Vitamin D: Was bleibt?

An der diesjährigen Frühjahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) vom 29. bis 31.5.2024 in Basel gab Prof. Thomas Rosemann einen Überblick über die aktuelle Studienlage zur Wirkung von Vitamin D. Die Ergebnisse sind teilweise ernüchternd und sprechen gegen viele der populären Annahmen.

«Vitamin D – immer wenn es um Leben und Tod geht» , «Superhormon Vitamin D – So aktivieren Sie Ihren Schutzschild gegen chronische Erkrankungen», «Gesund in 7 Tagen-Erfolge mit der Vitamin D-Therapie», dies einige Titel zum «Wunderhormon» Vitamin D, wie sie in der Presse in den letzten Jahren erschienen sind. Prof. Dr. Dr. med. Thomas Rosemann, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich, zeigte anhand wissenschaftlicher Studien und Meta-Analysen eindrücklich auf, was zu Vitamin D tatsächlich wissenschaftlich belegt ist.

Assoziation zwischen Calcium oder Vitamin D und Frakturrisiko

In einer Metaanalyse randomisierter klinischer Studien war die Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln, die Kalzium, Vitamin D oder beides enthielten, im Vergleich zu Placebo oder keiner Behandlung nicht mit einem geringeren Frakturrisiko bei älteren Erwachsenen verbunden, die in der Gemeinschaft leben. Diese Ergebnisse unterstützen nicht die routinemässige Verwendung dieser Nahrungsergänzungsmittel bei älteren Menschen, die nicht in Institutionen leben (Zhao JG et al. Association Between Calcium or Vitamin D Supplementation and Fracture Incidence in Community-Dwelling Older Adults: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA 2017 ;318 :2466–2482).

Vitamin D mit Omega-3 Fettsäuren-Supple­mentierung und Krafttraining

In einer randomisierten Schweizer Studie sprechen die Ergebnisse nicht für den Einsatz von Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren oder einem Krafttrainingsprogramm für diese Therapien bei gesunden älteren Erwachsenen Vitamin D Supplmetireung und kardiovaskuläres (Bischoff-Ferrari H et al..Effect of Vitamin D Supplementation, Omega-3 Fatty Acid Supplementation, or a Strength-Training Exercise Program on Clinical Outcomes in Older Adults: The DO-HEALTH Randomized Clinical Trial. JAMA 2020 Nov 10;324(18):1855–1868).

Vitamin D reduziert das kardiovaskuläre Risiko nicht

In einer weiteren Meta-Analyse mit mehr als 83 000 Probanden aus 21 randomisierten klinischen Studien zur ­Vitamin D-Supplementierung und dem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wurde ebenfalls kein Nutzen für die Einnahme von Vitamin D beobachtet (p=0.69) (Barbarawi M et al. Vitamin D Supplementation and Cardiovascular Disease Risks in More Than 83 000 Individuals in 21 Randomized Clinical Trials: A Meta-analysis. JAMA Cardiol 2019 Aug 1;4(8):765–776.)

Vitamin D und Prävention von Krebs und ­kardiovaskulärer Erkrankung

Die Supplementierung mit Vitamin D führte nicht zu einer geringeren Inzidenz von invasivem Krebs oder kardiovaskulären Ereignissen als Placebo, wie in einer randomisierten Studie bei über 50-jährigen Männern und über 55-jährigen Frauen gezeigt wurde (Manson JA et al. Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2019;380:33-44).

Vitamin D und marines Omega-3 bei Vorhofflimmern

Aber auch die Supplementierung mit mariner Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D bei Auftreten von Vorhofflimmern zeigte in einer randomisierten klinischen Studie keinen signifikanten Effekt (Albert CM et al. Effect of Marine Omega-3 Fatty Acid and Vitamin D Supplementation on Incident Atrial Fibrillation:A Randomized Clinical Trial JAMA 2021 16;325:1061-1073).

Vitamin D-Supplementierung bei Depression

In einer Meta-Analyse von randomisserten, kontrollierten Studien an 4385 Teilnehmern war die Supplementierung mit Vitamin D bei älteren Erwachsenen nicht miteiner Verbesserung der Symptome keine signifikante Verbesserung der depressiven Symptome assoziiert (Park Y et al. Vitamin D supplementation for depression in older adults : a meta-analysis of randomized controlled trials. Front Nutr 2023 Jun 21:10:1169436)

Gibt es eine Assoziation zwischen Inflammation und Serum- Vitamin D?

In einer retrospektiven cross-sektionalen Studie, die 25(OH)D-Werte bei 687 gebrechlichen und älteren stationären Patienten untersuchte, wurde kein Hinweis auf einen klinisch relevanten Zusammenhang zwischen Serum-Vitamin D und Serum-CRP als Inflammationsmarker gefunden (Funk L et al. Is there an association between inflammation and serum-vitmain D? – Results of a retrospective analysis of hospitalized geriatric patients . Clin. Interv. Aging 2024;19:763–768).

Geringe Wirkung von Vitamin D bei akuten ­respiratorischen Infekten

Das Ausmass der in einer Analyse beobachteten schützenden Wirkung einer Vitamin D-Supplementierung auf das Risiko eines akuten respiratorischen Infekts ist gering (OR 0.92; 0.86 bis 0.99) (Joliffe DA et al. Vitamin D supplementation to prevent acute respiratory infections: a systematic review and meta-analysis of aggregate data from randomised controlled trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2021; 9(5):276–292).

Vitamin D und COVID-19

Die Wirkung einer einzelnen hohen Dosis von Vitamin D3 bei hospitalisierten Patienten mit moderatem bis schwerem COVID-19 wurde in einer randomisierten klinischen Studie untersucht. Es zeigte sich dabei, dass eine einzelne hohe Dosis D3 im Vergleich zu Placebo die Krankenhausaufenthaltsdauer nicht signifikant reduzierte. Die Ergebnisse unterstützen die Verwendung einer hohen Dosis von Vitamin D3 zur Behandlung von mittelschwerem bis schwerem COVID-19 nicht (Murai ICH et al. Effect of a single high dose of vitamin D3 on hospital length of stay in patients with moderate to severe COVID-19 a randomized clinical trial . JAMA 2021 ;325 :1053–1060).

FAZIT

Die jüngsten Meta-Analysen zeigen:
Die Gabe von Vitamin D (in Kombination mit Calcium) hat keinen positiven Effekt auf
• Frakturen und Stürze
• Blutdruck
• Kardiovaskuläre Ereignisse
• Vorhofflimmern
• Tumoren

Auch bei Menschen, die nach (derzeitiger) Definition einen Vitamin D Mangel haben. Dies gilt auch in Kombination mit Omega-3-FS und körperlicher Aktivität.

Vitamin D senkt minim das Risiko für Atemwegsinfekte (0.92; CI 0.86–0.99), die entsprechenden Studien sind aber methodisch oft mangelhaft.
Die Gabe hoher (Bolus-)dosen ist mit einem höheren Frakturrisiko und einer erhöhten Tumorinzidenz assoziiert.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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Integrative Medizin: Die «Extended toolbox» für Klinik und Praxis macht beachtliche Fortschritte

«Integrative Medizin» war am SGAIM Frühjahrskongress 2024 in Basel Gegenstand sowohl einer Keynote Lecture (Brent Bauer von der Mayo Clinic, Rochester, NY) als auch einer interaktiven «Beyond Guidelines»-Session (Pierre-Yves Rodondi, Fribourg & Brent Bauer). Das perfekt zum Kongressmotto «Creative Medicine: Renew & transmit» passende Thema stiess beim Publikum auf viel Resonanz, und die Fülle der präsentierten Studiendaten und Erfahrungen war beeindruckend. Genau der Anspruch der Evidenz ist es, die die Integrative Medizin begrifflich von der komplementären und alternativen Medizin abgrenzt, auch wenn viele ihrer therapeutischen Zusatzangebote genau in diesen Bereichen angesiedelt sind.

