Frisch ab Presse:
Wieder einmal Vitamin D …
Am Beispiel des Vitamin D kann man den sogenannten «Hype-Zyklus», wie er in Abbildung 1 illustriert ist und in unterschiedlich ausgeprägter Form bei fast allen wissenschaftlichen Innovationen vorkommt, nachexerzieren. Nachdem praktisch alle Vitamin D Interventionsstudien auf vielen Gebieten der Medizin negativ oder inkonlusiv waren, fanden wir uns im Tal der Enttäuschungen wieder («trough of disillusionment»). Vielleicht beginnen wir aber, uns daraus herauszuarbeiten: Gemessen an einem gemischt gewählten Endpunkt (Tod oder Rezidiv nach 5 Jahren), führte die Vitamin D Substitution bei Magen-Darm-Karzinomen (also einer eher heterogenen Gruppe) zu einer hochsignifikanten Reduktion der Mortalität und der Rezidivrate. Dies allerdings «nur» bei Patientinnen und Patienten (immerhin bei einem Drittel aller Tumore), in deren Tumorgewebe das Onkogen P53 nachweisbar war (1). Bei diesen betrug in der Vitamin D Gruppe (2000 U/Tag) das rezidivfreie Überleben 81%, in der Plazebogruppe lediglich 31% (p = 0.002)! Das sind ermutigende Resultate, allerdings mahnt hier die nachträglich analysierte Subgruppe einer 2019 publizierten (in Bezug auf unselektionierte Patientinnen und Patienten) negativen Studie (AMATERASU, 2) zur Vorsicht.
1. JAMA Network, 2023, doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.28886, 2. JAMA. 2019;321(14):1361-1369. doi:10.1001/jama.2019.2210, verfasst am 01.10.2023
Einmaldosis von Psilocybin bei schwerer depressiver Episode
Die pharmakotherapeutischen Akutinterventionen bei dieser mit relevanter Mortalität und hoher Morbidität belasteten Erkrankung sind leider bezüglich Wirksamkeit limitiert. Vom Psilocybin (eine «psychedelische» Substanz und Hauptbestandteil der Kahlkopfpilze) ist bekannt, dass es dem Serotonin chemisch ähnelt und den Serotoninrezeptor (5-HT2A) aktivieren kann. Seine akute antidepressive Wirkung überdauert die chemische Nachweisbarkeit der Substanz in Körperflüssigkeiten deutlich. Bei mehr als hundert Patientinnen und Patienten mit schwerer depressiver Episode (mittleres Alter 41 Jahre, Geschlechterverteilung ausgeglichen) führte einmalig 25 mg Psilocybin p.o. im Vergleich zur gewählten Kontrollsubstanz (100 mg Niacin p.o.) zu einer deutlichen und hochsignifikanten Verbesserung der depressiven Symptome sowohl nach 8 Tagen also auch nach 6 Wochen, anscheinend ohne relevante Nebenwirkungen (1). Die Wahl von Niacin begründen die Autoren damit, dass es zum Psilocybin (noch) keine Plazebokapseln gibt und ein Niacinmangel allenfalls depressive Wirkungen haben kann. In beiden Gruppen wurde auch eine psychiatrische/psychologische Betreuung sichergestellt. Objektiviert wurde das Ansprechen durch den MADRS Score (Montgomery-Asberg Depression Rating Score, Werte von 0-60, höhere Werte mit schwererer depressiver Symptomatik, siehe die als Referenz 2 aufgeführte Web-Adresse). Unter Psilocybin fiel der MADRS im Vergleich zum Niacin sowohl nach 8 und 43 Tagen um hochsignifikante 12 Score-Punkte (p<0.001) stärker ab. Eindrückliche und wahrscheinlich die besten Resultate bisher bei schweren depressiven Episoden. Die über 6 Wochen anhaltende Wirkung einer Einzeldosis von Psilocybin eröffnet auch ein Opportunitätsfenster für die weiteren antidepressiven Therapien.
JAMA 2023, doi:10.1001/jama.2023.14530, 2. https://www.mdcalc.com/calc/4058/montgomery-asberg-depression-rating-scale-madrs, verfasst am 02.10.2023
Nicht mehr so kontrovers
Krebserkrankungsrisiko bei gastro-ösophagealem Reflux
Die Prävalenz dieser Refluxform liegt in Europa bei 15-20% und ist in Asien mit 5% deutlich seltener. Die Risikodisposition für ein Ösophaguskarzinom ist bei erosiven und anderen Schleimhautläsionen klar etabliert und erfordert entsprechende gastroenterologische Nachsorgeuntersuchungen. Allerdings findet man bei rund ²/³ aller Patientinnen und Patienten mit anderweitig typischen Refluxbeschwerden keine Reflux-typischen Schleimhautveränderungen. Welches ist die Prognose (d.h. bei Refluxbeschwerden, aber normaler oberer Panendoskopie)? Laut der hier erwähnten Studie ist das Risiko im Gegensatz zu erosiven Ösophagitiden nicht erhöht. Schon bei der ersten, diagnostischen Endoskopie ist die Inzidenz an Adenokarzinomen doppelt so hoch bei erosiven als bei nicht-erosiven Ösophagitiden. Danach steigt das Risiko, ein Adenokarzinom in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu entwickeln, in der Patientengruppe mit erosiven Veränderungen um einen Faktor 2, während es bei der Gruppe mit Refluxbeschwerden, aber normaler Endoskopie über den gleichen Zeitraum nie höher ist, als bei einer Normalpopulation. Die Studie hat praktische, vielleicht gar kostensparende Effekte: Endoskopische Kontrollen scheinen bei Reflux und normaler Endoskopie (der Mehrzahl der Patientinnen und Patienten) nicht nötig. Auch die Indikationen für die aufwendigen manometrischen und pH Analysen dürften deutlich redimensioniert werden.
BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj-2023-076017, verfasst am 02.10.2023
Weniger als eine halbe Minute für Hintergrundswissen über …
Wahrscheinliche infektiologische Folgen von Klimaerwärmung und Hitzewellen
► Die Influenza tritt weniger häufig auf, aber möglicherweise nimmt die perenniale Zirkulation in der Bevölkerung zu (mit erhöhtem Potential für Mutationen).
► Eine Zunahme (in Zahl und geographischer Verbreitung) von Zika, Chikungunya und Dengue-Fieber (Vektoren: Aedes aegypti resp albopictus), weil Temperaturen um 30 Grad optimale Vermehrungs- und Wachstumsbedingungen anbieten.
► Die Malaria könnte regional seltener werden, denn der Vektor Anopheles Gambiae lebt am besten bei Temperaturen um 25 Grad, z.B. in West- und Zentralafrika. In anderen Regionen wie Ostafrika scheint eine Zunahme auf Grund der Erwärmung der letzten Jahre vollzogen, ein Abfall wäre später möglich.
► Zunahme von Cholera-Erkrankungen.
► Zunahme der multiresistenten Candida auris Infektionen, die bislang vom Temperaturgradienten (von der Aussenwelt zum 37 Grad warmen Menschen) abgehalten wurden. Bei Dissipation des Temperaturgradienten könnten die Infekte weiter zunehmen.
► Freisetzung gefährlicher Pathogene aus dem auftauenden Permafrost: Clostridien (Botulismus, toxischer Schock, Nahrungsmittelvergiftung), Bacillus anthracis (Milzbrand) oder Poxviren (Pocken) uam.
Science 2023, die Artikel sind alle als Teile einer Spezialausgabe am 29. September 2023 erschienen (noch keine doi-Klassifikation erhältlich)
Auch gut zu wissen
Impfen im Herbst 2023
Das Infovac Bulletin ist ein konzises, die relevanten Informationen (und direkten Links!) enthaltende Entscheidungshilfe für uns Ärztinnen und Ärzte. Aus der Septemberausgabe ist Folgendes wert festzuhalten:
• Laut BAG Bulletin 37/2023 wird eine Covid-19 Impfung für besonders gefährdete Personen (inkl jene > 65 J, Schwangere mit Vorerkrankungen) empfohlen. Als idealer Impfzeitraum wird mitte Oktober bis Dezember genannt.
• Grippeimpfung: Der für Personen über 65 Jahre wirksamste und zugelassene Impfstoff Efluelda wird nur bei Personen über 75J. und jenen über 65J. mit mindestens einem weiteren Risikofaktor für einen schwereren Grippeverlauf vergütet. Bei den anderen Impfstoffen (Fluarix tetraR, ab 36 Monaten, resp. Vaxigrip tetraR, ab 6 Monaten) wird für alle anderen Personen von einer vergleichbaren Schutzwirkung ausgegangen (1, 2).
1. https://www.infovac.ch/
2. https://www.infovac.ch/de/?option=com_gd&view=listing&fid=1967&task=ofile, verfasst am 01.10.2023
Müde T-Lymphozyten
In der Ausgabe 06/2023 vom «der informierte @rzt» hatten wir berichtet, dass emotionaler Stress via Hypercortisolismus Entzündungsschübe bei entzündlichen Darmerkrankungen auslösen kann. Nun wird bekannt, dass eine weitere Körperreaktion auf Stress, die sympathoadrenerge Aktivität, die zelluläre Immunkontrolle verschlechtert, durch Effekte auf T-Lymphozyten (sog. CD8 Subgruppe). Das Phänomen wird als T-Zell-Dysfunktion oder T-Zell-Erschöpfung bezeichnet. Der zelluläre Effekt des Sympathikustonus kann durch blockierende Substanzen des Beta1-Rezeptors verhindert werden. Dies lässt hoffen, dass vielleicht damit ein Teil der stress-induzierten somatischen Folgen verhinder- oder therapierbar werden. Das Phänomen der T-Zell-Erschöpfung wird auch bei chronischer Antigenpräsentation wie bei Tumorleiden und der Tuberkulose beobachtet und es wird interessant sein, ob eine chronische Beta1-Blockade einen onkostatischen oder anti-infektösen Effekt ausüben kann.
Nature 2023, doi.org/10.1038/s41586-023-06568-6, verfasst am 02.10.2023
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