RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

Wieder einmal Vitamin D …

Am Beispiel des Vitamin D kann man den sogenannten «Hype-Zyklus», wie er in Abbildung 1 illustriert ist und in unterschiedlich ausgeprägter Form bei fast allen wissenschaftlichen Innovationen vorkommt, nachexerzieren. Nachdem praktisch alle Vitamin D Interventionsstudien auf vielen Gebieten der Medizin negativ oder inkonlusiv waren, fanden wir uns im Tal der Enttäuschungen wieder («trough of disillusionment»). Vielleicht beginnen wir aber, uns daraus herauszuarbeiten: Gemessen an einem gemischt gewählten Endpunkt (Tod oder Rezidiv nach 5 Jahren), führte die Vitamin D Substitution bei Magen-Darm-Karzinomen (also einer eher heterogenen Gruppe) zu einer hochsignifikanten Reduktion der Mortalität und der Rezidivrate. Dies allerdings «nur» bei Patientinnen und Patienten (immerhin bei einem Drittel aller Tumore), in deren Tumorgewebe das Onkogen P53 nachweisbar war (1). Bei diesen betrug in der Vitamin D Gruppe (2000 U/Tag) das rezidivfreie Überleben 81%, in der Plazebogruppe lediglich 31% (p = 0.002)! Das sind ermutigende Resultate, allerdings mahnt hier die nachträglich analysierte Subgruppe einer 2019 publizierten (in Bezug auf unselektionierte Patientinnen und Patienten) negativen Studie (AMATERASU, 2) zur Vorsicht.

1. JAMA Network, 2023, doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.28886, 2. JAMA. 2019;321(14):1361-1369. doi:10.1001/jama.2019.2210, verfasst am 01.10.2023

Einmaldosis von Psilocybin bei schwerer depressiver Episode

Die pharmakotherapeutischen Akutinterventionen bei dieser mit relevanter Mortalität und hoher Morbidität belasteten Erkrankung sind leider bezüglich Wirksamkeit limitiert. Vom Psilocybin (eine «psychedelische» Substanz und Hauptbestandteil der Kahlkopfpilze) ist bekannt, dass es dem Serotonin chemisch ähnelt und den Serotoninrezeptor (5-HT2A) aktivieren kann. Seine akute antidepressive Wirkung überdauert die chemische Nachweisbarkeit der Substanz in Körperflüssigkeiten deutlich. Bei mehr als hundert Patientinnen und Patienten mit schwerer depressiver Episode (mittleres Alter 41 Jahre, Geschlechterverteilung ausgeglichen) führte einmalig 25 mg Psilocybin p.o. im Vergleich zur gewählten Kontrollsubstanz (100 mg Niacin p.o.) zu einer deutlichen und hoch­signifikanten Verbesserung der depressiven Symptome sowohl nach 8 Tagen also auch nach 6 Wochen, anscheinend ohne relevante Nebenwirkungen (1). Die Wahl von Niacin begründen die Autoren damit, dass es zum Psilocybin (noch) keine Plazebokapseln gibt und ein Niacinmangel allenfalls depressive Wirkungen haben kann. In beiden Gruppen wurde auch eine psychiatrische/psychologische Betreuung sichergestellt. Objektiviert wurde das Ansprechen durch den MADRS Score (Montgomery-Asberg Depression Rating Score, Werte von 0-60, höhere Werte mit schwererer depressiver Symptomatik, siehe die als Referenz 2 aufgeführte Web-Adresse). Unter Psilocybin fiel der MADRS im Vergleich zum Niacin sowohl nach 8 und 43 Tagen um hochsignifikante 12 Score-Punkte (p<0.001) stärker ab. Eindrückliche und wahrscheinlich die besten Resultate bisher bei schweren depressiven Episoden. Die über 6 Wochen anhaltende Wirkung einer Einzeldosis von Psilocybin eröffnet auch ein Opportunitätsfenster für die weiteren antidepressiven Therapien.

JAMA 2023, doi:10.1001/jama.2023.14530, 2. https://www.mdcalc.com/calc/4058/montgomery-asberg-depression-rating-scale-madrs, verfasst am 02.10.2023

Nicht mehr so kontrovers

Krebserkrankungsrisiko bei gastro-ösophagealem Reflux

Die Prävalenz dieser Refluxform liegt in Europa bei 15-20% und ist in Asien mit 5% deutlich seltener. Die Risikodisposition für ein Ösophaguskarzinom ist bei erosiven und anderen Schleimhautläsionen klar etabliert und erfordert entsprechende gastroenterologische Nachsorgeuntersuchungen. Allerdings findet man bei rund ²/³ aller Patientinnen und Patienten mit anderweitig typischen Refluxbeschwerden keine Reflux-typischen Schleimhautveränderungen. Welches ist die Prognose (d.h. bei Refluxbeschwerden, aber normaler oberer Panendoskopie)? Laut der hier erwähnten Studie ist das Risiko im Gegensatz zu erosiven Ösophagitiden nicht erhöht. Schon bei der ersten, diagnostischen Endoskopie ist die Inzidenz an Adenokarzinomen doppelt so hoch bei erosiven als bei nicht-erosiven Ösophagitiden. Danach steigt das Risiko, ein Adenokarzinom in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu entwickeln, in der Patientengruppe mit erosiven Veränderungen um einen Faktor 2, während es bei der Gruppe mit Refluxbeschwerden, aber normaler Endoskopie über den gleichen Zeitraum nie höher ist, als bei einer Normalpopulation. Die Studie hat praktische, vielleicht gar kostensparende Effekte: Endoskopische Kontrollen scheinen bei Reflux und normaler Endoskopie (der Mehrzahl der Patientinnen und Patienten) nicht nötig. Auch die Indikationen für die aufwendigen manometrischen und pH Analysen dürften deutlich redimensioniert werden.

BMJ 2023, doi.org/10.1136/bmj-2023-076017, verfasst am 02.10.2023

Weniger als eine halbe Minute für Hintergrundswissen über …

Wahrscheinliche infektiologische Folgen von Klimaerwärmung und Hitzewellen

► Die Influenza tritt weniger häufig auf, aber möglicherweise nimmt die perenniale Zirkulation in der Bevölkerung zu (mit erhöhtem Potential für Mutationen).

► Eine Zunahme (in Zahl und geographischer Verbreitung) von Zika, Chikungunya und Dengue-Fieber (Vektoren: Aedes aegypti resp albopictus), weil Tempera­turen um 30 Grad optimale Vermehrungs- und Wachstumsbedingungen anbieten.

► Die Malaria könnte regional seltener werden, denn der Vektor Anopheles Gambiae lebt am besten bei Temperaturen um 25 Grad, z.B. in West- und Zentralafrika. In anderen Regionen wie Ostafrika scheint eine Zunahme auf Grund der Erwärmung der letzten Jahre vollzogen, ein Abfall wäre später möglich.

► Zunahme von Cholera-Erkrankungen.

► Zunahme der multiresistenten Candida auris Infektionen, die bislang vom Temperaturgradienten (von der Aussenwelt zum 37 Grad warmen Menschen) abgehalten wurden. Bei Dissipation des Temperaturgradienten könnten die Infekte weiter zunehmen.

► Freisetzung gefährlicher Pathogene aus dem auftauenden Permafrost: Clostridien (Botulismus, toxischer Schock, Nahrungsmittelvergiftung), Bacillus anthracis (Milzbrand) oder Poxviren (Pocken) uam.

Science 2023, die Artikel sind alle als Teile einer Spezialausgabe am 29. September 2023 erschienen (noch keine doi-Klassifikation erhältlich)

Auch gut zu wissen

Impfen im Herbst 2023

Das Infovac Bulletin ist ein konzises, die relevanten Informationen (und direkten Links!) enthaltende Entscheidungshilfe für uns Ärztinnen und Ärzte. Aus der Septemberausgabe ist Folgendes wert festzuhalten:

• Laut BAG Bulletin 37/2023 wird eine Covid-19 Impfung für besonders gefährdete Personen (inkl jene > 65 J, Schwangere mit Vorerkrankungen) empfohlen. Als idealer Impfzeitraum wird mitte Oktober bis Dezember genannt.

• Grippeimpfung: Der für Personen über 65 Jahre wirksamste und zugelassene Impfstoff Efluelda wird nur bei Personen über 75J. und jenen über 65J. mit mindestens einem weiteren Risikofaktor für einen schwereren Grippeverlauf vergütet. Bei den anderen Impfstoffen (Fluarix tetraR, ab 36 Monaten, resp. Vaxigrip tetraR, ab 6 Monaten) wird für alle anderen Personen von einer vergleichbaren Schutzwirkung ausgegangen (1, 2).

1. https://www.infovac.ch/
2. https://www.infovac.ch/de/?option=com_gd&view=listing&fid=1967&task=ofile, verfasst am 01.10.2023

Müde T-Lymphozyten

In der Ausgabe 06/2023 vom «der informierte @rzt» hatten wir berichtet, dass emotionaler Stress via Hypercortisolismus Entzündungsschübe bei entzündlichen Darmerkrankungen auslösen kann. Nun wird bekannt, dass eine weitere Körperreaktion auf Stress, die sympathoadrenerge Aktivität, die zelluläre Immunkontrolle verschlechtert, durch Effekte auf T-Lymphozyten (sog. CD8 Subgruppe). Das Phänomen wird als T-Zell-Dysfunktion oder T-Zell-Erschöpfung bezeichnet. Der zelluläre Effekt des Sympathikustonus kann durch blockierende Substanzen des Beta1-Rezeptors verhindert werden. Dies lässt hoffen, dass vielleicht damit ein Teil der stress-induzierten somatischen Folgen verhinder- oder therapierbar werden. Das Phänomen der T-Zell-Erschöpfung wird auch bei chronischer Antigenpräsentation wie bei Tumorleiden und der Tuberkulose beobachtet und es wird interessant sein, ob eine chronische Beta1-Blockade einen onkostatischen oder anti-infektösen Effekt ausüben kann.

Nature 2023, doi.org/10.1038/s41586-023-06568-6, verfasst am 02.10.2023

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

Neuroleptika gegen Verhaltens­störungen im Alter sind problematisch

Menschen mit Demenz (MmD) entwickeln oft Verhaltensstörungen, weil sie ohne Anleitung meist den Tag passiv verbringen und dann gegen Abend unruhig werden oder weil sie ungewohnt häufig Grundpflege durch ihnen fremde Personen über sich ergehen lassen müssen. Statt in dieser Situation die gefährlichen Neuroleptika zu verordnen, wäre es besser, sie täglich mit ermüdenden natürlichen Aktivitäten wie Tanzen oder Spazieren, angeleitet durch Angehörige oder Freiwillige, müde werden zu lassen und bei der Ablehnung der Grundpflege nicht auf pflegerischer Perfektion zu beharren. Wenn dennoch Neuroleptika notwendig sind, sollten diese nur mit Zustimmung der Entscheidungsberechtigten und für begrenzte Zeit in geringen Dosen verordnet werden.

Behavioral disturbances are common in persons with dementia. Frequent causes for these are inactivity during the day followed by agitation in the evening, called “sun downing” or opposition to basic nursing care when being touched in intimate areas by persons unfamiliar to them. Rather than to prescribe neuroleptics it is better to offer tiring physical activities such as dancing or walking together with relatives or volunteers. When basic nursing care is not accepted by patients it is better to do less. Better accept imperfect standards in such circumstances! If non pharmacological measures cannot be done or are not sufficient neuroleptics should only be prescribed for a limited time and in the lowest effective dose.

