Runder Tisch mit Ecken und Kanten

Vorbei sind die Wahlen und weg sind die an jeder Strassenecke vielversprechend lächelnden Gesichter auf den Plakaten der Parteien. An hunderten Rundtischgesprächen war das Gesundheitswesen ein zentrales Thema.

Im aktuellen Weltgeschehen reagieren wir zwischenzeitlich empfindlich auf das Reizwort «Explosion» der Gesundheitskosten und Prämien. Wir alle kennen die Gründe der steigenden Gesundheitskosten und wissen, wie sehr wir durch unsere Arbeit und Erfahrung bemüht sind, Schlimmeres zu verhindern. Mit geduldiger Aufklärung, raschem und unkompliziertem ambulanten Handeln gelingt es uns täglich, aufwändige und meist unnötige Abklärungen und Behandlungen zu umgehen.

Eigentlich hätten wir es verdient, uns gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Am runden Tisch hingegen sehen das unsere Politikerinnen und Politiker parteiübergreifend etwas anders und suchen und finden den schwarzen Peter einmal mehr bei den Leistungserbringern.
Schränke voller Massnahmenpakete warten nur darauf, endlich umgesetzt zu werden. Doch leider finden die involvierten Player im Gesundheitswesen am runden Tisch keinen Konsens.

Ja, es ist schön zu wissen, dass wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben, die Zufriedenheit der Bevölkerung gross ist und die Obsan im internationalen Vergleich die medizinischen Leistungen als positiv wertet. Da könnte manch ein/e frisch gewählter Politiker/in die anstehenden Probleme etwas relativieren und sich während der Legislatur lieber nicht die Finger verbrennen lassen.

Wir haben dazugelernt. Ewiges Nörgeln und Kritisieren sind kontraproduktiv. Vielmehr müssen wir das Gute sehen und unseren Patientinnen und Patienten als Partner gegenüberstehen. Die Image-Kampagne der mfe «Wir hören zu und nehmen uns Zeit» ist das aktuelle Rezept für eine gesunde Schweiz.

Und so stehen wir am Montag nach den Wahlen wieder vor unseren partnerschaftlich gesinnten Patientinnen und Patienten, welche im Zehn-Minuten-Takt reihenweise mit Ansprüchen auf uns zukommen, sich Berichte und Zeugnisse trotz perfekter Digitalisierung stapeln und abends der Notfalldienst auf uns wartet.

In einer ländlichen Praxis tätig, frage ich mich, wie es die Bauern einmal mehr geschafft haben, sich überdurchschnittlich im Parlament zu behaupten und am runden Tisch so manche Subvention durchwinken können. Während sich die Anzahl Landwirte im Parlament beinahe verdoppelt hat, ist die Ärzteschaft neu gerade mal mit drei Personen vertreten, davon eine aus der Hausarztmedizin.
Liegt es daran, dass die Landwirte es möglicherweise besser verstehen, einmal so richtig auf den runden Tisch zu hauen? Sind wir resigniert, gleichgültig, überlastet oder geht es uns womöglich (noch) zu gut?

Die vielen Änderungsvorschläge aus diversen Parteien sollten uns dennoch etwas Kopfzerbrechen bereiten. Allein mit Prävention sei’s getan: das verhindere Krankheiten, Kosten und viel Leid. Hier erinnere ich mich an den Roman «Corpus delicti» von Juli Zeh aus dem Jahre 2009 (wie weitsichtig!). Andere glauben die Lösung in der Digitalisierung und KI, wünschen sich die Einheitskasse, mehr Kontrolle über die Qualitätskontrolle und weitere Vernetzungen der vernetzten Netzwerke.

Dabei kennen wir doch die Realität durch Vergleiche aus unserem grossen Nachbarkanton bestens. Warum müssen wir all die Fehler nachahmen? Warum können wir nicht einfach vertrauen und das viele Gute und Erschaffene verbessern, mit TARDOC endlich unseren guten Feen die Möglichkeit geben, ihr Tun und Wissen vernünftig abzugelten und die medizinische Grundversorgung weiter zu stärken.

Setzen wir uns also immer wieder mit allen Parteien an den runden Tisch und philosophieren darüber, wie sich die Menschheit und Lebenserwartung in einem halben Leben beinahe verdoppelt hat, unser Patient mit Herz-Amyloidose nach seiner erfolgreichen Behandlung Karten aus den Golfferien schickt, die Totgesagte mit Bronchuskarzinom geheilt nie mehr eine Zigarette rauchen will, und mein Nachbar mit Morbus Waldenström ohne seine teuren Medikamente mir heute wohl kaum beim Überwintern der Gartenpflanzen hätte helfen können.

Dr. med. Manfred Wicki

Dr. med.Manfred Wicki

Willisau

m.wicki@hin.ch

RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

Reduktion der Verschreibung von Reserveantibiotika bei unkomplizierten Harnwegsinfekten von Frauen: Resultate aus Hausarztpraxen

Harnwegsinfekte bei Frauen sind ein häufiger Konsultationsgrund in der Hausarztpraxis. Trotz evidenzbasierter und expliziter Empfehlung, Antibiotika erster Wahl anzuwenden, werden häufig auch Reserveantibiotika, bei den Harnwegsinfekten, v.a. Fluoroquinolone, verschrieben. In Deutschland soll dies je nach Region in 38% bis 54% aller Fälle vorkommen. Auch werden Antibiotika generell, wahrscheinlich zu häufig verschrieben, da der Spontanverlauf oft auch ohne diese gut ist. Antibiotika reduzieren v.a. die Symptomdauer und haben einen deutlich schwächeren Effekt in Bezug auf Verhinderung von Komplikationen, namentlich einer Pyelonephritis. Mit Beteiligung von 110 deutschen Hausarztpraxen (mehr als 10300 Episoden eines Harnwegsinfektes) wurde der Effekt folgender Interventionen evaluiert: Abgabe der neuesten Guidelines an Ärztinnen und Ärzte und an Patientinnen und Patienten, regelmässige Informationen über die regionalen Resistenzentwicklungen sowie Feedbacks über die Arten der Antibiotikawahl alle drei Monate an die Praxen und ein Vergleich mit den Zahlen anderer Praxen («Bench marking»). Die Kontrollgruppe in dieser randomisierten Studie erhielten keine dieser Informationen. Der kombinierte Nutzen der Interventionen war hochsignifikant: In der Interventionsgruppe wurden in 19% der Fälle Antibiotika der zweiten Wahl verordnet, während es bei den Kontrollpraxen 35% waren (p< 0.0001). Auch die Zahl nicht antibiotisch behandelter Fälle nahm in der Interventionsgruppe ohne vermehrte Komplikationen zu. Einfache, wie die hier angeführten Interventionen, können also einen grossen Beitrag zum sog. «antibiotic stewardship» leisten. Es ist zu erwarten, aber noch zu zeigen, dass dieser Effekt durch nur selektives Antibiotika-Reporting (primär nur Mitteilung der Sensibilitäten der Antibiotika erster Wahl) noch weiter verstärkt werden kann.

BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj-2023-076305, verfasst am 03.11.2023

Herzinsuffizienz und Eisenmangel: Eiseninfusionen oder doch nicht?

Ein Eisenmangel soll in 40 bis 50% der Patientinnen und Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz vorkommen und ist meist multifaktoriell bedingt (medikamentöse Hemmer der zellulären und plasmatischen Gerinnung, Entzündung, gastrointestinale Stauung/Minderperfusion u.a.m.). Der Eisenmangel im Rahmen einer Herzinsuffizienz wird wie folgt definiert: Ferritin < 100 ugr/L resp einer Transferrinsättigung von < 20%, falls das Ferritin zwischen 100 und 299 ug/L liegt. Darauf basierend fanden 2 Studien, dass bei solchen Patientinnen und Patienten die Hospitalisationsrate durch Eiseninfusionen (Carboxymaltose resp. Derisomaltose) im Vergleich zu Plazebo, nicht aber die Mortalität gesenkt werden konnte (1,2). Eine neue ebenfalls Plazebo-kontrollierte Studie (3065 Patientinnen und Patienten) konnte bei einer Patientengruppe mit Ejektionsfraktionen unter 40% und einem Hämoglobin von mehr als 9 g/dl jedoch keinen Effekt auf die Hospitalisationsrate finden. Bestätigt wurde der fehlende Effekt auf die Mortalität, auch fehlte eine Verbesserung der 6 Minuten Gehzeit (3). Es ist unklar, warum diese Unterschiede bestehen, insgesamt dürfte der Effekt der Eiseninfusionen aber eher kleiner als bisweilen gesagt sein. Ein Vergleich der Transferrinsättigungen in den 3 Populationen zeigt, dass diese bei den positiven Studien tiefer als bei der jetzt vorliegenden negativen Studie war. Ob ein eingeschränkter Transport des Eisens via Transferrin die Diskrepanzen allein erklärt, bleibt zu klären. Tröstlich, dass wenigstens die Anzahl ernsthafter Nebenwirkungen in der Carboxymaltose-Gruppe nicht höher als in der Plazebogruppe war.