Prof. Brent Bauer von der Mayo Clinic, Rochester (NY) berichtete am Freitagmorgen vor vollem Plenarsaal über das vor über 30 Jahren ins Leben gerufene «Integrative Medicine Program» der Mayo Clinic. Das Forschungsprogramm basiert auf einer evidenzbasierten Methodik, die wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus der Schulmedizin mit den besten verfügbaren Daten aus der komplementären und alternativen Medizin kombiniert.

So definiert das Academic Consortium for Integrative Medicine & Health (ACIMH) zur Förderung integrativer Medizin die integrative Medizin als „die Praxis der Medizin, die die Bedeutung der Beziehung zwischen Arzt und Patient bekräftigt, den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt, sich auf Evidenz stützt und alle geeigneten therapeutischen Ansätze, Gesundheitsfachleute und Disziplinen einsetzt, um optimale Gesundheit und Heilung zu erreichen“ (1).

Laut Brent Bauer wurden im Rahmen des Integrative Medicine-Programms der Mayo Clinic bis heute 175 klinische Studien mit Patienten, gesunden Probanden und Angehörigen von Gesundheitsberufen durchgeführt und mehr als 400 peer-reviewte Publikationen im Bereich integrative Medizin veröffentlicht: zur Wirkung von Akupunktur, von Mind-Body-Verfahren, von Phytotherapie und natürlichen Nahrungsergänzungsmitten, tiergestützten Therapien, Yoga oder medizinischen Massagen bei Krebs-, Schmerz oder kardiologischen Patienten. Ein aktuelles Pilotprojekt befasst sich mit Roboter- und KI-gestützter Tuina-Massage bei Rückenschmerzen.

Ansätze der integrativen Medizin neu in Onkologie-Leitlinien

Der Einsatz von Integrativen Therapien während und nach der Brustkrebsbehandlung hat mit Unterstützung der ASCO mittlerweile auch Einzug in die in Praxis-Leitlinien der Gesellschaft für Integrative Onkologie (SIO) für das Management von Brustkrebs oder das Schmerzmanagement bei Krebspatienten gehalten (2, 3). So werden beispielsweise Musiktherapie, Meditation, Stressmanagement und Yoga Massage zum Abbau von Angst- und Stresszuständen empfohlen, Meditation, Entspannungsübungen, Yoga, Massagen und Musiktherapie oder gegen Depression und Stimmungsstörungen. Auch zeigen sich Effekte bei der Milderung von Nebenwirkungen von Krebstherapien wie Müdigkeit, Schmerz und Übelkeit.
Im Alltag kommen Methoden der integrativen Medizin als erweitertes Instrumentarium an den verschiedenen Standorten der Mayo Clinic mittlerweile bei jährlich mehr als 100‘000 Patienten pro Jahr zum Einsatz. Auch Pflegehunde sind Teil des Engagements für die Heilung von Körper, Geist und Seele. Die gut ausgebildeten Tiere werden zum Beispiel eingesetzt, um Patienten mit Depressionen durch Erfahrung von Wärme und bedingungsloser Liebe von einem Tier Mut zu machen. Wie Prof. Pierre-Yves Rodondi in der interaktiven Session berichtete, sollen Therapiehunde ab 2025 auch am CHUV eingeführt werden.

Brent Bauer hob in seinem Vortrag auch die Bedeutung des am Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich und der Universität Zürich ansässigen Schweizer Cochrane-Satelliten „Cochrane Complementary Medicine“ hervor. Dessen Ziel ist es, zu systematischen Übersichten über komplementär- und integrativmedizinische Therapien beizutragen und einen evidenzbasierten Ansatz in der Komplementär- und Integrativmedizin zu fördern (4).

Nutzung komplementärer Medizin und SARS-CoV-2-Impfung

Die ebenfalls erwähnte CoviCare-Studie der von Mayssam Nehme, Olivia Braillard, Pierre-Yves Rodondi und Idris Guessous (5) zeige nicht nur, dass ein signifikanter Anteil der Schweizer Bevölkerung komplementäre und alternative Medizin (CAM) während der Pandemie nutzte, sondern dass Teilnehmer/-innen, die komplementäre Medizin nutzten, eine höhere Bereitschaft zur SARS-CoV-2-Impfung aufwiesen – vermutlich aufgrund eines höheren Gesundheitsbewusstseins. Die longitudinale Studie ist ein bedeutender Beitrag zur Forschung im Bereich der integrativen Medizin und zeigt, wie alternative Ansätze die öffentliche Gesundheit und das individuelle Gesundheitsverhalten positiv beeinflussen können.

Das SGAIM-Kongress-Komitee lag recht in der Annahme, dass das Integrative Medicine Program der Mayo Clinic Vorbild und Inspirationsquelle sein könnte, wie eine Kombination aus traditionellen und komplementären Therapien zur Optimierung des Wohlbefindens vieler Patient/-innen beitragen könne. Das Interesse der Teilnehmer in der von Pierre-Yves Rodondi und Brent Bauer gestalteten interaktiven Session war aufgrund des Plenarvortrags am Morgen so gross, dass aufgrund der vielen Fragen an die beiden Referenten nur einer von den vier geplanten Patientenfällen besprochen werden konnte.

In der Schweiz integrieren Ärztinnen und Ärzte Komplementärmedizin in ihre Facharztausbildung, und es gibt zunehmend stationäre Abteilungen für integrative Medizin. Trotz wachsender Angebote übersteigt die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Behandlungen das verfügbare Angebot erheblich. Auch die Kostenübernahme der Leistungen der integrativen Medizin ist ein offener Punkt.

Fest steht jedoch, dass alle gefragt sind, im Sinne der Patientinnen und Patienten auch dieses Feld der Gesundheitsversorgung aus ärztlicher bzw. allgemeininternistischer Sicht mit zu gestalten. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang, die entsprechenden Wünsche der Patient/-innen ernstzunehmen.

Dr. sc. nat. Winfried Suske

1. Academic Consortium for Integrative Medicine and Health, https://imconsortium.org/
2. Lyman GH, et al. Integrative Therapies During and After Breast Cancer Treatment: ASCO Endorsement of the SIO Clinical Practice Guideline. J Clin Oncol. 2018 Sep 1;36(25):2647-2655. doi: 10.1200/JCO.2018.79.2721. Epub 2018 Jun 11.
3. Mao JJ, et al. Integrative Medicine for Pain Management in Oncology: Society for Integrative Oncology-ASCO Guideline Summary and Q&A. JCO Oncol Pract. 2023 Jan;19(1):45-48. doi: 10.1200/OP.22.00622. Epub 2022 Oct 19.
4. Institut für komplementäre und integrative Medizin, Universitätsspital Zürich, https://www.usz.ch/en/department/complementary-and-integrative-medicine/research/
5. Nehme M, et al. Use of complementary medicine and its association with SARS-CoV-2 vaccination during the COVID-19 pandemic: a longitudinal cohort study. Swiss Med Wkly. 2023 Dec 18;153:3505. doi: 10.57187/s.3505

