Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) hat bereits heute zu bedeutenden Veränderungen in der kardiovaskulären Medizin geführt und wird in Zukunft eine grundlegende Transformation in diesem Bereich bewirken. Bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren begann der Einsatz von KI, zunächst durch einfache Algorithmen für die Datenanalyse, gefolgt von fortschrittlicheren Methoden wie maschinellem Lernen und Mustererkennung vor allem im Bereich der Diagnostik.
Diese ersten Ansätze fokussierten sich hauptsächlich auf die Analyse von EKG-Daten und Bildgebung. Diese frühen KI-Systeme waren zwar relativ einfach im Vergleich zu den heutigen fortschrittlichen Technologien, legten jedoch den Grundstein für die weiterführende Entwicklung und Integration von KI in der kardiovaskulären Medizin. Viele fragen sich vielleicht: Warum steht KI gerade heute so im Fokus, und warum ist gerade jetzt der Zeitpunkt günstig für die umfassende Integration von KI-Algorithmen in die klinische Praxis von Herz-Gefäss-Patienten? Zum einen erleben wir das erste Mal eine enorme Zunahme der Rechenleistung, die sich weiter exponentiell entwickelt. Zum anderen führt dies in Kombination mit verbesserten Algorithmen, der grossen Verfügbarkeit von Daten (Open Source) und Investitionen grosser Technologieunternehmen und Kapitalisierung von Start-Ups dazu, dass genau der jetzige Zeitpunkt ideal ist, um tiefgreifende Neuerungen in Diagnostik, Risikostratifizierung und Therapie mittels KI-Assistenz in der kardiovaskulären Medizin voranzutreiben.
Während sich Kardiologen:innen früher vorwiegend auf manuelle Auswertungen von Herztests wie Langzeit- EKGs oder Echokardiographiebilder MRI- (Magnetresonanztomographie) und CT-Bilder (Computertomographie) des Herzens stützten, setzen sie heutzutage vermehrt auf fortschrittliche KI-Technologien, die nicht nur die Genauigkeit der Diagnosen erhöhen, sondern auch die Patientenversorgung deutlich effizienter gestalten. Die Rolle der KI beschränkt sich nicht nur auf die Diagnostik, sondern erstreckt sich auch auf die Entwicklung personalisierter Medizin. Durch die Analyse einer breiten Palette von Patientendaten, einschliesslich demografischer Informationen, Lebensstil, Ko-Morbiditäten, genetischen Daten sowie seriellen Daten wie Laborwerten, Bilddaten und klinischem Verlauf, ermöglicht die KI-basierte personalisierte Medizin Ärzten, individuell angepasste Therapiepläne zu entwickeln. Die Entwicklung wird noch weitergehen und geht in Richtung noch fortgeschrittenerer diagnostischer Tools, die komplexe KI-Modelle nutzen, um selbst subtile Veränderungen in EKGs oder der Bildgebung zu identifizieren, die für das menschliche Auge nicht sichtbar sind. Ebenso könnte die Nutzung von KI in tragbaren Geräten und in der Telemedizin weiter zunehmen, was eine kontinuierliche Überwachung und präventive Gesundheitsversorgung für Patienten mit Herzerkrankungen ermöglicht.
Ein weiterer zukünftiger Schwerpunkt liegt in der Forschung, wo KI die Auswertung komplexer biologischer und klinischer Daten unterstützt, um neue Substanzen für Medikamente rasch zu entwickeln und in simulierten Modellen zu testen. Hier hört man oft den Begriff «Digitaler Zwilling» (auf English Digital Twin). Ein Digitaler Zwilling ist ein virtuelles Modell eines realen Systems oder Prozesses, das in der Arzneimittelforschung Medikamentenwirkungen virtuell simulieren kann. So können Forscher schneller erkennen, wie ein neues Medikament wirkt, ohne reale Tests durchführen zu müssen. Zum Beispiel kann ein Digitaler Zwilling eines Organs genutzt werden, um zu testen, wie ein Medikament spezifisch auf das eine oder andere System im Körper reagiert. Das spart Zeit und Kosten, da weniger echte Versuche nötig sind, und es hilft dabei, personalisierte Medikamente zu entwickeln mit einem besseren Wirkung-Verträglichkeitsprofil.
Trotz all dieser Fortschritte bleibt die Notwendigkeit einer ethischen Betrachtung und Sicherstellung der Datensicherheit ein zentrales Thema. Zudem müssen Ausbildungsprogramme für medizinisches Fachpersonal kontinuierlich angepasst werden, um die effektive Nutzung und das Verständnis von KI-Technologien zu gewährleisten. Insgesamt steht die Herz-Gefässmedizin am Anfang einer revolutionären Transformation durch KI, die das Potenzial hat, die Behandlung von Herz-Gefässkrankheiten grundlegend zu verändern und zu verbessern.
In unserer fortlaufenden Reihe werden wir uns intensiv mit dem Einsatz von KI in den verschiedenen Bereichen der Herz-Gefässmedizin auseinandersetzen und dabei eine Reihe von Instrumenten und Technologien genauer unter die Lupe nehmen. Wir planen einen tiefgehenden Einblick in die vielfältigen Anwendungen von KI, angefangen bei der Segmentierung von Bilddaten bis zur Diagnose, Risikostratifizierung und Behandlung. Unser Fokus liegt darauf, die verschiedenen Instrumente und Techniken, die im KI-Kontext zum Einsatz kommen, detailliert zu beleuchten. Ziel ist es, zu verstehen, wie sich deren Auswirkungen auf den Alltag der behandelnden Ärztinnen und Ärzte auswirken und welche neuen Möglichkeiten sich dadurch für die Zukunft eröffnen.
Prof. Dr. Dr. med. Christoph Gräni, Bern
(Dieser Text wurde mit der Unterstützung von ChatGPT 4.0 erstellt.)
