug von Fachpersonen der Dermatologie ab einem Schweregrad 2 (Tab. 4).

Mukosale Toxizitäten und Veränderungen an den Haaren und Nägeln werden symptomatisch angegangen, wobei die gleichen Interventionen gelten wie bei anderen Onkologika-Therapien. Die Empfehlungen der Onkologiepflege Schweiz «Dermatologische Reaktionen unter medikamentöser Tumortherapie. Prävention und Interventionen» bietet dazu einen umfassenden Überblick.

Fazit

Werden Dermatotoxizitäten assoziiert mit ADC nicht frühzeitig und adäquat behandelt, können sie weitreichende Auswirkungen haben. Sie gefährden die Therapieadhärenz, die Durchführung der wirksamen Antitumortherapie, die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten und erhöhen die Behandlungskosten. Eine systematische, gemeinsame Herangehensweise innerhalb des interprofessionellen und interdisziplinären Behandlungsteams hat einen positiven Einfluss auf Betreuungsqualität, Patientenzufriedenheit und Kosteneffizienz und sollte daher zwingend angestrebt werden. Die Herausforderungen an das gesamte onkologische Behandlungsteam sind umfassend und bedingen eine sorgfältige Absprache untereinander und ein proaktives Vorgehen.

Erstpublikation in der Zeitschrift Onkologiepflege 2023/4

Cornelia Kern Fürer
Dipl. Pflegefachperson HF/BScN, MAS
HöFa I Onkologische Pflege
Pflegeexpertin Onkologie, Spital Grabs
Co-Leitung Weiterbildungen, Onkologiepflege Schweiz
Fachdozentin an diversen Bildungsinstitutionen
7000 Chur

1. Zhu Y, Liu K, Wang K, Zhu H. Treatment-related adverse events of antibody-drug conjugates in clinical trials: A systematic review and meta-analysis. Cancer. 2023 Jan 15;129(2):283-295. doi: 10.1002/cncr.34507. Epub 2022 Nov 21. PMID: 36408673; PMCID: PMC10099922.
2. Johns AC, Campbell MT. Toxicities From Antibody-Drug Conjugates. Cancer J. 2022 Nov-Dec 01;28(6):469-478. doi: 10.1097/PPO.0000000000000626. PMID: 36383910.
3. Donaghy H. Effects of antibody, drug and linker on the preclinical and clinical toxicities of antibody-drug conjugates. MAbs. 2016 May-Jun;8(4):659-71. doi: 10.1080/19420862.2016.1156829. Epub 2016 Apr 5. PMID: 27045800; PMCID: PMC4966843.
4. Seagen and Astellas Pharma US Inc. Padcev (enfortumab vedotinejfv) for injection [prescribing information]. 2021. Available at https://astellas.us/docs/PADCEV_label.pdf. Accessed July 13, 2021.
5. Lacouture ME, Patel AB, Rosenberg JE, et al. Management of dermatologic events associated with the nectin-4–directed antibody-drug conjugate enfortumab vedotin. Oncologist. 2022;27:e223–e232.
6. Powles T, Rosenberg JE, Sonpavde GP, et al. Enfortumab vedotin in previously treated advanced urothelial carcinoma. N Engl J Med. 2021;384:1125–1135
7. Gelbe Liste (2023) Antikörper Wirkstoff Konjugate. https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffgruppen/antikoerper-wirkstoff-konjugate

GLP-1-Rezeptoragonisten in der Behandlung der Adipositas

Die Verfügbarkeit von GLP-1-Rezeptor Agonisten ist aktuell weltweit eingeschränkt und nicht bedarfsdeckend. Da diese Medikamentengruppe eine besondere Rolle in der Therapie der Adipositas einnimmt, besteht derzeit die Frage, welche Patient/-innen prioritär Zugang zu diesen Medikamenten erhalten sollten. Die aktuellen Studien, SELECT und STEP-HFpEF, zur Anwendung von Semaglutid bei Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen respektive Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion können Hinweise auf eine medizinisch gerechtfertigte Priorisierung bieten. Andererseits korreliert der individuelle Leidensdruck und Wunsch nach Behandlung bei Personen mit Adipositas nicht immer mit den medizinischen Aspekten der Behandlungsindikation. Dies macht eine Priorisierung für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte im klinischen Alltag oft schwierig.