Behandlung und langfristiges Management des ­Vitamin-B12-Mangels bei Erwachsenen

Ein Mangel an Vitamin B12 (Cobalamin) kann verschiedene Organe wie das Knochenmark sowie das periphere und zentrale Nervensystem beeinträchtigen [1]. Die Anzeichen und Symptome eines Mangels sind unterschiedlich und meist unspezifisch. Nahrungsquellen für Vitamin B12 sind Lebensmittel tierischen Ursprungs wie rotes Fleisch, Leber, Fisch und Milchprodukte. Eine unzureichende Zufuhr von Vitamin B12 über die Nahrung (<4-5 µg/Tag) kann einen Vitamin-B12-Mangel verursachen. Die intestinale Absorption von Vitamin B12 erfordert außerdem die Freisetzung von Vitaminen aus Nahrungsproteinen, eine normale Sekretion und Funktion des intrinsischen Faktors sowie einen angemessenen Säuregehalt des Magens. Die Malabsorption von Vitamin B12 ist die Hauptursache für einen klinisch manifestierten Vitamin-B12-Mangel bei Erwachsenen. Perniziöse Anämie (Mangel an Intrinsic-Faktor oder Antikörper gegen Intrinsic-Faktor), atrophische Gastritis und andere Magen-Darm-Erkrankungen können eine B12-Malabsorption verursachen. Menschen mit einem durch Malabsorptionsstörungen verursachten Vitamin-B12-Mangel zeigen gastrointestinale Symptome (Episoden von Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Durchfall) [2], zusätzlich zu Symptomen wie Neuropathie, die durch den Mangel selbst verursacht wird [3]. Die Serumkonzentration von Vitamin B12 ist ein häufig verwendeter Marker für den Vitamin-B12-Status. Der größte Teil des Vitamin B12 im Blut ist an Haptocorrin gebunden, das für B12-abhängige enzymatische Reaktionen in den Zellen nicht verfügbar ist. Holotranscobalamin ist an Transcobalamin gebundenes Vitamin B12 und macht einen kleinen Teil des gesamten Serum-B12 aus, der biologisch aktiv ist. Ein Mangel an Adenosylcobalamin und Methylcobalamin führt zu erhöhten Plasmakonzentrationen von Methylmalonsäure bzw. Homocystein. Das zirkulierende Vitamin B12 ist möglicherweise nicht bei allen Patienten mit B12-Mangel erniedrigt (4). Die Verwendung von Stoffwechselmarkern für den B12-Status wie Methylmalonsäure und Homocystein zur Unterstützung der Diagnose eines klinisch manifesten Vitamin-B12-Mangels hat Vorteile, aber auch Nachteile (4, 5), wie z. B. die hohen Kosten der Messungen, die begrenzte Verfügbarkeit und die Auswirkungen der Niereninsuffizienz auf die Konzentrationen. Die Symptome eines Vitamin B12-Mangels können irreversibel sein, wenn sie nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden. Das Ziel einer kürzlich veröffentlichten Arbeit (6) war es, einen weithin akzeptierten Expertenkonsens als Leitfaden für die Praxis der Diagnose und Behandlung von B12-Mangel zu entwickeln.

Methoden

Die Autoren führten eine Übersicht über die seit Januar 2003 in PubMed veröffentlichte Literatur durch. Die Daten wurden für eine zweistufige Delphi-Befragung verwendet, um den Grad der Übereinstimmung unter 42 Experten zu untersuchen.

Ergebnisse

Die Erkennung der klinischen Symptome sollte bei der Diagnosestellung oberste Priorität haben. Es besteht Einigkeit darüber, dass die B12-Konzentration im Serum als Screening-Marker nützlich ist und Methylmalonsäure oder Homocystein die Diagnose unterstützen können. Der Lebensstil des Patienten, seine Krankheitsgeschichte und seine Medikation können Hinweise auf die Ursache des B12-Mangels geben. Unabhängig von der Ursache des Mangels wurde die anfängliche Behandlung mit parenteralem B12 als erste Wahl für Patienten mit akuten und schweren Manifestationen des B12-Mangels angesehen. Für die Langzeitbehandlung kann eine hochdosierte orale B12-Gabe in unterschiedlicher Häufigkeit in Betracht gezogen werden. Eine prophylaktische B12-Supplementierung sollte für bestimmte Risikogruppen in Betracht gezogen werden.

Schlussfolgerungen

Die vorliegende Studie gibt einen Überblick über konsistente Daten zur Diagnose und Behandlung von Vitamin-B12-Mangel. Im Rahmen der Delphi-Studie wurde ein solider Konsens zu verschiedenen Aspekten der Diagnose und Behandlung erzielt, um die medizinische Praxis zu unterstützen. Die Experten waren sich einig, dass die derzeitige Praxis in Bezug auf Ausbildung und Organisation geändert werden muss. Obwohl klinischen Symptomen mehr Gewicht beigemessen werden sollte, erkannten die Diskussionsteilnehmer die Notwendigkeit, die Serum-Vitamin-B12-Konzentration als kosteneffektiven Screening-Marker zu verwenden und zusätzlich einen Stoffwechselmarker zu messen. Die B12-Dosis und die Behandlungsschemata müssen je nach Schwere der Symptome und der Ursache des Mangels angepasst werden. Mehrere Themen bedürfen noch eingehender Untersuchungen, wie z. B. der klinische Nutzen einer prophylaktischen B12-Supplementierung bei einigen Risikogruppen.

Quelle: Obeid R et al. Diagnosis, Treatment and Long-Term Management of Vitamin B12 Deficiency in Adults: A Delphi Expert Consensus. J Clin Med. 2024 Apr; 13(8): 2176. Published online 2024 Apr 10. doi: 10.3390/jcm13082176

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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1. Healton E.B. et al. . Neurologic aspects of cobalamin deficiency. Medicine. 1991;70:229–245. doi: 10.1097/00005792-199107000-00001.
2. Miceli E. et al. Common features of patients with autoimmune atrophic gastritis. Clin. Gastroenterol. Hepatol. 2012;10:812–814. doi: 10.1016/j.cgh.2012.02.018.
3. Misra U.K., Kalita J. Comparison of clinical and electrodiagnostic features in B12 deficiency neurological syndromes with and without antiparietal cell antibodies. Postgrad. Med. J. 2007;83:124–127. doi: 10.1136/pgmj.2006.048132.
4. Herrmann W., Obeid R. Utility and limitations of biochemical markers of vitamin B12 deficiency. Eur. J. Clin. Investig. 2013;43:231–237. doi: 10.1111/eci.12034.
5. Green R., et al. Vitamin B(12) deficiency. Nat. Rev. Dis. Primers. 2017;3:17040. doi: 10.1038/nrdp.2017.40
6. Obeid R et al. Diagnosis, Treatment and Long-Term Management of Vitamin B12 Deficiency in Adults: A Delphi Expert Consensus. J Clin Med. 2024 Apr; 13(8): 2176. Published online 2024 Apr 10. doi: 10.3390/jcm13082176

Wer entscheidet über die Zumutbarkeit einer Therapie?

Die Präimplantationsdiagnostik ist ein noch junges, spannendes Gebiet. Auf den ersten Blick scheinen die gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Fortpflanzungsmedizin (FMedG) klar und sind doch beim näheren Betrachten unscharf.

Eine junge Frau ist heterozygote Trägerin einer MLH1-Mutation. Solche Mutationen sind für ein hochpenetrantes Lynch-Syndrom verantwortlich, welches mit einem Lebenszeitrisiko von über 75–85 % für Kolon- und/oder Endometriumkarzinom, sowie einem relevant erhöhten Risiko für weitere Karzinome einhergeht. Die Mutter der Patientin ist mit 46 Jahren an einem metastasierenden Kolonkarzinom verstorben; die Krankheitsgeschichte und der Verlust der Mutter sind für die Patientin prägend. Die empfohlenen häufigen Surveillance-Untersuchungen und die präsente Tumorangst bei einem ungewissen Restrisiko sind belastend. Diese Belastung möchte sie ihren Nachkommen möglichst nicht zumuten und entscheidet sich für eine In-vitro-Fertilisation (IVF) und eine gezielte Testung der Embryonen auf die für das Lynch-Syndrom bekannte Genmutation MLH1. Dieser Entscheid ist gut nachvollziehbar und international besteht ein breiter Konsens, dass P/LP-MLH1-Mutationen für eine PGT-M (Präimplantations-Gentest zur Erkennung von monogenen Krankheiten) qualifizieren. Wo liegt also das Problem?