Key Words: Neuroleptika, Off-Label-Use, Demenz, Verhaltensstörungen, Bewegungstherapie

Neuroleptika sind ein grosser Segen zur Behandlung von Psychosen aller Art, insbesondere bei Schizophrenie oder Manie, aber auch bei organischen Psychosen verschiedener Genese. Wenn dann alte Menschen schwerwiegende Verhaltensstörungen entwickeln und die betreuenden Angehörigen, Spitexpersonen oder Pflegende im Heim deshalb drohen, an ihre Belastungsgrenzen zu kommen, liegt es nahe, Neuroleptika auch bei alten Menschen anzuwenden. Wie oft das bei häuslich betreuten Betagten geschieht, ist nicht bekannt.

Aus dem Bereich der Pflegeheime in der Deutschschweiz liegen genaue Zahlen vor (1): 37% aller Heimbewohnenden erhielten 2019 und 2020 in 619 Heimen ein Neuroleptikum, 85% davon sogar länger als 90 Tage. Im Vergleich dazu liegt dieser Wert bei 14,5% aller Bewohnenden von US Nursing Homes (2). Auch in Grossbritannien liegen diese Werte bei 14% (3).

Warum Neuroleptika in der Schweiz für Betagte so häufig verschrieben werden

Die meisten betagten Menschen mit Demenz (MmD) werden über längere Zeit zuhause lebend von ihren Hausärzten behandelt. Eine Befragung von Hausärzten, die 774 Patienten mit Demenz betreuten, ergab eine sehr grosse Verbreitung von Verhaltensstörungen bei MmD (4): Berichtet wurde (Abb. 1) am häufigsten von Agitiertheit (60,5%) und verändertem Schlaf-Wach-Rhythmus (40,3%), seltener von verbaler Aggression (29,2%), von Wahnideen (27,4%), Verweigerung der Grundpflege (18.9%) oder von tätlicher Aggression (15%).

Zum Umgang mit Verhaltensstörungen, oft behaviorale und psychiatrische Symptome der Demenz (BPSD) genannt, gibt es eigentlich auch in der Schweiz gute Beschreibungen über das indizierte stufenweise Vorgehen (z.B. 5, 6). Kernstück aller, auch der internationalen (7) Literatur ist die Empfehlung, bei BPSD primär pflegerisch-betreuerische Massnahmen anzuwenden, und erst wenn diese versagen, Neuroleptika zu verordnen. Wie gut die Evidenz für pflegerische Massnahmen ist, wurde u.a. im Faktenblatt von Curaviva zum Thema festgehalten (6). Weil betreuende Angehörige im häuslichen Bereich durch die BPSD oft an ihre Grenzen kommen und dies ihre weitere Betreuung gefährdet, verordnen Hausärzte deshalb nolens volens häufig Neuroleptika. In den Heimen sind die Pflegenden wegen des immer stärkeren Pflegebedarfs der Bewohnenden und wegen Personalknappheit ebenfalls oft nicht in der Lage, wirksame pflegerisch-betreuerische Massnahmen durchzuführen, so dass sich die Ärzteschaft gezwungen sieht, Neuroleptika verordnen zu müssen.

Warum sind Neuroleptika für betagte MmD problematisch?

Zwar zeigen die neueren sogenannten atypischen Neuroleptika weniger starke und weniger häufig extrapyramidale Nebenwirkungen im Sinne eines iatrogenen Parkinsonismus als die klassischen wie Haloperidol. Diese werden deshalb kaum mehr eingesetzt. Aber auch die Neuen bewirken gemäss Arzneimittelkompendium (8) noch immer eine starke Erhöhung des Mortalitäts- und Hirnschlagrisikos und ein um 40% erhöhtes Sturzrisiko (1). Deshalb schreibt das Arzneimittel Kompendium für alle anderen atypischen Neuroleptika ausser Risperdal, sie seien nicht geeignet für die Behandlung von BPSD. So gibt das Kompendium z.B. bei Quetiapin vor: «Quetiapin ist nicht für die Behandlung von psychotischen Symptomen oder Verhaltensstörungen bei Patienten mit Demenz zugelassen und wird daher nicht zur Anwendung in dieser Patientengruppe empfohlen» (8). Trotzdem ist es das am meisten gebrauchte Neuroleptikum in Pflegeheimen, obwohl es sich beim Einsatz zur Behandlung von BPSD um einen «Off-Label»-Gebrauch handelt.

Gemäss geltendem Arzneimittelrecht ist eine Off-Label-Verordnung zwar in der Schweiz erlaubt, aber es besteht dazu eine Informationspflicht der Verordnenden oder von ihnen dazu Beauftragten (z.B. Pflegefachpersonen) über die Risiken und warum und wie lange das Mittel trotz den Risiken im konkreten Fall eingesetzt werden soll. Die Verordnenden müssen auch die Off-Label-Behandlung regelmässig überprüfen und gegebenenfalls absetzen oder die Dosis anpassen (9). Leider passiert das nur in Ausnahmesituationen (1). Deshalb hat der Heimverband CURAVIVA ein Formular entwickelt, worin über das Risiko beim Off-Label-Gebrauch von atypischen Neuroleptika gut informiert wird und auf welchem die für den betroffenen MmD zuständige entscheidungsberechtigte Person die Zustimmung zum Einsatz schriftlich bestätigen kann. Das Formular kann heruntergeladen werden (10).

Besonders bedenklich aus ethischer Sicht ist eine spezielle Nebenwirkung aller Neuroleptika, die auf deren antidopaminergem Wirkungsprinzip beruht: Dopamin ist nämlich der wirksame Neurotransmitter im Nucleus Accumbens, dem zentralen Belohnungszentrum. Deshalb bewirken Neuroleptika dosisabhängig und abhängig von der Anwendungsdauer eine Hemmung des Belohnungszentrums. Dies hat zur Folge, dass die Behandelten oft kaum mehr Freude empfinden können, ihr Leben nur noch grau in grau ist und zum Dahinvegetieren mutiert.

Benzodiazepine und Z-Schlafmittel (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) eignen sich nicht als Alternative zu Neuroleptika, denn sie wirken im Alter und bei Demenz häufig paradox und verursachen iatrogen agitierte, delirante Zustände.

Ein Fallbeispiel

Die 91-jährige Frau X lebte dement in einem Pflegeheim. Wegen nachmittäglicher und abendlicher Unruhe wurde sie mit Quetiapin 50 mg mittags und abends und zum Einschlafen mit Trittico® 50 mg behandelt. Damit war sie leicht zu betreuen und bei den regelmässigen Besuchen durch ihre Nachkommen tagsüber wach, kommunikativ und zeigte offensichtlich Freude an den Besuchen. Weil das Heim geschlossen werden musste, wurde sie in ein anderes Pflegeheim verlegt. Wegen trotz obiger Medikation anhaltender abendlichen und nächtlicher Unruhe wurde die Neuroleptikum-Dosis sukzessive erhöht auf 125 mg in 3 Dosen verteilt, zusammen mit einer Erhöhung der Trittico® Dosis auf täglich 150 mg und zusätzlich bis 4x täglich 1 mg eines kurzwirksamen Benzodiazepins. In der Folge passierten mehrere Stürze mit Weichteilverletzungen. Sie war jetzt meist stark sediert, konnte nicht mehr gehen, schlief tagsüber immer wieder ein und musste im Rollstuhl sitzend fixiert werden. Bei Besuchen war sie meist kaum weckbar und zeigte keine Reaktion auf Ansprechen durch ihre sie besuchenden Nachkommen. Diesen wurde erklärt, ihr Zustand sei bedingt durch die Progression der Demenz. Weil auch das zweite Heim geschlossen wurde wegen Umbau, wurde Frau X erneut verlegt. Der behandelnden neuen Ärztin fiel sie als massiv übersediert auf; sie stoppte die Neuroleptika und das Benzodiazepin schrittweise. Zum Schlafen erhielt sie weiterhin 150 mg Trittico. In der Folge erlebten die Angehörigen einen Lazarus-Effekt: Ihre Mutter war wieder wach tagsüber, konnte gehen und reagierte mit Freude auf ihre Besuche.

Empfehlungen

MmD zeigen agitierte Verhaltensstörungen am meisten am späteren Nachmittag und Abend, das sogenannte Sundowning und zusätzliche nächtliche Unruhe wegen der Schlafrhythmusstörung mit Umherirren nach nächtlichem Aufwachen und z.T. Stören der Mitbewohnenden. Deshalb sollten MmD am Nachmittag intensiv körperlich gefordert werden, am besten mit an ihre Kondition angepassten, ermüdenden Spaziergängen. Ohne sedierende Medikation tagsüber sind nämlich MmD meist gut zu Fuss mobil. Sie können aber wegen ihrer Vergesslichkeit und Raumsinnstörungen oft nicht mehr allein auf Spaziergänge gelassen werden wegen der Gefahr des Verlorengehens. Sie brauchen also Spazier-Begleitung. Oft liesse sich dies durch die Institution oder durch die Angehörigen organisieren. Dazu eignen sich auch Jugendliche, die dazu oft mit geringer Entlöhnung bereit wären, wenn sie von Angehörigen angefragt werden. Auch Asylsuchende ohne Arbeitserlaubnis oder Flüchtlinge mit Schutzstatus S und zeitlich auf die Abwesenheit ihrer Kinder in der Schule beschränkt und mit nur rudimentärsten Deutschkenntnissen würden sich durch Spesenentschädigungen (z.B. Abonnement des öffentlichen Regionalverkehrs, das sie auch privat nutzen dürfen) zu stundeweiser Tätigkeit als Spazierbegleitende motivieren lassen. Manche noch sprachlich gewandte MmD würden den Spazierbegleitenden auch gerne Wörter von Dingen, denen sie begegnen, beibringen und so eine sinnvolle Betätigung erleben können.

Ebenso wirksam und ermüdend und so einen gesunden Schlaf fördernd ist Tanzen. Beides, Tanzen und Spazieren, müsste aber intensiv und fast täglich erfolgen, um BPSD wirksam zu reduzieren. Ein «Thé-dansant» pro Woche ist diesbezüglich ohne Wirkung. Zu empfehlen ist das personalsparende nachmittägliche regelmässige Tanzen oder Spazieren in Gruppen, z.B. durch Freiwillige aus der Gemeinde oder Angehörige.
Nächtliches Aufstehen und Umherirren kann oft (wie im Beispiel oben) mittels eines sedierenden Antidepressivums wie z.B. Trittico® behandelt werden. Wenn der Schlaf über die Frühstückszeit hinaus verlängert wird, muss natürlich die Dosis reduziert werden. Keinesfalls sind Benzodiazepine oder Z-Schlafmittel bei MmD als Schlafmittel geeignet wegen ihrer oft paradoxen agitativen Wirkung.

Bei Widerstand gegen die meist täglich mehrfach und gründlich durchgeführte Grundpflege durch Pflegende, die den MmD nicht vertraut sind, empfiehlt sich entweder diese durch Pflegende erledigen zu lassen, die keine Abwehr provozieren, statt strikt nach Einteilung vorzugehen. Da Betagte oft seit ihrer Jugend an nur eine samstägliche Ganz-Körper Grundpflege (in der Badewanne oder sogar nur am Wasserhahn in der Küche) gewohnt sind, empfiehlt sich oft – in Absprache mit den Angehörigen – auch im Heim, Fünfe gerade sein zu lassen und auch einmal nicht perfekte Grundpflege zu akzeptieren, statt zu sedieren, bis die Betroffenen alles ohne Widerstand über sich ergehen lassen.