Adipositas als neues Therapieziel in der Sekundärprävention
Semaglutid senkt kardiovaskuläre Ereignisse bei Adipositas auch ohne Diabetes (SELECT Trial)
Obwohl die Adipositas traditionell nicht zum engsten Kreis der kardiovaskulären Risikofaktoren zählt, sind die indirekten kardiovaskulären Risiken durch Übergewicht bestens bekannt. Entsprechend ist die Idee, Übergewicht zu behandeln, um kardiovaskuläre Komplikationen zu reduzieren, nicht neu. Bereits vor 10 Jahren zeigte die bei Diabetikern durchgeführte «Look AHEAD» Studie (1) eine eindrückliche Gewichtsreduktion (-8%) durch Lebensstilmassnahmen innerhalb der ersten 12 Monate. Da die Mehrheit der Studienteilnehmer die Lebensstilmassnahmen nicht langfristig aufrechterhalten konnte, kam es allerdings im Verlauf zu einer kontinuierlichen Gewichtszunahme in der Interventionsgruppe, sodass der Gewichtsunterschied zur Kontrollgruppe nach 10 Jahren lediglich noch 2.5% betrug und keine Unterschiede bezüglich kardiovaskulärer Ereignisse aufgezeigt werden konnten. Die nun im New England Journal of Medicine publizierte SELECT Studie (2) darf deshalb als bahnbrechend bezeichnet werden, da in SELECT zum ersten Mal bewiesen werden konnte, dass eine durch pharmakologische Therapie unterstütze nachhaltige Gewichtsreduktion bei Übergewichtigen und Adipösen ohne Diabetes zu einer Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen (Myokardinfarkt, Hirnschlag und kardiovaskulärer Tod) führt. SELECT untersuchte, ob der GLP-1 Rezeptor Agonist Semaglutid bei Patienten mit Übergewicht oder Adipositas (BMI ≥27 kg/m2), aber ohne Diabetes, vor kardiovaskulären Ereignissen schützt. Insgesamt wurden 17’604 Patienten mit vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankungen (vorheriger Herzinfarkt, vorheriger Schlaganfall oder periphere Arterienerkrankung) entweder zu Semaglutid 2.4mg s.c. / Woche oder Plazebo randomisiert. Die durchschnittliche Expositionszeit gegenüber Semaglutid oder Placebo betrug 34,2 ± 13,7 Monate; die durchschnittliche Nachbeobachtungsdauer betrug 39,8 ± 9,4 Monate. Der kombinierte primäre Endpunkt (3-Punkte MACE bestehend aus Myokardinfarkt, Hirnschlag und kardiovaskuläre Mortalität) trat bei 6,5% der Patienten in der Semaglutid-Gruppe im Vergleich zu 8,0% der Patienten in der Placebo-Gruppe auf (Hazard Ratio [HR] = 0,80; 95% CI, 0,72 bis 0,90; P < 0,001). Die Interventionsgruppe wies eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von 8.5% gegenüber der Kontrollgruppe auf. Bemerkenswert ist der früh einsetzende Therapievorteil unter Semaglutid, lange bevor der maximale Gewichtsverlust erreicht wurde. Dies lässt Spekulationen offen, ob hier auch direkte gefässschützende Effekte von Semaglutid eine Rolle spielen. Der SELECT Trial hat die Adipositas als pharmakologisches Therapieziel in der kardiovaskulären Sekundärprävention zweifellos etabliert. Im Wissen um den Rebound-Effekt nach Absetzen von GLP-1 Agonisten muss man von einer dauerhaften Therapie ausgehen, um die Adipositas langfristig im Zaum zu halten. Das kann für die Betroffenen teuer werden, da die Therapiekosten für GLP1-Agonisten in der CH bei nicht Diabetikern in aller Regel nicht von den Krankenkassen übernommen werden.
Prof. Otmar Pfister
1. Look AHEAD Study Group, New Engl J Med 2013 2. Lincoff AM et al. New Engl J Med 2023
Rehabilitation der Ergometrie als Ischämietest?
Zum Nachweis oder Ausschluss einer obstruktiven koronaren Herzkrankheit ist die Ergometrie nicht perfekt. Ein Schwachpunkt der Ergometrie sind die falsch positiven Befunde, insbesondere bei Frauen. Eine englische Forschungsgruppe hat nun untersucht, ob diese falsch positiven Befunde wirklich falsch sind oder ob sie eine Ischämie aufgrund einer mikrovaskulären Krankheit anzeigen (1). 102 Patienten mit pektanginösen Beschwerden (65% Frauen, mittleres Alter 60 Jahre) mit erhaltener LV-Auswurffraktion ohne Koronarstenosen wurden invasiv mittels aufwändiger physiologischen Messungen abgeklärt bezüglich mikrovaskulärer Dysfunktion. Im Anschluss daran wurde eine Ergometrie durchgeführt.
32 Patienten entwickelten eine Ischämie im EKG (horizontale oder deszendierende ST-Senkung ≥1 mV). Bei 70 Patienten fanden sich keine Ischämiezeichen im Belastungs-EKG. Patienten mit Ischämiezeichen hatten vor dem Test häufiger typische Angina pectoris, verglichen mit den Patienten ohne Ischämie (91% vs. 73% P<0.05). Während der Belastung verspürten in beiden Gruppen gleich viele Patienten Angina pectoris. Bei den Patienten mit Ischämiezeichen im EKG war bei allen in der invasiven physiologischen Abklärung eine mikrovaskuläre Dysfunktion festgestellt worden, während dies nur bei 66% der Patientinnen ohne Ischämiezeichen im EKG der Fall war. Die Studie zeigt erstens, dass eine ST-Senkung bei Patienten ohne Koronarstenose in der Tat eine Ischämie anzeigt, nämlich eine Ischämie bedingt ist durch die mikrovaskuläre Dysfunktion und zweitens, dass das Auftreten von Angina in der Ergometrie nicht ein zuverlässiger Indikator für eine Ischämie ist. Zu beachten ist aber auch, dass eine mikrovaskuläre Dysfunktion bei normalem Belastungs-EKG nicht ausgeschlossen ist.
Prof. Franz Eberli
1. Sinha A et al. Rethinking false positive exercise electrocardiographicstress tests by assessing coronary microvascular function JACC 2024;83(2):291-299.
Aneurysma der Aorta ascendens: Wann operieren?
Bei sporadisch auftretenden Aneurysmen der Aorta ascendens empfehlen die Richtlinien eine operative Behandlung bei einer Grösse >5,5 cm und bei Vorliegen von bikuspiden Klappen, positiver Familienanamnese oder Bindegewebserkrankungen bei einer Grösse > 5 cm. Die Indikation für eine operative Behandlung besteht auch bei einem Grössenwachstum von 5 mm/Jahr. Die Daten für diese Empfehlungen sind nicht sehr robust und beruhen weitgehend auf der Datenbank für thorakale Aortenaneurysmen der Yale Universität.
Kürzlich hat dieselbe Forschungsgruppe die Resultate der 30-jährigen Beobachtung für den natürlichen Verlauf bei nicht-operierten Aneurysmen der Aorta ascendens veröffentlicht. Bei 964 Patienten wurde die Grössenzunahme des Aneurysmas, der Einfluss von Risikofaktoren und schliesslich die Ereignisrate über 7,9 Jahre (maximal 34 Jahre) untersucht. Bis zu einer Grösse von 3,5-4,9 cm waren die jährlichen Ereignisse gering (0,2-0,3%/Jahr). Ab einer Grösse von 5.0 cm stieg aber die Ereignisrate für eine Dissektion, Ruptur oder Tod steil an und betrug 1,4%/Jahr, bei einer Grösse von >5.5 cm schon 2.0%/Jahr und bei >6 cm gar 3,5%/Jahr. Bei einer Grösse des Aneurysmas von 4,5-4,9 cm kam es bei 2% der Patienten im Verlauf der 7,9 Jahre zu einer Dissektion, bei einer Grösse von 5,0-5,4 cm bei 11,3%! Die jährliche Grössenzunahme der Aneurysmen betrug im Mittel 1 mm mit einer Spannweite von 0,6 bis 1,8 mm. Risikofaktoren für eine Dissektion/Ruptur waren die Dimension des Aneurysmas und zunehmendes Alter. Klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren hatten keinen Einfluss auf den Verlauf.