Die gesetzlichen Bestimmungen in der Schweiz verlangen für eine PGT-M, dass es sich um eine vererbbare und schwere Krankheit handelt und diese vor dem 50. Altersjahr auftritt. Diese Bedingungen werden mit einem Lynch-Syndrom sicher erfüllt. Weiter verlangt das Gesetz, dass für die Krankheit keine wirksamen und zweckmässigen Therapieoptionen vorliegen. Dieser Punkt kann kontrovers diskutiert werden und zeigt die Unschärfe der gesetzlichen Vorgaben. Grundsätzlich gibt es wirksame und zweckmässige Vorsorgeuntersuchungen und Therapieoptionen für Tumorerkrankungen, allerdings wissen wir auch, dass diese aufwändig, für die Patienten belastend und leider nicht immer erfolgreich sind. Ähnlich verhält es sich mit den BRCA1/2-Mutationen, welche mit einem im Vergleich zur Normalbevölkerung massiv erhöhten Brust- und Ovarialkarzinom einhergehen. Mit dem Argument, dass eine sorgfältige Vorsorgeuntersuchung und rechtzeitige bilaterale Mast-/Salpingo-Ovarektomie eine wirksame und zweckmässige Therapieoption darstellt, wird teilweise dem Wunsch nach einer PGT-M aus rechtlicher und medizinethischer Sicht nicht entsprochen.

In den 2022 verfassten Richtlinien zur PGT-M der NEK (Nationale Ethikkommission) steht, dass eine Therapie zweckmässig ist, wenn die Risiken und Belastungen der Therapie für die von der schweren Krankheit betroffene Person und für das Paar zumutbar sind. Wer bestimmt, was und für wen und in welcher Situation zumutbar ist?

Aus meiner langjährigen internistischen Tätigkeit weiss ich, dass ein Mammakarzinom oder Colonkarzinom nicht immer langfristig beherrscht werden kann, dass häufige Vorsorgeuntersuchungen wie z.B. beim Lynch-Syndrom grosse Sorgen und Unsicherheiten auslösen können und dass eine elektive bilaterale Mastektomie für die betroffene Frau eine massive emotionale Belastung darstellt. In der Schweiz wird jeder einzelne Fall in einem individuellen PGT-M-Board behandelt und gegebenenfalls auch über den Aspekt der Zumutbarkeit einer Therapie entschieden. In den UK wird von der Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA) eine Liste mit über 600 Krankheiten/Mutationen geführt, welche für eine PGT-M qualifizieren, so dass vergleichbare Fälle gleich beurteilt werden. Und selbstverständlich gibt es auch Länder ohne jegliche Regulationen in Bezug auf die genetische Testung von Embryonen.

Die genetische Testung von Embryonen muss ein unbedingt wichtiges gesellschaftliches und politisches Thema bleiben. Eine Selektion von Embryonen mittels polygenetischer Testung (PGT-P) und Risikoscores sind bereits in diversen Ländern Realität und lassen aufhorchen. Auch mit der in der Schweiz erlaubten monogenetischen Testung müssen mit dem Wunschpaar sorgfältige Gespräche geführt werden und immer die Option offengelassen werden, dass nicht gleichzeitig auch eine Testung auf Aneuploidie (Abweichung der Chromosomenzahl) erfolgen muss. Aber es liegt mir sehr am Herzen, dass auch Gynäkologen, Onkologen und Internisten, welche die Belastung betroffener Patienten z.B. Lynch-Syndrom oder BRCA1/2-Mutation kennen, in die medizinethische Diskussion rund um Wirksamkeit und Zumutbarkeit einer Therapie miteinbezogen werden und möglichst eine einheitliche, transparente und rechtsgleiche Praxis in Bezug auf PGT-M in der Schweiz erreicht werden kann.

Dr. med. Vera Stucki-Häusler, Zürich

Dr. med.Vera Stucki-Häusler

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Dr. med. Vera Stucki-Häusler
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Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom

Das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH) ist eine einschneidende Diagnose für Jugendliche mit weitreichenden Konsequenzen. Das MRKH-Syndrom wird meist entdeckt durch das Ausbleiben der Menstruation in der Pubertät und wird in zwei Formen eingeteilt. Als Therapie gibt es die konservativen Dehnungsbehandlungen sowie chirurgisch-minimal invasive Techniken, welche unabhängig des operativen Ansatzes einer intensiven Nachsorge bedürfen.

Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser syndrome (MRKH) is a drastic diagnosis for young people with far-reaching consequences. MRKH syndrome is usually discovered due to the absence of menstruation during puberty and is categorised into two forms. There are conservative stretching treatments as well as surgically minimally invasive techniques, which require intensive aftercare regardless of the surgical approach.

Key words: Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom, Vecchietti Operation, Shears Operation, Dilatation nach Frank, Amenorrhoe

Krankheitsbild

Das MRKH-Syndrom ist eine Anomalie der Müller’schen Gänge. Diese zeichnet sich durch eine angeborene Aplasie des Uterus und der oberen 2/3 der Vagina aus bei einer phänotypisch weiblichen Person mit den Geschlechtschromosomen XX (1). Diese Malformation wurde bereits im 11. Jahrhundert von Albucassis und Avicenna beschrieben, jedoch ist das vollständige MRKH-Syndrom erst seit etwa 150 Jahren bekannt. Der Name wurde 1961 nach der Präzisierung der Definition durch Hauser und Schreiner von «uterus bipartitus solidus rudimentarius cum vagina solida» in Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom geändert, benannt nach den Erstbeschreibern (2). Das MRKH-Syndrom hat eine Inzidenz von 1:5’000, welche in zwei gross angelegten, europäischen epidemiologischen Studien erhoben wurde (3, 4).

Gemäss der ESHRE/ESGE-Klassifikation von 2013 wird die Anomalie als U5 C4 V4 klassifiziert (5). Die ESHRE/ESGE-Guidelines lassen alle Kombinationen von Müller’schen Anomalien klassifizieren (Abb. 1).

Embryologie und Genetik

In der Embryologie bildet sich der paramesonephrische Duct (Müller’scher Gang) ab der 5. / 6. Schwangerschaftswoche aus. Familiäre Konstellationen deuten auf eine monogenetische Ursache hin. Im Weiteren gibt es aber auch Hinweise auf polygenetische und multifaktorielle Faktoren als auch Umgebungsfaktoren sowie regulatorische Mechanismen, wo epigenetische und somatische Ereignisse eine Rolle spielen (6). In Tiermodellen wurden verschiedene Faktoren nachgewiesen. Die sich ständig entwickelnden Möglichkeiten genetischer Abklärung sind mit den Betroffenen zu besprechen und dürften das Wissen um mögliche Faktoren in Zukunft erweitern. Dies dürfte auch von Bedeutung sein, falls die Uterus-Transplantation in Zukunft für Betroffene zur Verfügung stehen wird.

Beim MRKHS werden zwei Formen unterschieden: Typ I, das isolierte Fehlen von Vagina und Uterus (ca. 60 % der Betroffenen) und Typ II, das atypische MRKHS mit asymmetrischer Hypoplasie einer oder beider Uterusknospen sowie Tubendysplasie zusätzlich zur Vaginalaplasie (ca. 40 % der Betroffenen). Diese Form ist mit weiteren Fehlbildungen verbunden, insbesondere im oberen Harntrakt und Skelettsystem. Eine schwerwiegende Form ist die MURCS-Assoziation (Müllerian-Renal-Cervicalthoracic-Somite abnormalities), bei der auch Herzanomalien und Hörverlust auftreten können.