The availability of GLP-1 receptor agonists is currently limited worldwide and does not meet demand. As this group of drugs plays a special role in the treatment of obesity, the question currently arises as to which patients should be given priority access to these drugs. The current studies, SELECT and STEP-HFpEF, on the use of semaglutide in patients with pre-existing cardiovascular disease or heart failure with preserved ejection fraction may provide indications of medically justified prioritization. On the other hand, the individual level of suffering and desire for treatment in people with obesity does not always correlate with the medical aspects of the treatment indication. This often makes prioritization difficult for the treating physicians in everyday clinical practice.
Key Words: GLP-1 receptor agonists, obesity, limited availability

In den letzten Jahren stand uns der GLP-1-Rezeptoragonist Liraglutid unter dem Handelsnamen Saxenda® zur Behandlung der Adipositas sowie von Übergewicht bei zusätzlich bestehenden Komorbiditäten zur Verfügung. Im April 2020 wurde das Medikament in die Spezialitätenliste (SL) des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) aufgenommen und wurde nachfolgend breitflächig angewandt. Wie wir in einer kürzlich publizierten schweizweiten Beobachtungsstudie zeigen konnten, war die Therapie durchaus erfolgreich, jedoch der Einsatz und Erfolg durch die Limitationen der SL eingeschränkt (1).

Neu Wegovy® statt Saxenda®

Saxenda® wird in der Schweiz zukünftig nicht mehr zur Behandlung der Adipositas bei Erwachsenen zur Verfügung stehen, da die Herstellerfirma Novo Nordisk aktuell ein neues Medikament derselben Wirkstoffklasse namens Wegovy® (Wirkstoff: Semaglutid) mit der gleichen Behandlungsindikation auf den Markt gebracht hat, welches nun aufgrund limitierter Produktionskapazitäten priorisiert wird. Diese Entscheidung erscheint aus verschiedenen Gründen nachvollziehbar und medizinisch gerecht­fertigt. Erstens ist Semaglutid hinsichtlich der erwünschten Gewichtsreduktion deutlich effektiver als Liraglutid (2). Zweitens liegen zu Semaglutid nun erstmalig auch kardiovaskuläre Endpunktdaten zur Behandlung von Adipositas sowie Übergewicht mit metabolischen Komplikationen bei Personen ohne Typ 2 Diabetes mellitus vor (3, 4). Drittens muss Semaglutid im Gegensatz zu Liraglutid nicht täglich, sondern nur einmal pro Woche subkutan appliziert werden, was zu einem deutlich geringeren Verbrauch an Injektionspens führt und damit nicht nur unsere Umwelt entlastet, sondern auch die limitierten Kapazitäten der Penproduktion sinnvoller nutzt.

