Interprofessionelle Zusammenarbeit in der ambulanten Gesundheitsversorgung

Sehr geehrte Leserinnen und Leser der PRAXIS

Ressourcenmangel und Kostendruck sind kontinuierlich starke Schlagwörter in der Gesundheitsversorgung. Zur Bewältigung sind Interdisziplinarität und Interprofessionalität von grösster Wichtigkeit und Effizienz. Die interprofessionelle Zusammenarbeit ist zudem ein wesentlicher Faktor im gesamten Management der Gesundheit unserer Patient/-innen.

Der Artikel von Dr. phil. Bettina Schwind et al. zeigt auf, wie die Integration der verschiedenen Key-Player und Stake-Holder in der patient/-innenzentrierten Versorgung in einer interprofesionellen Zusammenarbeit gelingt. Die zentrale Rolle der Hausärzt/-in wird hervorgehoben. Diverse Massnahmen wie kontinuierliche postgraduale Bildung und moderne Arbeitsmodelle sind weitere Schritte zur Optimierung der interprofessionellen Zusammenarbeit.
Die spannende Einführung zum Artikel hat Frau Dr. med. Katja Weiss vom Institut für Hausarztmedizin Zürich (IHAMZ) verfasst.

Ich wünsche Ihnen nun viel Vergnügen beim Lesen des Artikels und unserer neuen Ausgabe der PRAXIS!

Prof. Dr. med. Dagmar Keller Lang
Herausgeberin PRAXIS

Prof. Dr. med. Dagmar Keller Lang

Chefärztin, Leiterin Notfall
Klinik Gut
7500 St. Moritz

d.keller@klinik-gut.ch

Panhypopituitarismus mit Diabetes insipidus und Knochen­schmerzen – Steckt eine Systemerkrankung dahinter?

Der 27-jährige Patient stellte sich aufgrund von einseitigen Beinschmerzen vor. In der Vorgeschichte war ein Diabetes insipidus respektive Panhypopituitarismus bekannt. Laboranalytisch bestand eine unzureichende Hormonsubstitution. Im MRI fiel eine grosse Kontrastmittel-aufnehmende Raumforderung in der Hypophyse mit Ausdehnung bis in den Hypothalamus auf. Mittels FDG-PET/CT konnte eine hypermetabole Läsion im Bereich des Femurschaftes links dargestellt werden. Nach Biopsie der Läsion konnte die Diagnose einer multisystemischen Langerhans-Zell-Histiozytose gestellt werden.

Anamnese und Befunde

Der 27-jährige Patient stellte sich aufgrund von Oberschenkelschmerzen linksseitig vor. Die Beschwerden hätten seit einigen Wochen bestanden und an Intensität zugenommen. Die Schmerzen seien in Ruhe von dumpfer Qualität, bei Belastung stechend mit Ausstrahlung in das Knie. Der Patient betreibt regelmässig Kampfsport und fühlte sich durch die Schmerzen eingeschränkt. Die eingenommenen Schmerzmittel (Paracetamol, Ibuprofen) hätten nicht geholfen.
Als Vorerkrankung wurde beim Patienten im Alter von 15 Jahren ein Diabetes insipidus diagnostiziert. Die Abklärungen wurden aufgrund einer zunehmenden Schwäche mit begleitendender Polyurie und Polydipsie veranlasst. Im damals durchgeführten MRI des Neurocraniums wurde ein verdickter Hypophysenstiel mit diffuser Kontrastmittelanreicherung der Hypophyse festgestellt. Das Ganzkörper MRI war unauffällig. Es wurde ein Diabetes insipidus am ehesten im Rahmen einer lymphozytären Hypophysitis festgehalten. Einige Jahre nach Diagnosestellung entwickelte der Patient weitere Hormonausfälle (Hypocortisolismus, Hypothyreose, Hypogonadismus, Wachstumshormonmangel), so dass retrospektiv ein Panhypopituitarismus diagnostiziert wurde. Der Patient hatte allerdings keine regelmässigen endokrinologischen Kontrollen, sodass bislang nur eine Behandlung des Diabetes insipidus mit Desmopressin erfolgte und die übrigen Hormonachsen nicht substituiert wurden.
Systemanamnestisch lagen keine B-Symptome vor. Seit einigen Jahren bestand vermehrte Müdigkeit, keine Visusstörungen und kein regelmässiger Alkohol- oder Nikotinkonsum.
Im Status wies der Patient einen adipösen Habitus (BMI 34 kg/m2) mit fahlem Hautkolorit und spärlicher Körperbehaa­rung auf. Die klinische Untersuchung (inklusive Hirnnerven­status) war unauffällig. Im Bereich der beklagten Schmerzen am linken Bein war keine Hautrötung, keine Druckdolenz oder Überwärmung festzustellen und die Untersuchungen von Hüfte und Knie waren blande. Laboranalytisch fanden sich bis auf den Panhypopituitarismus mit inadäquater Hormonsubstitution keine Auffälligkeiten, insbesondere keine erhöhten Entzündungswerte und keine Blutbildveränderungen.
Zusammenfassend handelt es sich um einen 27-jährigen Patienten mit einseitigen Beinschmerzen und einem langjährig vorbekannten, nicht adäquat substituierten Panhypopituitarismus mit Diabetes insipidus in der Annahme einer durchgemachten lymphozytären Hypophysitis.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Muskuloskelettale Beschwerden sind ein häufiges Problem im klinischen Alltag. (Post)traumatische Ursachen, meist im Bereich von Gelenken, sind bei jungen, respektive aktiven Patienten die häufigste Ursache. Eine solche Anamnese liegt jedoch bei unserem Patienten nicht vor. Bei atypischer Lokalisation und länger anhaltenden unerklärten Knochenschmerzen, muss auch an eine neoplastische Genese gedacht werden. Bei jungen Patienten sind das in erster Linie primäre Knochentumore, bei älteren Patienten sind Metastasen (Prostata-, Mamma-, Bronchialkarzinom) oder Manifestationen eines Multiplen Myeloms zu erwarten.
Im Gegensatz zu den Knochenschmerzen ist ein zentraler Diabetes insipidus, respektive ein Panhypopituitarismus sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein sehr seltenes Krankheitsbild. Die häufigste Ursache des zentralen Diabetes insipidus ist idiopathisch. Bekannte Auslöser sind primäre Tumore (meist Kraniopharyngeom) oder sekundäre intrakranielle Neoplasien (Metastasen, Lymphome, Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH)), infiltrative oder entzündliche Erkrankungen (Sarkoidose, Granulomatose mit Polyangiitis, autoimmune lymphozytäre Hypophysitis) oder traumatische Ursachen (Fraktur, neurochirurgischer Eingriff) [1] (Tabelle1). Bei allen Formen können magnetresonanztomographisch unspezifische Veränderungen (Verdickung des Hypophysenstiels, gesteigerte Kontrastmittel-Anreicherung) auftreten, so dass die bildmorphologischen Veränderungen bezüglich der Diagnosefindung oft nicht weiterhelfen. Aufgrund der Lokalisation ist die Abklärung mittels Gewebeuntersuchung eingeschränkt und oft nicht vertretbar.

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Aufgrund des nicht adäquat substituierten Panhypopituitarismus erfolgte zur Standortbestimmung ein MRI des Neurocraniums. Hier konnte eine atrophierte Hypophyse mit fadendünnem Hypophysenstiel und fehlendem Hypophysenhinterlappen-Signal dargestellt werden. Des Weiteren bestand eine deutlich Kontrastmittel-aufnehmende Raumforderung im Bereich des Hypothalamus, des Chiasmas und Tractus opticus beidseits (Abb.1A und B).
Diese Befunde eines jungen Patienten mit Diabetes insipidus mit progredientem Hormonausfall, atrophierter Hypophyse mit fadendünnem Hypophysenstiel und deutlich Kontrastmittel aufnehmender Raumforderung im Hypothalamus und atraumatischen Knochenschmerzen passen zu einer Manifestation einer multisystemischen LCH, weshalb wir im nächsten Schritt ein Ganzkörper 18F-fluorodeoxyglucose (FDG)PET/CT durchführten. Die Untersuchung zeigte eine intensive FDG-Aufnahme in der hypothalamischen Raumforderung. Im Bereich der beklagten Schmerzen (Femurdiaphyse links) fand sich eine intensiv FDG-avide Raumforderung in der Muskulatur rund um die Femurdiaphyse mit lokalen Arrosionen der angrenzenden Kortikalis, ohne gesteigerte Stoffwechselaktivität im Knochenmark (Abb. 1C und D). Diese Läsion am Femur links war gut zugänglich für eine CT-gesteuerte Biopsie.