Diagnostisches Work-up und Transition

Die meisten MRKH-Diagnosen werden zwischen dem Alter von 15 und 17 Jahren gestellt, wenn der Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin stattfindet. Die diagnostischen Schritte können von jugend-gynäkologisch geschulten PädiaterInnen oder GynäkologInnen eingeleitet werden (Tabelle 1). Nach einer wegweisenden Anamnese folgen Blutuntersuchungen zum Hormonstatus und die Bildgebung. In der Bildgebung hat sich das MRI etabliert, da es mögliche Zusatzanomalien oder kranialisierte Ovarien, welche bei fehlender Vagina sonographisch nicht einfach erhoben werden können, visualisieren lässt (7). Differentialdiagnostisch ist an XY DSD (disorder of sex differenciation) zu denken. Es handelt sich dabei um eine seltene angeborene Genitalfehlbildung beim männlichen Geschlecht. Eine ebenfalls XY-assoziierte Ausprägung kann das CAI-Syndrom sein (CAIS = complete androgen insensitivity syndrome, auch Morris Syndrome genannt), wo eine Mutation im Androgenrezeptor Gen vorliegt. Phänotypisch sind die Personen weiblich mit blind endender kurzer Vagina und wenig Schambehaarung.

Die Diagnose MRKH trifft die jungen Frauen in der Adoleszenz, einer vulnerablen Lebensphase. Die Diagnose kann Betroffene in eine ernsthafte Krise stürzen, sind doch die Identität, die Sexualität und die Reproduktion betroffen. Eine sensible psychologische Begleitung durch eine hierzu geschulte Person ist anzusprechen und zu empfehlen. Es liegen bei MRKH-Betroffenen häufiger Ängste, Depression und Minderwertigkeitsprobleme vor (8).

Therapie des MRKH

Der optimale Zeitpunkt für die Durchführung einer Neovaginoplastik liegt nach Abschluss der Pubertätsentwicklung vor, sofern eine ausreichende Östrogenproduktion gewährleistet ist und die Patientin den Wunsch nach sexuellen Aktivitäten äussert. Die erfolgreiche Umsetzung dieser Therapie erfordert die Einwilligungsfähigkeit und das Verständnis der Patientin, bei den Therapien einen aktiven Part einzunehmen, speziell was die Nachbehandlung mit Dilatationen betrifft. Auf diesen wichtigen Teil der Behandlung wird untenstehend weiter eingegangen. Die OP soll auf expliziten Wunsch der Betroffenen durchgeführt werden, denn eine vorzeitige Operation auf Wunsch der Eltern erhöht das Risiko von Misserfolgen, traumatischen Erfahrungen für die Patientin sowie die Notwendigkeit wiederholter Eingriffe zur Aufrechterhaltung der Vaginalintegrität, welche für ein späteres zufriedenstellendes Sexualleben ein entscheidender Faktor ist. Unabhängig davon, ob konservative oder operative Verfahren angewendet werden, erfordert die Durchführung der Vaginaldilatation im Verlauf beträchtliche Anstrengungen, insbesondere bei jüngeren Frauen, und eine mal-compliance kann den Therapieerfolg erheblich schmälern. Ziel ist eine Vaginallänge von mindestens 6.6 cm zu bekommen, da ab dieser Länge die sexuelle Zufriedenheit hoch war (9).

Nicht-invasive Therapie

Bei Patientinnen mit präsentem Scheidengrübchen und einem zentral gelegenen Meatus urethrae externus kann eine Dilatationstherapie angeboten werden. Die erste Beschreibung eines solchen Verfahrens erfolgte 1938 durch Frank und wurde dann durch Ingram weiterentwickelt. Die Therapie dauert 4–6 Monate, bis eine suffiziente Vaginallänge erreicht wird, welche penetrative Kohabitationen ermöglicht.
Täglich sollte für mindestens 30 Minuten ein Druck bzw. eine Dilatation des Vaginalgrübchens erfolgen. Hierzu sollte das Vaginalgrübchen nicht vernarbt sein. Dieses lange dauernde Verfahren hat Erfolgsquoten von bis zu 95 % und aufgrund der nicht-invasiven Natur der Methode wird sie z.B. in den USA als Methode der ersten Wahl angesehen (10). Es muss aber beachtet werden, dass die Therapie in ungefähr 15 % nicht erfolgreich ist, resp. abgebrochen wird.

In Studien zur sexuellen Zufriedenheit zeigte die Dilatationsmethode zwar die niedrigsten Werten im FSFI-Score (25.7 Punkte) bei gleichzeitig kürzester mittlerer Vaginallänge von 6.7 cm (11, 12). Der Female Sexual Function Index (FSFI) misst die sexuelle Zufriedenheit anhand eines Scores mit Werten zwischen 0–36. Je höher die Punktzahl, umso grösser ist die sexuelle Zufriedenheit. Dabei ist zu erwähnen, dass bei den in diesem Artikel diskutierten Methoden die FSFI-Werte in Studien ähnlich waren, nämlich zwischen 25.7 und 29.9 Punkten. Bei der Dilatationsmethode wird die Neovagina mit normalem Vaginalepithel ausgekleidet und bietet ein normales vaginales Milieu.

Operative Techniken

Das Verfahren nach Wharton-Shears-George basiert auf dem schrittweisen Dilatieren der rudimentär vorliegenden Müller-Gänge mit Hegarstiften bis auf Grösse 14 in jedem Kanal. Dann wird durch Inzision zwischen beiden Hegarstiften und Präparation in die Tiefe eine Neovagina im Spatium vesikorektale kreiert. Begrenzende Strukturen sind die hintere Blasenwand und die vordere Rektumwand, welche auf Integrität am Ende des Eingriffs kontrolliert werden müssen. Ein perinealer Hautlappen kann in die Neovagina transplantiert werden, um die Epithelialisierung zu verbessern. Ein Vaginalstent beschichtet mit Östrogencrème wird für ungefähr eine Woche eingelegt und danach durch grössere Dilatatoren ersetzt.

Im Verlauf wird empfohlen täglich zu dilatieren, da das Gewebe zu schrumpfen neigt. Dies auf alle Fälle, bis regelmässige Kohabitationen aufgenommen werden. Die Neovagina wird innerhalb von mehreren Monaten vom Introitusbereich aus mit physiologischem nicht-verhorntem Vaginalepithel epithelialisiert und erreicht im Mittel eine Länge von 8.3 cm (13). Diese Methode hatte in Studien einen hohen FSFI-Score von 29.9 Punkten bei 289 Frauen.

Eine Kombination aus operativer Anlage einer Neovagina mit einem Dehnungsverfahren bietet die Methode nach Vecchietti. Hierbei wird ein Phantom in die Vaginalgrube eingelegt und daran angebrachte Fäden auf Höhe des Bauchnabels mittels Laparoskopie ausgeführt. Mit Hilfe einer Spannungsapparatur wird jeden Tag der Zug auf die Fäden erhöht und somit eine Vaginaldehnung von bis zu 1 cm/Tag erreicht. Ziel ist, eine Vaginallänge von 10-12 cm zu erhalten. Die Phase der raschen Vaginaldehnung erfolgt unter stationären Bedingungen bei liegender Epiduralanästhesie (EDA) zur Vermeidung von Schmerzen. Heutzutage werden walking-EDAs angelegt, um eine längere Immobilität zu vermeiden. Wie bei der Wharton-Shears-George-Methode erfolgt die Epithelisierung vom Introitus aus mit normalem Vaginalepithel.

Es wird nach Entfernung des Spannapparates in den ersten 3 postoperativen Monaten empfohlen, 24 Stunden pro Tag mit reichlich östrogenhaltiger Creme ein Phantom zu tragen. Sollte nach der Abheilungs-/Epithelialisierungsphase keine regelmäßige Kohabitation möglich sein, sollte das Phantom zumindest nachts für einige weitere Monate getragen werden, da sonst ein Risiko für eine sekundäre Schrumpfung der Neovagina besteht. Die Länge und Breite des Dobbies lassen wir am Universitätsspital Zürich nach Entfernung des Spannapparates individuell anpassen.