Indikation und Missbrauch von Semaglutid

Der Einsatz von Semaglutid in der Praxis ist nicht neu, da die Substanz unter dem Handelsnamen Ozempic® zur subkutanen Anwendung sowie Rybelsus® zur oralen Anwendung bereits seit einigen Jahren zur Behandlung des Typ 2 Diabetes zur Verfügung steht. Wie man den Medien in den letzten Monaten beinahe täglich entnehmen konnte, wurden diese für die Therapie des Typ 2 Diabetes mellitus zugelassenen Präparate auch im Rahmen von «off label»-Anwendungen bei Patienten und Patientinnen mit Übergewicht und Adipositas ohne Typ 2 Diabetes mellitus eingesetzt. Vor dem Hintergrund der vorliegenden wissenschaftlichen Datenlage sowie der Tatsache, dass Semaglutid schon seit Längerem zur Behandlung von Übergewicht und Adipositas zugelassen ist, war dieser off-label-Einsatz im Rahmen einer individuellen Abwägung in Einzelfällen medizinisch gerechtfertigt. Allerdings scheint es in grösserem Ausmass zu einem Missbrauch gekommen zu sein, indem medizinische Indikationen unzureichend berücksichtigt wurden und die Medikation Personen ohne Übergewicht oder Adipositas verordnet wurde, zum reinen Zweck der subjektiven Optimierung der Körperform. Diese Entwicklung hat dramatische negative Auswirkungen für Patient/-innen mit Typ 2 Diabetes, da zeitweilig eine adäquate Versorgung mit Semaglutid aufgrund Nichtverfügbarkeit faktisch nicht möglich war und ist. Wichtig ist zu betonen, dass sowohl Menschen mit Typ 2 Diabetes mellitus wie auch Menschen mit Adipositas oder Übergewicht mit assoziierten Folgeerkrankungen ohne Typ 2 Diabetes eine klare Indikation für eine spezifische medikamentöse Therapie haben, da alle der genannten Erkrankungen mit einer stark erhöhten Mortalität einhergehen. Die eingeschränkte Verfügbarkeit der Medikamente darf unter keinen Umständen dazu führen, dass einzelne Patienten-Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Um in Zukunft eine ausreichende Versorgung für alle Patienten-Gruppen zu garantieren, ist es essentiell, die verfügbaren Präparate nur streng innerhalb der gegebenen Indikationen zu verordnen.

Welche Medikamente für Typ 2 Diabetes mellitus, welche Medikamente für Adipositas?

Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die mit zahlreichen Folgeerkrankungen sowie einer starken Einschränkung der Lebenserwartung und -qualität einhergeht. Menschen mit Adipositas haben daher ebenso einen Anspruch auf eine adäquate, evidenzbasierte Behandlung wie Menschen mit Typ 2 Diabetes. Zudem sollte es unser ärztlicher Anspruch sein, betroffene Menschen ganzheitlich und nicht auf einzelne Erkrankungen reduzierend, zu behandeln. So erscheint es uns aktuell medizinisch-ethisch schwer erträglich, dass wir bei einzelnen Personen aus Gründen der regulatorischen Gegebenheiten hinsichtlich Kostenübernahme formal entweder auf eine Behandlung des Typ 2 Diabetes mellitus oder der Adipositas fokussieren müssen, wobei beide Erkrankungen nicht selten die gleiche Person betreffen. Als sinnvolles Hilfsmittel für die Praxis möchten wir hier dennoch einen Überblick geben, welche Wirkstoffe, in welcher Dosierung und unter welchem Namen zur Therapie des Typ 2 Diabetes und welche zur Therapie der Adipositas respektive von Übergewicht mit Begleiterkrankungen zugelassen sind. Da der Bi-Agonist Tirzepatid (Mounjaro®), welcher nicht nur den GLP-1-Rezeptor, sondern auch den GIP-Rezeptor stimuliert, in naher Zukunft wahrscheinlich ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Behandlung aller genannter Erkrankungen spielen wird, haben wir diesen ebenfalls in Tabelle 1 aufgelistet. Für Einzelheiten zur Zulassung sowie zur Kostenerstattung verweisen wir auf die entsprechenden Veröffentlichungen der Swissmedic (5) respektive der Spezialitätenliste (6) des BAG.