Diagnose

Mittels CT-gesteuerter Biopsie konnte Gewebe perifemoral gewonnen werden. In der histopathologischen Aufarbeitung zeigte sich ein Eosinophilen-reiches Entzündungsinfiltrat mit proliferierten atypischen Zellen mit „Kaffeebohnen-artigen“ Kernen. Die Immunhistochemie mit dem Nachweis der typischen Marker CD1a, Langerin, S100 und CD68 führte zur Diagnose einer LCH (Abb. 2). Somit wurde die Diagnose einer multisystemischen LCH mit Hirn und Weichteilbeteiligung gestellt.

Kommentar

Die LCH gehört zusammen mit der Erdheim-Chester Erkrankung zu den häufigsten histiozytären Erkrankungen, wobei es sich insgesamt um sehr seltene Krankheitsentitäten handelt. Die Inzidenz wird auf 1 Fall/1.5 Millionen Menschen pro Jahr geschätzt [2]. Sowohl Kinder als auch Erwachsene können betroffen sein, mit höherer Inzidenz bei Kindern.
Historisch wurde die LCH als entzündliches Geschehen betrachtet und war auch bekannt unter dem Namen „Histiozytosis X“ oder „Hand-Schüller Christian“ Krankheit. Mittlerweile konnte jedoch gezeigt werden, dass die LCH durch eine unkontrollierte Proliferation von Antigen präsentierenden Zellen, den Langerhans Zellen, entsteht. Heutzutage ist bekannt, dass >50% der LCH Fälle eine BRAF p.V600E Mutation[3] und >90% der LCH/ECD Fälle eine aktivierende Mutation im Mitogen-activated-protein kinase/extracellular-signal-regulated kinase (MAPK/ERK) Signalweg aufweisen[4]. Nach diesen Erkenntnissen wurden die histiozytären Erkrankungen 2017 den hämatopoietischen Neoplasien gemäss WHO zugeordnet [5].
Klinisch handelt es sich um ein sehr heterogenes Krankheitsbild mit unterschiedlichem Verlauf vom radiologischen Zufallsbefund bis zum Multiorganversagen. Grundsätzlich wird zwischen einer unifokalen und multifokalen/multisystemischen Erkrankung mit Mehrorganbeteiligung unterschieden. Am häufigsten manifestiert sich die Krankheit im Knochen, meistens in Form von Osteolysen und in der Hypophyse mit prädominantem Diabetes insipidus, der den weiteren Manifestationen viele Jahre vorausgehen kann. Die LCH der Lunge im frühen Stadium präsentiert sich meist in Form von peribronchialen, pulmonalen Noduli mit Transformation zu Zysten im Verlauf der Erkrankung[6]. Die pulmonale LCH ist meist mit Nikotinkonsum assoziiert und wird als Spezialentität betrachtet [7]. Letztlich können aber alle Organe betroffen sein. Die Beschwerden sind meist unspezifisch, was zu einer Verzögerung der Diagnose über Jahre führen kann.
Bei unserem Patienten wurde im Kindesalter ein Diabetes insipidus festgestellt. Eine Systemerkrankung wurde zum Diagnosezeitpunkt gesucht, jedoch nicht gefunden. Aufgrund der Lokalisation (Hypophyse) wäre eine Biopsie mit nicht vertretbarer Morbidität verbunden gewesen. Wie bei unserem Patienten kommt es bei einem hypophysären Befall der LCH häufig als erstes zu einem Ausfall der Hormone aus dem Hypophysenhinterlappen, im Verlauf zu einem progredienten Hormonausfall aus dem Hypophysenvorderlappen und Jahre später zur Beteiligung weiterer Organe (in unserem Fall Weichteile). Die ossäre Beteiligung der LCH ist relativ häufig, dabei ist ein Weichteilbefall typischerweise die Folge einer Ausbreitung aus dem benachbarten Knochen/Knochenmark. Eine primäre Weichteilbeteiligung mit sekundärer Arrosion der benachbarten Kortikalis, wie bei unserem Patienten, ist in der Literatur selten beschrieben. Die Diagnose einer LCH stützt sich auf den histopathologischen Nachweis der Langerhans-Zell-Infiltrate. Eine Biopsie der Hypophyse wird in der Regel nicht durchgeführt, so dass bei einer Hypophysen Manifestation und Verdacht auf eine LCH ein Ganzkörper FDG-PET/CT die Standarduntersuchung ist[7]. Da LCH Läsionen häufig sehr stark FDG-avide sind, wird versucht die Läsion mit dem stärksten Hypermetabolismus zu biopsieren. Aufgrund der unterschiedlichen Zellularität und Beimischung von Entzündungszellen sind grosszügige Biopsien für eine korrekte Diagnose erforderlich.
Histopathologisch sind LCH Läsionen durch proliferierte Zytoplasma-reiche Zellen mit Kaffeebohnen-artigem Kern mit häufig länglicher Membranfurchung charakterisiert. Je nach Aktivität der Langerhans-Zell-Histiozytose finden sich beigemischte eosinophile Granulozyten unterschiedlicher Dichte sowie Lymphozyten und Plasmazellen. Die diagnostischen immunohistochemischen Marker für Langerhans-Zellen sind CD1a und Langerin (CD207). Da >50% der LCH eine BRAF pV600E Mutation aufweisen [3], ist auch die BRAF-V600E Immunhistochemie diagnostisch hilfreich. Bei fehlender immunhistochemischer Expression von BRAF, respektive negativer Mutationsanalyse wird meist ein NGS für Gene, welche im MAPK-ERK Signalweg involviert sind, durchgeführt [7].
Bei unserem Patienten konnte weder eine BRAF Mutation noch eine Alteration der Gene MAP2K1, KRAS, NRAS oder PIK3CA nachgewiesen werden.
Die therapeutischen Möglichkeiten unterscheiden sich stark. Eine unifokale LCH ist bei Erwachsenen Patienten häufig kurativ behandelbar, wobei es verschiedene lokale Therapien gibt (z.B. Radiotherapie, chirurgische Resektion, Steroidinfiltration). Im Spezialfall der Single-system pulmonalen LCH sollte zwingend ein Rauchstopp empfohlen werden. Dies alleine kann bereits zu einem vollständigen Rückgang der LCH Läsionen führen [7].
Da die Krankheit sehr selten ist und es nur äusserst wenige prospektive Studien gibt, ist der optimale Behandlungsalgorithmus der multisystemischen Krankheit unklar. Bei Patienten mit asymptomatischer Erkrankung und ohne Beteiligung von kritischen Organen (wie Hirn, Leber und Lunge) oder Vorliegen einer Endorgan-Dysfunktion kann vorerst beobachtet werden. Bei Patienten mit symptomatischer Erkrankung oder Beteiligung von Hirn, Leber und Lunge gibt es verschiedene therapeutische Möglichkeiten von konventionellen Chemotherapeutika, Bisphosphonaten (bei Knochen prädominanter Erkrankung), Immunmodulatoren, Hydroxyurea, Methotrexat, Hochdosistherapie mit ASCT und zielgerichteten Therapien wie BRAF-und MEK-Inhibitoren. Aufgrund des schnellen Ansprechens und der hohen Ansprechrate wird bei Befall von kritischen Organen (Hirn, Leber, Milz) eine zielgerichtete Therapie favorisiert [7].
Unser Patient ist sehr jung und hatte einen „kritischen Organbefall“ (Gehirn), sodass wir eine MEK-Inhibitor Therapie mit Cobimetinib empfohlen haben. Nach wenigen Wochen Behandlung war unser Patient schmerzfrei. Im FDG-PET/CT konnte nach drei Monaten eine vollständige metabolische Remission der LCH Manifestation am Femurschaft und eine deutliche Re-gredienz der Läsion im Hypothalamus und Hypophyse festgestellt werden. Nach Einleitung der Substitutionstherapie mit Levothyroxin, Testosteron und Hydrocortison verbesserte sich die Leistungsfähigkeit des Patienten markant. Trotz des guten Therapieansprechens wird der Patient lebenslang auf eine Hormonsubstitutionstherapie angewiesen sein.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
LCH Langerhans-Zell-Histiozytose
MAPK/ERK Mitogen-activated-protein kinase/extracellular-signal-reulated kinsase
MRI Magnetresonanztomographie
NGS Next-generation sequencing
(FDG) PET/CT 18F-fluorodeoxyglucose Positronen Emissions Tomographie/Computer Tomographie

 

Dr. med. Martina Bertschinger

Medizinische Onkologie und Hämatologie
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse
8401 Winterthur

Martina.bertschinger@ksw.ch

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie
Manuskript eingereicht: 30.07.2023
Nach Revision angenommen: 18.10.2023

 

  • Bei einem Diabetes insipidus/Panhypopituitarismus und Osteolysen soll an eine LCH gedacht werden.
  • Die LCH ist eine myeloide Neoplasie und die häufigste histiozytäre Erkrankung.
  • Eine bioptische Untersuchung soll erzwungen werden, zur Diagnosesicherung und Mutationsanalyse.
  • Für die LCH existieren unterschiedliche, teils sehr effektive Therapieformen.