1. The Lancet 2020 doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32339-4,
2. The Lancet 2022, doi.org/10.1016/S0140-6736(22)02083-9
3. NEJM 2023, DOI: 10.1056/NEJMoa2304968

Auch gut zu wissen

Chirurgie oder Medikamente besser bei symptomatischer Nasenseptum-Deviation?

Bei symptomatischer Nasenseptum-Deviation, d.h. dokumentierten Zeichen der nasalen Obstruktion, erwies sich die operative Septumkorrektur nach 6 Monaten als signifikant wirksamer als eine rein medikamentöse Strategie (topische Glukokortikoide und NaCl Spray).

BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj-2023-075445, verfasst am 01.11. 2023

Colchizin ohne nachgewiesenen Effekt auf den Verlauf nach akutem zerebrovaskulärem Insult

Niedrigdosiertes Colchizin (0.5 mg/Tag per os) als anti-entzündliches Medikament ist in vielen Ländern zugelassen. Seine Wirksamkeit in der Prophylaxe kardiovaskulärer Ereignisse bei symptomatischer Arteriosklerose (chronische KHK oder nach akutem Myokardinfarkt) und auch bei Vorliegen multipler kardiovaskulärer Risikofaktoren (noch ohne klinisches Ereignis) ist dokumentiert (1, 2). Nach einem akuten zerebrovaskulären Ereignis verfehlte nun Colchizin allerdings, die Rezidivhäufigkeit weiterer Insulte zu senken (3). Spielen Entzündungsfaktoren in diesem Stromgebiet eine weniger wichtige Rolle oder braucht es hier spezifischere Entzündungshemmer?

1. NEJM 2020, DOI: 10.1056/NEJMoa2021372
2. NEJM 2020, DOI: 10.1056/NEJMoa1912388
3. Vorgestellt am 15th World Stroke Congress (WSC) 2023, verfasst am 1.11.2023

Sind biologisch abbaubare koronare Stents besser?

Das hatten die mit abbaubaren Polymeren beschichteten Sirolimus-Stents schon im Gefolge einer Akutintervention bei ST-Hebungsinfarkten gezeigt. Nun findet eine multizentrische schweizerische Studie, dass ihr Vorteil über 5 Jahre anhält, und zwar im Vergleich zu dauerhaft beschichteten Everolimus-Stents. Der Vorteil bestand klinisch in signifikant tieferen koronaren Ischämie-Rezidiven, verursacht durch Stenosen/Thrombosen am ursprünglichen Interventionsort.

The Lancet 2023, doi.org/10.1016/S0140-6736(23)02197-9, verfasst am 03.11.2023

Etwas mehr als eine halbe Minute für Hintergrundswissen über…

Optische Kohärenz-Tomographie (OCT)?

Die optische Kohärenz-Tomographie (OCT) wurde 1991 in die klinische Medizin eingeführt, primär in der Ophthalmologie und deren Erfinder dieses Jahr mit dem hochdotierten Lasker-DeBakey Award ausgezeichnet.

Vereinfacht gesagt, nutzt die OCT eine Infrarotquelle (800-1400 nm Wellenlänge), deren Strahl durch den Apparat in 2 Einzelstrahlen aufgetrennt werden: Ein Strahl wird durch einen beweglichen und verschiebbaren Spiegel ins Gewebe gelenkt, der andere Strahl gilt als Referenz- oder Kontrollstrahl, der von einem Spiegel ohne Gewebekontakt reflektiert wird. Ein Detektor misst dann die Interferenz zwischen dem reflektierenden Gewebe- und dem Referenzstrahl und kann dann ein zweidimensionales Schnittbild entlang der Strahlenlinie (Eindringtiefe ins Gewebe ca. 3 mm) oder, wenn der Spiegel in mindestens 2 Achsen verschoben wird, sogar ein dreidimensionales Bild generieren. Die Strahlen sind niederenergetisch und somit gewebe-schonend. Die Auflösung liegt bei wenigen Mikrometern (etwa 8-15), erlaubt also sogar die Erkennung von Einzelzellen!

Die OCT ist in der Ophthalmologie u.a. wichtig geworden für die Diagnose von Drusen, der neovaskulären Makuladegeneration und des (diabetischen) Makulaödems und erlaubt eine schnelle und nicht-invasive Verlaufs- und Therapiekontrolle. Die retinalen Gefässe können sehr akkurat dargestellt werden (siehe die Figur) ebenso kann die Linse präoperativ anatomisch genau ausgemessen werden.

Die OCT wird auch in der Dermatologie intensiv evaluiert (Abklärung von Hauttumoren uam).

Zwei neue Arbeiten beschreiben die Anwendung der intravaskulären OCT im Rahmen einer angiographischen Abklärung der Koronararterien. Die Studienfrage war, ob die OCT prognostisch signifikante Hilfestellungen zur Frage geben kann, welche Plaques/Stenosen sinnvollerweise dilatiert/gestentet werden sollen und welche nicht. Als Alternative dazu bestanden bisher der intravaskuläre Ultraschall (10-fach weniger präzis als die OCT) und die Messung der residualen Flussreserve (technisch und in der Interpretation anspruchsvoller). Beide Methoden konnten sich aus verschiedenen Gründen noch nicht ganz in der klinischen Praxis durchsetzen. Während eine der erwähnten Studien (1, mit dem Acronym OCTOBER) eine signifikante Senkung von koronaren Rezidiven nach 2 Jahren zeigte, wenn der Entscheid Dilatation/Stenting durch die OCT- Befunde definiert wurde, war die andere (2, mit dem Acronym ILUMIEN IV) negativ. Die hohe bildliche Auflösung bei der OCT erhellte auch die Komplexität und die Unterschiede in der koronaren Plaqueanatomie, was auch die unterschiedlichen Studienresultate erklärt. Das Versprechen einer verfeinerten Differentialindikation mit Berücksichtigung der individuellen Plaquezusammensetzung und Ausdehnung ist aber gemacht!

Andere Anwendungsgebiete für die OCT könnten Angiographien anderer Gefässe sein oder auch die Verbesserung der Feindiagnostik Lumen-naher Pathologien entlang des endoskopisch einsehbaren Magen-Darm-Traktes.

Die OCT dürfte zudem in vielen Bereichen der Medizin ein grosses Betätigungsfeld für die Künstliche Intelligenz («machine learning») werden.

1. NEJM 2023, doi:10.1056/NEJMoa2307770,
2. NEJM 2023, doi: 10.1056/NEJMoa2305861 sowie ein begleitendes Editorial (NEJM 2023, d0i:10.1056/NEJMe2309710 sowie ein auf die Ophthalmologie fokussierender Artikel im Rahmen der Reihe «Clinical implications of basic research», NEJM 2023, doi:10.1056/NEJMcibr2307733, verfasst am 26.10.2023

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

Stellenwert eines Atherosklerosescreenings in der Primärprävention

Kardiovaskuläre Erkrankungen belasten die Gesundheitssysteme schwer, die Signifikanz präventiver Massnahmen ist unbestritten. Das durchschnittliche Erkrankungsalter mit Manifestation von Folgeerkrankungen sinkt. Immer mehr Patienten werden mit ursprünglich als geriatrische Krankheiten betrachteten Diagnosen vorstellig. Neue Ansätze wie Laborwert-basierte Screening Tools zeigen vielversprechende erste Ergebnisse für alle betroffenen Altersgruppen.

Cardiovascular diseases burden health care systems. The age in which secondary pathologies manifest has steadily decreased within the last decade. With this, an increasing number of patients are presenting with diagnoses originally defined as diseases of age. New approaches such as lab marker-based screening tools show promising initial results in all affected age groups.
Key Words: Atherosclerosis, Cardiovascular Risk, Primary Prevention, Screening

Kardiovaskuläre Erkrankungen führen europaweit als häufigste Todesursache die Mortalität an (1). Die daraus resultierende signifikante sozioökonomische Belastung ist nicht nur auf die hohe Mortalitätsrate zurückzuführen, es sind vor allem die Kosten vermehrter Hospitalisierung durch den chronisch-progredienten Charakter der Erkrankung und der Verlust an Arbeitskraft (2) (Abb. 1). Aktuelle Daten zeigen, dass eine subklinische Atherosklerose bei Jugendlichen die allgemeine Sterblichkeit für den Rest des Lebens deutlich erhöht (3). Risikofaktoren wie eine Erhöhung von Body-Mass-Index, systolischem Blutdruck und Serumcholesterin können als Prädiktor bezüglich späterer Manifestationsschwere von Herz-Kreislauf-Erkrankungen herangezogen werden (4). Diese Parameter gelten als Haupteinflussfaktoren der übergeordneten Krankheitslast
(«burden of disease»), gemessen an disease-adjusted life years (DALY) und können somit als Screening Parameter eingesetzt werden (3). Insbesondere der Risikofaktor Dyslipidämie ist direkt mit der Entstehung der KHK assoziiert, ein normwertiges Lipidprofil, LDL-Cholesterin (LDL-C) im Besonderen, ist folglich einer der wichtigsten Ansatzpunkte der Primärprävention. Eine primärpräventive Statintherapie senkt das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse signifikant mit langfristig bestehendem Nutzen (5). Je tiefer der LDL-C Serumwert und je früher eine Senkung dessen erzielt wird, desto geringer ist das Myokardinfarktrisiko, dies wurde in umfassender Evidenz von der AGLA erarbeitet (6).