Semaglutid – weiterhin knapp und kontingentiert

Gemäss Angaben der Herstellerfirma Novo Nordisk wird Semaglutid in der subkutanen Applikationsform weiterhin nur in begrenzter Menge verfügbar sein. Dies soll zwar durch aktuell getätigte, massive Investitionen in den Ausbau neuer Produktionskapazitäten zukünftig gebessert werden, jedoch wird es noch mehrere Jahre dauern, bis eine bedarfsdeckende Versorgung gesichert ist. Dies bedeutet, dass uns die entsprechenden Medikamente auch weiterhin nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen und wir entsprechend priorisieren müssen. Konkret bedeutet dies, dass wir in den nächsten Jahren täglich werden entscheiden müssen, welche Patient/-innen wir prioritär mit den verfügbaren Medikamenten behandeln und welche wir trotz Behandlungswunsch und bestehender medizinischer Indikation warten lassen müssen. Dies ist eine besondere Herausforderung, welche wir bislang wenig bis gar nicht in der Schweiz kannten.

Herausforderung der Priorisierung

Bei der Adipositas handelt es sich um eine chronische Erkrankung. Unterbrüche der medikamentösen Therapie führen zu einem Wiederanstieg des Körpergewichts (2), was für die betroffenen Personen zum einen eine starke emotionale Belastung darstellt, zum anderen auch somatisch erhebliche negative Konsequenzen haben kann. Ein Wiederanstieg des Körpergewichts verstärkt zudem die eigene Schuldzuweisung, auch «self blaming» genannt, sowie die internalisierte Stigmatisierung, was wesentlich zur Pathologie der Adipositas beiträgt. Für uns hat daher oberste Priorität, bestehende Behandlungen fortführen zu können. Entsprechend stellen wir primär Patientinnen und Patienten, welche bislang mit Saxenda® oder aus medizinischen Gründen im «off label»-Einsatz mit Semaglutid behandelt wurden, auf Wegovy® um. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die Fortführung der Therapie aufgrund der bislang zeitlich begrenzten Kostenübernahme leider nicht zuletzt von den finanziellen Ressourcen der betroffenen Personen abhängt, da entsprechende Therapien im Langzeitverlauf selbst finanziert werden müssen. Dies im Gegensatz zu anderen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck oder Krebsleiden. Da es sich auch bei Übergewicht und Adipositas um unverschuldete, poly­genetisch determinierte, neurobiologische Erkrankungen handelt (7), ist dies ein inakzeptabler Zustand, der dringend korrigiert werden muss.

Wir gehen davon aus, dass sich die zukünftige Verfügbarkeit von Semaglutid schrittweise verbessern wird, sodass immer mehr neue Patient/-innen auf die Therapie eingestellt werden können. Bereits jetzt bestehen in den qualifizierten Zentren lange Wartelisten von behandlungswilligen Personen mit klarer medizinischer Indikation. Spätestens beim «Abarbeiten» dieser Liste wird die Frage nach der Priorisierung imminent. Um das Dilemma im klinischen Alltag greifbar aufzuzeigen, haben wir zwei Fallvignetten zusammengestellt, wie sie uns in der täglichen Praxis oft begegnen (Tab. 2). Wen würden Sie zuerst behandeln? Die Patientin, die einen extrem hohen Leidensdruck aufweist und die sich unbedingt eine Behandlung wünscht? Oder eher den Patienten, der eigentlich keine Behandlung wünscht, und der sogar zu einer Behandlung «überredet» werden muss?