Die Autoren und das begleitende Editorial stellen gleich zwei Empfehlungen der Guidelines in Frage. Erstens scheint es sinnvoll, die Grenze für eine operative Sanierung der Aneurysmen der Aorta ascendens von 5,5 cm auf 5 cm zu senken. Zweitens tritt eine schnelle Grössenzunahme (>5 mm/Jahr) des Aneurysmas sehr selten auf und dieses Kriterium ist damit klinisch nicht hilfreich. Die neuen amerikanischen Guidelines empfehlen eine Evaluation zur operativen Sanierung bei Aneurysmen >5 cm, aber nur wenn ein tiefes Operationsrisiko besteht und das operative Team gute Resultate vorlegen kann. Die europäischen Guidelines werden zurzeit überarbeitet. Fast sicher wird die Interventionsschwelle von 5,5 cm verschoben oder zumindest differenziert diskutiert werden.
Prof. Franz Eberli
1. Erbel R et al., 2014 ESC Guidelines. Eur Heart J 2014;35:2873-2926 2. Isselbacher EM et al., 2022 ACC/AHA Guideline J Am Coll Cardiol 2022;80:e223-e393. 3. Wu J, et al. Fate of the unoperated ascending thoracic aortic aneurysm: three-decade experience form the Aortic Institute at Yale University. Eur Heart J 2023; 44:4579-4588 4. Hultgren R and Sakalihasan N. Do we need new Thresholds for surgical repair in patients with ascending thoracic aortic aneurysm disease? Eur Heat J 2023;44:4589-4591
Prof. Dr. med. Otmar Pfister
Otmar.pfister@usb.ch
Prof. Dr. med. Franz R. Eberli
Stadtspital Zürich Triemli
Klinik für Kardiologie
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich
Im Rahmen des ESC 2023 wurde ein fokusiertes Update der 2021 ESC Herzinsuffizienz Guidelines veröffentlicht. Für die Praxis relevante Veränderungen ergeben sich in den folgenden Bereichen: 1) Chronische Herzinsuffizienz mit leicht reduzierter (HFmrEF) und erhaltener Ejektionsfraktion (HFpEF), 2) Akute Herzinsuffizienz, 3) Komorbiditäten und Prävention. Die für die Praxis wichtigsten Änderungen werden hier kurz zusammengefasst (1).
A focused update of the 2021 ESC Heart Failure Guidelines was published as part of ESC 2023. For the changes relevant to practice arise in the following areas: 1) Chronic heart failure with slightly reduced (HFmrEF) and preserved ejection fraction (HFpEF), 2) Acute heart failure, 3) Comorbidities and prevention. The most important changes for practice are briefly summarized here (1). Key words: heart failure; heart failure with mildly reduced ejection fraction, HFmrEF; Heart Failure with preserved Ejection Fraction, HFpEF
Neue Empfehlungen bei erhaltener und leicht reduzierter Auswurffraktion (HFmrEF und HFpEF)
Basierend auf den positiven Ergebnissen von EMPEROR-Preserved (Empagliflozin) und DELIVER (Dapagliflozin) wurde für diese beiden Vertreter der Substanzklasse der SGLT2-Hemmer eine Klasse 1 Indikation (Evidenz Level A), sowohl für die Behandlung einer HFmrEF (LVEF 41-49%), als auch für die Behandlung einer HFpEF (LVEF 50%) ausgesprochen. In beiden Studien wurde der primäre Endpunkt bestehend aus kardiovaskulärem Tod oder Verschlechterung einer Herzinsuffizienz klar reduziert, wobei der Haupteffekt durch die Reduktion von Herzinsuffizienz (HI)-Hospitalisationen resultierte. Eine nachfolgende Meta-Analyse der Daten beider Studien bestätigte eine 20%ige Reduktion des kombinierten Endpunkts kardiovaskulärer Tod oder erste Hospitalisierung wegen HI. Der kardiovaskuläre Tod wurde dabei knapp nicht signifikant reduziert (HR 0,88, 95% CI 0,77–1,00; P = 0,052). Die Hospitalisierung aufgrund von Herzinsuffizienz wurde aber klar um 26% reduziert (HR 0,74, 95% CI 0,67–0,83; P < 0,001). Obwohl in beiden Studien NT-proBNP Schwellenwerte als Einschlusskriterium verwendet wurden, werden in den Guidelines keine NT-proBNP-Schwellenwerte für die Therapie mit Empagliflozin, respektive Dapagliflozin gefordert. Zusammenfassend besteht somit eine solide Evidenz, dass Empagliflozin und Dapagliflozin klinisch relevante Endpunkte unabhängig von der LVEF reduzieren. Die absolute Risikoreduktion wird allerdings grösser, je tiefer die LVEF. Unter Berücksichtigung dieser Datenlage wurden folgende Empfehlungen für HFmrEF und HFpEF erstellt (Abb. 1).
Neue Empfehlungenn zum Management bei akuter Herzinsuffizienz / Dekompensation
Die beste Therapie einer akuten Herzinsuffizienz ist deren Vorbeugung durch eine zügige, vollständige Etablierung einer richtlinien-getreuen Herzinsuffizienztherapie. Bei Patienten mit einer dekompensierten chronischen oder akuten de-novo Herzinsuffizienz wurde die Bedeutung einer möglichst kompletten Etablierung der Herzinsuffizienztherapie während dem stationären Aufenthalt und einer früh-poststationären klinischen Nachkontrolle bereits in den 2021 ESC-Herzinsuffizienz-Guidelines betont. Die STRONG-HF-Studie bestätigte nun die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Therapiestrategie. Dabei wurde angestrebt 2 Tage vor Spitalentlassung mindestens die Hälfte der empfohlenen Medikamentendosen zu erreichen. Die weitere Aufdosierung auf die von den Richtlinien empfohlenen Zieldosen wurde innerhalb von 2 Wochen nach der Spitalentlassung angestrebt. Die Studie wurde frühzeitig aufgrund einer eindrücklichen Reduktion der HI-Hospitalisationen und der Gesamtmortalität in der intensiv behandelten Studienpopulation abgebrochen (relative Risikoreduktion 34%, number needed to treat: 13). Basierend auf den Ergebnissen von STRONG-HF empfiehlt das aktuelle Guideline-Update eine Hochintensivbehandlung zur Initiierung und schnellen Dosissteigerung der oralen HI-Therapie. Eine engmaschige Nachsorge mit entsprechender Auftitrierung in den ersten 6 Wochen nach Spital-Entlassung ist dabei zentral, um die Zieldosis, respektive maximal tolerierter Dosis möglichst zeitnah zu etablieren. Dieses Therapiekonzept wird neu als Klasse I, Evidenzgrad B, zur Reduktion der Gesamtmortalität und Reduktion von HI-Hospitalisationen bei Patienten nach Dekompensation empfohlen (Abb. 2).
Neue Empfehlungen zur Behandlung von Komorbiditäten und Prävention einer Herzinsuffizienz
Eisenmangel
Eisenmangel, definiert als Ferritin <100 μg/L oder Feritin 100-300 μg/L bei tiefer Transferrinsättigung (<20%), ist eine häufige Komorbidität bei Herzinsuffizienz mit negativen Auswirkungen auf die Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und das Gesamtüberleben. Bereits in den 2021er Richtlinien wurde deshalb empfohlen, ein periodisches Screening der Eisenparameter durchzuführen und bei Vorliegen eines Eisenmangels eine Substitution mittels intravenöser Eisengabe zu erwägen, um dadurch die Symptome und Lebensqualität zu verbessern und bestenfalls die Rehospitalisationsrate zu reduzieren.