Vor einem Einsatz von Neuroleptika sollten auch oben nicht erwähnte verschiedene pflegerische Massnahmen bei BPSD durch das nichtärztliche Betreuungs- und Pflegeteam probiert werden (6). Bewährt hat sich z. B. der Einsatz von Musik, wenn diese den individuellen Musikgewohnheiten angepasst ist.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Albert Wettstein

ehem. Chefarzt Stadtärztlicher Dienst Zürich
Privatdozent für geriatrische Neurologie der UZH
Mitglied akademische Leitung Zentrum für Gerontologie UZH
Vorsitzender Fachkommission Zürich der
Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Neuroleptika erhöhen im Alter das Mortalitäts-, Hirnschlag- und Sturzrisiko markant und hemmen das Belohnungszentrum, sodass kaum mehr Freude an irgendetwas empfunden werden kann.
  • Menschen mit Demenz sollten, statt mit Neuroleptika sediert zu werden, sich vor allem nachmittags intensiv bewegen mit Tanzen oder Spazieren in Begleitung, damit sie physiologisch ermüden und der Agitiertheit vorbeugen.
  • Atypische Neuroleptika in Off-Label-Use sollten nur nach ausführlicher Information verordnet werden, mit Zustimmung der Entscheidungs­berechtigten, nur für begrenzte Zeit von max. 90 Tagen und in möglichst niedriger Dosierung.

 

1. Giger M, Anliker M, Bartelt G: Polymedikation und Neuroleptika in Schweizer Pflegeheimen in den Jahren 2019 und 2020. Praxis 2022;111:612-617
2. Centers for Medicare & Medicaid Services. National Partnership to Improve Dementia Care in Nursing homes, Baltimore; CMS:2022. https://www.cms.gov/Medicare/Provider-Enrollment-and-Certification/SurveyCertificationGenInfo/National-Partnershop-to-Improve-Dementia-Care-in-Nursing-Homes; letzter Zugriff: 20.04.2022
3. Donegan K, Fox N, Black N, Livingston G, Banerjee S, Burns A. Trends in diagnosis and treatment for people with dementia in the UK from 2005 to 2025: a longitudinal retrospective cohort study. Lancet Public Health. 2017; e149-e156
4. Hock C, Wettstein A. et al (2000) Diagnose und Therapie von Verhaltensstörungen bei Demenz. Praxis,89:1907ff
5. Pieper M. et al (2011) The Implementation of the serial trial intervention for pain and challenging behavior in advanced dementia patients: a cluster randomized controlled trial. BMC Geriatrics 11:13
6. Wettstein A, Giger M (2019). Verhaltensstörungen bei Demenz im Heim mit weniger Neuroleptika behandeln. CURAVIVA Schweiz, Fachbereich Menschen im Alter, online CURAVIVA Schweiz, 2019: www.curaviva.ch
7. The American Psychiatric Association Practice Guideline on the Use of Antipsychotics to treat Agitation or Psychosis in Patients with Dementia (2016). htps://psychiatryonline.org/doi/full/10.5555/appi.books.9780890426807.ap00pre; letzter Zugriff: 04.02.2022
8. Arzneimittel Kompendium der Schweiz®(2023). Fachinformation Seroquel®. www.compendium.ch/seroquel. Letzter Zugriff 08.07.2023
9. Empfehlungen zum Off label use von Arzneimitteln – Kantonsapotheker https://www.kantonsapotheker.ch/fileadmin/docs/public/kav/2_Leitlinien___Positionspapiere/0007_anforderungen_an_den_off-label-use.pdf
10. CURAVIVA – Home. https://www.curaviva.ch/Home/NEUROLEPTIKA-Regelung-des-Off-Label-Use-im-institutionellen-Kontext sicherstellen/o0lF01tj/Pdsob/?lang=de&ID=394006F2-F97D-4D49-B6199F24F57136C2&method=render.news

Sollte Bluthochdruck beim multimorbiden älteren Patienten behandelt werden?

Die Vorteile der Behandlung von Bluthochdruck auf die kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität sind offensichtlich und wurden in zahlreichen randomisierten kontrollierten Studien eindeutig nachgewiesen. Können diese Ergebnisse auch auf 80-Jährige, auf Menschen mit mehreren Komorbiditäten, auf Menschen, die zu der Gesundheitskategorie der Gefährdeten oder Abhängigen gehören, angewendet werden? Dieser Artikel fasst die verschiedenen Empfehlungen der Fachgesellschaften zusammen und stellt die Frage, ob sie bei älteren Menschen mit orthostatischer Hypotonie oder Polymedikation angewendet werden können, und schlägt Behandlungsziele vor, die an den funktionellen und kognitiven Zustand des Patienten angepasst sind.

The benefits of treating arterial hypertension on cardiovascular mortality and morbidity are obvious and have been clearly demonstrated by numerous randomised controlled trials. Can these results be applied to subjects in their eighties, those with multiple co-morbidities, or those in the vulnerable or frail health category? This article reviews the various recommendations made by Academic Societies, and looks at their application to frail or dependent elderly subjects suffering from orthostatic hypotension or with polymedication. It also suggests treatment goals specific to each patient’s functional and cognitive capacities.
Key Words: Hypertonie, Blutdruck, hohes Alter, Gebrechlichkeit

Die mit dem Alter zunehmende Steifheit der Arterien führt zu einem Anstieg des peripheren Gefässwiderstandes und des Blutdrucks. Die daraus resultierende isolierte systolische Hypertonie betrifft mehr als 75% der über 75-Jährigen unabhängig vom Geschlecht (1, 2). Sollte man ihnen deshalb ein blutdrucksenkendes Mittel verschreiben? Die kardiovaskulären Vorteile einer Senkung des Blutdrucks sind in der Literatur gut beschrieben. In einer australischen Metaanalyse, die 123 randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und mehr als 613’000 Patienten umfasste, zeigte Ettehad, dass eine Senkung des systolischen Blutdrucks um 10 mmHg das Auftreten von schweren kardiovaskulären Ereignissen um 20%, die koronare Herzkrankheit um 28%, Schlaganfälle um 27% und die Mortalität aller Ursachen um 13% senkt (3). Ein weiterer systematischer Review (21 RC-Studien und 3 Beobachtungsstudien), in den nur Personen über 65 Jahre einbezogen wurden, ergab, dass eine Senkung des BD von 160 mmHg auf unter 150 mmHg die Mortalität, das Schlaganfallrisiko und die kardiovaskulären Ereignisse senkt (4).

Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2021 mit 320’000 Patienten (51 RC-Studien), davon über 187’000 über 65 Jahre und 60’000 über 75 Jahre, zeigte, dass eine Senkung des BD um 5 mmHg das Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen in der Altersgruppe von 65 bis 85 Jahren um 9% reduzierte, während es bei Personen ab 85 Jahren keinen Nutzen gab (5).

Welche Informationen lassen sich aus Interventionsstudien herauslesen?

Im Jahr 2008 war die HYVET-Studie die erste RC-Studie, die den Nutzen einer blutdrucksenkenden Behandlung bei 80-Jährigen belegte, indem sie die Gesamtmortalität um 21% und die Herzinsuffizienz um 64% senkte (6). Die SPRINT- und STEP-Studien zeigen ebenfalls eine 25-prozentige Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch die Senkung des Zielblutdrucks auf Werte unter 120 mmHg (SPRINT) oder zwischen 110 und 130 mmHg (STEP) bei Personen über 66 Jahren in grossen Gruppen (9’361 bzw. 8’500 Teilnehmer) (7, 8).

Die Ergebnisse dieser Studien sind jedoch nur schwer auf eine gebrechliche ältere Bevölkerung übertragbar. Obwohl 25% der Teilnehmer der SPRINT-Studie älter als 75 Jahre waren, wurden gebrechliche Personen ausgeschlossen, d. h. Personen mit Diabetes, Herzinsuffizienz, Demenz, chronischer Niereninsuffizienz, orthostatischer Hypotonie und Personen, die in Pflegeheimen leben (9). Ausserdem ist die Methode der Blutdruckmessung (Ablesen durch ein automatisches Gerät in einem separaten Raum, ohne Anwesenheit einer Pflegeperson) ungewöhnlich und unterschätzt den Blutdruck, der normalerweise in Anwesenheit einer Pflegeperson oder eines Arztes gemessen wird (in der Regel um ca. 5 bis 10 mmHg) (10). In der STEP-Studie wurden auch institutionalisierte Personen und Personen mit Schlaganfällen in der Vorgeschichte ausgeschlossen, und der verwendete Gebrechlichkeitsindex ist sehr ungewöhnlich und nicht validiert.

In einer Sekundäranalyse von 6 randomisierten kontrollierten Studien (SPRINT, ACCORD BP, Cardio-sis, JATOS, VALISH, STEP) hat Tao 27’400 Personen mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren untersucht und gezeigt, dass eine Senkung des BDs auf unter 140 mmHg das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses um 21% senkt. Diese Intervention ist bei älteren Menschen sinnvoll, wenn ihre Lebenserwartung mehr als 3 Jahre beträgt (11).

Studien, in denen die ältesten Probanden zusammengefasst wurden

Die Assoziation von hohen Blutdruckwerten mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität wird bei sehr alten Menschen nicht mehr systematisch beobachtet, insbesondere wenn sie als gebrechlich eingestuft werden und an mehreren Komorbiditäten leiden. In dieser Bevölkerungsgruppe ist die Beobachtung umgekehrt: Niedrige Blutdruckwerte sind mit einer erhöhten Mortalität verbunden! Sind dies die Folgen der Mehrfachmedikation, die in dieser Gruppe von abhängigen Personen häufig vorkommt, oder eine schwere Verschlechterung des Gesundheitszustands?

Von 2008 bis 2020 ermittelte Bogaerts 34 Leitlinien mit Empfehlungen zu Behandlungszielen für Bluthochdruck bei 80-Jährigen (12). Leider sind diese Leitlinien inkonsistent und richten sich eher nach dem chronologischen als nach dem biologischen Alter. 18 Leitlinien empfehlen einen systolischen Zielblutdruck von unter 150 mmHg, während 4 Leitlinien einen Zielblutdruck von 130 mmHg oder weniger vorschlagen. Nur 3 Studien berücksichtigen den Grad der Gebrechlichkeit bei der Bestimmung des empfohlenen Blutdruckwerts.

In einer Kohorte von 79’379 Personen (Durchschnittsalter 82,1 Jahre), die 4 bis 6 Jahre nachbeobachtet wurden und weder an Demenz, Krebs, koronarer Herzkrankheit, Schlaganfall, Herz- oder terminaler Niereninsuffizienz litten, beschreibt Delgado, dass die niedrigste Mortalität mit einem Blutdruckzielwert zwischen 145 und 155 mmHg in Verbindung steht (13). Die prospektive elektronische Aufzeichnung des Blutdrucks bei über 415’000 Personen im Alter von 79,5 Jahren, die nach dem Grad der Gebrechlichkeit (robust, leichte, mittlere oder schwere Gebrechlichkeit) unterteilt wurden, ergab, dass ein Blutdruck unter 130/80 mmHg die Sterblichkeit bei Personen im Alter von 75 Jahren und älter erhöht (14). In dieser Altersgruppe gab es keinen Zusammenhang mehr zwischen Bluthochdruck und Mortalität bei Patienten mit mässiger und schwerer Gebrechlichkeit. Mehrere Beobachtungsstudien bestätigen, dass ein systolischer Blutdruck von unter 140-150 mmHg bei sehr alten und gebrechlichen Menschen schädlich ist, insbesondere wenn sie in einer Einrichtung leben (15-18).