1. Maghnie M, Cosi G, Genovese E, et al. Central diabetes insipidus in children and young adults., N Engl J Med. 2000;343(14):998-1007.
2. Makras P, Stathi D, Yavropoulou M, et al, The annual incidence of Langerhans cell histiocytosis among adults living in Greece. Pediatr Blood Cancer. 2020;67(9):e28422.
3. Badalian-Very G, Vergilio J, Degar B, et al. Recurrent BRAF mutations in Langerhans cell histiocytosis. Blood. 2010;116(11):1919-1923.
4. Diamond EL, Durham B, Haroche J, et al. Diverse and targetable kinase alterations drive histiocytic neoplasms. Cancer Discov. 2016;6(2):154-165.
5. Swerdlow SH, Campo E, Harris NL, et al. WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues: International Agency for Research on Cancer, 2017
6. Brauner MW, Grenier P, Tijani K, Battesti JP, Valeyre D. Pulmonary Langerhans cell histiocytosis: evolution of lesions on CT scans. Radiology. 1997;497-502.
7. Goyal G, Tazi A, Go RS, et al., International expert consensus recommendations for the diagnosis and treatment of Langerhans cell histiocytosis in adults, Blood. 2022;139 (17): 2601–2621.

Lebenslange Maskenpflicht

Ein 31-jähriger Landwirt wird auf eine mutmassliche Pneumonie behandelt. Bei Beschwerdepersistenz trotz antibiotischer Behandlung kommt unter Berücksichtigung der Berufsanamnese der Verdacht auf eine Hypersensitivitätspneumonitis Typ Farmerlunge auf. Hinweise aus verschiedenen Untersuchungsmodalitäten und der klinische Verlauf bestätigen die Verdachtsdiagnose. Durch die rasche Diagnosestellung und ergriffenen Massnahmen gelingt ein Verbleib im angestammten Beruf.

Anamnese und Befunde

Ein 31-jähriger, bislang gesunder Landwirt ohne Raucheranamnese stellte sich im Januar in der hausärztlichen Sprechstunde auf Grund von seit zwei Wochen bestehendem Husten, Abgeschlagenheit und Unwohlsein vor. Klinisch imponierten rechtsbasale Rasselgeräusche bei einer Sauerstoffsättigung von 94 %. Unter Annahme einer ambulant erworbenen Pneumonie erfolgte die antibiotische Behandlung mit Clarithromycin. Zwei Wochen später stellte sich der Patient erneut vor, da es seit dem Vortag zu thorakalem Druckgefühl, Kopfschmerzen und vermehrtem Husten mit blutig tingiertem Auswurf gekommen sei. In der Auskultation bestanden feine periphere Rasselgeräusche beider Lungen. Im Labor waren eine milde Leukozytose (9.2 x103/µl, 86% segmentkernige Leukozyten) und eine CRP-Erhöhung auf 51 mg/l auffällig. Ein Röntgen-Thorax zeigte angedeutete beidseitige Infiltrate. Es wurde eine Therapie mit Levofloxacin 400 mg/d, Prednisolon 40 mg/d und Symbicort® 200/6 mcg 2-0-2 Hub begonnen. Bereits einen Tag später zeigte sich eine klinische Besserung. Über die nächsten 14 Tage kam es jedoch – meistens am Abend, besonders nach Tätigkeiten im Stall – zum erneuten Auftreten der Symptome. Klinisch ließen sich erneut bilaterale pulmonale Rasselgeräusche auskultieren bei im Labor normalisierten Entzündungswerten.

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Differentialdiagnostisch zogen wir bei wiederkehrender, anfallsartiger Dyspnoe und Husten ein Asthma bronchiale in Betracht. Die Lungenfunktion zeigte jedoch keine obstruktive, sondern eine leichte restriktive Ventilationsstörung (TLC 75%Soll) mit einer grenzwertig tiefen CO-Diffusionskapazität. Die Oxygenation war in Ruhe dank leichter Hyperventilation knapp suffizient (PO2 70 mmHg, SpO2 95%, PCO2 33 mmHg). Unter mittelschwerer Belastung (100 Watt) bestand eine signifikante Arbeitshypoxämie (PO2 58 mmHg, SpO2 90%, PCO2 32 mmHg). Eine infektiöse Ursache erschien bei Symptompersistenz trotz antibiotischer Therapie und tiefen Entzündungswerten unwahrscheinlich. Zur weiteren Beurteilung wurde ein CT-Thorax durchgeführt, in welchem beidseitige, basal betonte milchglasartige Trübungen des Lungenparenchyms zur Darstellung kamen (Abbildung 1). In Zusammenschau der klassischen Anamnese mit zunehmendem Reizhusten und abendlicher Malaise, dem klinischen Bild mit bilateralen inspiratorischen Rasselgeräuschen, wie auch der restriktiven Ventilationsstörung und den Charakteristika einer interstitiellen Lungenerkrankung in der Bildgebung wurde der Verdacht einer HP – bei Tätigkeit als Landwirt entsprechend einer HP Typ Farmerlunge – gestellt.

Zur weiteren Diagnosesicherung wurde eine Bronchoskopie mit BAL und TBB durchgeführt. In der Bronchoskopie zeigten sich makroskopisch unspezifische entzündliche Veränderungen. Die Ergebnisse der BAL mit leichter Eosinophilie und leichter Lymphozytose (43 %), sowie einer erniedrigten CD4/CD8-Ratio (0.44) konnten die Verdachtsdiagnose stützen. Histopathologisch wurden lymphozytäre interstitielle Infiltrate sowie vereinzelt histiozytäre Granulome und intraalveoläre Masson-Körperchen nachgewiesen. In der Zusammenschau der typischen Anamnese, Klinik und weiteren Befunde konnte die Diagnose einer HP Typ Farmerlunge gestellt werden. Der positive Verlauf mit vollständiger Remission der Beschwerden unter konsequentem Tragen eines Atemschutzes bei Allergenexposition und Kortisontherapie während der verbleibenden Heu-Fütterungszeit erhärtete diese Diagnose.
Die initial gemessene Restriktion war nach dreiwöchiger Behandlung mit Prednison 40mg/d fast vollständig regredient und der Gasaustausch normalisiert. Mit dem Ende der Heu-Fütterungszeit konnte die Steroideinnahme gestoppt werden. Aufgrund Malcompliance beim Tragen des Atemschutzes kam es bisher zu einem einmaligen Rezidiv. Bei nun hervorragender Compliance hinsichtlich des Atemschutzes bei den Stallarbeiten ist der Patient beschwerdefrei und die pneumologischen Verlaufskontrollen fielen unauffällig aus.