Basierend auf einer aktuellen Meta-Analyse der bisherigen Eisenstudien, einschliesslich IRONMAN, erfuhr diese Empfehlung im Guideline-Update 2023 nun ein «Upgrade». Neu wird eine intravenöse Eisen-Supplementation bei Patienten mit HFrEF oder HFmrEF und Eisenmangel klar empfohlen, um Symptome und die Lebensqualität zu verbessern (Klasse I Indikation, Evidenzgrad A) und in Erwägung gezogen, um das Risiko für HI-Hospitalisationen zu reduzieren (Klasse IIa Indikation, Evidenzgrad A). Vor allem die Stärkung der Therapieempfehlung zur Reduktion von HI-Hospitalisationen wird kontrovers diskutiert, da parallel mit dem Guideline-Update die eher enttäuschenden Resultate der HEART-FID Studie präsentiert und veröffentlich wurden. HEART-FID ist die bisher grösste randomisierte Eisenstudie bei Patienten mit Herzinsuffizienz (n=3014) und zeigte keinen Vorteil einer intravenösen Eisensubstitution bezüglich HI-Hospitalisationen.
Chronische Niereninsuffizienz und Diabetes Mellitus Typ II
Eine chronische Niereninsuffizienz und/oder ein Diabetes Mellitus (DM) Typ II kommen bei Patienten mit Herzinsuffizienz überdurchschnittlich häufig vor und verschlechtern die Prognose entscheidend. Die präventive Wirkung von ACE-Hemmern und Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) auf das Auftreten einer Herzinsuffizienz in dieser Population sind hinlänglich bekannt. Auch die schützende Wirkung der SGLT2-Hemmer vor Herzinsuffizienz bei Patienten mit Diabetes Typ II wurde bereits in den Guidelines 2021 mit einer Klasse 1 Indikation honoriert.
Basierend auf den Resultaten einer aktuellen Metaanalyse der wichtigsten SGLT2-Hemmer Studien bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz (DAPA-CKD, EMPA-KIDNEY, CREDENCE, SCORED) wird neu der Einsatz von SGLT2-Hemmern bei chronischer Niereninsuffizienz (GFR > 20-25 ml/min) und Typ II Diabetes empfohlen um HI-Hospitalisationen oder kardiovaskuläre Todesfälle zu reduzieren (Klasse I Indikation, Evidenzgrad A). Diese Empfehlung gilt aber nicht für Patienten mit Niereninsuffizienz ohne DM Typ II, da die Verbesserung der Prognose bei einer Population mit Niereninsuffizienz (ohne Herzinsuffizienz) nur bei Diabetikern signifikant ausfiel.
Schliesslich empfehlen die aktualisierten Guidelines neu den selektiven, nicht-steroidalen Mineralocorticoid-Rezeptor-Antagonisten, Finerenone, um das Risiko von HI-Hospitalisationen bei Patienten mit DM Typ II und chronischer Niereninsuffizienz zu reduzieren (Klasse I Indikation, Evidenzgrad A). Die Grundlage hierfür bildet eine präspezifizierte Analyse von gepoolten, individuellen Patientendaten von insgesamt 13026 Patienten aus den Studien FIDELIO-DKD und FIGARO-DKD. Dabei führte die Therapie mit Finerenone im Vergleich zu Plazebo zu einer relativen Risikoreduktion von 22% bezüglich HI-Hospitalisationen.
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Prof. Dr. med. Otmar Pfister
Otmar.pfister@usb.ch
Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
1. McDonagh TA, Metra M, Adamo M, Gardner RS, Baumbach A, Böhm M, Burri et al.; ESC Scientific Document Group. 2023 Focused Update of the 2021 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure.
Eur Heart J. 2023 Oct 1;44(37):3627-3639. doi: 10.1093/eurheartj/ehad195. Erratum in: Eur Heart J. 2023 Nov 23;: PMID: 37622666.
Die Vorteile der Behandlung von Bluthochdruck auf die kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität sind offensichtlich und wurden in zahlreichen randomisierten kontrollierten Studien eindeutig nachgewiesen. Können diese Ergebnisse auch auf 80-Jährige, auf Menschen mit mehreren Komorbiditäten, auf Menschen, die zu der Gesundheitskategorie der Gefährdeten oder Abhängigen gehören, angewendet werden? Dieser Artikel fasst die verschiedenen Empfehlungen der Fachgesellschaften zusammen und stellt die Frage, ob sie bei älteren Menschen mit orthostatischer Hypotonie oder Polymedikation angewendet werden können, und schlägt Behandlungsziele vor, die an den funktionellen und kognitiven Zustand des Patienten angepasst sind.
The benefits of treating arterial hypertension on cardiovascular mortality and morbidity are obvious and have been clearly demonstrated by numerous randomised controlled trials. Can these results be applied to subjects in their eighties, those with multiple co-morbidities, or those in the vulnerable or frail health category? This article reviews the various recommendations made by Academic Societies, and looks at their application to frail or dependent elderly subjects suffering from orthostatic hypotension or with polymedication. It also suggests treatment goals specific to each patient’s functional and cognitive capacities. Key Words: Hypertonie, Blutdruck, hohes Alter, Gebrechlichkeit
Die mit dem Alter zunehmende Steifheit der Arterien führt zu einem Anstieg des peripheren Gefässwiderstandes und des Blutdrucks. Die daraus resultierende isolierte systolische Hypertonie betrifft mehr als 75% der über 75-Jährigen unabhängig vom Geschlecht (1, 2). Sollte man ihnen deshalb ein blutdrucksenkendes Mittel verschreiben? Die kardiovaskulären Vorteile einer Senkung des Blutdrucks sind in der Literatur gut beschrieben. In einer australischen Metaanalyse, die 123 randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und mehr als 613’000 Patienten umfasste, zeigte Ettehad, dass eine Senkung des systolischen Blutdrucks um 10 mmHg das Auftreten von schweren kardiovaskulären Ereignissen um 20%, die koronare Herzkrankheit um 28%, Schlaganfälle um 27% und die Mortalität aller Ursachen um 13% senkt (3). Ein weiterer systematischer Review (21 RC-Studien und 3 Beobachtungsstudien), in den nur Personen über 65 Jahre einbezogen wurden, ergab, dass eine Senkung des BD von 160 mmHg auf unter 150 mmHg die Mortalität, das Schlaganfallrisiko und die kardiovaskulären Ereignisse senkt (4).
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2021 mit 320’000 Patienten (51 RC-Studien), davon über 187’000 über 65 Jahre und 60’000 über 75 Jahre, zeigte, dass eine Senkung des BD um 5 mmHg das Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen in der Altersgruppe von 65 bis 85 Jahren um 9% reduzierte, während es bei Personen ab 85 Jahren keinen Nutzen gab (5).
Welche Informationen lassen sich aus Interventionsstudien herauslesen?
Im Jahr 2008 war die HYVET-Studie die erste RC-Studie, die den Nutzen einer blutdrucksenkenden Behandlung bei 80-Jährigen belegte, indem sie die Gesamtmortalität um 21% und die Herzinsuffizienz um 64% senkte (6). Die SPRINT- und STEP-Studien zeigen ebenfalls eine 25-prozentige Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch die Senkung des Zielblutdrucks auf Werte unter 120 mmHg (SPRINT) oder zwischen 110 und 130 mmHg (STEP) bei Personen über 66 Jahren in grossen Gruppen (9’361 bzw. 8’500 Teilnehmer) (7, 8).