Die altersbedingten physiologischen Veränderungen, die Häufung von Komorbiditäten und die Mehrfachmedikation können das Risikoprofil älterer Menschen erheblich verändern und die erhöhte Mortalität erklären, die mit einem Blutdruck von unter 130 mmHg einhergeht, ohne dass das kardiovaskuläre Risiko reduziert wird. Bei dieser Bevölkerungsgruppe kann die erhöhte Sterblichkeit auf eine längere Lebenszeit mit niedrigen Blutdruckwerten zurückzuführen sein, die mit Krebs, Demenz, Herzinsuffizienz oder allgemeiner Gebrechlichkeit in Verbindung steht (19, 20).
Die Prävalenz der orthostatischen Hypotonie steigt mit zunehmendem Alter (20 % bei über 60-Jährigen, über 50 % bei Heimbewohnern), und die Dysfunktion der Barorezeptoren ist bei dieser Personengruppe zu beachten. Diuretika und Antihypertensiva, die die sympathische Aktivität hemmen, wie Betablocker und Antipsychotika, erhöhen das Risiko für orthostatische Hypotonie erheblich (21).

Neueste Guidelines

Im August 2022 fasste Paul K Whelton, beeinflusst von den Ergebnissen der SPRINT- und STEP-Studien, in einer Veröffentlichung im European Heart Journal die neuesten europäischen (2018) und US-amerikanischen (2019) Leitlinien zusammen, die auf die Empfehlungen für die Behandlung von Bluthochdruck abzielen (22). Vor kurzem hat die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (ESH) die neuen Empfehlungen 2023 veröffentlicht, in denen sie Behandlungsschwellen und -ziele je nach Gesundheitskategorie des älteren Menschen vorschlägt (23). Bevor eine Behandlung eingeleitet wird, sollte der Grad der Gebrechlichkeit des Patienten beurteilt werden (z.B. mithilfe der validierten Skala des klinischen Gebrechlichkeitsscores), wobei die Bewertung der Aktivitäten des täglichen Lebens, der funktionelle Score, der kognitive Status und die Auswirkungen von Komorbiditäten zugrunde gelegt werden sollten, um drei Patientenkategorien zu definieren: robust, verletzlich und abhängig (23-24).

Ein BD-Zielwert von unter 130/80 mmHg, aber nicht unter 120/70 mmHg, wird für alle erwachsenen Hypertoniker empfohlen, wenn die Verträglichkeit gut ist. Die Empfehlung gilt auch für ältere Menschen ab 65 Jahren, sofern sie sich nicht in einem Pflegeheim befinden und die eingeleitete Behandlung gut vertragen wird. Bei älteren Menschen mit schweren Komorbiditäten und begrenzter Lebenserwartung (abhängige Kategorie) sollte die Wahl und Intensität der antihypertensiven Therapie unter Berücksichtigung der klinischen Beurteilung, der Nutzen-Risiko-Abwägung und der Präferenzen des Patienten erfolgen.

Bei 80-Jährigen sollte das Behandlungsziel 150/90 mmHg betragen, wobei der Blutdruck im Stehen und an beiden Armen gemessen werden sollte (23, 25). Wenn die medikamentöse Behandlung schlecht vertragen wird, der BD unter 130 mmHg liegt oder eine orthostatische Hypotonie vorliegt, sollte das Absetzen des Antihypertensivums stark in Betracht gezogen werden (Depressivität) (23).

Schlussfolgerung

Obwohl die meisten grossen randomisierten Studien zur Senkung des systolischen Blutdrucks bei älteren Menschen unbestreitbar einen positiven Effekt auf das kardiovaskuläre Risiko und das Auftreten von Schlaganfällen belegen, ist die Auswahl der in diese Studien eingeschlossenen Hypertoniker mit Vorsicht zu geniessen. Wie können diese Ergebnisse auf polymorbide und gebrechliche ältere Menschen übertragen werden, von denen die meisten bei der Randomisierung ausgeschlossen wurden?

Bei Menschen in den Achtzigern und darüber sowie bei gebrechlichen Menschen sollten das biologische Alter, der Grad der Gebrechlichkeit, die Lebenserwartung und die Zeit bis zum Erreichen des Nutzens der vorgeschlagenen Behandlung berücksichtigt werden, bevor in einer gemeinsamen und personalisierten Entscheidung über das angestrebte Ziel befunden wird, wobei die Präferenzen des Patienten oder seine Patientenverfügung zu berücksichtigen sind.

Übersetzung aus la gazette médicale 06-2023

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Martial Coutaz M.D.

Hôpital du Valais (RSV)
Centre Hospitalier du Valais Romand (CHVR)
Avenue de la fusion 27
1920 Martigny

martial.coutaz@hopitalvs.ch

Der Autor hat keinen Interessenskonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Hohe Blutdruckwerte sind bei robusten älteren Menschen mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität verbunden.
◆ Bei älteren Menschen, die durch zahlreiche Komorbiditäten geschwächt sind, erhöhen niedrige Druckwerte die Mortalität
◆ Die Häufigkeit der orthostatischen Hypotonie steigt mit dem Alter und bei Bewohnern von Pflegeheimen.
◆ Bei älteren Menschen sollte der Blutdruck auch im Stehen gemessen werden
◆ Im Alter von 80 Jahren und älter sollte der Zielblutdruck bei
150/90 mmHg liegen.

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Grippe und Herz

Eine Influenza Impfung kann kardiovaskuläre Ereignisse wie einen akuten Myokardinfarkt, Schlaganfall und die Gesamt- und kardiovaskuläre Sterblichkeit signifikant reduzieren. Eine Prävention mittels eines inaktivierten, quadrivalenten HD-Impfstoffs sollte bei Personen ab 65 Jahren und einer chronischen Erkrankung oder bei Senioren ≥75 Jahre jeweils im Herbst gemäss WHO durchgeführt werden. Leider ist die Influenza-Impfquote bei chronischen Erkrankungen heute noch viel zu gering. Der ärztliche Rat und die Motivation sind dabei entscheidend. Das Ziel wäre eine Impfquote dieser Population ≥75%. Die Übersterblichkeit bei Influenza ist vor allem kardiovaskulär.

Influenza vaccination can significantly reduce cardiovascular events such as acute myocardial infarction, stroke, and all-cause and cardiovascular mortality. Prevention using an inactivated, quadrivalent HD vaccine should be performed in persons 65 years of age and older with chronic disease or in seniors ≥75 years of age each fall, according to WHO. Unfortunately, influenza vaccination coverage in chronic disease is still far too low today. Medical advice and motivation are critical in this regard. The goal would be a vaccination rate of this population ≥75%. Excess mortality from influenza is primarily cardiovascular.

Key Words: Influenza, influenza vaccination, cardiovascular diseases in influenza, myocardial infarction

Dieser Artikel beruht auf der aktuellen Literatur, drei ausgezeichneten Vorträgen anlässlich der dies-jährigen Jahrestagung der DGK und den Grippe-Impfempfehlungen 2023/24 der EKIF/BAG.
Für viele ist eine Influenza nur ein vorübergehendes Ärgernis mit Fieber, Schnupfen, Husten, Kopf- und Muskelschmerzen. Der typische Krankheitsverlauf ist 5-7 Tage Akuterkrankung, davon meist 3-4 Tage Bettruhe. Oft persistieren Husten und eine postgrippale Asthenie.

Tatsache ist: die medizinische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Belastung durch eine Influenza und deren Komplikationen werden stark unterschätzt. Die Influenza weist im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten die grösste Krankheitslast auf. Dies bedeutet hier die Auswirkungen der Influenza in Europa in Bezug auf den Anteil aller verlorenen gesunden Lebensjahre. Diese ist bei der Influenza deutlich grösser als eine Infektion mit Tbc, HIV oder Pneumokokken, um nur einige Infekte zu nennen (1). Bei Risikogruppen wird die chronische Grunderkrankung verstärkt und das Risiko für schwere oder tödliche Krankheitsverläufe deutlich erhöht.

Eine Infektion mit Influenza führt durch eine Zytokin-Freisetzung zu einem systemischen Entzündungszustand. Bei Risikopatienten eventuell zu einer Hyperkoagulabilität, einer Makrophagen Aktivierung und einer möglichen septischen Konstellation mit einem hämodynamischen Ungleichgewicht mit Aktivierung des Sympathikus, einer Tachykardie und Vasokonstriktion. Diskutiert werden eine endotheliale Dysfunktion und eine Plaqueruptur. Die Folge ist ein akuter Myokardinfarkt oder Schlaganfall. Auch kann es zu einer viralen Peri-/Myokarditis mit einer möglichen Herzinsuffizienz und/oder einer Arrhythmie kommen. Die respiratorischen Komplikationen spielen eine wichtige Rolle mit Hypoxämie, Hypotonie und erhöhtem O2-Bedarf – vgl. Abb. 1 (2). An internistischen Folge­erkrankungen kommt es zu: Pneumonien, Exacerbation einer COPD oder eines Asthmas, Entgleisung eines Diabetes mellitus und weiterer Stoffwechselkrankheiten. Mögliche Verschlechterung von Nieren-, Lebererkrankungen, neurologischen, immunologischen und Krebsleiden. Dies führt zu einer erhöhten kardiovaskulären- und einer erhöhten Gesamtsterblichkeit. Das Risiko für einen akuten Infarkt ist in den ersten 3 Tagen einer Influenza bis 10-fach, das Risiko für einen Schlaganfall bis 8-fach erhöht. Die Herzinfarkt-Hospitalisation ist in den ersten sieben Tagen des Infektes 6-fach erhöht; auch ist das Risiko für eine Hospitalisation bei Patienten mit einer chronischen Herzerkrankung deutlich erhöht (2-6). Bei Erwachsenen steigt das kardiovaskuläre Risiko bei einem respiratorischen viralen Infekt, speziell bei Influenza, für einen Myokardinfarkt in der Zeit der Infekt-Episode vom ersten bis zum siebten Tag deutlich – 6-fach erhöht. Andere respiratorische Viren haben ein kleineres Risiko (5).

Während einer starken Influenzawelle kann ein deutlicher Mortalitätsanstieg beobachtet werden. So kam es gemäss Robert Koch Institut (RKI) in DL 2016/17 zu 22’900, in der Saison 2017/18 zu 25’100 zusätzlichen Todesfällen, davon waren 86% ≥60 Jahre. Es kam 2017/18 zu 60’000 Influenza bedingten Hospitalisationen, 58% bei Personen ≥60 Jahre. Grunderkrankungen wie Atemwegsleiden, kardio-vaskuläre Erkrankungen, Diabetes und Krebs haben ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Influenza-Atemwegs­leiden +65% und eine kardiovaskuläre Erkrankungen +23% (7).