Manifestation der Atherosklerose

Die atherosklerotische Gefässerkrankung verursacht folgende vier Krankheitsbilder: die KHK mit Risiko des folgenden Myokardinfarkts, die Atherosklerose der hirnzuführenden Arterien mit Risiko eines emboligenen Apoplex, die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), sowie die erektile Dysfunktion (ED) vaskulärer Ätiologie. Die Diagnosestellung einer karotidalen Stenose, meist die ACI betreffend, erfolgt mittels farbkodierter Duplexsonographie (FKDS), eine pAVK wird anhand des Knöchel-Arm-Indexes (ABI < 0.9) diagnostiziert (7). Zur Detektion der KHK sind bildgebende Verfahren wie Stress-Echo (SE) und Stress MRT (u.a. SPECT) aufgrund ihrer hohen Sensitivität das Mittel der Wahl. Insbesondere das SE ermöglicht neben der Ischämiediagnostik eine recht akkurate Risiko- und Prognoseabschätzung via Vitalitäsprüfung myokardialen Gewebes (8). Eine vaskulär bedingte erektile Dysfunktion kann mit duplexsonographischen Methoden diagnostiziert werden (9).

Der häufigste Grund einer schwerwiegenden Behinderung im Erwachsenenalter ist ein Apoplex, dabei sind bis zu 20% aller Ereignisse auf ACI-Stenosen zurückzuführen. Der atherosklerotisch bedingte Apoplex weist mit 34% die zweithöchste 1-Jahres Letalität auf (10). Die Prävalenz der pAVK hat drastisch zugenommen, sie gilt mittlerweile als Indikator und Markererkrankung einer generalisierten Atherosklerose hoher kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität (11). Als wichtigster beeinflussbarer Risikofaktor einer pAVK gilt nach Nikotinabusus der Diabetes mellitus, betroffene Patienten haben ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko zu erkranken (12). Die „get ABI“ Studie zeigte eine signifikante Risikoverdopplung für Schlaganfälle bei pAVK-Patienten, dabei verhielt sich die Risikoerhöhung parallel zur Abnahme des ABI (13). Zusätzlich gewinnt als unabhängiger Prädiktor für schwerwiegende zukünftige kardiovaskuläre Ereignisse die vaskuläre ED immer mehr an Bedeutung (14).

Existente Screening Ansätze

Grundlegende Voraussetzungen eines Screening-Programms wurden durch die WHO definiert (Tab. 1). Aktuelle Leitlinienempfehlungen für ein pAVK- und ACI-Screening sprechen sich aufgrund fehlender Evidenz sowie eines nachteiligen Nutzen-Schaden-Verhältnisses einstimmig gegen ein nicht­selektives populationsweites Screening-Programm aus, jedoch besteht auch für bereits anerkannte selektive Screening Untersuchungen keine einheitliche leitliniengerechte Empfehlung (15). Bei Präsenz vordefinierter Risikofaktoren wie kardiovaskuläre Komorbidität, beispielsweise ein Diabetes, und Alter > 65 Jahre sowie Eignung des Patienten für eine indizierte Intervention ist ein selektives Carotis-Screening mittels FKDS empfohlen (16). Ein pAVK-Screening mittels ABI wiederum wird bei allen KHK-Patienten sowie bei spezifischen Patientenkohorten, wie vor interventionellem Herzklappenersatz oder bei KHK-Patienten explizit vor koronarer Bypassanlage, vorgeschlagen, da eine pAVK-Komorbidität, neben etwaigen Zugangskomplikationen, die insgesamte Mortalität bei diesen Eingriffen erhöht (17). Grund uneinheitlicher Screening Empfehlungen ist u.a. die kontrovers diskutierte Thrombozytenaggregationshemmer Therapie nach positivem Screening Befund einer pAVK (18) sowie die fragliche diagnostische Aussagekraft des ABIs bei asymptomatischen Patienten (19) und dessen Limitationen bei Komorbiditäten wie dem Diabetes mellitus und Mediasklerose. Im Falle des ACI-Screenings ist es die geringe Prävalenz und somit der hohe Wert der „number needed to screen (NNS)“, welche die Notwendig eines Screenings aus finanzieller Kosten-Nutzen-Bewertung fraglich erscheinen lässt (20). Trotz zunehmender Bedeutung eines Screenings junger Patienten bleibt insbesondere die KHK eine weitverbreitete Erkrankung des Alters, viele kardiologische Patienten haben bei Erreichen des 80. Lebensjahres mindestens einen Myokardinfarkt überlebt (21). Jedoch sind die meisten in der kardiovaskulären Primärprävention existierenden Scoring-Systeme nicht zur Risikoeinschätzung im hohen Alter geeignet. Aktuell ist das SCORE2-OP-Modell das einzige, welches eine Evaluation bis zum Alter von 89 Jahren erlaubt (22). Es gilt miteinzubeziehen, dass die Aussagkraft typischer Risikofaktoren bezüglich drohender atherosklerotischer Gefässerkrankungen im Alter zurück geht, Alternativen wie Biomarker-zentrierte Screening-Ansätze, beispielsweise basierend auf Nt-proBNP und Troponin Werten, zeigen sich erfolgsversprechend (23). Weitere Instrumente effizienter sonographischer Risikograduierung sind die Intima-Media-Dicke (IMT) und die karotidale Kalklast, wobei es wichtig ist zu bemerken, dass neue Studienergebnisse die generelle Plaque-Belastung als entscheidenden Risikofaktor bewerten und nicht die einzelne Stenose-bedingte koronare Obstruktion. Insbesondere die IMT kann helfen bei asymptomatischen Patienten mit nur ein oder zwei kardiovaskulären Risikofaktoren eine differenzierte Risikoeinschätzung abzugeben (24).

Konklusion

Ergebnisse der ECTS-2 und CREST-2 Studien werden in der Apoplex Prävention bei Carotis-Stenosen die Überarbeitung bestehender Leitlinienempfehlungen bewirken. Trotz weiterhin typischer Manifestation als eine Pathologie fortgeschrittenen Alters ist es die Gesamtlast von Atherosklerose-assoziierten Erkrankungen bei jüngeren Patienten, welche in der Etablierung effektiver Primärpräventionsstrategien immer wichtiger wird. Um maximale Effektivität eines Screenings zu erreichen, sollte die Einschätzung des individuellen kardiovaskulären Risikos im hausärztlichen Setting so früh wie möglich, bei bekannt prädisponierten Patienten beispielsweise im Rahmen des alljährlichen Checkups, erfolgen. Die ED als Prädiktor kardiovaskulärer Folgeerkrankungen mit Screening-Potential wird aktuell aufgrund fehlender umfassender diagnostischer Abklärung noch zu selten miteinbezogen.

Zweitabdruck aus «info@herz+gefäss» 05-2023

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Abkürzungen: CVD Cardiovascular disease; KHK koronare Herzerkrankung; pAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit; AGLA Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose; ACI Arteria carotis interna; ABI ankle-brachial-index (Knöchel-Arm-Index); NNS number needed to screen; LDL-C low-density-lipoprotein Cholesterin; ED erektile Dysfunktion; FKDS farbkodierte Duplexsonographie; Nt-proBNP N-terminal pro-Brain Natriuretic Peptide; IMT Intima-Media-Dicke; SE Stress-Echokardiographie; ECTS European Carotid Surgery Trial; CREST Carotid Revascularization and Medical Management for Asymptomatic Carotid Stenosis Study

Dr. med. Vignes Mohan

Zentrum für Gefässmedizin Mittelland
Aarenaustrasse 2B
5000 Aarau

vignes.mohan@usb.ch

PD Dr. med. Christoph Kalka

Zentrum für Gefässmedizin Mittelland
Aarenaustrasse 2B
5000 Aarau

Prof. Dr. med. Nicolas Diehm, MBA

Zentrum für Gefässmedizin Mittelland
Zentrum für Erektionsstörungen
Aarenaustrasse 2B
5000 Aarau
www.angiologie-aargau.ch
www.erektionsstoerungen-behandlung.com

nicolas.a.diehm@gmail.com

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Das kardiovaskuläre Erkrankungsalter mit Manifestation von Folgeerkrankungen sinkt stetig, Markererkrankungen wie die pAVK und ED sowie die Präsenz von Risikofaktoren als Prädiktor späterer Krankheitslast können helfen frühzeitig Risikopatienten zu identifizieren und primärpräventive Screening-Ansätze zu optimieren.
◆ Die Empfehlungsgrade der aktuellen Leitlinien eines Screenings auf pAVK und ACI-Stenosen variieren, zurzeit ist eine Untersuchung nur bei spezifischen Patientenkohorten empfohlen.
◆ Biomarker-zentrierte Screening-Ansätze sowie neue Parameter der sonographischen Risikograduierung haben primärpräventives Potential und sollten in zukünftige Leitlinien zum Atherosklerosescreening miteinbezogen werden.
◆ Ein normwertiges Lipidprofil ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte der Primärprävention, eine Statintherapie wirkt unabhängig von Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen kardiovaskulär protektiv.