Die Ergebnisse dieser Studien sind jedoch nur schwer auf eine gebrechliche ältere Bevölkerung übertragbar. Obwohl 25% der Teilnehmer der SPRINT-Studie älter als 75 Jahre waren, wurden gebrechliche Personen ausgeschlossen, d. h. Personen mit Diabetes, Herzinsuffizienz, Demenz, chronischer Niereninsuffizienz, orthostatischer Hypotonie und Personen, die in Pflegeheimen leben (9). Ausserdem ist die Methode der Blutdruckmessung (Ablesen durch ein automatisches Gerät in einem separaten Raum, ohne Anwesenheit einer Pflegeperson) ungewöhnlich und unterschätzt den Blutdruck, der normalerweise in Anwesenheit einer Pflegeperson oder eines Arztes gemessen wird (in der Regel um ca. 5 bis 10 mmHg) (10). In der STEP-Studie wurden auch institutionalisierte Personen und Personen mit Schlaganfällen in der Vorgeschichte ausgeschlossen, und der verwendete Gebrechlichkeitsindex ist sehr ungewöhnlich und nicht validiert.
In einer Sekundäranalyse von 6 randomisierten kontrollierten Studien (SPRINT, ACCORD BP, Cardio-sis, JATOS, VALISH, STEP) hat Tao 27’400 Personen mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren untersucht und gezeigt, dass eine Senkung des BDs auf unter 140 mmHg das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses um 21% senkt. Diese Intervention ist bei älteren Menschen sinnvoll, wenn ihre Lebenserwartung mehr als 3 Jahre beträgt (11).
Studien, in denen die ältesten Probanden zusammengefasst wurden
Die Assoziation von hohen Blutdruckwerten mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität wird bei sehr alten Menschen nicht mehr systematisch beobachtet, insbesondere wenn sie als gebrechlich eingestuft werden und an mehreren Komorbiditäten leiden. In dieser Bevölkerungsgruppe ist die Beobachtung umgekehrt: Niedrige Blutdruckwerte sind mit einer erhöhten Mortalität verbunden! Sind dies die Folgen der Mehrfachmedikation, die in dieser Gruppe von abhängigen Personen häufig vorkommt, oder eine schwere Verschlechterung des Gesundheitszustands?
Von 2008 bis 2020 ermittelte Bogaerts 34 Leitlinien mit Empfehlungen zu Behandlungszielen für Bluthochdruck bei 80-Jährigen (12). Leider sind diese Leitlinien inkonsistent und richten sich eher nach dem chronologischen als nach dem biologischen Alter. 18 Leitlinien empfehlen einen systolischen Zielblutdruck von unter 150 mmHg, während 4 Leitlinien einen Zielblutdruck von 130 mmHg oder weniger vorschlagen. Nur 3 Studien berücksichtigen den Grad der Gebrechlichkeit bei der Bestimmung des empfohlenen Blutdruckwerts.
In einer Kohorte von 79’379 Personen (Durchschnittsalter 82,1 Jahre), die 4 bis 6 Jahre nachbeobachtet wurden und weder an Demenz, Krebs, koronarer Herzkrankheit, Schlaganfall, Herz- oder terminaler Niereninsuffizienz litten, beschreibt Delgado, dass die niedrigste Mortalität mit einem Blutdruckzielwert zwischen 145 und 155 mmHg in Verbindung steht (13). Die prospektive elektronische Aufzeichnung des Blutdrucks bei über 415’000 Personen im Alter von 79,5 Jahren, die nach dem Grad der Gebrechlichkeit (robust, leichte, mittlere oder schwere Gebrechlichkeit) unterteilt wurden, ergab, dass ein Blutdruck unter 130/80 mmHg die Sterblichkeit bei Personen im Alter von 75 Jahren und älter erhöht (14). In dieser Altersgruppe gab es keinen Zusammenhang mehr zwischen Bluthochdruck und Mortalität bei Patienten mit mässiger und schwerer Gebrechlichkeit. Mehrere Beobachtungsstudien bestätigen, dass ein systolischer Blutdruck von unter 140-150 mmHg bei sehr alten und gebrechlichen Menschen schädlich ist, insbesondere wenn sie in einer Einrichtung leben (15-18).
Die altersbedingten physiologischen Veränderungen, die Häufung von Komorbiditäten und die Mehrfachmedikation können das Risikoprofil älterer Menschen erheblich verändern und die erhöhte Mortalität erklären, die mit einem Blutdruck von unter 130 mmHg einhergeht, ohne dass das kardiovaskuläre Risiko reduziert wird. Bei dieser Bevölkerungsgruppe kann die erhöhte Sterblichkeit auf eine längere Lebenszeit mit niedrigen Blutdruckwerten zurückzuführen sein, die mit Krebs, Demenz, Herzinsuffizienz oder allgemeiner Gebrechlichkeit in Verbindung steht (19, 20).
Die Prävalenz der orthostatischen Hypotonie steigt mit zunehmendem Alter (20 % bei über 60-Jährigen, über 50 % bei Heimbewohnern), und die Dysfunktion der Barorezeptoren ist bei dieser Personengruppe zu beachten. Diuretika und Antihypertensiva, die die sympathische Aktivität hemmen, wie Betablocker und Antipsychotika, erhöhen das Risiko für orthostatische Hypotonie erheblich (21).
Neueste Guidelines
Im August 2022 fasste Paul K Whelton, beeinflusst von den Ergebnissen der SPRINT- und STEP-Studien, in einer Veröffentlichung im European Heart Journal die neuesten europäischen (2018) und US-amerikanischen (2019) Leitlinien zusammen, die auf die Empfehlungen für die Behandlung von Bluthochdruck abzielen (22). Vor kurzem hat die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (ESH) die neuen Empfehlungen 2023 veröffentlicht, in denen sie Behandlungsschwellen und -ziele je nach Gesundheitskategorie des älteren Menschen vorschlägt (23). Bevor eine Behandlung eingeleitet wird, sollte der Grad der Gebrechlichkeit des Patienten beurteilt werden (z.B. mithilfe der validierten Skala des klinischen Gebrechlichkeitsscores), wobei die Bewertung der Aktivitäten des täglichen Lebens, der funktionelle Score, der kognitive Status und die Auswirkungen von Komorbiditäten zugrunde gelegt werden sollten, um drei Patien-tenkategorien zu definieren: robust, verletzlich und abhängig (23-24).
Ein BD-Zielwert von unter 130/80 mmHg, aber nicht unter 120/70 mmHg, wird für alle erwachsenen Hypertoniker empfohlen, wenn die Verträglichkeit gut ist. Die Empfehlung gilt auch für ältere Menschen ab 65 Jahren, sofern sie sich nicht in einem Pflegeheim befinden und die eingeleitete Behandlung gut vertragen wird. Bei älteren Menschen mit schweren Komorbiditäten und begrenzter Lebenserwartung (abhängige Kategorie) sollte die Wahl und Intensität der antihypertensiven Therapie unter Berücksichtigung der klinischen Beurteilung, der Nutzen-Risiko-Abwägung und der Präferenzen des Patienten erfolgen.