Diagnose

Die Farmerlunge ist die häufigste Form der Hypersensitivitätspneumonitis (HP, auch Exogen allergische Alveolitis) und wird beim Auftreten bei Landwirten als Berufskrankheit anerkannt. Die HP beschreibt eine klinisch sehr variable, granulomatöse, interstitielle Lungenerkrankung, die das Resultat einer Inflammation im Lungenparenchym ist [1].
Diese wird nach vorgängiger Sensibilisierung bei einem anfälligen Individuum durch die wiederholte Inhalation von aerogenen Allergenen ausgelöst. Eine ganze Reihe an auslösenden Allergenen sind bekannt, die meisten davon sind organische Proteinstrukturen von Bakterien, Pilzen oder Tieren, seltener auch organische oder anorganische Chemikalien [1]. Speziell bei der Farmerlunge spielen Antigene von Bakterien oder Pilzen im schimmelnden Heu, Stroh oder Getreide eine zentrale Rolle. Die Datenlage hinsichtlich Prävalenz und Inzidenz der Farmerlunge ist auf Grund einer vermuteten hohen Dunkelziffer und fehlenden einheitlichen Diagnosekriterien mangelhaft. Lokale Faktoren wie Klima, Jahreszeit und Art der landwirtschaftlichen Verfahren beeinflussen die Prävalenz. Die Inzidenz der Farmerlunge ist beispielsweise zum Ende der Heu-Fütterungszeit am höchsten und im Herbst am niedrigsten, nachdem sich die Tiere im Freien aufgehalten haben [2]. Zudem korreliert die Inzidenz positiv mit der Anzahl der Regentage der vorgängigen Heu-Saison. Feuchtigkeit, wie auch die Lagerung des Strohs und Heus in Ballen statt lose oder in Quadern, führt über eine erhöhte Fermentationstemperatur zu einer vermehrten Proliferation von HP-assoziierten Erregern. Beim Öffnen von Stroh- und Heuballen und bei der Tierfütterung gelangen diese Antigene in die Luft [3]. Frisches Heu stellt in der Regel keine Allergenquelle dar.
Wie bei allen Formen der HP ist auch bei der Farmerlunge die klinische Präsentation sehr variabel und wird heute nach Empfehlung der kürzlich herausgegebenen Guideline der American Thoracic Society (ATS) nach radiologischen und histologischen Erscheinungsbild in eine nicht-fibrotische (nfHP) und fibrotische HP (fHP) unterteilt, um den prognostischen Unterschieden der beiden Formen gerecht zu werden, bei der die fibrotische HP mit einem schwereren Verlauf und schlechterem Outcome einhergeht [4,5].
Führende Symptome beider Formen der HP sind Dyspnoe und Husten. Nach einer Latenzzeit zur Antigenexposition von 3-12 Stunden – beim Landwirt ist dies typischerweise zu Beginn der Nacht, nachdem er am späten Nachmittag bei der Tierfütterung mit Heu und Stroh in Kontakt gekommen ist – kann es zusätzlich zu grippeartigen Symptomen wie Abgeschlagenheit, Fieber, Inappetenz sowie zu thorakalem Engegefühl kommen. Klassischerweise klingen diese Beschwerden nach einigen Stunden wieder ab mit Persistenz des Hustens und der Dyspnoe. In der klinischen Untersuchung fallen oft bilaterale inspiratorische Rasselgeräusche auf [1]. Anhand der Symptomkonstellation kann nicht auf die Entität der HP (nfHP/fHP) geschlossen werden [5].
Ein diagnostischer Goldstandard existiert nicht. Aufgrund Überschneidungen der diagnostischen Charakteristika mit anderen Lungenpathologien und dem variablen Erscheinungsbild der Erkrankung kann keine Untersuchungsmodalität isoliert zur Diagnosestellung herangezogen werden, sondern basiert auf der Zusammenschau einer Reihe von wegweisenden Befunden unterschiedlicher Modalitäten. Der erste Schritt setzt eine vermutete stattgehabte oder anhaltende Allergenexposition voraus.
Das Verschwinden oder eine Besserung der Symptome nach Meidung des Allergens sowie ein Wiederauftreten der Beschwerden nach Reexposition kann die Verdachtsdiagnose stützen. Ein solcher Karenz-Reexpositionstest fällt jedoch nicht immer positiv aus (beispielsweise wenn das vermutete Allergen nicht komplett gemieden werden kann oder bereits eine fortgeschrittene Fibrose vorliegt) [6].
Die in der Praxis schnell zugängliche Diagnostik, wie Labor, Röntgen und Lungenfunktion, weisen meist unspezifische Ergebnisse auf. Im Labor wird häufig eine Erhöhung des CRPs und der BSG sowie eine Leukozytose gesehen. Die Untersuchung auf präzipitierende IgG im Serum wird in unklaren Fällen empfohlen, ist jedoch isoliert betrachtet wenig spezifisch [7]. Im Röntgen-Thorax, welches in 30 % der Fälle normal ausfällt, können bilaterale Infiltrate oder bei fortgeschrittener Erkrankung Zeichen der Fibrose zur Darstellung kommen [1]. Oft zeigt sich eine restriktive Ventilationsstörung in der Lungenfunktion. Auch eine Gasaustauschstörung kann vorliegen [8].
Als bildgebendes Verfahren wird ein High-Resolution-CT (HRCT) empfohlen, welches bei typischen Befunden eine sichere Unterscheidung zwischen nfHP und fHP zulässt. Bei weiterhin unklarer Diagnose wird auf Befunde aus BAL und transbronchialer Biopsie zurückgegriffen. Typische Befunde aus diesen Modalitäten sind in Tabelle 1 ersichtlich [5].

Das Feld der Differentialdiagnosen der HP ist weit und reicht von anderen interstitiellen Lungenerkrankungen über chronisch obstruktive Lungenerkrankungen zu bakteriellen und viralen Pneumonien [1].
Zentraler Bestandteil des Managements der Farmerlunge ist die Umsetzung von geeigneten Massnahmen zur Meidung bzw. Reduktion der Allergeninhalation (z.B. Tragen einer Schutzmaske bei Heustaub exponierten Tätigkeiten, gute Stalllüftung zur Reduktion der Allergenlast, ausreichende Trocknung des Heus vor Einlagerung). Unter diesen Vorkehrungen gelingt es in den meisten Fällen, dass die Betroffenen im Beruf bleiben können [9]. In der klinischen Erfahrung führte die Weiterentwicklung der Atemschutzsysteme (Abbildung 2) zu einer höheren Compliance. Korticosteroide werden meist für wenige Wochen zur Symptomkontrolle eingesetzt. Bei Fällen mit fortschreitender Fibrosierung steht mit Ofev® (Nintedanib) ein Antifibrotikum zur Verfügung, womit das Fortschreiten einer Erkrankung im besten Fall gebremst werden kann.
Die Prognose der HP variiert stark von Fall zu Fall. So besteht bei der nfHP, wie dieser Fall Anhand des Beispiels einer Farmerlunge zeigt, bei rascher Diagnose und konsequenter Allergenkarenz eine gute Prognose mit möglicher Krankheitsstabilisierung bis hin zur vollständigen Remission. Der Nachweis einer Fibrose ist mit einer schlechteren Prognose assoziiert.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
BAL Bronchoalveoläre Lavage
BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit
fHP fibrotische Hypersensitivitätspneumonitis
HP Hypersensitivitätspneumonitis
HRCT High-Resolution Computer Tomographie
IVC Inspiratorische Vitalkapazität
nfHP nicht-fibrotische Hypersensitvitätspneumonitis
TBB Transbronchiale Biopsie

pract. med. Jörn Eggimann

Hausarztpraxis Ogimatte AG
Ogimatte 7
3713 Reichenbach i. Kandertal

joern.eggimann@gmail.com

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

History
Manuskript eingereicht: 25.09.2023
Manuskript angenommen: 18.10.2023

 

  • Das Engramm aus respiratorischen und systemischen Symptomen in zeitlicher Korrelation zu einer Tätigkeit oder Umgebung sollte dringend an eine HP denken lassen.
  • Die Befunde gängiger schnell erhältlicher Untersuchungsmodalitäten (Labor, Lungenfunktion, Röntgen-Thorax) können bei der HP unauffällig ausfallen und sollten daher nicht zum Ausschluss dieser Diagnose führen.
  • Eine rasche Diagnosestellung und Vermeidung des potentiellen Auslösers sind prognostisch entscheidend.