1. Eriksen CU RO, Toft U, Jørgensen T. . What is the effectiveness of systematic population- level screening programmes for reducing the burden of cardiovascular disease? . Copenhagen: WHO Regional Office for Europe. 2020;(WHO Health Evidence Network (HEN) Evidence Synthesis Report 71).
2. Passek K, Ronellenfitsch U, Meisenbacher K, Peters A, Böckler D. Ergebnisse eines monozentrischen Gefäßscreeningprogramms in Deutschland. Die Chirurgie. 2023;94(4):342-8.
3. Sun J, Qiao Y, Zhao M, Magnussen CG, Xi B. Global, regional, and national burden of cardiovascular diseases in youths and young adults aged 15–39 years in 204 countries/territories, 1990–2019: a systematic analysis of Global Burden of Disease Study 2019. BMC Medicine. 2023;21(1):222.
4. Jacobs DR, Woo JG, Sinaiko AR, Daniels SR, Ikonen J, Juonala M, et al. Childhood Cardiovascular Risk Factors and Adult Cardiovascular Events. New England Journal of Medicine. 2022;386(20):1877-88.
5. Arnett DK, Blumenthal RS, Albert MA, Buroker AB, Goldberger ZD, Hahn EJ, et al. 2019 ACC/AHA Guideline on the Primary Prevention of Cardiovascular Disease. Circulation. 2019;140(11):e596-e646.
6. Atherosklerose ALu. AGLA GSLA, Swiss Artherosclerosis Association. 2023.
7. Diehm C, Allenberg JR, P ittrow D, Mahn M, Tepohl G, Haberl RL, et al. Mortality and vascular morbidity in older adults with asymptomatic versus symptomatic peripheral artery disease. Circulation. 2009;120(21):2053-61.
8. Weihs W. Stressechokardiography. Austrian Journal of Cardiology. 2022;29 (1-2), 27-33.
9. Mohan V, Diehm N. Erektile Dysfunktion. In: Hoffmann U, Weiss N, Czihal M, Linnemann B, Freisinger E, editors. Klinische Angiologie. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg; 2020. p. 1-7.
10. Kolominsky-Rabas P, Heuschmann P. Inzidenz, Ätiologie und Langzeitprognose des Schlaganfalls. Fortschritte Der Neurologie Psychiatrie – FORTSCHR NEUROL PSYCHIAT. 2002;70:657-62.
11. Fowkes FG, Rudan D, Rudan I, Aboyans V, Denenberg JO, McDermott MM, et al. Comparison of global estimates of prevalence and risk factors for peripheral artery disease in 2000 and 2010: a systematic review and analysis. Lancet. 2013;382(9901):1329-40.
12. Balletshofer B, Böckler D, Diener H, Heckenkamp J, Ito W, Katoh M, et al. Positionspapier zur Diagnostik und Therapie der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) bei Menschen mit Diabetes mellitus. Die Diabetologie. 2023;19(4):433-43.
13. Meves SH, Diehm C, Berger K, Pittrow D, Trampisch HJ, Burghaus I, et al. Peripheral arterial disease as an independent predictor for excess stroke morbidity and mortality in primary-care patients: 5-year results of the getABI study. Cerebrovasc Dis. 2010;29(6):546-54.
14. Uddin SMI, Mirbolouk M, Dardari Z, Feldman DI, Cainzos-Achirica M, DeFilippis AP, et al. Erectile Dysfunction as an Independent Predictor of Future Cardiovascular Events: The Multi-Ethnic Study of Atherosclerosis. Circulation. 2018;138(5):540-2.
15. Lawall H, Huppert P, Rümenapf G. S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit. Deutsche Gesellschaft für Angiologie und Deutsche Gesellschaft für Gefäßmedizin. 2015;30:18-135.
16. Sillesen H, Sartori S, Sandholt B, Baber U, Mehran R, Fuster V. Carotid plaque thickness and carotid plaque burden predict future cardiovascular events in asymptomatic adult Americans. Eur Heart J Cardiovasc Imaging. 2018;19(9):1042-50.
17. Aboyans V, Ricco JB, Bartelink MEL, Björck M, Brodmann M. 2017 ESC Guidelines on the Diagnosis and Treatment of Peripheral Arterial Diseases. Eur Heart J. 2018;39(9):763-816.
18. Chen Q, Li L, Chen Q, Lin X, Li Y, Huang K, et al. Critical appraisal of international guidelines for the screening and treatment of asymptomatic peripheral artery disease: a systematic review. BMC Cardiovascular Disorders. 2019;19(1):17.
19. Force UPST. Screening for Peripheral Artery Disease and Cardiovascular Disease Risk Assessment With the Ankle-Brachial Index: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA. 2018;320(2):177-83.
20. Li B, Syed MH, Qadura M. Increasing Awareness for Peripheral Artery Disease through the Identification of Novel Biomarkers. Biomolecules. 2023;13(8).
21. Madhavan MV, Gersh BJ, Alexander KP, Granger CB, Stone GW. Coronary Artery Disease in Patients ≥80 Years of Age. J Am Coll Cardiol. 2018;71(18):2015-40.
22. Kindermann M, Böhm M. Kardiale Erkrankungen im AlterAlter. In: Marx N, Erdmann E, editors. Klinische Kardiologie: Krankheiten des Herzens, des Kreislaufs und der herznahen Gefäße. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg; 2022. p. 1-21.
23. Saeed A, Nambi V, Sun W, Virani SS, Taffet GE, Deswal A, et al. Short-Term Global Cardiovascular Disease Risk Prediction in Older Adults. J Am Coll Cardiol. 2018;71(22):2527-36.
24. Arning C. Gefäßscreening zur Schlaganfallprävention. Der Radiologe. 2013;53(9):783-90.

Schwerhörigkeit im Alter

Gemäss der WHO ist davon auszugehen, dass weltweit rund 1,5 Milliarden von einer Hörbeeinträchtigung betroffen sind (21). Schwerhörigkeit gilt daher als die häufigste sensorische Beeinträchtigung des Menschen. Mit fortschreitendem Alter steigt die statistische Wahrscheinlichkeit an einer Schwerhörigkeit zu leiden deutlich. Folgen der eingeschränkten Hör- und Kommunika­tionsfähigkeit können soziale Isolation, Verlust der Autonomie und auch Depressionen sein (2). Ebenso gilt Schwerhörigkeit als wichtiger beeinflussbarer Risikofaktor für Demenz (13). Ursächlich sind Veränderungen des peripheren Hörorgans als auch des zentralen auditorischen Systems. Es ist entsprechend naheliegend, dass im Rahmen einer optimalen hörrehabilitativen Therapie beide Bereiche zu berücksichtigen sind (8). Diese kurze Übersicht soll die wichtigsten Aspekte der Altersschwerhörigkeit beleuchten und insbesondere auf verschiedene therapeutische Massnahmen eingehen.

According to the WHO, it can be assumed that around 1.5 billion people worldwide are affected by hearing impairment. Hearing loss is therefore considered the most common sensory impairment in humans. With advancing age, the statistical probability of suffering from hearing loss increases significantly. Consequences of limited hearing and communication ability can include social isolation, loss of autonomy and even depression. Hearing loss is also considered an important modifiable risk factor for dementia. The causes are changes in the peripheral as well as in the central auditory system. It is therefore obvious that both ambits must be taken into account as part of optimal hearing rehabilitation therapy. This short overview is intended to shed light on the most important aspects of age-related hearing loss and, in particular, to address various therapeutic options.
Key Words: hearing impairment, hearing loss, hearing rehabilitation therapy

Grundlagen des Hörens

Damit ein akustisches Ereignis bewusst wahrgenommen werden kann, müssen Schalldruckwellwellen auf das Trommelfell treffen und dieses in Schwingung versetzen. Anschliessend übertragen die Ossikel im Mittelohr das Schallsignal auf die Fussplatte des Steig­bügels. Dies gelingt, da der Hammer fest mit dem Trommelfell in Kontakt steht. Im Mittelohr wird die akustische Information nicht nur weitergeleitet, sondern auch verstärkt. Die Steigbügelfussplatte ist über das ovale Fenster mit dem Innenohr verbunden, welches mit Flüssigkeit gefüllt ist (Abb. 1). Durch die Vibration der Stapesfussplatte werden Druckwellen im Innenohr erzeugt, die entsprechend der Tonhöhe an einer spezifischen Stelle im Innenohr zur Auslenkung der Basilarmembran führen. Auf der Basilarmembran liegt das Corti-Organ, in welchem die Hörsinneszellen (Haarzellen) eingebettet sind (Abb. 2). Durch die Auslenkung der Basilarmembran können in den Haarzellen Aktionspotenziale generiert werden, sodass der initial physikalische Reiz der akustischen Schwingung in ein neurales Signal transformiert wird. Das Aktionspotenzial wird im weiteren Verlauf über den VIII Hirnnerven an die Hörzentren im Stammhirn geleitet und von dort weiter an den auditorischen Kortex, wo die bewusste Hörwahrnehmung stattfindet (15). Vom auditorischen Kortex aus werden neuronale Impulse in ein Netzwerk aus höheren Hirnregionen weitergeleitet, die beim Hören von gesprochener Sprache relevante akustische Informationen aus dem akustischen Signal extrahieren und interpretieren, sodass man den Inhalt eines Satzes verstehen kann (9).