Auch zeigten Studien zur sexuellen Zufriedenheit normale Werte im FSFI-Score von 29.8, bei einer mittleren Vaginallänge 7.9 cm. Urologische Komplikationen bei der Anlage des Spannapparates traten in 2 % der Fälle auf (11).

Bei der Darmscheidenanlage wird ein Darmabschnitt (in der Regel Sigma oder Ileum) isoliert und für die Konstruktion eines Vaginalkanals verwendet. Die Darmscheidenanlage ist unter den bisher vorgestellten Methoden die aufwändigste Operation. Diese Technik ist besonders in der Kinderchirurgie eine etablierte Methode. Das Darmsegment wird sorgfältig vorbereitet, um die Blutversorgung und die Integrität der Schleimhaut sicherzustellen. Anschliessend wird es chirurgisch in die Beckenhöhle implantiert, um die Neovagina zu bilden. Im Laufe der Zeit heilt die Neovagina und passt sich der Funktion eines natürlichen Vaginalkanals an, wobei Studien die längste Vaginallängen zeigten im Vergleich zu den anderen beschriebenen Techniken von 12.9 cm mit einem FSFI-Score von 27.8 (12). Zu beachten ist, dass diese Technik die höchsten Dyspareunieraten aufweist und Stenosen in knapp 10 % der Fälle im Verlauf vorkommen. Vor geplanter Uterus-Transplantation sollten diese Verfahren nicht angewandt werden.

Komplikationen oder unerwünschte Begleiterscheinungen reichen von mukösem, teils übelriechendem Ausfluss bis hin zu Strikturen oder Nekrosen im Anastomosenbereich. Darmkrebsfrüherkennungsuntersuchungen sind nach dieser Methode empfohlen.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Sören Lange

Oberarzt Klinik für Gynäkologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

PD Dr. med. Cornelia Betschart Meier

Stellvertretende Klinikdirektorin
Klinik für Gynäkologie, USZ
Frauenklinikstrasse 10
8006 Zürich

cornelia.betschart@usz.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte angegeben.

Das MRKH-Syndrom ist eine seltene Anomalie der Müller’schen Gänge mit Anlagestörungen von Uterus und Vagina ohne chromo­somale Anomalien.
Die Diagnose MRKH trifft die Patientinnen meist in einer vulnerablen Lebensphase und kann ernsthafte psychologische Folgen haben, weshalb eine sensible psychologische Begleitung essenziell ist.
Operative Verfahren ermöglichen die Rekonstruktion der Vagina, u.a. durch Dissektion des Spatium vesikorektale, durch kontinuierliche Dilatation des residuellen Vaginalgrübchens oder durch Anlage einer Darmscheide.
Gut angelegte Studien zum Vergleich verschiedener operativer Methoden fehlen.

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Hormonanalytik in der gynäkologischen Sprechstunde

Zyklusstörungen sind häufige Anliegen in der gynäkologischen Praxis und können auf hormonelle Dysregulationen wie das polyzystische Ovarialsyndrom hinweisen. Die Hormonanalyse dient dazu, verschiedene Hormone wie die Gonadotropine (FSH, LH) Östradiol, Testosteron, Sexualhormon-bindende Globuline (SHBG), Dihydroepiandrosteron (DHEAS), Thyroidea-stimulierendes Hormon (TSH), Prolaktin und das Anti-Müller-Hormon (AMH) zu bewerten. Diese Parameter ermöglichen Einblicke in die ovarielle Funktion, den Menstruationszyklus und das endokrine Gleichgewicht der Patientin. Insbesondere bei Hinweisen auf Androgenisierung oder Hyperandrogenismus ist eine differenzierte Hormonanalyse von grosser Bedeutung. Die Identifizierung von Zyklusstörungen und Hormonungleichgewichten eröffnet die Möglichkeit zur gezielten Therapie, die von der hormonellen Regulation bis zur Behandlung spezifischer Symptome reichen kann. Ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Pathophysiologie und eine individualisierte Herangehensweise sind entscheidend, um die Gesundheit und das Wohlbefinden von Frauen mit Zyklusstörungen und Androgenisierung effektiv zu managen.

Menstrual disorders are common concerns in gynecological practice and can signal hormonal dysregulations such as polycystic ovary syndrome. Hormone analysis serves to assess various hormones including gonadotropins (FSH, LH), estradiol, testosterone, sex-hormone-binding globuline (SHBG), dehydroepiandrosteron (DHEAS), prolactine, thyroidea stimulating hormone (TSH) and anti-mullerian hormne (AMH). These parameters offer insights into ovarian function, the menstrual cycle, and the patient’s endocrine balance. A detailed hormone analysis is particularly crucial when there are indications of androgenization or hyperandrogenism. Identifying menstrual disorders and hormonal imbalances provides the opportunity for targeted therapy, ranging from hormonal regulation to treating specific symptoms. A comprehensive understanding of the underlying pathophysiology and an individualized approach are essential for effectively managing the health and well-being of women experiencing menstrual disorders and androgenization.
Key words: Menstrual disorders, hormonal dysregulations, hormonal analysis

Hormonanalytik in der Praxis

Die Hormonanalytik spielt während der reproduktiven Phase einer Frau in der Diagnosestellung eine entscheidende Rolle. Sie ist unverzichtbar sowohl für das Monitoring des Menstruationszyklus als auch für die differenzierte Diagnose von Zyklusstörungen. Weitere häufige Anliegen wie Androgenisierungserscheinungen können oft nur durch endokrinologische Diagnostik geklärt werden.

Der vorliegende Artikel vermittelt die grundlegenden Prinzipien der Hormonanalytik, die in der täglichen Arbeit der gynäkologischen Praxis Anwendung finden.

Der weibliche Hormonhaushalt ist komplex und sollte nicht einseitig betrachtet werden. Daher sollten auch die Lebensumstände, Ernährungsgewohnheiten und die Einnahme von Medikamenten in die Diagnose miteinbezogen werden (1).

Physiologie

Die übergeordnete Funktionseinheit zur Steuerung des weiblichen Zyklus besteht aus dem Hypothalamus und der Hypophyse. Das Ovar fungiert als Zielorgan und bewirkt unter anderem durch die Produktion weiblicher Geschlechtshormone die charakteristischen Effekte des weiblichen Zyklus. Die Gonadotropine LH (Luteinisierendes Hormon) und FSH (Follikelstimulierendes Hormon) erfüllen bei beiden Geschlechtern eine zweifache Funktion: Sowohl die Produktion der Keimzellen als auch die Bildung und Ausschüttung von Sexualhormonen aus den Eierstöcken und Hoden werden durch die beiden Gonadotropine gesteuert.

Die Voraussetzung für einen normalen ovulatorischen Zyklus ist die pulsatile Sekretion von LH, die unter anderem durch die Ausschüttung von GnRH (Gonadotropin Releasing Hormone) und die Rückkopplung des Östradiols beeinflusst wird. FSH vermittelt die Umwandlung zu Östrogenen in den Granulosazellen. Gonadotropine werden ihrerseits durch positive und negative Feedback-Mechanismen der Steroide reguliert (2).
Vor dem Einsetzen einer regulären Menstruation und dem Beginn eines neuen Menstruationszyklus, falls keine Schwangerschaft eingetreten ist, erfolgt die Luteolyse des Gelbkörpers, gefolgt von einem darauffolgenden Abfall der Östradiol- und Progesteron­spiegel.

Das Anti-Müller-Hormon und die Ovarreserve

Die Bedeutung des Anti-Müller-Hormons (AMH) im Zusammenhang mit der ovariellen Reserve nimmt eine besondere Stellung ein. Der Höchstwert im Lebensverlauf wird etwa im 25. Lebensjahr erreicht. AMH verringert die Anfälligkeit der Granulosazellen für FSH und blockiert somit die Rekrutierung von Follikeln aus dem Pool der primordialen Follikel sowie die Sekretion des dominierenden Follikels. AMH bestimmt in erheblichem Masse somit den Verbrauch von Follikeln (2).