1. Riario Sforza GG, Marinou A. Hypersensitivity pneumonitis: a complex lung disease. Clin Mol Allergy. 2017;15:6.
2. Terho EO, Heinonen OP, Lammi S, Laukkanen V. Incidence of clinically confirmed farmer’s lung in Finland and its relation to meteorological factors. Eur J Respir Dis Suppl. 1987;152:47–56.
3. Roussel S, Reboux G, Million L, Dalphin JC, Piarroux R. Pneumopathies d’hypersensibilité et exposition aux moisissures et actinomycètes de l’environnement. J Mycol Méd. 2006;16:239–47.
4. Kadura S, Raghu G. Hypersensitivity pneumonitis: Principles in diagnosis and management. Respirology. 2023.
5. Raghu G, Remy-Jardin M, Ryerson CJ, et al. Diagnosis of hypersensitivity pneumonitis in adults: an Official ATS/JRS/ALAT Clinical Practice Guideline. Am J Respir Crit Care Med. 2020; 202(3): e36– 69.
6. Fernández Pérez ER, Travis WD, Lynch DA, et al. Diagnosis and Evaluation of Hypersensitivity Pneumonitis: CHEST Guideline and Expert Panel Report. Chest. 2021;160(2):e97-e156.
7. Spagnolo P, Rossi G, Cavazza A, et al. Hypersensitivity Pneumonitis: A Comprehensive Review. J Investig Allergol Clin Immunol. 2015;25(4):237-50
8. Sennekamp J, Müller-Wening D, Amthor M, et al. German Extrinsic Allergic Alveolitis Study Group. [Guidelines for diagnosing extrinsic allergic alveolitis (hypersensitivity pneumonitis) (German Extrinsic Allergic Alveolitis Study Group)]. Pneumologie. 2007;61(1):52-6.
9. Ntawuruhunga E, Kursnera D, Chouanièrea D, et al. Farmerlunge: Beitrag der Arbeitsmedizin. Schweiz Med Forum 2010;10(3):39-42.

Medikamentöse Osteoporose­behandlung – sinnvoll bei allen Hochbetagten?

Osteoanabol wirkende Osteoporosemedikamente wurden besser verfügbar. Das osteoanabole Therapieprinzip weisst eine stärkere, schneller einsetzende frakturreduzierende Wirkung auf als die antiresorptiven Präparate. Auch wurde neu erkannt, dass die Bedeutung einer ersten Fragilitätsfraktur als Risikofaktor zeitabhängig ist: Je weniger Zeit seit der ersten Fraktur vergangen ist, umso höher ist das dadurch bedingte Re-Frakturrisiko. Patient_innen, die älter als 65 Jahre alt sind und deren Index-Fragilitätsfraktur weniger als zwei Jahre her ist, werden deshalb in einer eigenen Kategorie «Imminent Fracture Risk» gruppiert. Diese Neuerungen wurden durch eine Aktualisierung der Osteoporosetherapieleitlinie umgesetzt. Demnach soll Patient_innen in der Risikokategorie «Imminent Fracture Risk» möglichst schnell eine osteoanabole Osteoporosetherapie angeboten werden, um möglichst viele Frakturen zu vermeiden. Einer allzu strikten Umsetzung dieses Algorithmus bei hochbetagten Frakturpatient_innen stehen wir kritisch gegenüber. Eigene Daten deuten nämlich darauf hin, dass über 30 % dieser Subpopulation den Effekt einer neu begonnenen Osteoporosetherapie gar nicht erleben. Wir propagieren eine klinisch basierte Indikationsstellung zur Osteoporosetherapie. Hierfür schlagen wir eine für osteologische Zwecke modifizierte «Question Surprise» vor. «Würde es mich überraschen, wenn ich die/den gleichen/n Patientin/Patienten in einem Jahr erneut wegen einer Fraktur behandeln müsste?» Wird die Frage mit «Nein» beantwortet, dann könnte diese/r Patient/in ein/e Kandidat/Kandidatin für eine spezifische Osteoporosebehandlung sein.

Osteoporose und deren korrekte Behandlung sind Gegenstand zahlreicher Publikationen: Was gibt es Neues?

Über eine Vitamin-D-Supplementierung, die richtige Dosierung und allfällige Spiegelbestimmungen ist in den letzten Jahren viel und kontrovers geschrieben worden. Deshalb beschreiben wir diesbezüglich in diesem Artikel am Ende bei den «Key Messages» lediglich unser eigenes Vorgehen. Hier soll vielmehr der Fokus auf einer korrekten Indikationsstellung für die spezifische Therapie einer Osteoporose bei hochbetagten Frakturpatientinnen und -patienten liegen.
Mit dem humanisierten Sklerostinantikörper Romosozumab (Evenity®) ist ein neuer Wirkstoff mit grossem Wirkpotenzial für die Osteoporosetherapie verfügbar geworden. Die Kontraindikation bei Vorliegen eines kardiovaskulären Ereignisses in der Anamnese sowie die Notwendigkeit zur einmal monatlichen s.c.-Injektion sind allerdings Schwachstellen im Hinblick auf eine Anwendung bei betagten Frakturpatientinnen und -pa­tienten. Fast gleichzeitig wurden durch den Wegfall des Patentschutzes Generika des bislang einzigen osteoanabolen Medikaments Teriparatid (Forsteo®) mit deutlich geringeren Behandlungskosten pro Monat verfügbar. Mit Abaloparatid wurde im Dezember 2022 ein weiteres osteoanabol wirkendes Molekül für die Therapie in der EU zugelassen [1], und in der Schweiz wurde das Zulassungsverfahren im Dezember 2022 eröffnet. Den genannten Medikamenten haftet allerdings allesamt der Nachteil an, dass sie eine s.c.-Injektion erfordern. Damit ist der Kreis möglicher Anwender unter hochbetagten Frakturpatient-innen natürlicherweise begrenzt. In Summe kann trotzdem festgehalten werden, dass die osteoanabolen Osteoporose-Therapieoptionen erweitert worden sind.
Schon lange bekannt und deshalb auch im FRAX-Algorithmus berücksichtigt ist die Tatsache, dass eine Fraktur in der Anamnese als Hauptrisikofaktor für das Erleiden von weiteren Frakturen zu betrachten ist. Die aktuelle ­Datenlage zeigt, dass dieser Effekt in den ersten beiden Jahren nach Erleiden der «Index-Fragilitätsfraktur» am stärksten ausgeprägt ist [2]. Auch aufgrund dieser Erkenntnis wurde zuletzt das Konzept des «Imminent ­Fracture Risk» neu in die Behandlungsalgorithmen und Therapieleitlinien eingeführt und mit einer breiten Therapieindikation verknüpft: Möglichst jede_r betagte Frakturpatient_in soll zeitnah zur Index-Fragilitätsfraktur eine spezifische Osteoporosetherapie erhalten [3]. Im Fall einer vertebralen oder anderen typischen Osteoporosefraktur sogar primär eine osteoanabole. Mit diesem Vorgehen soll das Ziel erreicht werden, eine möglichst grosse Zahl von Frakturen zu vermeiden, weil eine im Sinne der Frakturvermeidung effektive Therapie in der Phase mit dem höchsten Refrakturrisiko durchgeführt wird. Diese Empfehlung wird auch von der Schweizer Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO) als der nationalen Fachorganisation mitgetragen [3].
Für Personen, die aufgrund ihres Alters und des Allgemeinzustandes das Ende eines geplanten Therapieintervalls mit grosser Wahrscheinlichkeit erleben, ist diese Empfehlung sicher als evidenzbasiert zu betrachten. Dass spezifische Osteoporose-Medikamente bis ins hohe Alter wirken, wurde gezeigt [4]. Unter Wirkeintritt verstehen wir in diesem Zusammenhang den Zeitpunkt, ab welchem sich die Refrakturrate in der placebokontrollierten Studie beim Verumarm im Vergleich zum Placeboarm erkennbar vermindert. Und das findet – je nach Molekül und Anwendungsform unterschiedlich – jedoch nicht vor dem Ablauf von 12 Monaten seit Therapiebeginn statt [4].
In der Patientenpopulation «hochbetagte Frakturpa­tient_innen» fällt eine markante Übersterblichkeit im ­Vergleich zur naturgemäss ohnehin schon hohen Mortalität der altersentsprechenden Referenzpopulation auf [5]. In Kombination könnten diese Fakten – also Übersterblichkeit und Latenz bis zum Wirkeintritt – dazu führen, dass die erhoffte frakturvermeidende Wirkung einer neu begonnenen Osteoporosebehandlung von betagten Frakturpatient_innen gar nicht mehr erlebt wird. Ist dieses Szenario eher theoretischer Natur oder klinisch relevant? Und wie kann man diese komplexen Zusammenhänge in ein «Shared Decision Making» einfliessen lassen?