Ursachen der Altersschwerhörigkeit

Die Ätiologie der Altersschwerhörigkeit ist a.e. als multifaktorielles Geschehen anzunehmen. In epidemiologischen Studien konnte z.B. eine starke Assoziation mit Diabetes mellitus, Adipositas, Rauchen und anderen kardiovaskulären Risikofaktoren gesehen werden, eine Kausalität ist allerdings nicht belegt. Als weitere Risikofaktoren gelten anhaltende oder repetitive Lärmexposition. Auch genetische Faktoren scheinen für die Anfälligkeit gegenüber Lärmtraumata als auch generell für die Schwerhörigkeit im Alter eine Rolle zu spielen (3).

Bereits vor rund 30 Jahren gab es Bestrebungen, morphologische Veränderungen des peripheren Hörorganes, welche für die Altersschwerhörigkeit verantwortlich sind, nachzuweisen. Aufgefallen waren dabei 4 Hauptschädigungsorte. Pathologische Prozesse konnten im Cortiorgan objektiviert werden, ebenso fiel eine Reduktion von Neuronen der peripheren und zentralen Hörbahn auf. In einigen Fällen konnten Verdickungen und Kalzifikationen der Basilarmembran aufgezeigt werden, wodurch deren Schwingungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Als häufigste Schädigung wurde allerdings eine Atrophie der Stria vascularis angesehen, die eine zentrale Bedeutung für die Innenohrhomöostase hat (5).
Jüngere Arbeiten konnten auf molekularer Ebene zeigen, dass hypoxische und ischämische Prozesse ebenso wie oxidativer Stress oder mitochondriale Mutationen eine Rolle zu spielen scheinen (8). Zudem ist davon auszugehen, dass es im Alter zunehmend zu Störungen in der Signalübertragung zwischen Nervenzellen kommt, dies im Sinne von cochleären Synaptopathien. Für diese Art von Veränderungen scheint das konventionelle Reintonaudiogramm aber leider oft wenig sensitiv zu sein. Die Auswirkungen lassen sich wahrscheinlich viel eher mit einer Testung des Sprachverstehens im Störlärm erfassen (12).

Nicht nur im peripheren Hörorgan, sondern auch im zentralen auditorischen System sind Veränderungen im Alter nachweisbar. So gehört zum normalen Alterungsprozess eine Abnahme der Dichte von Neuronen und Synapsen sowie eine Ausdünnung der weissen Substanz im auditorischen Pfad des Hirnstamms, in kortikalen auditorischen Arealen und in temporalen und frontalen Netzwerken des Gehirns, die für die Verarbeitung von gesprochener Sprache rekrutiert werden (6, 16). Diese strukturellen Veränderungen im zentralen Hörsystem gehen mit einer Abnahme der Qualität der Verarbeitung von akustischen Signalen einher. Um diese Verschlechterung in der auditorischen Verarbeitung auszugleichen, reagiert das Gehirn von älteren Personen anders auf akustische Reize als junge Menschen. In besonders komplexen Hörsituationen, wie z.B. beim Sprache verstehen im Störgeräusch, werden zusätzlich zu den auditorischen Netzwerken auch motorische Sprachareale aktiviert, um unklare, verschwommene oder fehlende Abschnitte in einem Sprachsignal zu kompensieren (1). Gleichzeitig werden präfrontale oder parietale Regionen im Gehirn rekrutiert, die nicht als Teil des Hör- und Sprachnetzwerkes gelten. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass diese «kognitiven» Regionen in ungünstigen Hörsituationen das Arbeitsgedächtnis und das phonologische Gedächtnis unterstützen und so den Verlust der auditorischen Verarbeitung zu einem gewissen Grad ausgleichen (7, 20). Womöglich geht diese zusätzliche Anstrengung des Gehirns aber mit subjektiv wahrnehmbarer Anstrengung und Ermüdung einher.

Abklärung

Die ärztliche Hörabklärung beginnt üblicherweise mit der genauen Erhebung der Krankheitsgeschichte, wobei die Patienten meist über einen bilateralen Hörverlust berichten. Da die Beeinträchtigung typischerweise langsam progredient verläuft, fallen den Betroffen als Erstsymptom oft Probleme beim Sprachverstehen auf, insbesondere in schwierigen akustischen Situationen so z.B. im Störschall oder in Räumen mit Nachhall. Das reduzierte Sprachverstehen kann begleitet sein von einem Ohr­geräusch (Tinnitus). Ebenso berichten die Betroffenen teilweise über einen akzelerierten Lautheitsanstieg (Rekruitment). Bei zusätzlicher Angabe von weiteren Ohrsymptomen wie Schwindel, Ohrsekretion (Otorrhoe) oder Schmerzen ist an eine andere Ursache oder an Komorbiditäten zu denken. Da ältere Menschen gehäuft aufgrund von verschiedenen Grundleiden unter einer Dauer­medikation stehen, ist es insbesondere in dieser Altersgruppe wichtig, zu überprüfen, ob Präparate mit möglicher hörschädigender Wirkung eingenommen werden so z.B. Schleifendiuretika, Zytostatika, Malariamittel (Chinin) oder gewisse Antibiotika v.a. Aminoglykoside.

Damit eine Pathologie im Bereich des äusseren Gehörgangs (z.B. Ceruminalpfropf) und des Trommelfells ausgeschlossen werden kann, erfolgt bei jeder Hörabklärung eine Ohrmikroskopie. Bei einer alleinigen Altersschwerhörigkeit sind hier keine pathologischen Befunde zu erwarten. Im Stimmgabelversuch ist von einem mittigen Weber-Test und einem beidseits positiven Rinne-Test auszugehen.

Als orientierende Hörprüfung können anschliessend auch Flüsterzahlen getestet werden. Zur genaueren Evaluation ist ein Reintonaudiogramm aber unerlässlich. Hierbei findet sich typischerweise eine hochtonbetonte, symmetrische, sensorineurale Schwerhörigkeit beidseits (Abb. 3). Im deutschen Sprachraum wird zur Testung der Sprachverständlichkeit in Ruhe am häufigsten der Freiburger Sprachtest verwendet, welcher ein- und zweisilbige Worte testet. Bei der Altersschwerhörigkeit ist häufig eine Diskrepanz zwischen Ein- und Zweisilber zu sehen. Die Zahlenwörter (Zweisilber) werden im Verhältnis zu den Einsilbern relativ gut verstanden. Dies kann mindestes partiell mit dem typischen Hochtonverlust bei der Altersschwerhörigkeit erklärt werden. Für das Verstehen von Zahlen genügen oft die vokalistischen tieffrequenten Anteile, wohingegen für das Verstehen von Einsilbern die Konsonanten mit ihren hochfrequenten Spektralanteilen zentral sind.

Wie weiter oben beschrieben, haben ältere Menschen häufig Probleme mit dem Sprachverstehen im Störlärm. Dies hat nicht primär mit dem Frequenzverlauf der Hörstörung zu tun, sondern hängt v.a. auch mit reduzierten kognitiven Fähigkeiten und einer reduzierten zeitlichen Verarbeitung zusammen. Sprachtests (z.B. Basler Satz-Test), die das Verstehen im Störschall untersuchen, prüfen so neben dem peripheren Hörorgan auch zentrale Anteile des auditorischen Systems (22). Eine Schichtbildgebung ist bei einem typischen klinischen und audiometrischen Befund, wie oben dargestellt, nicht indiziert. Falls die Hörkurve aber asymmetrisch verlaufen sollte oder noch zusätzliche Symptome bestehen wie z.B. ein pulssynchroner Tinnitus, ist ein bilddiagnostischer Ausschluss einer retrocochleären Pathologie oder einer Gefässmalformation sinnvoll (5, 14).

Therapiemöglichkeiten

Im Gegensatz zu Amphibien, Vögeln und Fischen ist die natürliche Regeneration von beschädigten Haarzellen bei Säugetieren nicht möglich (2). Aufgrund stetiger Forschung hat das Verständnis für die Biologie des Innenohres wohl kontinuierlich zugenommen, dennoch ist es bis dato nicht gelungen, medikamentös den Hörverlust im Alter wieder herzustellen. Im Rahmen von Studien werden aktuell Präparate eingesetzt, die v.a. den oxidativen Stress auf die inneren Haarzellen als auch die Apoptose positiv beeinflussen sollen. (3).

Zur Kompensation der reduzierten Leistungsfähigkeit des Innenohrs werden bei leicht- und mittelgradigen sensorineuralen Schwerhörigkeiten in erster Linie Hörgeräte eingesetzt, welche das ankommende Schallsignal verstärken. In Abhängigkeit von deren Bauformen unterscheidet man im Wesentlichen zwischen einem Im-Ohr-Hörgerät und einem Hinter-dem-Ohr Hörgerät (14). Nimmt die Hörminderung zu, bringen Hörgeräte ab einer gewissen Ausprägung keinen suffizienten Nutzen mehr für die Betroffenen. Die Cochlea Implantation stellt dann die einzige Möglichkeit dar, akustische Signale ausreichend wahrzunehmen und insbesondere Sprache wieder zu verstehen. Hierzu wird in einer ca. 90-minütigen Operation eine Elektrode ins Innenohr eingebracht, welche die Spiralganglien des Hörnervens unter Umgehung der dysfunktionalen Haarzellen, stimulieren kann (2, 4). Ältere Patientinnen und Patienten erreichen im Durchschnitt im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen mit einem Cochlea-Implantat ein gleich gutes Sprachverständnis in Ruhe. Beim Sprachverstehen im Störlärm schneiden sie etwas schlechter ab (11). Aus gesundheitsökonomischer Sicht ist auch erwähnenswert, dass bei hochgradiger Innenohrschwerhörigkeit oder Taubheit eine einseitige Cochlea-Implantation bis ins höchste Alter ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis zeigt, als eine nicht suffiziente Versorgung mit Hörgeräten. Die Cochlea-Implantation ermöglicht eine nachgewiesene Verbesserung der Lebensqualität bis ins hohe Alter (10, 19).