Die AMH-Konzentration sinkt mit abnehmendem Follikelpool und somit mit einer altersbedingten Reduktion der Gesamtmasse an Granulosazellen. Eine AMH-Bestimmung ist daher sinnvoll, wenn Zyklusstörungen auftreten und das FSH auffällig hoch ist oder wenn eine Stimulation mit FSH-Medikamenten im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung geplant ist.

Basierend auf den Erkenntnissen lässt sich feststellen, dass die AMH-Werte nur dann eine valide Einschätzung der ovariellen Reserve und der Fertilität ermöglichen, wenn eine Subfertilität vorliegt, also wenn über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten aktiv eine Schwangerschaft angestrebt wurde. Die Messung von AMH bei Frauen ohne Kinderwunsch liefert keinen verlässlichen Hinweis darauf, ob der spätere Zeitpunkt für eine Schwangerschaft eher unter-, überdurchschnittlich oder altersgemäss sein wird (3,4).

Zur Beurteilung der ovariellen Reserve sind FSH, Östradiol (in der frühen Follikelphase) und das AMH geeignet. AMH wird als der aussagekräftigste Parameter für die Einschätzung der ovariellen Reserve betrachtet. Mit zunehmendem Alter nimmt der Follikelvorrat ab, was zu einem Rückgang des AMH-Werts führt. Ein AMH-Wert unterhalb der Nachweisgrenze bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass bereits die Wechseljahre eingetreten sind.

Selbst bei AMH-Werten unter-halb der Nachweisgrenze können noch ovulatorische Zyklen auftreten. Untersuchungen haben gezeigt, dass im Durchschnitt 5–6 Jahre nach dem Verlust der Nachweisbarkeit das Einsetzen der Menopause beobachtet wurde (3).

Zyklusdiagnostik

Für die Basisdiagnostik kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ein ovulatorischer Zyklus vorliegt, wenn die Patientin einen regelmässigen Menstruationszyklus angibt.

Eine Hormonanalyse kann dennoch im Rahmen des Zyklusmonitorings durchgeführt werden. Hierbei erfolgt die Basisbestimmung zur Erfassung der ovariellen Funktion zu Beginn des Menstruationszyklus in der Follikelphase (2.–5. Zyklustag). In dieser Phase sind üblicher-weise niedrige Östradiol- und Gonadotropinspiegel festzustellen.

Ein erhöhter FSH-Serumspiegel im Frühfollikelstadium (>12 U/l) deutet auf eine ovarielle Störung hin, deren Gründe weiter untersucht werden sollten.

Die Detektion eines LH-Peaks, der der Ovulation 18-24h vorausgeht, ist möglich, jedoch sind möglicherweise mehrere LH-Messungen erforderlich (5).

Klinisch hat sich die Einzelmessung von LH und Östradiol in der Zyklusmitte sowie die gleichzeitige sonographische Beurteilung der Endometriumdicke mit Grösse und Anzahl der Follikel als gängige Vorgehensweise etabliert. Als Alternative besteht die Möglichkeit, den LH-Peak durch den Gebrauch handelsüblicher, urinbasierter Ovulationstests mit akzeptabler Genauigkeit zu erfassen (6).
Die Lutealphase setzt nach der Ovulation ein, die durch den mitt-zyklischen Anstieg von LH ausgelöst wird. Durch die Freisetzung der Oozyte aus dem dominierenden Follikel entsteht das Corpus luteum. Neben Östrogenen, weiteren Hormonen und Wachstumsfaktoren sezerniert es vor allem Progesteron, das als Schlüsselhormon der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus fungiert.

Etwa 4-6 Tage nach der Ovulation wird im weiblichen Zyklus als der optimale Zeitpunkt für die Rezeptivität des Endometriums und eine erfolgreiche Implantation angesehen.

Gegen Ende der zweiten Zyklushälfte ist die Sekretion von Progesteron verstärkt mit der LH-Pulsatilität verbunden, was zu einer zunehmenden Schwankungsbreite der gemessenen Serumwerte für Progesteron führen kann. Aufgrund der variablen Ausschüttung von Progesteron im pulsierenden Rhythmus scheint ein einzelner, zu niedrig bestimmter Wert nicht geeignet zu sein, um eine Lutealphaseninsuffizienz zu dokumentieren.

Ein grundlegendes Problem in Bezug auf die Definition einer Lutealphaseninsuffizienz liegt daher in der fehlenden verlässlichen und validen diagnostischen Methode zur Beurteilung der Sekretionsleistung des Corpus luteum. Rein klinisch kann eine verkürzte zweite Zyklushälfte oder das Auftreten prämenstrueller Schmierblutungen sowie Spotting auf die Lutealphaseninsuffizienz hinweisen (2).

Hormonanalyse bei Zyklusstörungen

Die Beschreibung einer normalen Menstruation umfasst eine moderate Blutung von 3 bis 7 Tagen Dauer mit einem Blutverlust von unter 80 ml. Die Eumenorrhoe geht in der Regel mit minimalen Beschwerden einher und folgt einem Zyklus von 24 bis 35 Tagen.

Die Ursachen für Zyklusstörungen sind vielfältig. Hormonelle als auch organische Ursachen, (Stress, Polypen, Myome, Asherman-Syndrom, Essstörungen und Leistungssport) können unregelmässige Zyklen verursachen.

Eine eindeutige Indikation für eine umfassendere hormonelle Diagnostik liegt vor, wenn Zyklusstörungen auftreten, die sich als Unregelmässigkeiten im Menstruationsrhythmus oder im Menstruationstypus manifestieren können.

Diese Diagnostik sollte idealerweise zwischen dem 2. und 5. Zyklustag oder während der ovariellen Funktionsruhe (Amenorrhoe) durchgeführt werden. Relevante Parameter zur Untersuchung von Zyklusstörungen umfassen LH, FSH, Östradiol, Gesamttestosteron, Sexualhormon-bindendes-Globulin (SHBG), Dehydroepiandrosteron-Sulfat (DHEAS), Prolaktin und (Thyroidea stimulierendes Hormon) TSH, sowie den Ausschluss einer Schwangerschaft (6).

Präanalytik

Die Verwendung hormoneller Kontrazeptiva führte in verschiedenen Studien zu einer Senkung der AMH-Werte im Vergleich zu Frauen, die keine solchen Präparate einnehmen (bis zu 30 % niedrigere Werte) (7). Die Dosierung von Ethinylestradiol in den Präparaten hatte dabei keine Auswirkung. Nach dem Absetzen der hormonellen Kontrazeptiva wurde jedoch eine signifikante Zunahme der AMH-Spiegel festgestellt (8).
Auch andere Medikamente können einen Einfluss auf die Hormondiagnostik haben. Prolaktin ist ein typisches Beispiel eines hormonellen Parameters, der durch Medikamenteneinnahme beeinflusst wird. Insbesondere die Einnahme von Neuroleptika, Antidepressiva, Gastroprokinetika, aber auch einige Antihypertensiva führen zu erhöhten Prolaktinwerten im Serum und können so auch klinische Symptome (z. B. Galaktorrhö, Oligo-/Amenorrhö) bewirken (9) (siehe Tab. 1).

Diagnostik der Androgenisierung

Der Ausdruck Androgenisierung bezeichnet die serologischen oder phänotypischen Veränderungen einer Frau, die typischerweise zu männlich orientierten Merkmalen führen.