Indikationsstellung für eine medi­kamen­töse Osteoporose­therapie aufgrund eines indi­vi­duellen Gesprächs mit der/m Patientin/Patienten und/oder mit Angehörigen

Hierfür scheint uns eine neue Art der Darstellung erforderlich, mit der die Situation der individuellen Patientin/des individuellen Patienten reflektiert wird.
Auf der horizon­talen Achse ist die Zeit (Jahre) abgetragen. Auf der vertikalen Achse ist die Gesamtrisikoexposi­tion für das Erleiden einer weiteren Fragilitätsfraktur ­abgetragen. Unter Risikoexposition soll das im Verlauf aufgetretene Gesamtrisiko verstanden werden, dem der/die Patient_in beginnend vom Zeitpunkt t0 ausgesetzt war (Abb. 1).
Der/die Patient_in habe zum Zeitpunkt t0 eine erste Fragilitätsfraktur erlitten. Diese muss in Zukunft – neben möglichen anderen Risikofaktoren – bei der Berechnung des Gesamtrisikos für das Erleiden von weiteren Fragilitätsfrakturen in Betracht gezogen werden. Der Risikobeitrag durch die erste Fragilitätsfraktur ist gemäss jüngsten Untersuchungen in den ersten beiden Jahren höher – die Kurve der Gesamtrisikoexposition steigt deshalb auch in den ersten beiden Jahren nach der ersten Fraktur schneller an –, um danach etwas abzuflachen (rote Kurve).
Die Gesamtrisikoexposition kann vermindert werden, wenn nach der ersten Fragilitätsfraktur – leitliniengerecht – mit einer systemischen Osteoporosetherapie begonnen wird [6].

Dabei gilt es zu beachten:

  • Die Risikoreduktion fällt umso deutlicher aus, je effektiver der frakturreduzierende Effekt des eingesetzten Medikaments ist.
  • Es wird eine Latenzzeit von einem Jahr ab Therapie­beginn bis zum Einsetzen der Medikamentenwirkung im Sinn einer Reduktion des Refrakturrisikos angenommen.

Die Latenzzeit beginnt, nachdem die Medikamenteneinnahme begonnen und kontinuierlich fortgesetzt wurde. Diese Überlegungen sind grundsätzlich korrekt, wenn der/die Patient_in das gesamte geplante Therapieintervall erlebt, beziehungsweise wenn sie/er über diese ganze Zeit eine gute Compliance aufweist.
Gerade mit hochbetagten Patient_innen muss aber auch das in Abbildung 2 dargestellte Szenario diskutiert werden.
Je grösser die Gebrechlichkeit, umso grösser das ­Risiko, dass die betroffene Person möglicherweise stirbt, bevor das Therapieintervall beendet ist. Wegen der Latenz bis zum Wirkeintritt einer spezifischen Osteoporosetherapie könnte beim Tod der behandelten Person kurz nach Therapiebeginn die Situation entstehen, dass die erhoffte Wirkung nicht mehr erlebt wird. Ist dieses Ereignis eher theoretischer Natur oder klinisch relevant?
Um diese Frage zu beantworten, untersuchten wir anhand der bereits laufenden Qualitätssicherungsmassnahme über unseren «Fracture Liaison Service», wie häufig das oben beschriebene Szenario in einem Real World Setting auftritt [7, 8].
Von Januar 2021 bis Juni 2022 wurden alle Personen über 65 Jahre erfasst, die wegen einer Fraktur stationär behandelt wurden. Es waren 1381 Teilnehmende mit einem mittleren Alter von 83 Jahren. Ausgeschlossen wurden lediglich Patient_innen mit einem Hochenergietrauma als Unfallursache oder isolierte Finger, Zehen oder Schädelfrakturen ebenso wie Frakturen aufgrund von Knochenmetastasen.
Nachdem für 373 Teilnehmende die Resultate der 1-Jahres-Follow-up-Untersuchung vorliegen, zeigte sich der folgende Trend: Zwar erleiden tatsächlich 10 % der Patient_innen «at imminent fracture risk» schon im Folgejahr eine weitere Fraktur. Dagegen starben aber auch mehr als 30 % im gleichen Zeitraum!

Welche konkreten Handlungsanweisun­gen können daraus gezogen werden?

Weil diese Daten im Rahmen eines Qualitätssicherungsprogramms prospektiv gewonnen wurden, sind wir überzeugt, dass die genannten Prozentzahlen die Realität widerspiegeln.
Der FRAX-Algorithmus wird fortlaufend an neue Erkenntnisse angepasst [9, 10, 11]. In Zukunft werden mit lernenden Systemen sicher noch Softwaretools entwickelt [12], die uns Kliniker auch bei so komplexen Aufgaben wie einer individualisierten Indikationsstellung zur Osteoporosetherapie noch besser unterstützen. Bis es aber so weit ist, sind pragmatische Lösungen gefragt, um die neuen, intensiven Osteoporosemedikamente denjenigen Patient_innen zukommen zu lassen, die am meisten davon profitieren.
In der Palliativmedizin stehen Kolleginnen und Kollegen vor der noch viel schwierigeren Entscheidung: Soll eine kranke Person palliativ behandelt werden, ja oder nein? Dahinter verbirgt sich eine Frage, die nicht beantwortet werden kann: Wie lange hat dieser Mensch noch zu leben? Dieses Dilemma wird umgangen mit der «Question Surprise» [13] der Palliativmediziner_innen: «Würde es mich überraschen, wenn diese Person innerhalb der nächsten 12 Monate sterben würde?» Durch diesen Kunstgriff wird eine statistische, prozentuale Angabe in eine binäre «Ja oder Nein»-Entscheidung umgesetzt, ohne dass für diese «Konversion» ein fixer Schwellenwert angegeben werden muss.

Prinzipien der Palliativmedizin angewendet auf die Osteoporosetherapie

Die Problemstellung ist ähnlich gelagert wie die oben aufgeführte Situation in der Palliativmedizin: Das errechnete 10-Jahres-Frakturrisiko (FRAX) in Prozent muss in eine Therapieentscheidung «Ja oder Nein» umgesetzt werden. Für Patient_innen, die das Ende eines geplanten Therapiezyklus erleben, ist der Schwellenwert in Leitlinien festgelegt und bekannt. Für hochbetagte Frakturpatient_innen kann dieser wegen des relevanten, bei der Festlegung der Schwelle zur Therapieindikation nicht berücksichtigten Mortalitätsrisikos aber nicht einfach übernommen werden. Die Mortalität ist zwar z.B. im FRAX dahingehend berücksichtigt, dass die 10-Jahres-Frakturwahrscheinlichkeit im hohen Alter wieder sinkt – damit ist aber nicht abgebildet, dass die Wahrscheinlichkeit, den Therapieeffekt zu erleben, genauso absinkt.
Deshalb modifizieren wir die aus der Palliativmedizin bekannte «Surprise»-Frage für osteologische Zwecke wie folgt: «Würde es mich überraschen, wenn ich diese Person innerhalb des nächsten Jahres wegen einer weiteren Fraktur behandeln müsste?» Auf diese Art wird die gerade bei Hochbetagten relevante Frage nach der Restlebens­erwartung zwanglos mit dem errechneten Frakturrisiko verknüpft. Dadurch wird eine Risikoangabe in Prozent wie sie vom FRAX-Algorithmus erhalten werden kann, in eine binäre, d.h. «Ja oder Nein»-Antwort auf die Frage zur Therapieindikation umgewandelt [14]. Die Antwort auf die oben gestellte Frage kann uns helfen zu bestimmen, in welche Richtung wir unsere Therapieempfehlung formulieren sollen.

Prof. Dr.  Norbert Suhm

Leitender Arzt
Orthopädie und Traumatologie
Universitätsspital Basel
4031 Basel
Schweiz

norbert.suhm@usb.ch

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie
Manuskript akzeptiert: 15.02.2023

Danksagung
Wir danken AgNovos Healthcare, USA, für die finanzielle Unterstützung bei der Durchführung der Qualitätssicherungsmassnahme. Wir bedanken uns bei Frau Irina Fischer für das Korrekturlesen und die Unterstützung beim Editieren. Wir bedanken uns bei Mr. James Pilachowski für die digitale Umsetzung der Abbildungen.