Kardiovaskuläre Endpunktstudien

Um klinisch gute Entscheidungen treffen zu können, ist es wichtig, wenn auch nicht immer ausreichend, die wissenschaftliche Datenlage zu kennen. Besonders relevant im Kontext der Priorisierung des Einsatzes von Semaglutid ist die jüngst veröffentlichte SELECT Studie (3). In dieser Studie wurden Personen mit einem BMI von mindestens 27 kg/m2 und vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung (stattgehabter Herzinfarkt, stattgehabter Schlaganfall oder periphere Arterielle Verschlusskrankheit) eingeschlossen. Insgesamt wurden 17‘604 Personen 1:1 entweder auf Placebo oder 2,4 mg Semaglutid 1 x pro Woche s.c. randomisiert. Als kombinierter primärer Endpunkt wurde der kardiovaskuläre Tod, der nicht tödliche Myokardinfarkt oder der nicht tödliche Schlaganfall (3-Punkt MACE) festgelegt. Die Studie wurde nach einer mittleren Behandlungsdauer von knapp 40 Monaten abgeschlossen, nachdem eine vordefinierte Anzahl (1‘225) von primären Endpunkt-Ereignissen eingetreten war. Als Ergebnis zeigte sich, dass das Auftreten des primären Endpunkts durch die Behandlung mit Semaglutid gegenüber der Plazebobehandlung um 20% reduziert werden konnte (Plazebo vs. Semaglutide: 8.0% vs. 6.5%, hazard ratio, 0.80; 95% Konfidenz-Interval, 0.72 – 0.90; P<0.001). Die absolute Risikoreduktion betrug demnach 1,5%, sodass etwa 67 Personen mit entsprechender klinischer Charakteristik über 40 Monate mit Semaglutid behandelt werden müssten, um einen der primären Endpunkte zu verhindern.

Eine weitere Studie erscheint im Kontext der Priorisierung als ebenfalls relevant. Es handelt sich dabei um die STEP-HFpEF Studie, welche Personen mit einem BMI von mindestens 30 kg/m2 sowie einer Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion (EF>45%, NYHA II-IV) einschloss (4). Dabei wurden 529 Personen 1:1 entweder auf 2,4 mg Semaglutid pro Woche oder Placebo randomisiert und über einen Zeitraum von 52 Monaten behandelt. Neben den Effekten auf das Körpergewicht wurde die Verbesserung der Symptomatologie und der körperlichen Funktionen als primärer Endpunkt definiert. Als Ergebnis zeigte sich, dass es bereits nach 20 Wochen unter der Semaglutid Behandlung zu einer deutlich stärkeren Verbesserung der Herzinsuffizienzsymptomatik kam im Vergleich zur Placebo-Behandlung und der Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen mit der Behandlungsdauer weiter zunahm. In einem durchgeführten 6-Minuten-Gehtest verlängerte sich die Gehstrecke unter Semaglutid um 21,5 Meter, während sie sich im gleichen Zeitraum unter der Placebo-Behandlung nur um 1,2 Meter verbesserte (Differenz 20,3 m; 95%-Konfidenzintervall, 8.6 – 32.1; P<0.001).

Wer sollte nun prioritär behandelt werden?

Zurück zu unseren beiden Fällen: die Entscheidung, wer bevorzugt mit Semaglutid behandelt werden sollte, ist nicht einfach. Die meisten von uns werden wahrscheinlich geneigt sein, die Patientin (Fall 1) mit hohem Leidensdruck und ausgeprägtem Behandlungswunsch zuerst zu behandeln. Allerdings hat diese Patientin eine klare Indikation für eine bariatrische Operation, für die sie sich aufgrund der ausgeprägten Adipositas und der langjährigen Gewichtsreduktionsversuche qualifiziert (8, 9). In diesem Kontext soll einmal mehr auf die eindrücklichen, lebensverlängernden Effekte von bariatrischen Eingriffen verwiesen werden (10). Evidenzbasiert, auf Basis der publizierten Endpunktdaten, ist zudem klar der Patient (Fall 2) bevorzugt mit Semaglutid zu behandeln. Auch aus gesundheitsökonomischer Sicht könnte dies wahrscheinlich Sinn machen, bedenkt man, dass bei Patient 2 die Chance besteht, ein weiteres schwerwiegendes kardiovaskuläres Ereignis innerhalb der nächsten Jahre zu verhindern und damit entsprechende Behandlungskosten einzusparen. Bei einer solchen medizinischen, eher theoretischen Betrachtungen, geht jedoch oft die Perspektive der Patient/-innen verloren, welche in der Entscheidungsfindung ebenso einbezogen werden sollten. Letztlich wird es bei der Beantwortung der Priorisierungsfrage kein prinzipielles Richtig oder Falsch geben, da jeder Fall einer individuellen Betrachtung bedarf. Regulatorische Leitlinien, welche aktuell in Erarbeitung durch die entsprechenden Schweizer Fachgesellschaften sind, können in dieser Situation hoffentlich helfen, einzelnen Entscheidungsträger/-innen in Bezug auf die Priorisierung eine praktische Stütze und eine gewisse Entlastung in Bezug auf die Verantwortung der Entscheidungsfindung zu bieten.