18% aller Influenza bedingten Todesfälle bei Patienten >65 Jahre sind durch kardiovaskuläre Erkrankungen bedingt. Bei chronischen Lungenleiden ist das Todesfallrisiko 20x erhöht. Bei infizierten älteren Personen kam es nach 1-2 Monaten häufiger zu einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes – Stürze, Gebrechlichkeit, verringerte Eigenständigkeit, veränderter Mentalstatus und Exacerbation der Grundkrankheit – als bei Nicht-Infizierten.

Die Impfung

Die präventive Wirksamkeit der Influenza-Impfung bezüglich akutem Myokardinfarkt beträgt 15-45%; sie ist deutlich höher als die Gabe eines Statins (19-30%) oder eine antihypertensive Therapie (17-25%) und etwa gleich wirksam wie eine konsequente Nikotinkarenz (32-43%) (Abb. 2) (3,6).
Die Influenza-Impfung wird von allen Leitlinien empfohlen. Die Ziele der Impfung sind: Prävention der Grippe Infektion, Prävention von sekundären Pneumonien (Pneumokokken), Prävention einer systemischen Inflammation und Immunreaktion, welche die erwähnten kardiovaskulären Ereignisse auslösen. Verhinderung von Hospitalisationen und Todesfällen bei einer Herzinsuffizienz. Nach einer grossen Metaanalyse aus dem Jahre 2012 führte eine Impfung zu einer Reduktion der Risiken: MACE -54%, Gesamtmortalität -40%, Myokardinfarkte -27% (8). Nach einer Cochrane Database Analyse im Jahre 2015 sank die kardiovaskuläre Mortalität durch die Impfung um 55% (9).

Nach einer neuen Metaanalyse beträgt die NNT bei der Impfung bei einem MACE 23, bei einem kardio-vaskulären Tod 36 (10). Eine sehr umfassende Metaanalyse aus dem Jahr 2022 von 18 Studien (5x randomisiert, 13x Beobachtungsstudien) zeigt bei 217’072 Hochrisiko- oder kadiovaskulär erkrankten Patientinnen und Patienten mit einem Durchschnittsalter von 68 Jahren eine signifikante Senkung der Gesamtmortalität um 29%, der kardiovaskulären Ereignisse um 17% und eine Reduktion der sekundären Endpunkte kardiovaskuläre Mortalität und Myokardinfarkte von 22 respektive 18%. Eine Reduktion der HI konnte nur tendenziell festgestellt werden. Kein Effekt auf die Strokerate (11). In einer weiteren grossen Metaanalyse aus dem Jahr 2020 konnten die Herz-Kreislauferkrankungen durch die Impfung um 45% gesenkt werden (12). Auf einen Stroke hat die Impfung kurz danach eine moderate protektive Wirkung (13).

Im Alter nimmt die Leistungsfähigkeit des Immunsystems ab (Immunoseneszenz); dadurch sind die älteren Personen anfälliger und weisen schwerere Krankheitsverläufe auf. Die Standard-Grippe-Impfstoffe (SD-I.) sind daher für ältere Personen weniger effektiv. Der inaktivierte quadrivalente Hochdosis Grippe-Impfstoff (HD- I.), mit 4-fach erhöhter Antigenmenge, weist eine überlegene Immunogenität auf. Er wirkt effektiver und schützt die älteren Menschen, auf Grund der heutigen Datenlage, vor einer Grippe und ihren Komplikationen deutlich besser. Die absolute Wirksamkeit betrug 2021 nach dem RKI bei Personen ≥60 Jahre 47% (7).

Die EKIF und das BAG empfehlen die Grippeimpfung mit allen Standarddosis (SD)- und Hochdosis (HD)-Grippeimpfstoffen mit einer Zulassung und einer Kostenübernahme durch die Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) für die jeweiligen Alters- bzw. Indikationsgruppen. Für die saisonale Grippeimpfung 2023/24 sind in der Schweiz zurzeit ein HD-Impfstoff und zwei verschiedene SD-Impfstoffe verfügbar und vom BAG mit Auflagen zugelassen – vgl. Grippe-Impfempfehlungen BAG 2023/2024. Es sind dies: HD-I.: Efluelda®; SD-I.: Fluarix Tetra® und Vaxigrip Tetra®.
Dieser deutlich teurere HD-Impfstoff ist bei Erwachsenen ab 65 Jahren mit einem weiteren Risikofaktor vom BAG zugelassen. Er ist sehr gut verträglich; als NW die bekannte lokale Rötung und Schmerzen an der Einstichstelle. Mögliche Myalgien, Kopfweh und Unwohlsein. Selten kann es zu einer akuten allergischen Reaktion kommen. Das BAG schreibt zum HD-Grippeimpfstoff:

«Eine Metaanalyse (14) mit 34 Millionen Teilnehmenden über eine Anwendungszeit >10 Jahren zeigt eine höhere Wirksamkeit von HD-Grippeimpfstoffen (60µg statt Standarddosis von 15 µg Antigen pro Impfstamm) gegenüber Grippekomplikationen bei Betagten; eine Beobachtung, die auch in Dänemark bestätigt wurde. Diese und weitere Daten für HD-Impfstoffe zeigen einen um 10-20% besseren Schutz für Personen ≥65 Jahre, weshalb auch in der Schweiz die Zulassung von HD-Impfstoffen ab 65 Jahren bewilligt wurde mit Kostenübernahme für alle Personen ≥75 Jahre sowie für Personen ≥65 Jahre mit mindestens einem weiteren Risikofaktor für schwere Grippeerkrankung aufgrund einer Komorbidität gemäss Grippeimpfempfehlung. In diesen Alters- und Risikogruppen ist a) das Risiko schwer an Influenza oder an Komplikationen zu erkranken und hospitalisiert zu werden höher als bei jüngeren gesunden Personen, und b) je nach Influenzastamm auch die Immunantwort auf die Impfung weniger gut. Dies sind gute Gründe, um für diese Personen einen HD-Impfstoff zum Schutz vor Grippe zu empfehlen».

Der saisonale Impfstoff sollte jährlich im Herbst verabreicht werden. Die Zusammensetzung der Antigene (Viruspartikel in fragmentierter Form) wird alljährlich durch die WHO festgelegt. In den Jahren, wo eine schlechte Vorhersage des Impfstoffes mit geringer Effektivität bestand, war der kardiovaskuläre Schutz signifikant geringer. Dies gibt klare Hinweise auf die Kausalität des Impfstoffs.

Es bleibt das Ziel, dass ≥75% der Senioren und Personen (ab 6 respektive 36 Monate) mit einer chronischen Grunderkrankung geimpft werden. Das BAG und die STIKO (Ständige Impfkommission beim RKI) empfehlen auch eine Impfung bei allen Schwangeren ab dem 2. Trimeon (bei Indikation früher), postpartal und bei Personen, die als mögliche Infektionsquelle im selben Haushalt lebende oder von ihnen betreute Risikopersonen gefährden können. Eine berufliche Indikation besteht beim medizinischen Personal, bei Personen in Einrichtungen mit umfangreichem Publikumsverkehr inklusive Kitas und bei Personen mit Kontakt zu Geflügel und Wildvögeln – vgl. www.bag.admin.ch/grippeimpfen; www.rki.de/grippeimpfen; www.infovac.ch

Nach dem IAMI-Trial sollte die Grippeimpfung innert 72 Stunden Teil der stationären Behandlung nach einem Herzinfarkt oder bei einer CHK mit hohem Risiko werden, kommt es doch zu einer signifikanten Senkung von Gesamttod, Myokardinfarkt oder Stentthrombose von 28% innert 12 Monaten sowie zu einem geringeren Risiko für den Gesamttod und den kardiovaskulären Tod (15).

Aktuell liegt die Impfrate je nach Grunderkrankung (CHK bzw. HI) bei maximal 30-43% (3, 7). Viele Patienten sind sich auch bei uns der Wichtigkeit der jährlichen saisonalen Impfung im Herbst nicht bewusst! Oft findet man in der Bevölkerung einen zu wenig bekannten Nutzen respektive eine Fehleinschätzung des Risikos einer fehlenden Impfung. Es bedarf daher einer guten, umfassenden Aufklärung und Motivation der Patienten und Senioren und ihrer Partner/Familien durch uns Ärzte. Impfkampagnen und in Zukunft auch eine Unterstützung durch eine elektronische Praxis­software sind sehr nützlich.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Urs N. Dürst

Zelglistrasse 17
8127 Forch

u.n.duerst@ggaweb.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Eine Influenza Impfung kann kardiovaskuläre Ereignisse, wie ein akuter Myokardinfarkt oder ein Schlaganfall, verhindern und die Morbidität und Mortalität deutlich senken. Eine Prävention ist sowohl bei Patienten mit einer chronischen Erkrankung und bei Personen ≥65 Jahre zu empfehlen. Diese Massnahmen sind einfach, effizient und kosteneffektiv.
  • Leider ist die Verabreichung der alljährlichen Grippeimpfung trotz einer sehr guten Datenlage bei der älteren Bevölkerung und bei Risikopatienten immer noch suboptimal. Die Impfung gegen Influenza ist «gelebte Sekundärprävention».
  • Es besteht eine deutlich höhere Wirksamkeit des HD-Grippeimpfstoffs mit einem um 10-20% besseren Schutz für Personen ≥65 Jahre. Unter 65 Jahren keine Zulassung. Kostenübernahme nach BAG für alle Personen ≥75 Jahre, sowie Personen ≥65 Jahre mit mind. einem weiteren Risikofaktor gemäss Grippe-Impfempfehlung.
  • Somit bleibt die jährliche saisonale Influenza-Impfung eine wichtige hausärztliche Aufgabe aber auch eine Challenge des betreuenden Kardiologen, Pneumologen und weiterer Fachärzte.

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Tendinopathien

Symptome an Sehnen und Reizungen der Sehnen(begleit)strukturen (synoviale Sehnenscheiden, Bursen, Enthesen) sind häufige Erkrankungen in der muskuloskelettalen Praxis mit vielfältigen Ursachen. Die pathophysiologische Kaskade, welche zum Schmerzempfinden führt, ist nicht vollends geklärt. Nebst vaskulären Insuffizienzen scheinen extrazelluläre Matrixfaktoren inklusive Kollagenalterationen (vermehrt Kollagen Typ III zu Ungunsten Typ I) und Prostaglandine (insbesondere PGE2) eine Rolle zu spielen (1). Der Einfluss inflammatorischer Zellen ist noch nicht eindeutig geklärt, ebenso die Signifikanz tenosynovialer Stammzellen (1). Akzeptiert scheint die Pathogenese der mechanischen Überlastung («overuse») der Sehne durch Zug- und kompressive Kräfte im Sinne kumulativer Mikrotraumata (1). Der folgende Überblicksartikel konzentriert sich auf eine Auswahl klinisch häufiger Tendinopathie Manifestationen und bewertet nebst allgemeinem Überblick vordergründig die Evidenz des Einsatzes von Eigenblut (PRP = platelet-rich plasma) Injektionen und Stosswellentherapie (ESWT = Extracorporale Stosswellentherapie).