ORCID
Norbert Suhm
https://orcid.org/0000-0001-8258-9944

  • Die Verfügbarkeit osteoanaboler Osteoporosetherapien wurde verbessert.
  • Deren Anwendung wird u.a. für Personen empfohlen, die in die Fraktur-Risikogruppe «Imminent Fracture Risk» fallen, d.h. für Personen im Alter von > 65 Jahren, die eine vertebrale oder sonstige Major Fragilitätsfraktur vor weniger als zwei Jahren erlitten haben.
  • Die Latenz bis zum Wirkeintritt einer neu begonnenen spezifischen Osteoporosetherapie beträgt je nach Medikament und Applikationsform bis zu 12 Monate. Bei der Indikationsstellung zur spezifischen Osteoporosetherapie bei hochbetagten Frakturpatient_innen könnte deshalb bei bis zu 30 % der Betroffenen der Fall eintreten, dass der erhoffte Therapieeffekt nicht mehr erlebt wird.
  • Die Beantwortung der für osteologische Zwecke modifizierten «Question Surprise»: «Wäre ich überrascht, wenn ich diese/n Patientin/Patienten während des nächsten Jahres wegen einer weiteren Fraktur behandeln müsste?» könnte hilfreich sein, um diejenigen Hochbetagten zu identifizieren, die von einer Osteoporosebehandlung wirklich profitieren würden, d.h., bei einer Nein-Antwort könnte das Pendel eher in Richtung einer Therapieindikation ausschlagen.
  • In diesem Fall sollte dann allerdings die Wahl tatsächlich eher auf eine intensive, osteoanabole Therapie fallen, denn eine jährliche Refrakturrate von über 10 % in dieser Subpopulation muss ernst genommen werden.
  • Unabhängig von der Entscheidung betreffend eine spezifische Therapie der Osteoporose versuchen wir bei jeder/m, hochbetagten Frakturpatientin/-patienten die Osteoporose-Basisprophylaxe sicherstellen zu können. Dazu gehört eine Vitamin-D-Supplementierung mit 800IE bis 1000IE täglich oder ein entsprechendes wöchentliches bis monatliches Aequivalent. Bei der Applikationsfrequenz berücksichtigen wir unter anderem den Aufwand für das Tropfenzählen bei der täglichen Gabe, insbesondere bei institu­tionalisierten Personen. Bei Neubeginn der Vitamin-D-Supplementierung geben wir einmalig die Lade-Dosis von 20 000IE. Vitamin-D-Spiegelbestimmungen führen wir bei diesem Vorgehen keine durch.
  • Calciumsupplemente setzen wir eher zurückhaltend ein. Stattdessen versuchen wir eine ausreichende tägliche Aufnahme über die Ernährung zu erreichen beziehungsweise über den Calciumgehalt des konsumierten Mineral-(Trink)-Wassers.

1. Siebebnand S. Neues Osteoporose-Mittel in der EU zugelassen. Pharmazeutische Z. 2013. https://www.pharmazeuti
sche-zeitung.de/neues-osteoporose-mittel-in-der-eu-zuge
lassen-137603/; letzter Zugriff: 22.02.2023.
2. Roux C, Briot K. Imminent fracture risk. Osteoporos Int. 2017;
28:1765–1769. DOI 10.1007/s00198-017-3976-5.
3. Ferrari S, Lippuner K, Lamy O, et al. 2020 recommendations for osteoporosis treatment according to fracture risk from the Swiss Association against Osteoporosis (SVGO). Swiss Med Wkly. 2020;150:w20352.

4. Rizzoli R, Branco J, Brandi M-L, et al. Management of osteoporosis of the oldest old Osteoporos Int. 2014;25:2507–2529. DOI 10.1007/s00198-014-2755-9.
5. Li N, Hiligsmann M, Boonen A, et al. The impact of fracture liaison services on subsequent fractures and mortality: a systematic literature review and meta-analysis. Osteoporos Int. 2021;32:1517–1530. https://doi.org/10.1007/s00198-021-05911-9.
6. Ayers C, Kansagara D, Lazur B, Fu R, Kwon A, Harrod C. Effectiveness and Safety of Treatments to Prevent Fractures in People With Low Bone Mass or Primary Osteoporosis: A Living Systematic Review and Network Meta-analysis for the American College of Physicians. Ann Intern Med. 2023;176(2):182–195. DOI: 10.7326/M22-0684.
7. Geiger I, Kammerlander C, Höfer C, et al. Implementation of an integrated care programme to avoid fragility fractures of the hip in older adults in 18 Bavarian hospitals – study protocol for the cluster-randomised controlled fracture liaison service FLS-CARE. BMC Geriatr. 2021;21(1):43. DOI: 10.1186/s12877-020-01966-1.
8. Javaid MK, Sami A, Lems W, et al. A patient-level key performance indicator set to measure the effectiveness of fracture liaison services and guide quality improvement: a position paper of the IOF Capture the Fracture Working Group, National Osteoporosis Foundation and Fragility Fracture Network. ­Osteoporos Int. 2020;31(7):1193–1204. DOI: 10.1007/s00198-020-05377-1.
9. Kanis JA, Johansson H, Harvey NC, et al. The use of 2-, 5-, and 10-year probabilities to characterize fracture risk after a recent sentinel fracture. Osteoporosis Int. 2021;32:47–54.
10. Järvinen TL, Jokihaara J, Guy P, Alonso-Coello P, Collins GS, Michaëlsson K, Sievänen H. Conflicts at the heart of the FRAX tool. CMAJ. 2014;186(3):165–167. DOI: 10.1503/cmaj.121874.
11. Vandenput L, Johansson H, McCloskey EV, et al. Update of the fracture risk prediction tool FRAX: a systematic review of potential cohorts and analysis plan. Osteoporos Int. 2022;33(10):2103–2136. DOI: 10.1007/s00198-022-06435-6.
12. Blaker K, Wijewardene A, White E, et al. Electronic search ­programs are effective in identifying patients with minimal trauma fractures. Osteoporos Int. 2022;33(2):435-441. DOI: 10.1007/s00198-021-06105-z.
13. Downar J, Goldman R, Pinto R, Englesakis M, Adhikari NK. The “surprise question” for predicting death in seriously ill ­patients: a systematic review and meta-analysis. CMAJ. 2017;189(13):E484-E493. DOI: 10.1503/cmaj.160775.
14. Morgott M, Heinmüller S, Hueber S, Schedlbauer A, Kühlein T. Do guidelines help us to deviate from their recommendations when appropriate for the individual patient? A systematic ­survey of clinical practice guidelines. J Eval Clin Pract. 2020;26(3):709–717. DOI: 10.1111/jep.13187.

Kein Stadt-Land Gefälle bei Hodenkrebs im Kanton Bern

Hodenkrebs stellt eine in hohem Masse heilbare Erkrankung bei Männern dar. Ältere Berichte weisen auf ein Stadt-Land Gefälle mit weiter fortgeschrittenen Erkrankungen und schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Gebieten hin. In einer Patientenkohorte von 296 Männern mit Hodenkrebs des Inselspitals Bern fanden wir im Zeitraum 2010-2020 keine klinisch relevanten Unterschiede in Präsentation, Therapie und Behandlungsergebnis abhängig von der Wohnregion der Patienten.

Einführung

Hodenkrebs kann seit der Einführung Cisplatin-basierter Chemotherapien selbst in den weit metastasierten Tumorstadien geheilt werden. [1] Das häufigste Frühsymptom ist eine tastbare Verhärtung oder eine Vergrösserung des Hodens, die schmerzhaft oder schmerzlos sein kann und von den meisten Betroffenen selbst bemerkt wird. Verwechslungen mit einer Epidydimitis sind häufig. Sofern die Diagnose frühzeitig gestellt wird, kann bei einer auf den Hoden beschränkte Erkrankung die alleinige Entfernung des befallenen Hodens ausreichend sein. Metastasierte Patienten und Patienten mit primär extragonadalen Tumoren benötigen in der Regel eine Chemotherapie mit drei bis vier Zyklen Cisplatin-basierter Chemotherapie. Weniger häufig wird in der Schweiz eine Bestrahlung oder eine primäre Resektion von abdominellen Lymphknotenmetastasen eingesetzt. [2]
Allerdings berichteten Hölzel et al 1991 in einer viel beachteten Veröffentlichung von einem erheblichen Stadt-Land Gefälle mit schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Regionen in Deutschland selbst 10 Jahre nach Zulassung von Cisplatin. [3] Wir stellten uns die Frage, ob ein solches Stadt-Land Gefälle in der Schweiz heute noch existiert. Zu diesem Zweck untersuchten wir eine Kohorte konsekutiver Patienten, die in den Jahren 2010 bis 2020 am Inselspital Bern diagnostiziert und behandelt wurden, hinsichtlich Tumorgrösse und Stadium bei Primärpräsentation sowie Behandlungserfolg abhängig von der Wohnregion der Patienten.