Wie wird die Zukunft aussehen?

Es darf davon ausgegangen werden, dass die Knappheit und die Lieferengpässe von Semaglutid mit der Zeit überwunden werden. Zudem wird es eine ganze Reihe an neuen Präparaten mit ähnlicher Wirkung geben, welche die Auswahl und Verfügbarkeit an Medikamenten zur pharmakologischen Adipositastherapie zusätzlich verbessern werden. Neben dem bereits erwähnten Tirzepatid werden Substanzen, welche ebenfalls auf einer GLP-1-Rezeptoragonistischen Wirkung und teils zusätzlichen weiteren Wirkmechanismen basieren, aktuell in Phase 2 und Phase 3 Studienprogrammen untersucht (11, 12). Auch wenn die Ergebnisse dieser Studien abgewartet werden müssen, besteht bereits jetzt grosse Hoffnung, dass sich die Palette an Therapieoptionen zur pharmakologischen Behandlung der Adipositas in Zukunft stetig erweitern wird. Erwähnenswert ist, dass dabei neben neuen Peptid-basierten Substanzen auch sogenannte «small molecules» untersucht werden, welche durch ihre orale Einahme möglicherweise zu deutlich geringeren Kosten führen (13). Bedenkt man die grosse Anzahl an Menschen, welche von einer entsprechenden Behandlung profitieren könnten, verdeutlicht dies die hohe Relevanz des Kostenaspekts, da es letztlich um die Finanzierbarkeit einer Dauerbehandlung für einen grossen Teil der Bevölkerung geht. Dabei ist die hohe sozioökonomische Belastung der Gesellschaft durch die zahlreichen, extrem kostenintensiven Folgeerkrankungen von Adipositas, die durch die neuen Medikamente verhindert werden können, einzubeziehen. Die aktuell in vielen Fällen erlebbare Abhängigkeit einer effektiven medikamentösen Adipositastherapie von den individuellen finanziellen Möglichkeiten und Ressourcen der betroffenen Menschen kann aus ärztlicher wie aus gesellschaftlicher Sicht nicht hingenommen werden, da sie nicht unserem Anspruch einer sozial gerechten Gesellschaft entspricht.

Schlussfolgerung

Die begrenzte Verfügbarkeit von Adipositasmedikamenten im Generellen und von Semaglutid im Speziellen stellt uns aktuell vor grosse Herausforderungen, welche eine ungewohnte Priorisierung notwendig machen. Auch wenn die mangelnde Verfügbarkeit in wenigen Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden sein wird, lassen die begrenzten finanziellen Ressourcen des Gesundheitssystems befürchten, dass auch zukünftig Priorisierungen in Hinblick auf bestimmte medizinische Behandlungen notwendig werden. Vor diesem Hintergrund können die Erfahrungen, welche wir aktuell in der Adipositasmedizin gewinnen, auch für zukünftige medizinische und gesundheitsökonomische Entscheidungsprozesse wertvoll sein.

Die aktuellen SMOB-Empfehlungen zur Priorisierung der Therapie mit 2.4 mg Semaglutid bei Patienten mit kompliziertem Übergewicht oder Adipositas können Sie hier downloaden.