Symptoms of tendons and irritations of tendon (accompanying) structures (synovial tendon sheaths, bursae, entheses) are common conditions in musculoskeletal practice with multiple causes. The pathophysiological cascade leading to pain sensation is not fully understood. Besides vascular insufficiencies, extracellular matrix factors including collagen aging (increased collagen type III to the detriment of type I) and prostaglandins (especially PGE2) seem to play a role (1). The influence of inflammatory cells is not yet clearly understood, nor is the significance of tenosynovial stem cells (1). What seems to be accepted is the pathogenesis of mechanical overload (“overuse”) of the tendon by tensile and compressive forces in terms of cumulative microtrauma (1). The following review article focuses on a selection of clinically common tendinopathy manifestations and, in addition to a general overview, primarily evaluates the evidence for the use of autologous blood (PRP = platelet-rich plasma) injections and shock wave therapy (ESWT = extracorporeal shock wave therapy).
Key Words: Tendinopathy, Platelet Rich Plasma (PRP), Extracorporeal Shockwave Therapy (ESWT)

Tendinopathien der Archillessehne

Achillessehnentendinopathien werden insbesondere bei Lauf-Sportarten mit einer Inzidenz bis 10,9% beobachtet. Das Lebenszeitrisiko für ehemalige männliche Elite-Läufer wird in der Literatur bis 50% beschrieben (2). Nebst männlichem Geschlecht und Alter gelten Hyperpronationsstellung des Fusses und Fehlverhalten im Training (zu rasches oder zu intensives Sehnen-Loading) als Risikofaktoren (2). Aus rheumatologischer Sicht ist die enthesale Entzündung der Achillessehneninsertion eine hallmark-Manifestation für Erkrankungen aus dem Formenkreis der Spondyloarthritiden und qualifiziert in der Regel für eine bDMARD (Biologika) Behandlung (3).

Achillessehnentendinopathien werden nach klinischen Gesichtspunkten in zwei Kategorien eingeteilt, als Insertions-Tendinopathie (Abb. 1a) (= Pathologie in den knöchernen Übergang/Enthese distal am calcanealen Ansatz) und Midportion-Tendinopathie (= 2-6cm proximal der Insertionsstelle entsprechend – hier ist die Durchblutung der Sehne am geringsten) (2). Während zwei Drittel der Fälle in athletischen Populationen einer Midportion-Tendinopathie entsprechen, sollten bei Symptomen an der Enthese/Insertion auch an rheumatologische Erkrankungen gedacht werden. Dies gilt insbesondere bei fehlender Sport-Anamnese und Vorliegen von extra-achillärer Symptomatik mit Spondyloarthritis sowie Eigenschaften wie chronische nächtliche Rückenschmerzen, Psoriasis, chronisch-entzündliche Darmerkrankung, Uveitis und/oder Daktylitis Episoden.

Das klinische Bild ist variabel und umfasst lokale Druckdolenz, fühlbare Verbreiterung der Sehne, Morgensteifigkeit und Anlaufschmerz, insbesondere auch beim Beginn von sportlicher Aktivität. Der Schmerz kann unter fortgeführter Aktivität auch rückläufig empfunden werden. Aktive Loading Manöver der Sehne entsprechen auch der diagnostischen Testung («singe-leg heel raise»/ Zehenstand oder «hop-Test»/Einbeinsprung der betroffenen Seite) (2). Bei Totalabriss der Achillessehne kann auch ein positiver «Thompson Test» erhoben werden (beim Zusammendrücken der Wade der/s in Bauchlage befindlichen Patienten/in fehlt die sonst beobachtbare Plantarflexionsbewegung). Bildgebend kann Ultraschall eingesetzt werden, wobei nebst (Partial-) Rupturzeichen via Powerdoppler Modus auch vaskuläre Hyperämie/Neovaskularisationsprozesse inklusive Enthesitis aufgedeckt werden können. Bei therapierefraktären Situationen sowie in präoperativer Absicht kann auch ein MRI durchgeführt werden.

Therapeutischer Hauptpfeiler für beide Achillessehnentendinopathie Formen stellt auf Basis von Meta-Analysen aktive Physiotherapie mit exzentrischer Kräftigungsübung der Sehne dar (2). Sollten die Schmerzen bei der Ausführung der exzentrischen Übungen zu stark sein, kann zu Beginn auch ein isometrisches Programm durchgeführt werden (siehe Supplementum). Topische/systemische NSAR werden ausserhalb der autoimmun-rheumatologischen Indikationen idealerweise nur bei sekundärer Bursitis oder Paratenonitis (das Paratenon umgibt die Achillessehne als elastische Begleitschicht, da diese nicht von einer Sehnenscheide umgeben wird) ergänzend eingesetzt (2). Der Einsatz von topischem Glyceroltrinitrat mit Ratio der verbesserten lokalen Durchblutung kann derzeit noch nicht ausreichend evidenzbelegt empfohlen werden (2).

Circa ein Drittel der Fälle entwickelt eine chronische therapierefraktäre Achillodynie (2). Hier kann auf Basis von Meta-Analysen (sowohl fokussierte als auch radiale) Stosswellentherapie (ESWT) zum Einsatz kommen, wobei die meisten Studien jeweils in Kombination mit Physiotherapie/exzentrischen Übungen und bei Midportion-Tendinopathie durchgeführt wurden, die Evidenz für erfolgreiche mittelfristige positive Outcomes bis mindestens 3 Monate gilt als gefestigt, für die long-term Effizienz (12 Monate) bestehen widersprüchliche Resultate (2). Gleiches gilt für den Einsatz von Eigenblut (PRP – platelet rich plasma) (1) (Abb. 1b), wenngleich sich auch hier abzeichnet, dass sich die PRP-Effektivität insbesondere in Kombination mit exzentrischem Sehnentraining hervorhebt und die PRP-Infiltrationsserien nebenwirkungsarm sind, mit hoher post-Interventionszufriedenzeit (2). Der Einsatz von periläsionalem Glucocorticoid wird aufgrund des Risikos einer achillären Sehnenruptur kritisch gesehen und begrenzt sich allenfalls auf den Einsatz bei sekundär nachweisbarer Bursitis (2).

Rotatorenmanschetten Tendinopathien der Schulter

Tendinopathien der Rotatorenmanschette sind in über 50% der Patienten/Patientinnen mit Schulterschmerzen ursächlich (4). Während sterile Enthesitiden oder Bursitiden ohne Vorliegen von strukturellen Rotatorenmanschettenpathologien rheumatologisch bedingt sein können, so sind degenerative Überlastungsschäden sehr viel häufiger. Aus sportmedizinischer Sicht ist dies vor allem bei Wurf- und Überkopfsportarten relevant. Hier können im Sinne chronischer Verletzungen insbesondere die inneren Schichten der Rotatorenmanschette betroffen sein (5).

Der Überbegriff der «rotator-cuff tendinopathy» umfasst bei Vorliegen positiver Impingementzeichen oder bildmorphologischer subacromialer Engstellen durch verschiedene Ursachen auch die Begrifflichkeit eines «subacromial pain syndrome» oder «Impingement-Syndroms». Symptomatisch (teil-)rupturierte Rotatorenmanschettenanteile werden als «partial-/ respektive full-thickness-tear rotator-cuff tendinopathy» bezeichnet und im Falle bildgebend nachgewiesener Verkalkungen der Sehne ist die Rede von kalzifizierender «calcific» Tendinopathie (4) (Abb. 2).

Die klinische Testung inklusive Bewegungsumfang und Resistiv-Testungen der einzelnen Schultermuskeln gibt die Richtung der möglichen zugrundeliegenden Pathologie vor und hilft somit in der Auswahl weiterer bildgebender Diagnostik. In der Regel bietet sich auch hier Ultraschall für die Beurteilung der Rotatorenmanschette an, ein MRI kann insbesondere bei labralen / kartilaginären oder kapsulären Verdachtsmomenten zum Einsatz kommen (4). Aus rheumatologischer Sicht ist der Einsatz von Ultraschall insbesondere bei beidseitigen Schulterschmerzen mit erhöhter humoraler Entzündung im Sinne einer differentialdiagnostischen Polymyalgia rheumatica relevant (wobei bestimmte Ultraschallpathologien in die Klassifikationskriterien einfliessen) (6).

Der «painful-arc-test» ist ein häufig durchgeführter Globaltest, bei dem ein aktives Abduktionsmanöver aus der Neutral-Null-Stellung durchgeführt wird. Von oben nach unten wird er auch «drop-arm-sign» genannt; eine Schmerzangabe (und Kraftverlust) zwischen 60-120° wird als positiver Supraspinatus-Test gewertet. Die subacromiale Einengung (durch Teilrupturen oder sekundäre Bursitis subacromialis/subdeltoidea) wird mit Impingement-Tests, beispielsweise dem Jobe-Test mit Heben der seitlich vorgestreckten Arme, Daumen nach unten, gegen Widerstand geprüft.

Nebst Paracetamol und NSAR (systemischer wie topischer Einsatz) ist auch der Benefit von Physiotherapie belegt und gilt als therapeutischer Grundpfeiler (Unterhaltung der Gelenksmobilität, motor-control-exercises, muskuläre Kraft-/Kraftausdauer, Edukation) bei partial-tear rotator-cuff tendinopathy (4). Glucocorticoid-Injektionen werden hier als second-Line Behandlung mit erwiesener short-term Evidenz eingesetzt (erwiesene Superiorität gegenüber Placebo und Lokalanästhetika). Bei fehlendem relevantem Ansprechen auf zweimalige Infiltrationen sollten alternative Behandlungsmöglichkeiten wie Eigenblutinjektionen (PRP) (Level B Empfehlungsstärke, tiefe bis moderate Evidenz) erwogen werden (4). Mit ähnlicher Evidenzlage kommt bei «rotator-cuff calcific tendinopathy» auch Stosswellentherapie zum Einsatz, wobei hier insbesondere hoch energetische, fokussierte ESWT (>0.20 mJ/mm2) hinsichtlich Schmerz und Dysfunktion eingesetzt werden kann (4). Bei Komplettrupturen «full-thickness rotator-cuff tear» gilt es nebst dem Einsatz von aktiver Physiotherapie vor allem die orthopädisch rekonstruktiven Therapiemöglichkeiten abzuwägen (4).

Laterale Ellenbogen Tendiopathie

Die laterale Epicondylitis (umgangssprachlich «Tennis-Ellenbogen») oder «Epicondylopathia humeri radialis»-Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung beträgt 1-3% und entspricht in den meisten Fällen einer degenerativen mechanischen Überlastung und somit einer overuse-Tendinopathie bei repetitivem oder zu hohem Sehnen Loading (7). Klinische Testungen umfassen passive Extensionsschmerzen und Symptome bei isometrischer Resistivprüfung (welche kombiniert im Cozen-Test durchgeführt werden: hierbei wird bei ruhendem Unterarm gegen eine aktive Handgelenksextension Gegendruck appliziert, sowie Druck gegen den lateralen Extensorenursprung ausgeübt, welcher bei positivem Test charakteristische Schmerzen auslöst). Bei fehlender Überlastungsanamnese sollte eine Enthesitis am Ellenbogen an Spondyloarthritis Formen denken lassen, insbesondere an eine Psoriasisarthritis. Auch eine Kristall-(Peri)Arthritis (Gicht, Pseudogicht d.h. Calcium-Pyrophosphat Deposition-assoziierte Arthritis =CPP-D) ist differentialdiagnostisch denkbar und kann cubitale bursale Inflammationen auslösen. Aus sportmedizinischer Sicht sind bestimmte Wurfsportarten (Baseball, Handball) mit erhöhten Risiken für tendinöse oder ligamentäre Pathologien vergesellschaftet (8). Spätestens bei chronischem Verlauf einer lateralen Epicondylopathie (d.h. >6 Monate Symptomdauer) sollte je nach Verfügbarkeit entweder Ultraschall (Abb. 3a) oder MRI Diagnostik eingesetzt werden (7).