 

Material und Methoden

Patienten wurden anhand von Operationsberichten, Anmeldungen bei Tumorkonferenzen und Verordnungen von Chemotherapien identifiziert. Die Behandlungen, der Behandlungserfolg und die Nachsorge wurde mittels Arztberichten nachvollzogen. Wo nötig wurden nachsorgende Praxen und Spitäler angeschrieben und zusätzliche Nachsorgeinformationen eingeholt. Die Stadieneinteilung erfolgte nach der Klassifikation der Union for International Cancer Control (UICC). Die prognostische Einteilung metastasierter Patienten erfolgte zusätzlich nach der Klassifikation der International Germ Cell Cancer Cooperative Group (IGCCCG). [4] Die Zuordnung der Patienten zu einer städtischen, intermediären oder ländlichen Wohnregion erfolgte über die Stadt/Land-Typologie 2012 des Bundesamtes für Statistik. [5] Die Darstellung der Überlebenswahrscheinlichkeiten erfolgte nach der Methode von Kaplan und Meier. Hierzu wurde das Programm STATA (StatCorp, College Station, Texas, USA, Version 16.1) eingesetzt. Das progressionsfreie Überleben wurde definiert als der Zeitraum zwischen der Erstdiagnose und dem Zeitpunkt des Auftretens eines Progresses oder dem Tod des Patienten, je nachdem welches Ereignis früher auftrat, das Gesamtüberleben als der Zeitraum von der Erstdiagnose bis zum Tod jedweder Ursache bzw. der letzten bekannten Nachbeobachtung. Patienten bei denen die Nachsorge nicht weiter eruiert werden konnte, wurden zum Zeitpunkt des letzten Patientenkontaktes zensiert. Der letzte Erfassungszeitpunkt für alle Patienten war der 31.12.2022.

Ergebnisse

Patientenkollektiv

Die Patientenkohorte umfasste insgesamt 296 Patienten. Details zu den Patientencharakteristika findet sich in Tabelle 1. Etwa die Hälfte der Patienten befanden sich in einem klinischen Stadium I mit auf den Hoden beschränkter Erkrankung. Die übrigen Patienten waren zum Diagnosezeitpunkt bereits metastasiert allerdings zumeist in einer günstigen Prognosegruppe nach der IGCCCG Klassifikation.

Durchgeführte Therapien

Gemäss internationalen Empfehlungen bestand die häufigste Behandlungsstrategie für Patienten im Stadium I in einer aktiven Überwachung, d.h. mit alleiniger regelmässiger Nachbeobachtung nach erfolgter Orchiektomie (Tabelle 2). Somit konnten 86/153 (56%) Patienten im Stadium I eine weitere Therapie nach Orchiektomie erspart werden. Insgesamt 37/153 (24%) Patienten rezidivierten aus einem Stadium I und wurden wie primär metastasierte Patienten behandelt. Primär metastasierte oder Patienten mit Rezidiv aus einem initialem Stadium I erhielten mehrheitlich eine Chemotherapie Cisplatin, Etoposid und Bleomycin.

Behandlungserfolg

Patienten wurden im Median 49 Monate nachbeobachtet (Interquartile Range 25-85 Monate). Zum Zeitpunkt der letzten Nachbeobachtung waren 272/296 (92%) Patienten krankheitsfrei und 21/296 (7%) Patienten waren verstorben, bei 3/296 (1%) war die Nachsorge abgebrochen. Die Todesursache war bei 12 Patienten die Tumorerkrankung, bei 4 Patienten verblieb die Todesursache unklar, 5 starben an anderen Ursachen. Die progressionsfreie Überlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug für die gesamte Kohorte 76% bzw. 73%, die Gesamtüberlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug 93% (Abbildung 1).

Vergleich der Regionen

Die Primärpräsentation abhängig vom Wohnort der Patienten ist in Tabelle 3 dargestellt. Somit wurden Patienten in ländlichen Regionen nicht mit weiter fortgeschrittenen Tumoren diagnostiziert als in städtischen Regionen. Die progressions-freie Überlebenswahrscheinlichkeit und die gesamte Überlebenswahrscheinlichkeit unterschieden sich ebenfalls nicht (Abbildungen 1 und 2).

Diskussion

Seit der Einführung von Cisplatin in die Behandlung vor ca. 40 Jahren wird die Mehrzahl der Männer mit Hodenkrebs geheilt. Seither haben sich die Behandlungsergebnisse kontinuierlich weiter verbessert. [6] Heutzutage können über alle Stadien hinweg mehr als 90% der Betroffenen mit einer Heilung ihrer Krebserkrankung rechnen. Allerdings weisen ältere Berichte darauf hin, dass Männer aus ländlichen Regionen mit weiter fortgeschrittenen Tumoren bzw. in höheren Tumorstadien diagnostiziert werden und insgesamt schlechtere Behandlungsergebnisse erfahren als Männer aus städtischen Regionen.

In einer Kohorte konsekutiver Patienten mit Hodenkrebs, die in den Jahren 2010-2020 am Inselspital in Bern diagnostiziert und behandelt wurden, fanden wir keine klinisch relevanten Unterschiede abhängig von der Wohnregion der Betroffenen. Dies kann im Gegensatz zu früheren Jahren einer besseren Körperwahrnehmung und an einem besseren Gesundheitsbewusstsein von Männern liegen, an einem verbesserten Wissen über Hodenkrebs unter Ärztinnen und Ärzten in ländlichen Regionen oder an einer schnelleren Überweisungspraxis an ein Hodenkrebszentrum wie das Inselspital Bern. Wesentliche Einschränkungen der Analyse sind ein Selektionsbias, da nur Patienten des Inselspitals Bern untersucht wurden und der retrospektive Studienansatz. Zudem ist die Zahl der Patienten aus intermedären und ländlichen Gebieten im Vergleich zum städtischen Einzugsgebiet deutlich geringer. Vor allem aber ist unklar, ob die Ergebnisse aus dem Kanton Bern auf andere Regionen der Schweiz oder an in der Behandlung von Hodenkrebs weniger erfahrene Krebszentren übertragbar sind. Diese Frage wird in weiteren Analysen untersucht werden.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
AFP Alpha-Fetoprotein
HCG Humanes Choriongonadropin
IGCCCG International Germ Cell Cancer Cooperative Group
UICC Union for International Cancer Control

Prof. Dr. med. Jörg Beyer

Universitätsklinik für Medizinische Onkologie
Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
Freiburgstrasse 41
3010 Bern

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

  • Historie
    Manuskript eingereicht: 06.06.2023
    Nach Revision angenommen: 05.09.2023

 

  • Männer mit Hodenkrebs können mehrheitlich geheilt werden
  • Es gibt im Kanton Bern keine klinisch relevanten Unterschiede bei Diagnose und Behandlungserfolg unter Männern aus städtischen oder ländlichen Regionen

1. Honecker F, Aparicio J, Berney D, et al. ESMO Consensus Conference on testicular germ cell cancer: diagnosis, treatment and follow-up. Ann Oncol 2018;29:1658-1768.
2. Beyer J, Berthold D, Bode PK, et al. Swiss germ-cell cancer consensus recommendations. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30023.
3. Hölzel D, Altwein JE. Hodentumoren. Ist der Rückgang der Mortalität in der Bundesrepublik Deutschland zu langsam erfolgt? Dtsch Ärztebl 1991;88:A-4123-4130.
4. The International Germ Cell Cancer Collaborative Group. International germ cell consensus classification: A prognostic factor-based staging system for metastatic germ cell cancers. J Clin Oncol 1997; 15: 594–603.
5. Bundesamt für Statistik, Räumliche Verteilung. Available at: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/raeumliche-verteilung.html (Letzer Zugriff: 26.11.2022).
6. Fankhauser CD, Sander S, Roth L, et al Improved survival in metastatic GCC. Ann Oncol 2018; 29: 347-351.