Zeichen der Androgenisierung, wie zum Beispiel vermehrter Haarwuchs im männlichen Muster (Hirsutismus), Akne, und androgenetische Alopezie (männlicher Haarausfall), mit oder ohne Zyklusstörungen gehören zu den häufigsten Gründen für eine gynäkologische Konsultation. Differenzialdiagnotisch müssen die funktionelle Androgenisierung (polyzystisches Ovarialsyndrom PCOS, Adrenogenitales Syndrom AGS), androgen produzierende Tumore und die pharmakologisch bedingte Androgeniserung (z.B. Anabolika) in Betracht gezogen werden.
Um eine Hyperandrogenämie oder einen Hyperandrogenismus differenzialdiagnostisch zu untersuchen, werden insbesondere folgende Hormone bestimmt:

– Gesamt-Testosteron
– DHEAS
– Androstendion
– SHBG

Testosteron ist ein lipophiles Steroidhormon, das im Blutplasma zu etwa 60 % an SHBG und zu etwa 30–40 % an Albumin gebunden wird. Obwohl bisher kein guter Assay für die direkte Messung des freien Testosterons verfügbar ist, wird empfohlen, neben der Bestimmung des Gesamttestosterons auch den SHBG-Spiegel zu messen. Dies ermöglicht die Ableitung des Anteils des freien, also wirksamen Testosterons. Der freie Androgenindex (FAI) kann auf diese Weise ermittelt werden. Bei einem Anstieg der adrenalen Androgene wie DHEAS und Androstendion wird im Rahmen der differenzialdiagnostischen Untersuchung, insbesondere bei entsprechender klinischer Symptomatik, ein Cushing-Syndrom als mögliche Ursache für die Hyper-androgenämie ausgeschlossen. Hierfür erfolgt die Bestimmung von Cortisol. Bei nachgewiesener Erhöhung des Cortisols wird ein Dexamethason-Kurztest durchgeführt.

Auch sollte bei einem Anstieg der adrenalen Androgene ein möglicher Enzymdefekt in der Nebenniere durch eine frühzyklische Überprüfung von 17-Hydroxyprogesteron (17-OHP) ausgeschlossen werden. Bei erhöhten 17-OHP-Spiegeln (>2 ng/ml) wird ein ACTH-Stimulationstest durchgeführt. Bei auffälligem ACTH-Test erfolgt eine anschliessende molekulargenetische Diagnostik zur Präzisierung des Enzymdefektes.
Ein Testosteronspiegel von >1,5–2 ng/ml oder ein DHEAS-Spiegel von >7 μg/ml, zusammen mit schnell fortschreitenden Androgenisierungssymptomen, können auf das Vorliegen eines androgenbildenden Tumors hinweisen.

Wenn die Hyperandrogenämie oder der Hyperandrogenismus auf das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) zurückzuführen ist, wird in der Grunddiagnostik zusätzlich ein oraler Glukosetoleranztest (oGTT) empfohlen. Dies dient dazu, eine Insulinresistenz auszuschliessen, die bei mehr als 30% der Betroffenen nachgewiesen werden kann (6).

Zyklusstörungen spielen eine führende Rolle bei unerfülltem Kinderwunsch.

Ein unregelmässiger Zyklus oder eine Amenorrhoe deuten auf mögliche Störung der Follikelreifung oder Ovulation hin. Hormonveränderungen können auch die Lutealphase beinträchtigen.

Etwa 15% der Frauen mit einer Paarsterilität haben ihre Ursache in Anovulation oder einer Störung der Follikulogenese. Klinisch kann dies als primäre oder sekundäre Amenorrhoe auftreten.

Normogonadotrope Anovulationen werden sehr häufig durch PCOS verursacht.

Hypogonadotrope Anovulationen werden häufig durch eine hypothalamisch-hypophysäre Dysfunktion verursacht, die zum Beispiel auf einen niedrigen Body-Mass-Index (BMI) oder starke körperliche oder psychische Belastungen zurückzuführen sein kann.

Hypergonadotrope Anovulationen sind häufig ein Merkmal der prämaturen Ovarialinsuffizienz (9). Häufig gehen Zyklusstörungen mit Störungen des Prolaktinhaushalts einher. Ein erhöhter Prolaktinspiegel hemmt die Progesteronsekretion, was letztlich zu Zyklusstörungen und dem Ausbleiben der Ovulation führen kann.

Frauen mit PCOS haben ein erhöhtes Risiko für Endometriumhyperplasie aufgrund unregelmässiger oder fehlender Menstruationszyklen. Unbehandelte Zyklusstörungen bei PCOS können zu verschiedenen Komplikationen führen, darunter Sterilität, metabolische Störungen wie Insulinresistenz und Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und das Endometriumkarzinom.

In der Regel strebt man an, mindestens alle drei Monate eine Menstruation zu haben, um das Risiko einer Endometriumhyperplasie zu reduzieren. Dies kann durch Lebensstiländerungen, Medikamente zur Regulation des Menstruationszyklus und andere therapeutische Ansätze erreicht werden.

Auch bei postmenopausalen Frauen besteht eine Verbindung zwischen hohen Androgenspiegeln, Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes mellitus (10).

Das nicht-klassische adrenogenitale Syndrom (AGS) mit einer Minderung der Enzymaktivität von CYP21A2 manifestiert sich nicht mit offensichtlichen Genitalauffälligkeiten, Kortisol- oder Aldosteronmangel, wie es bei der klassischen Form des AGS der Fall ist. Stattdessen treten die Symptome des Androgenüberschusses normalerweise erst im späteren Alter auf.

Bei Frauen mit geringen Anzeichen von Androgenisierung können die Verwendung von oral kombinierten Kontrazeptiva gewählt werden. Als erste Wahl können Ethinylestradiol (EE)/Levonorgestrel (LNG) und als zweite Wahl antiandrogene Gestagene in Betracht gezogen werden.
Aufgrund der Zeit, die bis zum sichtbaren Therapieerfolg benötigt wird, empfiehlt es sich bei ausgeprägtem Hirsutismus, neben einer hochdosierten antiandrogenen Therapie auch eine gleichzeitige mechanische Haarentfernung wie Laserbehandlungen in Betracht zu ziehen.
Nach einer mechanischen Haarentfernung im Gesichtsbereich kann die Anwendung von Efflornithin (Vaniqua 11,5 % Creme) dazu beitragen, das Nachwachsen der Haare zu verlangsamen (11). Insgesamt unterstreicht die gezielte Hormondiagnostik die Bedeutung einer umfassenden und differenzierten Herangehensweise an die Untersuchung und Behandlung von Zyklusstörungen, insbesondere im Zusammenhang mit Androgenisierung und PCOS. Dies ermöglicht eine verbesserte Betreuung und optimale Gesundheitsergebnisse für betroffene Frauen.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Hülya Gülmez

Abteilung für Reproduktionsmedizin und
gynäkologische Endokrinologie
Frauenklinik Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

Prof. Dr. med. Alexandra Kohl Schwartz

Frauenklinik Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

alexandra.kohlschwartz@luks.ch

Die Autorinnen haben keine Interessenskonflikte im ­Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die Hormondiagnostik sollte idealerweise zwischen dem 2. und 5. Zyklustag durchgeführt werden oder während der ovariellen Ruhephase (Amenorrhoe).
◆ Zu den bedeutenden Parametern für die Abklärung von Zyklusstörungen gehören TSH, LH, FSH, Östradiol, Testosteron, DHEAS, SHBG, Prolaktin und DHEAS.
◆ Die Messung des AMH bei Frauen ohne aktuellen Kinderwunsch gibt keine verlässliche Auskunft darüber, ob der spätere Zeitpunkt für eine Schwangerschaft eher unter-, über- oder altersgemäss sein wird.
◆ AMH ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Bestimmung eines Hormonspiegels nur dann sinnvoll ist, wenn das Ergebnis direkte Konsequenzen für die folgende Diagnostik oder Therapie hat.
◆ Frauen mit PCOS (Ausschlussdiagnose ) haben aufgrund unregelmässiger oder ausbleibender Menstruationszyklen ein erhöhtes Risiko für Endometriumhyperplasie. Es wird generell angestrebt, alle drei Monate mindestens eine Menstruation zu haben.

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