Prof. Dr. med. Gottfried Rudofsky

Praxis für Endokrinologie, Diabetes & Adipositas
Baslerstrasse 30
4600 Olten

endokrinologie-olten@hin.ch

Prof. Dr. med. Katharina Timper

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus
Universitätsspital Basel
Petersgraben/Spitalstrasse 21
4031 Basel

Bernd Schultes: Vortragshonorare und Beratungs­honorare von Novo Nordisk und Eli Lilly, sowie finanzielle Forschungsunter­stützung durch Novo Nordisk. Gottfried Rudofsky: Vortragshonorare und Beratungshonorare von Novo Nordisk und Eli Lilly. Katharina Timper: Vortragshonorare und Beratungshonorare von Novo Nordisk, Eli Lilly, und Boehringer-Ingelheim, sowie finanzielle Forschungsunterstützung durch Novartis und Novo Nordisk.

1. Schultes B, Timper K, Cavadini G, Rüh J, Gerber PA. Weight loss and treatment patterns in a real-world population of adults receiving liraglutide 3.0 mg for weight management in routine clinical practice in Switzerland (ADDRESS study). Diabetes Obes Metab. 2023 Dec 13;
2. Schultes B, Ernst B, Rudofsky G. Medikamentöse Adipositastherapie – endlich Licht, jedoch auch Schatten. der informierte Arzt. 2023;(03):10–5.
3. Lincoff AM, Brown-Frandsen K, Colhoun HM, Deanfield J, Emerson SS, Esbjerg S, et al. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Obesity without Diabetes. N Engl J Med. 2023 Dec 14;389(24):2221–32.
4. Kosiborod MN, Abildstrøm SZ, Borlaug BA, Butler J, Rasmussen S, Davies M, et al. Semaglutide in Patients with Heart Failure with Preserved Ejection Fraction and Obesity. N Engl J Med. 2023 Sep 21;389(12):1069–84.
5. Swissmedic 2019 © Copyright. Swissmedic [Internet]. [cited 2023 Dec 19]. Available from: https://www.swissmedic.ch/swissmedic/de/home.html
6. Spezialitätenliste (SL) – Übersicht [Internet]. [cited 2023 Dec 19]. Available from: https://www.xn--spezialittenliste-yqb.ch/
7. Schultes B, Ernst B, Hallschmid M, Bueter M, Meyhöfer SM. The “Behavioral Balance Model”: A new perspective on the aetiology and therapy of obesity. Diabetes Obes Metab. 2023 Dec;25(12):3444–52.
8. Aeby G, Schultes B, Bueter M. Chirurgische Behandlung der Adipositas – Teil 1: Richtlinien der Swiss Society for the Study of morbid obesity and metabolic disorders (SMOB). der informierte Arzt. 2023;(05):41–4.
9. Aeby G, Schultes B, Ernst B, Bueter M. Chirurgische Behandlung der Adipositas – Teil 3: Kompikationen und Ergebnisse der bariatrisch-metabolischen Chirurgie. der informierte Arzt. 2023;(11):28–31.
10. Syn NL, Cummings DE, Wang LZ, Lin DJ, Zhao JJ, Loh M, et al. Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174 772 participants. Lancet. 2021 May 15;397(10287):1830–41.
11. Frias JP, Deenadayalan S, Erichsen L, Knop FK, Lingvay I, Macura S, et al. Efficacy and safety of co-administered once-weekly cagrilintide 2·4 mg with once-weekly semaglutide 2·4 mg in type 2 diabetes: a multicentre, randomised, double-blind, active-controlled, phase 2 trial. Lancet. 2023 Aug 26;402(10403):720–30.
12. Jastreboff AM, Kaplan LM, Frías JP, Wu Q, Du Y, Gurbuz S, et al. Triple-Hormone-Receptor Agonist Retatrutide for Obesity – A Phase 2 Trial. N Engl J Med. 2023 Aug 10;389(6):514–26.
13. Wharton S, Blevins T, Connery L, Rosenstock J, Raha S, Liu R, et al. Daily Oral GLP-1 Receptor Agonist Orforglipron for Adults with Obesity. N Engl J Med. 2023 Sep 7;389(10):877–88.