Bei 80-Jährigen sollte das Behandlungsziel 150/90 mmHg betragen, wobei der Blutdruck im Stehen und an beiden Armen gemessen werden sollte (23, 25). Wenn die medikamentöse Behandlung schlecht vertragen wird, der BD unter 130 mmHg liegt oder eine orthostatische Hypotonie vorliegt, sollte das Absetzen des Antihypertensivums stark in Betracht gezogen werden (Depressivität) (23).
Schlussfolgerung
Obwohl die meisten grossen randomisierten Studien zur Senkung des systolischen Blutdrucks bei älteren Menschen unbestreitbar einen positiven Effekt auf das kardiovaskuläre Risiko und das Auftreten von Schlaganfällen belegen, ist die Auswahl der in diese Studien eingeschlossenen Hypertoniker mit Vorsicht zu geniessen. Wie können diese Ergebnisse auf polymorbide und gebrechliche ältere Menschen übertragen werden, von denen die meisten bei der Randomisierung ausgeschlossen wurden?
Bei Menschen in den Achtzigern und darüber sowie bei gebrechlichen Menschen sollten das biologische Alter, der Grad der Gebrechlichkeit, die Lebenserwartung und die Zeit bis zum Erreichen des Nutzens der vorgeschlagenen Behandlung berücksichtigt werden, bevor in einer gemeinsamen und personalisierten Entscheidung über das angestrebte Ziel befunden wird, wobei die Präferenzen des Patienten oder seine Patientenverfügung zu berücksichtigen sind.
Übersetzung aus la gazette médicale 06-2023
Copyright Aerzteverlag medinfo AG
Dr. med. Martial Coutaz
Hôpital du Valais (RSV) /
Centre Hospitalier du Valais Romand (CHVR)
Avenue de la fusion 27
1920 Martigny
Der Autor hat keinen Interessenskonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Hohe Blutdruckwerte sind bei robusten älteren Menschen mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität verbunden.
◆ Bei älteren Menschen, die durch zahlreiche Komorbiditäten geschwächt sind, erhöhen niedrige Druckwerte die Mortalität.
◆ Die Häufigkeit der orthostatischen Hypotonie steigt mit dem Alter und bei Bewohnern von Pflegeheimen.
◆ Bei älteren Menschen sollte der Blutdruck auch im Stehen gemessen werden
◆ Im Alter von 80 Jahren und älter sollte der Zielblutdruck bei
150/90 mmHg liegen.
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Künstliche Intelligenz (KI) spielt eine zunehmend wichtige Rolle in der kardiovaskulären Medizin, insbesondere bei der Segmentierung bildgebender Verfahren. Ein Vergleich innerhalb der Medizin zeigt, dass sich bis Januar 2023 am meisten FDA (Food and Drug Administration in der USA, ähnlich wie Swissmedic in der Schweiz) -zugelassene Algorithmen in der Radiologie und der Kardiologie etabliert haben. Daher ist die kardiovaskuläre Bildgebung eines der wichtigsten Gebiete für die Anwendung von KI. Algorithmen des maschinellen Lernens (ML) und des Deep Learnings (DL) ermöglichen es insbesondere, Strukturen wie die Herzkammern, den Herzmuskel sowie die Aorta und die Koronargefässe in Echokardiographien, kardiovaskuläre CT- und MRI schnell und akkurat zu identifizieren-, segmentieren- und zu analysieren. Diese Technologie ermöglicht es, die Herzfunktion wie die systolische linksventrikuläre Ejektionsfraktion und den Myokard-Strain innerhalb von Sekunden mit hoher Genauigkeit zu berechnen. Darüber hinaus unterstützt KI bei der Erkennung pathologischer Veränderungen, wie z.B. bei der Diagnose von Herzmuskelerkrankungen oder der Beurteilung von Atherosklerose in den Koronararterien.
Manche Ansätze, die ursprünglich nur für Forschungszwecke entwickelt wurden, haben später ihren Weg in kommerzielle Produkte gefunden und sind bereits im klinischen Alltag im Einsatz. Ein Beispiel für eine bereits eingesetzte Methode ist die automatische Erkennung der Koronarverkalkung im nativen CT, um den Kalziumscore automatisch zu berechnen. Hier werden Voxel, die eine Abschwächung von 130 Hounsfield Units oder mehr aufweisen, automatisch markiert und dem korrekten Koronargefäss zugeordnet. Am Ende wird der Kalziumscore automatisch berechnet und in Relation gesetzt zu den Perzentilen gemäss Alter und Geschlecht (Abb. 1). Dies dient der schnellen Risikostratifizierung, insbesondere von Patienten, bei denen die Entscheidung bezüglich einer Statintherapie aufgrund der Laborwerte und klinischen Daten allein ungenügend ist.
Eine andere Anwendung von KI ist im Bereich des Herz-MRIs. Bei einer Herz-MRI-Untersuchung werden circa 1000 Bilder in verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Sequenzen aufgenommen, die viele Atemanhaltekommandos erfordern. Die Planung dieser Untersuchung ist komplex und nur für speziell ausgebildete und erfahrene Ärzte und Radiologiefachpersonen möglich (Abb. 2). Eine schnellere Untersuchungszeit wäre hier natürlich wünschenswert. Der neue Algorithmus von Heart Vista soll hier Abhilfe schaffen und dabei helfen, Herz-MRI-Untersuchungen mit weniger Fachkenntnissen und deutlich schneller durchzuführen. Dies wird unter dem Slogan «One Click MRI» beworben, wobei das neue Produkt bis zu sechsmal schneller ist als wenn ein Mensch die MRI Untersuchung durchführt, zudem weniger oder sogar keine Atemkommandos benötigt und deutlich weniger Artefakte, insbesondere bei Arrhythmien aufweist. Ein weiteres Herz- MRI Beispiel ist die automatische Segmentierung des Endokards und Epikards in der Diastole sowie in der Systole. Normalerweise ist dies zeitintensiv, da jede Schicht und jede Phase (typischerweise wird das Herz in 10-14 Schichten zu je 8 mm gescannt, in ca. 25-30 Phasen) bearbeitet werden muss. Dies führt einerseits zu einem erheblichen Aufwand und andererseits zu Unterschieden in den Messwerten zwischen verschiedenen Untersuchern (Interrater-Variabilität) sowie auch innerhalb des gleichen Untersuchers (Intrarater-Variabilität), wenn die gleiche Person den gleichen Patienten später nochmals analysiert. Diese automatische Konturerkennung erfolgt innerhalb von Sekunden und ist sehr genau und hilft diese Messwertunterschiede zu minimieren.
Ein weiteres Produkt für die kardiale Bildgebung kommt von der Firma Caption AI, welches eine innovative Technologie für die Echokardiographie bietet, die medizinisches Personal durch Live-Anleitungen unterstützt, um qualitativ hochwertige Ultraschallbilder zu erfassen. Ein Qualitätsmesser beurteilt live die diagnostische Qualität der Bilder und die Software gibt Anleitungen, wie der Schallkopf gedreht oder gekippt werden soll, um die Bildqualität zu verbessern. Die Anzeige färbt sich grün, sobald die optimale Bildqualität erreicht ist und gleichzeitig werden die Messungen automatisch erhoben. Zudem speichert das System automatisch nur die besten Bilder jeder Scansitzung, was auch Nicht-Experten ermöglicht, am Schluss einen Datensatz an diagnostisch auswertbaren Bildern zu gewinnen.