Therapeutisch kann neben oralen oder topischen NSAR auch überbrückend topisches Glyercoltrinitrat eingesetzt werden, nebst Aufgleisung physiotherapeutischen Trainings (progressiv-resistive Übungsprogramme). Kombiniert zu letzterem kann auch Manual-Therapie kurzzeitig Griffkraft und Schmerz positiv beeinflussen und somit Physiotherapie positiv unterstützen (positive Review Daten mit short-term Benefit) (7). Intraläsionale Glucocorticoide können zwar kurzfristig (<6 Wochen) effektiv Schmerzen lindern, aber mehrheitlich negative Outcomes in long-term Analysen sowie potenzielle Ruptur-Komplikationen sprechen gegen den Einsatz (7). Bezogen auf Eigenblutinjektionen (PRP) finden sich hinsichtlich Schmerz positive Meta-Analysen, allerdings auch dargelegte Ineffizienz, sodass hier keine sichere Empfehlung ausgesprochen werden kann (7). Die mittlerweile breite Literatur bezüglich Stosswellentherapie (ESWT) legt in der Mehrheit der Studien positive, d.h. bessere oder zumindest gleich gute Effekte, bezüglich Schmerz und Griffkraft dar, im Vergleich zu anderen Behandlungsmodalitäten und gegenüber Sham-Behandlung, sodass radiale oder fokussierte ESWT (Abb. 3b) befürwortet werden kann (am häufigsten genutzte Einstellungsparameter: mindestens 2000 Impulse, mindestens dreimalige Intervention, wöchentliches Intervall) (7).

Supplementum: Exzentrisches Training bei Achillessehnen-Tendinose

► Angezeigt bei chronisch schmerzhafter Achillessehne mit typischer spindelförmiger Verbreiterung im mittleren Drittel, nach Ausschluss von entzündlichen oder traumatischen Läsionen der Achillessehne.
► Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass mit einem regelmässig ausgeführten exzentrischen Trainingsprogramm der Wadenmuskulatur, ein sehr gutes Behandlungsergebnis bei diesen belastungsabhängigen Beschwerden erreicht werden kann.
► Die beiden Übungen des Trainingsprogramms sollen 2 mal täglich, 7 Tage pro Woche, während 12 Wochen durchgeführt werden.
► In den ersten 1-2 Wochen sind Schmerzen in der Wadenmuskulatur zu erwarten, das Training über die Schmerzgrenze hinaus soll aber nicht forciert werden.
► Vorgehen: Instruktion der Übungen unter physiotherapeutischer Anleitung mit Kontrolle der Ausführung nach ca. 6 Wochen (die übrigen physikalischen Massnahmen können natürlich weitergeführt werden).

1. Übung
□ Exzentrisch
□ Isometrisch
□ Dynamisch
An einer Treppenstufe auf dem Vorfussballen stehend, soll sich der Patient mit einer Hand am Geländer oder an der Wand stabilisieren. Mit gestreckten Knien und aufgerichtetem Oberkörper geht er in den Zehenspitzenstand mit Hilfe des «gesunden» Beines. Von die-ser Position aus belastet er nur noch die schmerzhafte Wade und führt die exzentrische Übung durch langsames Absinken der Ferse bis unter das Niveau der Treppenstufe aus. Nun braucht er wieder das «gesunde» Bein um sich in den Zehenspitzenstand zu erheben. Repetition 15 mal. Diese Übung aktiviert vor allem den Gastrocnemius-Muskel (zweiköpfiger, oberflächlicher Wadenmuskel). (Abb. 4 a & b)

2. Übung
□ Exzentrisch
□ Isometrisch
□ Dynamisch
Nach einer kurzen Pause wird dieselbe Übung, aber mit circa 60° gebeugtem Knie durchgeführt. Repetition 15 mal. Damit wird auch der Soleus-Muskel (tiefer Wadenmuskel) aktiviert. (Abb. 4 c)
Nach einer kurzen Pause wird wieder die 1. Übung durchgeführt, beide Übungen insgesamt je 3 mal.
2 Übungen werden 2 mal täglich in 3 Serien a 15 Wiederholungen durchgeführt: 2 x 2 x 3 x 15 = 180 exzentrische Belastungen pro Tag.

Tipps:
◆ Mit der symptomatischen Wade wird nur die exzentrische Belastung durchgeführt, nicht die konzentrische «Aufwärts»-Belastung.
◆ Die Übung wird zunächst nur mit dem Eigen-Gewicht durchgeführt und soll schmerzhaft sein! Wenn kein Schmerz mehr während des Trainings in der Sehne vorhanden ist, kann durch Gewichte in einem «Rucksack» (oder durch Üben an einer entsprechende Gewichts-Maschine) die Belastung gesteigert werden.
◆ Während der letzten 4 Wochen des 12-Wochen-Trainigs-
Programs darf der Patient langsam seine üblichen sportlichen Sehnenbelastungen wieder aufnehmen.

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Anmerkung des Chefredaktors: PRP und ESWT sind keine Pflicht­leistungen in der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP)

Dr. med. Christoph Haller

Sports Medical Center, Medbase Abtwil
Wiesenbachstrasse 5, 9030 Abtwil

Klinik für Rheumatologie, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95, 9007 St. Gallen

Dr. med. Patrik Noack

Sports Medical Center, Medbase Abtwil
Wiesenbachstrasse 5
9030 Abtwil

PD Dr. med. Thomas Neumann

Klinik für Rheumatologie, Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Sehnenerkrankungen sind in der muskuloskelettalen Medizin häufig und nebst klinischer Testung (Schmerzen bei aktiver Bewegung, Sehnendehnungsschmerz, Resistivschmerz) und Ultraschalldiagnostik sollte eine sportspezifische Anamnese sowie eine rheumatologische oder sportmedizinische Weiterabklärung zur fachärztlichen Beratung und spezifischen Behandlung erfolgen.
  • Patienten/Patientinnen mit symptomatischer (Insertions- oder Midportion-) Achillessehnentendinopathie sollten Physiotherapie zugeführt werden zwecks genauer Instruktion exzentrischer Kräftigung als Grundpfeiler der Behandlung. In therapierefraktären Fällen (ca. ein Drittel) können zusätzlich zu Physiotherapie entweder Eigenblutinjektionen (PRP) oder fokussierte/radiale Stosswellentherapien (ESWT) zum Einsatz kommen, letzteres mit gut belegter Effektdauer über mindestens 3 Monate.
  • Schulterschmerzen sind in über der Hälfte der Fälle auf Tendinopathien zurückzuführen, die unterschiedliche Ausmasse annehmen können (Teil- bis Komplettruptur, jeweils mit oder ohne tendinöse Verkalkungen). Schulter zentrierende Physiotherapie gilt auch hier als etablierte Basistherapie. Bei Vorliegen von Verkalkungen kann fokussierte ESWT analgetisch eingesetzt werden, Eigenblut (PRP) Injektionen gelten als Alternative zu Glucocorticoiden, wobei letztere ebenfalls nur als Zweitlinientherapie bei «partial-tear rotator-cuff tendinopathy» analgetisch eingesetzt werden. Bei «full-tear rotator-cuff tendinopathy» sollte eine orthopädisch-operative Beurteilung erfolgen.
  • Bei Epicondylopathia humeri radialis, in den meisten Fällen einer klassischen overuse-Enthesiopathie entsprechend, ist die Datenlage zu fokussierter/radialer Stosswellentherapie (ESWT) klar positiv. Diese kann bei refraktären Fällen angewendet werden, sofern die physiotherapeutische first-line Behandlung inklusive extrinsischem Training und Selbst-/ Triggerpunktbehandlung unzureichend sind. Die Datenlage zur Eigenblutbehandlung (PRP) scheint noch nicht ausreichend eindeutig, trotz positiver Meta-Analysen. Lokale Glucocorticoide sollten aufgrund ungünstiger long-term Outcomes nicht eingesetzt werden.

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Virale respiratorische Infektionen

Respiratorische Viren sind die häufigsten Erreger von Atemwegsinfektionen. Obwohl die Infektionen meist unkompliziert und selbstlimitiert verlaufen, führen sie doch zu einer erheblichen vorübergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung und können von Komplikationen wie einer Asthma- oder COPD-Exazerbation oder von einer bakteriellen Superinfektion begleitet sein. Dies gilt besonders bei kleinen Kindern, Betagten und bei Personen mit Grunderkrankungen oder Immunsuppression. Eine Erregerdiagnostik ist nur bei gefährdeten Personen sinnvoll. Eine antivirale Therapie und eine Prophylaxe mittels Impfung ist jedoch einzig gegen Grippeviren und gegen SARS-CoV-2 verfügbar.

Viruses are the most common cause of respiratory infections. Although the infection mostly proceeds uncomplicated and self-limited, they do lead to significant temporary health impairment and can be accompanied by complications such as asthma or COPD exacerbations or by bacterial superinfection. This is particularly the case in young children, the elderly and in people with underlying diseases or immunosuppression. Diagnosis of the viral etiology is only sensible for persons at risk. However, an antiviral therapy and a prophylaxis by means of vaccination are solely available against influenza viruses and SARS-CoV-2.
Key Words: Atemwegsinfektion, Tröpfchenübertragung, respiratorische Schutzmassnahmen, Antigen-Schnelltest, Prophylaxe.

Viren verursachen >80% der Atemwegsinfektionen und sie können sowohl die oberen, wie auch die unteren Atemwege befallen. Infektionen treten grundsätzlich bei Personen in allen Altersgruppen auf. Bei immunkompetenten Kindern und Erwachsenen sind virale respiratorische Infektionen in der Regel mild und auf die oberen Atemwege beschränkt. Ein schwerer Krankheitsverlauf ist häufiger bei Kleinkindern, Betagten, Personen mit Begleiterkrankungen und bei Immunkompromittierten. Symptome variieren mit dem Alter, allenfalls vorhandenen Begleiterkrankungen, Impfstatus und dem aktuell zirkulierenden Virusstamm. Als Symptome können laufende oder verstopfte Nase, Halsweh, Husten, Niessen oder Kopfschmerzen auftreten. Die Erkrankung dauert in der Regel 5 bis 10 Tage, doch kann es 2-3 Wochen oder länger bis zur vollständigen Erholung dauern. Da die verschiedenen Viren sich in unterschiedlichen anatomischen Bereichen der Atemwege vermehren, können sie unterschiedliche Syndrome auslösen: Rhinitis, Pharyngitis, Laryngitis, Laryngotracheobronchitis (Croup), Bronchiolitis oder Pneumonie, bis hin zu respiratorischem Versagen (1-4). Die Abgrenzung ist jedoch unscharf, so dass keine Erregerdiagnose aufgrund des klinischen Bildes möglich ist. Wenn durch die Ausschüttung von Zytokinen Allgemeinsymptome wie Fieber, Frösteln, Gliederschmerzen, Schwäche oder Appetitlosigkeit verursacht werden, spricht man von einer influenza-ähnlichen Erkrankung. Respiratorische Viren sind auch wichtige Auslöser von Exazerbationen von Asthma und COPD und können zur Dekompensation einer Herzinsuffizienz führen (5-7). Eine weitere Komplikation sind sekundäre bakterielle Infektionen von Lunge, paranasalem Sinus oder Mittelohr.