Ergänzend zu den Massnahmen der peripheren Hörverbesserung gibt es immer mehr wissenschaftlich entwickelte und überprüfte Trainingsprotokolle, die auditorisch-kognitive Fähigkeiten trainieren und so das zentrale auditorische System anregen (18). Bisher wurden aber vor allem simple und einseitige Trainings angeboten, die beispielsweise nur auf die Verarbeitung von Tonhöhen oder Tonlängen aufbauten. In solchen Verfahren werden beispielsweise einer Patientin zwei Töne vorgespielt und sie muss dann entscheiden, welcher eine höhere Tonhöhe hat. Diese grundlegende auditorische Funktion verschiedene Tonhöhen zu unterscheiden, lässt sich aber nicht einfach auf die Verarbeitung von Sprache übertragen. Das heisst es gibt wenig «Transfer» zu kommunikativen Alltagssituationen, auch wenn man in der Übung mit der Zeit besser wird. Sprache ist ein viel komplexeres Signal als sogenannte Sinustöne, die in der Natur eigentlich nicht vorkommen. Neue adaptive und personalisierte Trainings, die ausserdem eine spielerische Komponente besitzen und sich auf natürliche gesprochene Sprache in erschwerten Hörsituationen in alltagsnahen Situationen fokussieren, zeigen deswegen viel grössere Erfolge. Verschiedene Trainingsansätze können je nach Grad an Hörverlust und kognitiven Fähigkeiten der Personen gewählt werden mit Fokus beispielsweise auf das Trainieren von kognitiven Fähigkeiten in Kommunikationssettings (sog. auditory cognitive training; ACT) oder die bessere Nutzung von visuellen Sprachinformationen im Gesicht von Sprechern (17) (Abb. 4). In der Forschung an der Universität Zürich (unter der Leitung von Prof. Giroud) werden ausserdem weitere Verfahren entwickelt und getestet, wie zum Beispiel Trainings in der virtuellen Realität oder Gehirnstimulation.

Diese neue Generation an Trainings basiert oft auf Kommunikationssituationen, die für ältere Personen relevant sind, wie zum Beispiel in Dialogsituationen zu kommunizieren während man sich in einem lauten Restaurant befindet. Die Schwierigkeit ist, sich nur auf einen Sprecher konzentrieren zu können und alle restlichen Personen und Geräusche zu ignorieren. Solche Alltagssituationen erfordern aufmerksames Zuhören, die Verarbeitung von und die Interpretation der gesprochenen Sprache, sowie kognitive Fähigkeiten wie die verarbeitete Information im Gedächtnis behalten und eine Antwort auf eine Frage des Sprechers vorbereiten. Ein wissenschaftlich validiertes Trainingsprogramm für (Schweizer)deutsch ist bereits über www.lippenlesen.ch von Pro Audito Schweiz erhältlich, die führende Anlaufstelle für Menschen mit Hörbeeinträchtigung in der Schweiz (17).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Patrick Dörig

Universitätsspital Basel
Hals-Nasen-Ohren-Klinik
Petersgraben 4
4031 Basel

Prof. Dr. Nathalie Giroud

Forschungsgruppe Neurowissenschaften der Sprache und des Hörens
Universität Zürich
Institut für Computerlinguistik
Andreasstrasse 15
8050 Zürich

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Im Alter sind viele Menschen von einer Hörminderung betroffen. Auswirkungen hat dies nicht nur auf die generelle Lebensqualität, sondern insbesondere auch auf psychosoziale und kognitive Funktionen.
◆ Typischerweise verläuft die Altersschwerhörigkeit langsam progredient und ist beidseits etwa gleich ausgeprägt. Ursächlich sind dabei nachweisbare Veränderungen sowohl im peripheren Hörorgan, als auch im zentralen auditorischen System.
◆ Wenn aufgrund der Ausprägung der Hörminderung qualitativ hochwertige Hörgeräte keinen relevanten Nutzen mehr bringen können, ist die Evaluation eines Cochlea Implantates bis ins hohe Alter sinnvoll.
◆ Neben den technischen Hörsystemen gibt es auch neue Therapiemöglichkeiten, um das zentrale auditorische System zu stimulieren, wie z.B. Lippenlese- oder alltagsnahe Kommunikationstrainings.

1. Alain C, Du Y, Bernstein LJ et al. (2018) Listening under difficult conditions: An activation likelihood estimation meta-analysis. Hum Brain Mapp 39:2695-2709
2. Carlson ML (2020) Cochlear Implantation in Adults. N Engl J Med 382:1531-1542
3. Cunningham LL, Tucci DL (2017) Hearing Loss in Adults. N Engl J Med 377:2465-2473
4. Dalbert A, Röösli C, Kleinjung T et al. (2021) Cochlea-Implantation. Swiss Medical Forum 21:474-478
5. Fischer N, Weber B, Riechelmann H (2016) [Presbycusis – Age Related Hearing Loss]. Laryngorhinootologie 95:497-510
6. Giroud N, Hirsiger S, Muri R et al. (2018) Neuroanatomical and resting state EEG power correlates of central hearing loss in older adults. Brain Struct Funct 223:145-163
7. Giroud N, Keller M, Meyer M (2021) Interacting effects of frontal lobe neuroanatomy and working memory capacity to older listeners’ speech recognition in noise. Neuropsychologia 158:107892
8. Hesse G, Eichhorn S, Laubert A (2014) [Hearing function and hearing loss in the elderly]. HNO 62:630-639
9. Hickok G, Poeppel D (2007) The cortical organization of speech processing. Nat Rev Neurosci 8:393-402
10. Laske RD, Dreyfuss M, Stulman A et al. (2019) Age Dependent Cost-Effectiveness of Cochlear Implantation in Adults. Is There an Age Related Cut-off? Otol Neurotol 40:892-899
11. Lenarz M, Sonmez H, Joseph G et al. (2012) Cochlear implant performance in geriatric patients. Laryngoscope 122:1361-1365
12. Liberman MC, Kujawa SG (2017) Cochlear synaptopathy in acquired sensorineural hearing loss: Manifestations and mechanisms. Hear Res 349:138-147
13. Livingston G, Huntley J, Sommerlad A et al. (2020) Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission. Lancet 396:413-446
14. Lohler J, Cebulla M, Shehata-Dieler W et al. (2019) Hearing Impairment in Old Age. Dtsch Arztebl Int 116:301-310
15. Probst R, Grevers G, Iro H (2008) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Georg Thieme Verlag KG
16. Profant O, Skoch A, Balogova Z et al. (2014) Diffusion tensor imaging and MR morphometry of the central auditory pathway and auditory cortex in aging. Neuroscience 260:87-97
17. Schmitt R, Meyer M, Giroud N (2023) Improvements in naturalistic speech-in-noise comprehension in middle-aged and older adults after 3 weeks of computer-based speechreading training. NPJ Sci Learn 8:32
18. Stropahl M, Besser J, Launer S (2020) Auditory Training Supports Auditory Rehabilitation: A State-of-the-Art Review. Ear Hear 41:697-704
19. Tang L, Thompson CB, Clark JH et al. (2017) Rehabilitation and Psychosocial Determinants of Cochlear Implant Outcomes in Older Adults. Ear Hear 38:663-671
20. Wong PC, Jin JX, Gunasekera GM et al. (2009) Aging and cortical mechanisms of speech perception in noise. Neuropsychologia 47:693-703
21. World, Health, Organization (2021) World report on hearing.
22. Zust H, Tschopp K (1993) Influence of context on speech understanding ability using German sentence test materials. Scand Audiol 22:251-255

Psychopharmaka in der Hausarztpraxis

Eine erhebliche Anzahl von Menschen leiden an depressiven Erkrankungen, an pathologischen Ängsten, zeigen psychosomatische Symptome, haben chronische Schlafprobleme oder sind psycho-physisch erschöpft. Sie suchen oft zuerst in der hausärztlichen Praxis medizinische Hilfe. Hausärzte sind also jeden Tag mit psychisch beeinträchtigten Patienten konfrontiert und müssen dann handeln. Umso wesentlicher ist eine Grundkompetenz betreffend die unterschiedlichen Psychopharmaka und deren gezielten Einsatz, aber auch das Wissen über deren therapeutische Limitationen. Psychopharmaka können in Zeiten des vermeintlichen Neurobiologie-Hype jedoch eine gute, vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient nie ersetzen. Sie sind in der anspruchsvollen Behandlung von psychisch erkrankten Patienten als Ergänzung zu bewerten.