Eine weitere Firma, US.ai aus Singapur, bietet eine Technologie an, die während der Echokardiographie alle Messwerte laufend generiert und zudem direkt einen Bericht inklusive der Wahrscheinlichkeitsbewertung der Diagnose erzeugt. Dies wird ein enormer Zeitgewinn sein für die Kardiologen:innen und wird auch helfen, schnell zu entscheiden, welche weiteren Abklärungen indiziert sind.
KI-Technologien zur Segmentierung und Erkennung von Herz-Gefässerkrankungen werden in Zukunft nicht nur dazu beitragen, Diagnosen präziser, personalisierter und schneller zu stellen, aber auch zunehmend ganzheitliche Rollen zu übernehmen. Diese umfassen korrekte Diagnosestellung und den Vorschlag zur individualisierten Therapie, beispielsweise bei der Aortenklappen Stenose durch optimale Klappenselektion (Grösse der Klappe, Zugang minimalinvasiv oder chirurgisch) oder wie eine medikamentöse Therapie aussehen soll (z.B. bei der kardialen Amyloidose oder Entschied einer Defibrillator Implantation bei der hypertrophen Kardiomyopathie) oder Empfehlungen zum weiteren Patienten Monitoring (z.B. wie man kardiale Sarkoidose Patienten nachkontrollieren soll). In dieser Zukunft werden Ärztinnen und Ärzte hauptsächlich eine überwachende und bestätigende Experten Rolle einnehmen, anstatt die Analysen und Berechnungen direkt selber durchzuführen.
Der 23. Zürcher Herz-Kurs konnte diesmal wieder als Präsenzveranstaltung stattfinden. Dabei standen die Bedürfnisse von niedergelassenen und zuweisenden Ärztinnen und Ärzten im Vordergrund. Prof. Dr. med. Franz Wolfgang Amann und Prof. Dr. med. Paul Mohacsi vom HerzGefässZentrum im Park hatten auch dieses Jahr wiederum ein spannendes Programm mit ausgewiesenen Experten zusammengestellt. Entsprechend gross war denn auch die Zahl der Teilnehmer. Im ersten Teil wurde über kardiologische Probleme berichtet. Der zweite Teil befasst sich hier mit den an Demenz Erkrankten und der Frage, was ein lebenswertes Leben ist.
Fälle aus dem Alltag – an Demenz Erkrankte in der Praxis
Herausforderungen – was man wissen sollte
«Ich habe so Angst vor Demenz. Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut, in meiner Familie gibt es viele Demenzerkrankte – so möchte ich nicht enden».
Nicht vertrösten – ernst nehmen. Es braucht nicht immer einen Termin in der Memory Clinic, aber einen längeren Termin in der Praxis, so Dr. med. Irene Bopp-Kistler, Zürich.
Wann und welche Abklärung bei Verdacht auf Demenz?
Red flags (adaptiert nachSwiss Memory Clinics 2018):
► Wenn sich Patienten Sorgen machen, nicht einfach vertrösten
► Burnout, Probleme am Arbeitsplatz
► Hinweise durch Dritte
► Auffälligkeiten in der Praxis (Termine, Medikamentenmanage-
ment, schlecht eingestellter BD, Mahnungen, Hygiene, Dia-
betesmanagement u.a.)
► Veränderung des Verhaltens
Diagnosestellung: ethisches Dilemma in Zukunft? Im Zentrum steht der Mensch in seiner Alltagsstellung!
Alltagsstörung (Anamnese, Anamnese, Anamnese – Alltag, Verhalten, Verlauf u.a.) Testung: Psychometrie, evtl. neuropsychologisch, klinische Untersuchung, Labor, bald Bluttests? Bildgebung, evtl. PET, evtl. Liquor. Neue Medikamente: falsche Hoffnung? Oder doch Hoffnung? Wie berate ich jetzt und in Zukunft? In der Presse: Durchbruch! Es kommt zu einer um 30% geringeren Verschlechterung! Bald Zulassung? Nebenwirkungen: Mikroblutungen, Hirnödem. Kosten und Kontrollen! «Ich möchte ein PET. In Lausanne gibt es ein neues Zentrum». Diagnose: leichte kognitive Störung bei Lithiumeinnahme.
Der digitale Patient – Fluch oder Segen? Herausforderung für Ärztinnen und Ärzte. Nutzen vs. Schaden: ARIA /Amyloid Related Imaging Abnormalities), grosser Aufwand, Kosten, Apo E4, Frauen-Männer, Vergleich Donepezil. Medikamente: ja oder nein? Denke an die Verhaltensauffälligkeiten. Longitudinalstudie mit Cholinesterase-Hemmern über 5 Jahre: kognitiver Benefit und verminderte Mortalität. Galantamin vermindert das Risiko einer schweren Demenz (MMS<10P). Andere ältere Studien: Verbesserung im Alltag, Pflegeheimeinweisung. Acetylcholinesterase-Hemmer: Verhaltensauffälligkeiten: Apathie, Irritabilität, Depression, Angespanntheit.
Memantin: Verhaltensauffälligkeiten: Agitation, Aggressivität, Wahn, Halluzinationen. Gibt es eine Prävention? Potenzielle modifizierbare Risikofaktoren sind Bildung, Hörverlust, traumatische Hirnverletzung, Hypertonie, Alkohol (über 2 Gläser), Übergewicht, Rauchen, Depression, soziale Isolation, Bewegung (Inaktivität), Luftverschmutzung, Diabetes mellitus.
Wenn die Welt ideal wäre, könnten 40% der Demenzerkrankungen verhindert werden. Leider sei die Welt aber nicht in einem idealen Zustand, so die Referentin. Kein Zugang zu Bildung, Luftverschmutzung, Einsamkeit, schlechte Ernährung, ungenügender Zugang zu medizinischer Versorgung, Verhinderung von Schädelhirntraumata. Angst vor möglicher Suizidalität: deswegen keine Diagnosestellung? End of life decisions, oft «Exitfrage». Soll ich weiter leben mit Demenz? Begleitung der Angehörigen, Beratung von Beginn weg, Aufzeigen von Alternativen.
Die Abklärung führt zu weniger Leid in den Familien, Planung, Ausschluss von sekundären Ursachen u.a. Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung, Testament u.a. Die Angehörigen stehen unter sehr starkem Stress im Umgang mit der Trauer. Ein wichtiger Punkt ist die Fahreignung: antitherapeutisch, macht Tests TMT A und TMB bei Bestätigung der Fahreignung. Meldung besser als eine lange Diskussion. Freiwillig ist psychologisch am besten! Palliation bei Demenz: nicht berechenbar, passt nicht in ein Schema. Autonome Entscheidung muss Jahre vor dem Tod getroffen werden. Selbstbestimmtes Sterben ist nicht möglich. Wunsch des Patienten? Oft sind die Patienten im Sterbeprozess akut verwirrt (Delir). Das Umfeld leidet und fühlt sich oft allein. QZ-Zeit-Messung bei Neuroleptika? Wann beginnt die palliative Phase? Der Weg ist eine Gratwanderung, so die Schlussworte der Referentin.