Infektionen mit respiratorischen Viren treten in aller Regel saisonal gehäuft auf, in der nördlichen Hemisphäre von November bis April, wobei der Zeitpunkt der höchsten Prävalenz von Virus zu Virus leicht unterschiedlich ist (8, 9). Infektionen hinterlassen eine transiente, nur partiell protektive Immunität. Deshalb sind Reinfektionen häufig. Alle wichtigen respiratorischen Viren sind RNA-Viren (Tab. 1).

Das Respiratorische Syncytialvirus (RSV) infiziert bis zum Alter von 2-3 Jahre fast alle Kinder und ist in dieser Altersgruppe der wichtigste Erreger von Bronchiolitis und Pneumonie (10-12). Auch bei Personen mit einer Immunsppression kann RSV eine Pneumonie verursachen.
Die humanen Influenzaviren werden in 3 Genera unterteilt (13):
Influenzaviren A (INA) können viele verschiedene Tiere und den Menschen infizieren. Sie werden nach den Subtypen der Oberflächenproteine Hämagglutinin (HA) und Neuraminidase (NA) eingeteilt. Bei den menschlichen INA kommen 3 HA-Subtypen (H1, H2, H3) und 2 NA-Subtypen (N1, N2) vor. INA sind häufigen genetischen Mutationen unterworfen (antigenic drift), was zu jährlichen epidemischen Ausbrüchen führt. Diese treten meist zwischen Dezember und Februar auf und führen zu einer erheblichen Morbidität und Mortalität in der Gesellschaft. Grössere genetische Veränderungen (antigenic shift) können zu grossen, weltweiten Pandemien führen.
Influenzaviren B infizieren v.a. Menschen und sind genetisch weniger divers. Der antigenic drift ist weniger ausgeprägt und es gibt keinen antigenic shift (und somit auch keine Pandemien).
Influenzaviren C sind weniger häufig und meist mit dem Krankheitsbild einer banalen Erkältung assoziiert.
Die 4 Serotypen von Parainfluenza (PIV 1-4) und das Metapneumovirus sind bei Kindern zwischen 6 Monaten und 12 Jahren die Verursacher von Bronchiolitis und Pneumonie (v.a. PIV3 bei Kleinkindern) (1,14). PIV 1 ist der Erreger des Croup (Laryngotracheobronchitis).

Rhinoviren und Coronaviren sind vor allem die Erreger der banalen Erkältung. Infektionen mit Rhinoviren können zudem Exazerbationen von Asthma und COPD, oder die Dekompensation einer latenten Herzinsuffizienz auslösen. Drei besondere Coronaviren haben in den letzten Jahren als Verursacher schwerer Pneumonien eine besondere Rolle gespielt. Das severe acute respiratory syndrome corona virus (SARS-CoV-1) war der Verursacher des SARS-Ausbruchs von 2003. Das Virus hat sein Reservoir in Tieren und führte zu mehr als 8000 erkrankten Personen mit rund 800 Todesfällen. Seit 2004 sind keine weiteren Fälle mit SARS-CoV-1 aufgetreten. Das middle east respiratory syndrome corona virus (MERS-CoV) tritt fast ausschliesslich auf der Arabischen Halbinsel auf. Reservoir des Virus sind wahrscheinlich Kamele. Im Dezember 2019 ist ausgehend von Tieren und wiederum in Südost-China das SARS-CoV-2 aufgetreten, das die Covid-19-Pandemie 2020 bis 2023 ausgelöst hatte.

Transmission

Respiratorische Viren werden v.a. durch Tröpfchen/Aerosole leicht von Person zu Person übertragen (15). Tröpfchen weisen einen Durchmesser von >5 μm auf und fliegen bis zu 2 m weit. Die Erfahrung aus der Covid-Pandemie haben dieses Konzept in Frage gestellt (16-17).

Bei allen Aktivitäten der Atemwege (Atmen, Sprechen, Husten, Niesen, Singen etc.) werden grosse und kleine Tröpfchen gebildet, die alle Viren transportieren können. Die Partikeldichte ist am höchsten nahe der Quelle und Aerosole werden in einem Raum angereichert, wenn die Lüftung nicht ausreichend ist. Die Inkubationszeit nach einer Exposition beträgt 1-4 Tage. Die Virusausscheidung durch infizierte Personen setzt bereits 24 bis 48 Std. vor Auftreten von respiratorischen Symptomen ein. Die Inokulation erfolgt über den oberen Respirationstrakt, primär die Nase oder die Augen und die Viren vermehren sich im Epithel der grossen oder kleinen Atemwege, ohne eine systemische Infektion hervorzurufen. Je nach Virus führt dies zu einer Entzündung mit erhöhter mukosaler Sekretion, Leukozyten-Infiltration. Das Ziliarepithel der Atemwege kann zerstört werden, wodurch der Reinigungsmechanismus des Epithels und die Funktion der Phagozyten gestört wird. Dies erhöht die Empfänglichkeit für bakterielle Superinfektionen. Erst wenn von aktivierten Lymphozyten Zytokine freigesetzt werden, treten systemische Krankheitszeichen auf (18).

Diagnostik

Die Infektionen sind meist selbstlimitiert und eine konkrete Erregerdiagnose deshalb in der Regel nicht notwendig. Aus epidemiologischen Gründen kann dies dennoch wünschenswert sein. Bei Patienten mit einem schweren Krankheitsverlauf und bei Patienten mit einem hohen Risiko für Komplikationen, ist sie sogar notwendig, um die Möglichkeit einer antiviralen Therapie beurteilen zu können.

In diesen Fällen sollte die Probenentnahme so früh als möglich nach Beginn der Symptome erfolgen, da die Menge des Virus im Sekret im Verlauf rasch abnimmt. Generell haben Kinder eine höhere Viruslast und scheiden das Virus länger aus als Erwachsene. Bei Immunschwäche ist die Dauer der Virusausscheidung verlängert. Nasopharyngeale Aspirate sind besonders bei kleinen Kindern, die reichlich muköses Sekret produzieren, hilfreich (19-21). Bei älteren Kindern und bei Erwachsenen, die weniger Sekret produzieren, sind nasopharyngeale oder nasale Abstriche besser geeignet. Die kombinierte Entnahme eines Abstriches von Nasopharynx und Rachen ergibt oft eine höhere Ausbeute.

Die Probenentnahme sollte von einer ausgebildeten und erfahrenen Person vorgenommen werden, die eine Mund-Nasen-Maske und einen Augenschutz trägt.

Zurzeit stehen zwei Testverfahren für den Nachweis von respiratorischen Viren im Vordergrund: Festphasen-Immunoassays und Nukleinsäure-Amplifikations-Verfahren, insbesondere die reverse-transcriptase polymerase chain reaction (RT-PCR).

Festphasen-Immunoassays

Sogenannte Antigen-Schnelltests basieren auf der Technik der Immunchromatographie. Ihr Vorteil ist die einfache Anwendung und der Umstand, dass das Resultat sofort verfügbar ist. Es ist wichtig zu beachten, dass die Tests auf jeweils genau definiertes Probenmaterial (Nasen- bzw. Nasopharyngeal-Abstrich bzw. Nasopharyngeal-Aspirat) abgestimmt wurden und entsprechend verwendet werden sollten. Antigen-Schnelltests stehen nur für ausgewählte virale Erreger zur Verfügung: Influenza A und B, RSV, SARS-CoV-2. Ein wesentlicher Nachteil der Schnelltests ist deren begrenzte Sensitivität, die im Bereich von ca. 70% liegt (22-24). Bei tiefer Virusprävalenz ist zudem der Anteil falsch positiver Resultate erhöht. Schnelltests sollten deshalb nur in der epidemischen Phase angewandt werden.

Reverse-transcriptase polymerase chain reaction (RT-PCR)

Molekularbiologische Verfahren haben sich in den letzten Jahren als sehr sensitiv und spezifisch für den Nachweis und die Identifikation von respiratorischen Viren erwiesen und sie gelten als Referenzmethode. Die real-time RT-PCR ist heute die meist verwendete Methode und kann für den Nachweis eines breiten Spektrums von Erregern verwendet werden (25-26).

Es ist auch möglich, innerhalb von sehr kurzer Zeit Tests für neue Erreger zu entwickeln. Dies konnte in der Covid-19-Pandemie ausgenutzt werden. Die Methode erlaubt es auch, die Menge der nachgewiesenen Viren zu bestimmen. Die RT-PCR ist jedoch nur in spezialisierten Labors verfügbar und das Resultat steht somit nicht unmittelbar zur Verfügung.

Behandlung und Impfung

Die Behandlung von viralen Atemwegsinfektionen ist primär symptomatisch: Symptomminderung, Flüssigkeitsersatz und Sauerstoff. Eine antivirale Therapie ist nur gegen Influenza A und B sowie gegen SARS-CoV-2 verfügbar und kommt vor allem bei Personen mit einem Risiko für einen schweren Verlauf zum Einsatz. Im Falle von SARS-CoV-2 erleiden nach Impfungen und durchgemachten Infektionen fast nur noch immunsupprimierte Personen Komplikationen. Zur Prävention stehen Impfungen nur gegen die erwähnten Viren zur Verfügung. Die jährliche Influenza-Impfung ist für alle Risikopersonen gemäss den Richtlinien des BAG empfohlen. Das BAG/die EKIF hat kürzlich auch die Covid-Impfempfehlungen des Herbst 2023 veröffentlicht: Eine Boosterimpfung ist besonders gefährdeten Personen (BGP) und solchen über 65 Jahren empfohlen (sofern die letzte Impfung bzw. Infektion mehr als 6 Monate zurückliegt), nicht jedoch der übrigen Bevölkerung. Während der Covid-19-Pandemie konnte immungeschwächten Personen, vor allem solchen mit einer B-Zell-Depletion, eine passive Immunisierung mit Antikörpern angeboten werden. Wegen dem raschen Auftreten von immer neuen Virusvarianten neutralisieren die aktuell zur Verfügung stehenden Antikörperpräparate die aktuell zirkulierenden Viren nur sehr unzuverlässig und können deshalb nicht empfohlen werden. Als Prophylaxe einer schweren RSV-Pneumonie kann Kleinkindern mit einem relevanten Risiko (Frühgeborene vor der 35 Schwangerschaftswoche, Kinder mit einer bronchopulmonalen Dysplasie und solche mit einem hämodynamisch signifikanten angeborenen Herzvitium) Palivizumab angeboten werden. Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat am 6. Juni 2023 einen RSV-Impfstoff für Erwachsene ab 60 Jahren zugelassen: Ein Impfstoff für Säuglinge wird bald folgen. Swissmedic hat jedoch noch keine Zulassung erteilt. Eine weitere Diskussion von Therapie und Impfung im Zusammenhang von Influenza und Covid-19 kann in dieser kurzen Übersicht nicht erfolgen.

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Dr. med. Gerhard Eich

Chefarzt Infektiologie
Stadtspital Zürich
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Virale Atemwegsinfektionen verlaufen meist selbstlimitierend.
◆ Bei sehr jungen und bei betagten Patienten kann eine Infektion Asthma auslösen oder zu einer Exazerbation einer kardiopulmonalen Erkrankung führen.
◆ Immunkompromittierte Personen eliminieren das Virus schlechter und können zu langanhaltenden Virusausscheidern werden.
◆ Eine Diagnostik zum Virusnachweis ist nur bei gefährdeten Personen und besonders bezüglich Influenza und SARS-CoV-2 sinnvoll. Bei Kleinkindern vor allem aber auch bezüglich RSV.

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