A considerable number of people suffer from depressive disorders, pathological anxiety, show psychosomatic symptoms, have chronic sleep problems or are psycho-physically exhausted and often first seek medical help in the GP’s practice. GPs are therefore confronted with psychologically impaired patients every day and must then act. This makes it all the more important for them to have a basic knowledge of the various psychotropic drugs and their targeted use, but also to know about their therapeutic limitations. Even in times of supposed neurobiology hype, psychopharmaceuticals can never replace a good, trusting relationship between doctor and patient. They are to be seen as a supplement in the demanding treatment of mentally ill patients.

Allgemeine Aspekte der Behandlung mit Psychopharmaka

Psychiatrische Erkrankungen schwererer Ausprägung führen im Vergleich zu vielen somatischen Krankheiten in höherem Masse zu dauerhaften Beeinträchtigungen und zu einer verkürzten Lebenserwartung. Sie stellen daher hohe Anforderungen an den Behandler. Viele Patienten mit psychischen Leiden finden sich zuerst beim Hausarzt ein. Meistens sind es Menschen mit depressiven Symptomen oder sie klagen über pathologische Ängste, da diese beiden psychischen Erkrankungen unverändert die Rangliste der psychischen Erkrankungen anführen. Vor allem bei depressiven Störungen ist die Diagnostik zuweilen schwierig, da Patienten ihre beeinträchtigte Psyche nicht unmittelbar thematisieren. Oder sie können die Beschwerden nicht in Verbindung mit psychischen Prozessen bringen und berichten allein über körperliche Probleme. Der Hausarzt hat nicht selten den Vorteil, den Patienten schon länger zu kennen, kann Veränderungen in dessen Verhalten und Reaktionen ansprechen und die Symptomatik erklärbar machen. Wenn keine Zuweisung an den Psychiater erfolgt, kommt die Therapieverantwortung alleine bei ihm zu liegen. Er spielt somit eine wichtige Rolle bei der Ersterkennung, der Triage und der Behandlung von psychischen Störungen und ebenso bei der Verschreibung und Verwaltung von Psychopharmaka.

In Deutschland verschreiben die Hausärzte ein Drittel der Psychopharmaka, in den USA sind es Dreiviertel der Antidepressiva, die nicht von Psychiatern, sondern von Allgemeinärzten, Pädiatern oder Gynäkologen verordnet werden. Und die Zahlen des Psychopharmaka-Absatzes nehmen stetig zu, v.a. die der Antidepressiva, der Tranquilizer, der Neuroleptika und auch die von Methylphenidat. In der Schweiz nehmen laut Daten der Krankenkassen ca. 20 Prozent aller Versicherten eine Form von Psychopharmaka ein, die zur Hälfte von Hausärzten und zu 30 Prozent von Psychiatern verordnet werden. Die zunehmende Verschreibungspraxis von Psychopharmaka wird von der Ärzteschaft, den Krankenkassen, den Patienten und Patientenorganisationen zwar immer wieder kritisch bewertet, ohne dass sich hierdurch bis heute positive Veränderungen ergeben hätten. Psychopharmaka sollten immer sehr präzise und zeitlich begrenzt zur Anwendung kommen und der Patient muss während der Behandlung durch den verschreibenden Arzt regelmässig begleitet werden. Die alleinige medikamentöse Therapie von psychischen Erkrankungen ist einer Kombination mit medizinischer Psychotherapie unterlegen und ist grundsätzlich weder sinnvoll noch als zielführend zu betrachten. Psychopharmaka sind in der Psychiatrie und Psychotherapie therapeutisch bedeutsam, jedoch ist deren alleiniges Wirkungsspektrum begrenzt. Die Vorstellung, dass durch ihren Einsatz die einer psychischen Störung zugrundeliegenden Probleme gelöst werden können, greift zu kurz. Ohne eine vertiefte und kompetente Abklärung mit Analyse der hoch relevanten psycho-sozialen inkl. beruflichen Situation, bleibt der Einsatz von Psychopharmaka problematisch. Darüber hinaus sind deren Wirkung und Nebenwirkungen gegeneinander abzuwägen und Alternativbehandlungen und Selbsthilfemassnahmen in der Therapiestrategie zu berücksichtigen.

Die biologische Ausrichtung der Psychiatrie und die Neurowissenschaft versuchen ein Bild von psychischen Störungen zu etablieren, dass wenn die Psyche leidet, einfach das Gehirn krank sein soll. Es stellen sich somit in Verbindung mit dem heutigen generellen Anspruch des „Quick-fix“ für den Hausarzt wichtige Fragen der adäquaten bzw. kritischen Anwendungspraxis von Psychopharmaka: Wann also sollen Psychopharmaka zum Einsatz kommen? Welche Qualität von psychischen Störungen rechtfertigen eine medikamentöse Behandlung? Welcher Patient profitiert und was sind mögliche negativen Auswirkungen der zur Anwendung gelangenden Medikamente?

Antidepressiva

Die Datenlage hinsichtlich des Nutzens von Antidepressiva ist widersprüchlich. Antidepressive Medikamente mit neuem Wirkmechanismus, rascher Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen sind keine in Sicht. Neue Studien zeigen, dass sich die Mehrheit der untersuchten Antidepressiva zwar überzufällig von Placebo unterscheiden, also eine Wirkung aufweisen, jedoch in der Effektstärke sehr schwach bleiben. Die Effekte sind so gering, dass davon ausgegangen wird, dass 90 Prozent der Wirkung von Antidepressiva auf PIaceboeffekten beruhen. Trotzdem können Patienten von Antidepressiva profitieren, auch wenn wir bis heute nicht wissen wie und weshalb. Die Monoamin-Hypothese, also, dass allein eine erniedrigte Serotonin- oder Noradrenalin-Konzentration für die Auslenkung der Grundstimmung verantwortlich sein soll, lässt sich
auch aufgrund neuester Untersuchung nicht halten. Eine lineare neurobiologische Kausalität zwischen Antidepressiva und der Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes bestand wohl noch nie, deren teilweise erzielter thymoleptische Effekt bleibt ungeklärt.

Für leichte und mittelschwere depressive Zustände gelten Antidepressiva heute denn auch nicht mehr als dringend indiziert. Sie sind durch medizinische Psychotherapie erfolgreich behandelbar. Antidepressiva kommen jedoch bei ausgeprägter depressiver Symptomatik als aktivierende (SSRI bzw. SNRI) oder sedierende Antidepressiva (z.B. Trazodon (Trittico), Mirtazapin (Remeron) oder Trizyklika) zum Einsatz. SSRI sind darüber hinaus bei Angststörungen indiziert und mit sedierenden Antidepressiva, die stärker auf die Histamin-Rezeptoren einwirken, können auch oft lange vorbestehende Schlafprobleme angegangen werden. Hierbei sind die konsekutive eingeschränkte Fahrtauglichkeit und Sturzgefahr zu beachten. SSRI werden zudem auch bei Zwangsstörungen und chronischen Schmerzsyndromen angewendet. Das Serotonin-Syndrom unter SSRI ist selten und kann bei Kombination mit Triptan, Opioiden oder bei gleichzeitiger Gabe von anderen Antidepressiva auftreten. Es existiert aufgrund der oben dargestellten Unsicherheiten betreffend dem Wirkmechanismus von Antidepressiva keine massgeschneiderte Medikationsoption für einen bestimmten Patiententypus. Deren Einsatz bleibt von der individuellen Verträglichkeit, dem Vorliegen von Komorbiditäten und den eigenen Erfahrungen des Behandlers abhängig. In der hausärztlichen Praxis reichen wenige Präparate aus, die man jedoch gut kennen sollte. Antidepressiva sollen immer aufdosiert (Probesdosis) und nach anhaltender Stabillisierung des psychischen Gesundheitszustandes aufgrund möglicher Entzugserscheinungen immer langsam abgesetzt werden. Phytotherapeutika (Hypericum perforatum) sind bei mittelschwerer Ausprägung synthetischen Antidepressiva ebenbürtig und können dem Patienten als erste Wahl angeboten werden, da ihre Nebenwirkungen und das Interaktionsrisiko geringer sind. Ketamin ist seit 2020 als Antidepressivum in der Schweiz nur für therapieresistente Depressionen zugelassen und wird als Nasenspray und i.v. angewendet. In den letzten Jahren werden Neuroleptika auch bei depressiven Störungen ohne psychotische Symptome als Augmentationstherapie sowie bei Schlafstörungen eingesetzt. Die Indikation erscheint aufgrund des oft ungenügenden Benefits für die Patienten und v.a. wegen der Nebenwirkungen fraglich.

Bei rezidivierenden depressiven Erkrankungen ist Lithium unverändert der Moodstabilizer der Wahl, sein Wirkmechanismus ist nicht bekannt. Das Aufdosierungsschema ist genau zu befolgen und die regelmässigen Blutkontrollen gemäss Hersteller einzuhalten. Der therapeutische Bereich ist eng (Kardiotoxizität) und der Pat. muss hierzu wie auch über die übrigen möglichen Nebenwirkungen und das Zeitintervall (12 Stunden) zwischen der letzten Li-Einnahme und der Blutentnahme informiert werden.