Was ist ein lebenswertes Leben?
Gedanken einer Philosophin
Was ist ein lebenswertes Leben? – eine menschliche Grundfrage, die sich stellt, wenn man sich in einer speziellen Situation befindet. Obschon dies eine fundamentale Frage ist, wird sie in der Philosophie kaum behandelt, so Frau PD Dr. Barbara Schmitz, Basel.
Ethische Kontexte für die Frage nach dem lebenswerten Leben: Pränatale Diagnostik, Behinderung, chronische Krankheit, Suizid, zukünftige Generationen, Alter/Demenz.
Warum wird die Frage nach einem lebenswerten Leben in der Philosophie kaum behandelt? Die Referentin erwähnt das Buch «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» des Professors für Strafrecht Karl Binding (1840-1920) und des Freiburger Arztes und Psychiaters Alfred Hoche (1865-1943), eine verhängnisvolle Publikation. Sie gilt als Wegbereiter des «Gnadentodes» durch die Nationalsozialisten, die die Erlösung von einem unlebenswerten Leben als Grundlage für ihre Gräueltaten verwendeten. Schweiz: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zwangssterilisationen bei Menschen mit geistiger Behinderung im Grossen Rat des Kantons Bern. 1920 Kanton Waadt: Gesetz zur Zwangssterilisation, 1922: Forderung nach Tötung von Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen. Ab 1933 im Zuge der Euthanasie in Deutschland Zunahme der Zwangssterilisationen. 1980 weitgehend eingestellt, seit 2000 rechtswidrig. Das lebenswerte Leben bei Behinderung, das Behinderungsparadox: Warum ein Leben mit Behinderung lebenswert sein kann. Innensicht vs. Aussensicht. Gründe für das Behinderungsparadox: Adaption als dynamischer Prozess jedes menschlichen Lebens. Identität: Behinderung als Teil des Selbst. Verschiebung der Werte: «Früher wollte ich stark sein, gesund sein und in allen Situationen funktionieren. Heute sind Offenheit, Toleranz, die persönliche Entwicklung und Humor wichtige Werte.»
Gründe für das Behinderungsparadox: Adaption, Identität, Verschiebung der Werte. Resonanz: Resonanz bezeichnet konkret einen Modus, wie Subjekt und Welt zueinander in Beziehung treten (Hartmut Rosa). Resonanz geht mit der heutigen Zeit verloren; wenn man nur an Autonomie denkt, vermisst man den Wert der Gesellschaft. Viele Menschen mit Behinderung geben an, dass kleine Dinge und soziale Beziehungen wichtig geworden sind. Sie geben damit Resonanzerfahrungen an. Die Rolle der Gesellschaft: Zwar ist es eine subjektive Entscheidung, ob ich mein Leben als lebenswert ansehe. Gesellschaftliche Bedingungen spielen aber bei diesen Wertungen mindestens dreifach eine wichtige Rolle. 1. Gesellschaftliche Bilder pflegen die Sicht auf das lebenswerte Leben. 2. Gesellschaftliche Werte wie Autonomie sind ein Rahmen zur Beurteilung. 3. Gesellschaftliche Bedingungen schaffen ein würdiges Leben für alle. Autonomie: «Wenn ich nicht mehr selbstständig leben kann, ist mein Leben nicht mehr lebenswert». Idealisierte Autonomie: weitgehende Unabhängigkeit von anderen und vom Schicksal, Durchsetzung eigener Pläne, möglichst viel Freiheit, Abhängigkeiten minimieren, auf Maximierung angelegt. Soziale Autonomie: partielles, graduelles, soziales Vermögen. Abhängigkeit von anderen als Teil des Menschseins, stets verwoben mit anderen. In einzelnen Bereichen kann Autonomie wichtig sein, in anderen weniger. Und das kann sich ändern.
Gesellschaft und das würdige Leben
Die Aufgabe der Gesellschaft: würdige Bedingungen für alle Menschen. Rechte gelten absolut. Das Recht auf Leben ist das wichtigste Recht. Damit Menschen ihr Leben als lebenswert ansehen können, brauchen sie würdige gesellschaftliche Bedingungen. Wer diskriminiert und ausgegrenzt wird, kann sein Leben nur schwer als lebenswert ansehen.
Das Alter als Last und Bürde
Das Defizit-Modell: Das Alter als Verlust von Fähigkeiten. Martha Nussbaum Scham und Ekel. Aristoteles: «Die Alten sind übelwollend, sie beurteilen alles im Hinblick auf das Unvorteilhafte», «misstrauisch», «geldgierig».
Erfolgreich altern: Altern als Erfolg? Anti-Aging-Industrie. Probleme sind die Stigmatisierung derjenigen, die nicht erfolgreich altern. Das Idealbild ist der Mensch im mittleren Lebensalter.
Das Altern als Last und Bürde: Alte Menschen als Last und Bürde unserer Gesellschaft. Gefahr, dass alten Menschen nicht dieselbe Würde zugesprochen wird. Alternative Aspekte des Alterns: Altern ist ein individueller Prozess. Alter ist als eigene Lebensspanne zu würdigen. Im Alter können neue Potentiale entdeckt werden.
«Wer nicht den Sinn seines Alters begreift, hat alles Unglück seines Alters» (Voltaire). Demenz und das lebenswerte Leben: Demenz als absolutes Defizit, grösste Bürde, erfolgloses Altern – Dämonisierung. Menschen haben Angst vor Demenz, weil sie verstanden wird als Verlust des Verstandes, Verlust von Selbstkontrolle, Abhängigkeit, Verlust von Würde.
Mein Leben ist nicht lebenswert: Was heisst das? Wie sollen wir damit umgehen? Man kann von dem, was ein Leben lebenswert machen kann, lernen, was zu tun ist, wenn ein Mensch sein Leben als «nicht lebenswert» beurteilt. Gefordert sind hier die Gesellschaft und der Einzelne: Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Hoffnung. Hilfe und Respekt: Zwischen den Sätzen «mein Leben ist lebenswert, ist nicht lebenswert» besteht der Unterschied, dass es im ersten Fall um Respekt geht, während im zweiten Fall Hilfe und Respekt gefordert ist. Wie kann man das Leben eines Menschen wieder lebenswert machen? Hoffnung und das lebenswerte Leben: Hoffnung spielt dort eine Rolle, wo das Leben als nicht lebenswert aus der Perspektive der ersten Person erlebt wird. Hoffnung als Haltung, als aktives Vermögen und passives Geschehen.
Karl Heinz Pantke: Sehen Sie, wenn man Locked-in bekommt (ein Zustand bei dem ein Mensch zwar bei Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen) wird einem genommen. Und dann erkennt man, welchen Wert das Leben selbst hat. Dieser Wert wird in unserer Gesellschaft meist nicht gesehen.
Warum willst Du leben?
Zum Schluss erzählte die Referentin von ihrem eigenen biographischen Erleben. Sie hat eine Tochter mit einer Behinderung und war vom Suizid ihrer Schwester betroffen. Die Tochter hat darauf die Mutter gefragt, warum sie leben wolle. Die Mutter hat als Grund das Zusammenleben mit der Tochter genannt. Die Tochter hat darauf immer wieder das Gleiche gefragt und sie haben gemeinsam immer mehr Gründe für ein lebenswertes Leben gefunden.