Neuroleptika

Es existiert eine Vielzahl von Neuroleptika und deren Auswahl fällt ebenfalls nicht leicht. Sie sind antipsychotisch, sedierend und lindern die psychomotorische Unruhe. Sie kommen p.o. oder i.m. Depot bei psychotischen Symptomen im Rahmen einer Schizophrenie oder einer major depression, als Phasenprophylaxe bei bipolaren Störungen, bei akuten manischen Episoden und bei Erregungszuständen von schizophrenen und manischen Patienten i.m. akut zur Anwendung. Sie wirken auf unterschiedliche Dopamin-, Serotonin- und Histamin-Rezeptoren und sollen v.a. über ihren D2-Antagonismus zu einer Normalisierung der Hirnaktivität führen. Bei Latuda ist der Wirkmechanismus unbekannt, bei Reagila soll die Wirkung über einen partiellen D3- bzw. D2-Rezeptor-Agonismus erzielt werden. Eine deutlich bessere Wirksamkeit der neuen Präparate im Vergleich zu den klassischen Neuroleptika wurde in Studien bis heute nicht nachgewiesen. Antipsychotika der neuen Generation (z.B. Risperidon, Olanzapin, Quetiapin) werden aber als besonders wirksam gegen die Negativsymptomatik bei Schizophrenie propagiert. So besteht eine ähnliche Situation wie bei den Antidepressiva: Der Vorteil neuerer Präparate zeigt sich vorwiegend in deren teilweise günstigerem Nebenwirkungsprofil z.B. hinsichtlich Gewichtszunahme, Spätdyskinesien, Akathisie, Obstipation, orthostatische Hypotonie, Hypertonie und Tachyarrhythmien. Auch bei den Neuroleptika gilt es, wenige Präparate, deren Nebenwirkungen und mögliche Interaktionen gut zu kennen und auf die adäquate Dosierung zu achten. Untersuchungen haben gezeigt, dass durch eine Besetzung der Dopamin-Rezeptoren von 60-65 Prozent eine gute antipsychotische Wirkung erzielt wird und ab 80 Prozent v.a. die extrapyramidalen Nebenwirkungen stark zunehmen. Somit kann die Dosierung von Neuroleptika entsprechend niedrig gehalten werden (z.B. 2-6mg Risperdal, 5-20mg Zyprexa). Beim Einsatz von Neuroleptika aufgrund starker Unruhe und vorbestehendem kognitiven Defizit ist bei älteren Menschen Vorsicht geboten. Bei nächtlicher Unruhe älterer Patienten widerspiegeln Neuroleptikaverordnungen leider nur allzu oft den zu beklagenden Personalmangel in den Institutionen. Externe Sitzwachen sind hier als Alternative oft sinnvoller und zu diskutieren. Auch nur kurzfristig eingesetzte Neuroleptika können zudem eine dementielle Entwicklung beschleunigen.

Benzodiazepine

Nach den Antidepressiva gelten Benzodiazepine als die am zweithäufigsten verordneten Psychopharmaka. Sie kommen bei psychiatrischen Erkrankungen als Anxiloytika/Sedativa und Hypnotika zum Einsatz. Aufgrund ihres raschen Wirkungseintritts über die allosterische (nicht kompetitive) Bindung an den GABA-A-Rezeptor und der guten therapeutischen Breite werden sie oft zu lange, nicht selten über Jahre verordnet, was zu kognitiven Defiziten und zu low-dose-Abhängigkeiten führt. Da Benzodiazepine neben ihrem anxiolytischen, beruhigend-sedierenden, schlafanstossenden und krampflösenden Effekt auch muskelrelaxierend sind, steigt v.a. bei älteren Patienten das Sturzrisiko. Benzodiazepine sind mit Antidepressiva und Neuroleptika kombinierbar. Jedoch ist auf die Potenzierung der sedativen Wirkung hinzuweisen, insbesondere, wenn gleichzeitig Alkohol oder anderweitige psychotrope Substanzen konsumiert werden. Auch besteht bei einigen Präparaten die Möglichkeit der Wirkstoffkumulation, wobei bei Xanax und Temesta keine entsprechenden Effekte, hingegen bei Valium und Rivotril solche nachweisbar sind. Das Absetzen von Benzodiazepinen bei körperlicher Abhängigkeit führt zu Entzugssymptomen (cave Entzugsanfall) und sollte immer sehr langsam und unter strenger ärztlicher Aufsicht erfolgen.

Bei Unruhezuständen und verstärkten Angstgefühlen, z.B. im Rahmen einer depressiven Störung sowie für die Behandlung von Schlafproblemen stehen Alternativen zu den Benzodiazepinen zur Verfügung. Den Patienten sollten solche Präparate v.a. im Hinblick auf ihr geringeres bzw. fehlendes Abhängigkeitspotential angeboten werden. Lavendelöl (Laitea), Kombination von Hopfen und Baldrian (Hova), Melatonin (Circadin) wirken nachweislich bei vielen Patienten und auch Mirtazapin (Remeron), Mianserin (Tolvon) und Tradozon (Trittico) sind als schlafanstossende Antidepressiva den Benzodiazepinen gegenüber zu bevorzugen.

Benzodiazepine

Nach den Antidepressiva gelten Benzodiazepine als die am zweithäufigsten verordneten Psychopharmaka. Sie kommen bei psychiatrischen Erkrankungen als Anxiloytika/Sedativa und Hypnotika zum Einsatz. Aufgrund ihres raschen Wirkungseintritts über die allosterische (nicht kompetitive) Bindung an den GABA-A-Rezeptor und der guten therapeutischen Breite werden sie oft zu lange, nicht selten über Jahre verordnet, was zu kognitiven Defiziten und zu low-dose-Abhängigkeiten führt. Da Benzodiazepine neben ihrem anxiolytischen, beruhigend-sedierenden, schlafanstossenden und krampflösenden Effekt auch muskelrelaxierend sind, steigt v.a. bei älteren Patienten das Sturzrisiko. Benzodiazepine sind mit Antidepressiva und Neuroleptika kombinierbar. Jedoch ist auf die Potenzierung der sedativen Wirkung hinzuweisen, insbesondere, wenn gleichzeitig Alkohol oder anderweitige psychotrope Substanzen konsumiert werden. Auch besteht bei einigen Präparaten die Möglichkeit der Wirkstoffkumulation, wobei bei Xanax und Temesta keine entsprechenden Effekte, hingegen bei Valium und Rivotril solche nachweisbar sind. Das Absetzen von Benzodiazepinen bei körperlicher Abhängigkeit führt zu Entzugssymptomen (cave Entzugsanfall) und sollte immer sehr langsam und unter strenger ärztlicher Aufsicht erfolgen.

Bei Unruhezuständen und verstärkten Angstgefühlen, z.B. im Rahmen einer depressiven Störung sowie für die Behandlung von Schlafproblemen stehen Alternativen zu den Benzodiazepinen zur Verfügung. Den Patienten sollten solche Präparate v.a. im Hinblick auf ihr geringeres bzw. fehlendes Abhängigkeitspotential angeboten werden. Lavendelöl (Laitea), Kombination von Hopfen und Baldrian (Hova), Melatonin (Circadin) wirken nachweislich bei vielen Patienten und auch Mirtazapin (Remeron), Mianserin (Tolvon) und Tradozon (Trittico) sind als schlafanstossende Antidepressiva den Benzodiazepinen gegenüber zu bevorzugen.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Michael Sacchetto-Mussetti

Zentrum für Psychiatrie und
Psychotherapie rechter Zürichsee Küsnacht
Dorfstrasse 5
8700 Küsnacht

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Behandlung psychiatrischer Patienten erfordert entgegen dem Zeitgeist nicht allein eine Psychopharmakotherapie, sondern die konstante ärztliche Begleitung. Eine Abklärung und eine psychotherapeutische Behandlung durch den Facharzt sind in den meisten Fällen indiziert.
  • Es gilt, wenige Psychopharmaka, diese jedoch hinsichtlich ihrer Wirkungsweise, Nebenwirkungen und Interaktionen gut zu kennen. Bei psychisch erkrankten Patienten ist die genaue Besprechung der Medikation besonders relevant. Deren jeweilige Dosierung ist zurückhaltend zu wählen (Nebenwirkungen). Psychopharmaka sollen zeitlich begrenzt zum Einsatz gelangen und Neuroleptika sind bei depressiven Erkrankungen, bei Angstpatienten, bei älteren Patienten und bei Schlafstörungen nur als Ultima Ratio zu werten.
  • Eine gute Zusammenarbeit zwischen dem Hausarzt und dem Psychiater erhöht die diagnostische Trefferquote v.a. bei den nicht selten unerkannten depressiven Störungen. Die Zusammenarbeit führt neben einer Steigerung der therapeutischen Erfolgsquote durch eine gemeinsame und damit optimierte Behandlungsstrategie zur Verbesserung der Prognose und nicht zuletzt auch zu einer Entlastung der Behandler.
  • Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind immer ernst zu nehmen. Auch bei erst kurzzeitiger Medikamenteneinnahme sollte dann eine Dosisanpassung bzw., ein Medikamentenwechsel erfolgen.

beim Verfasser