Freiheitsbeschränkende Massnahmen in der Alterspsychiatrie

Freiheitsbeschränkende Massnahmen (FbM) umfassen bewegungseinschränkende Massnahmen und die Behandlung ohne Zustimmung (BoZ) entsprechend dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB). In der stationären Alterspsychiatrie werden häufig nicht urteilsfähige Patientinnen und Patienten behandelt, die neben der psychischen Erkrankung somatisch multimorbid sind. Bei dieser Patientengruppe kommen wiederholt bewegungseinschränkende Massnahmen zur Sturzprävention und Isolationen aufgrund von Hygienevorschriften bei Infektionskrankheiten zum Einsatz und es werden BoZ durchgeführt, die von den Betroffenen ohne erkennbare Ablehnung toleriert werden, die aber wegen der fehlenden Zustimmung als FbM zu erfassen sind. Der Nationale Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ) hat die Alterspsychiatrie neu als eigene Klinikkategorie eingeführt. Wir nehmen dies als Anlass, insbesondere auch FbM in dieser Klinikkategorie differenziert zu betrachten.

Einleitung

In der stationären Alterspsychiatrie (AP) werden insbesondere bei den auf den kantonalen Spitallisten verzeichneten psychiatrischen Grundversorgern zahlreiche Patientinnen und Patienten behandelt, die aufgrund erheblicher kognitiver Einschränkungen umfassend und dauerhaft nicht urteilsfähig sind. Regelmässig ist eine Agitiertheit verbunden mit Aggressivität im Rahmen von Delirien der Grund für einen akutpsychiatrischen Spitaleintritt. Oft liegt gleichzeitig eine erhebliche krankheits- und/oder medikamentös bedingte Sturzneigung vor, deren Risiko die Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Urteilsunfähigkeit nicht ausreichend oder gar nicht einschätzen können. Aus den genannten Gründen ist bei diesen Patientinnen und Patienten häufig über den Einsatz von bewegungseinschränkenden Massnahmen und die Behandlung ohne Zustimmung (BoZ) zu entscheiden. Begrifflich zusammengefasst werden beide als Freiheitsbeschränkende Massnahmen (FbM). Wegen der fehlenden rechtsgültigen Zustimmung, erfolgt auch ohne erkennbare verbale oder physische Ablehnung die Erfassung als freiheitsbeschränkende Massnahme. Diese im Hinblick auf ihre Invasivität sehr heterogenen Massnahmen sollen hier mit einem Fokus aus der Perspektive der AP diskutiert werden.

Begriffsdefinitionen und rechtliche Grundlagen

Rechtlich relevant sind – trotz ihres rechtlich unterschiedlichen Status – neben dem ZGB die medizin-ethischen Richtlinien «Zwangsmassnahmen in der Medizin» (2015) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), die über das ärztliche Standesrecht bindend sind («Soft Law»).
In diesem Text verwenden wir den Begriff der FbM entsprechend der Definition des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (Association ­nationale pour le développement de la qualité dans les hôpitaux et les cliniques; ANQ)1. Spitäler und Kliniken sind freiwillig einem Vertrag, der auf gesetzlichen Grundlagen basiert, mit dem ANQ beigetreten mit dem Ziel, FbM entsprechend den Vorgaben des ANQ zu erfassen. Die Begrifflichkeit des ANQ ist deshalb in den Institutionen stark präsent. Begriffe wie «Zwangsmassnahmen» werden jedoch weder im ZGB noch beim ANQ verwendet.
Der Begriff der FbM ist dabei weniger als Oberbegriff im formalrechtlichen Sinne anzusehen, sondern dient der Zusammenfassung der zu erfassenden Massnahmen. Die Rechtsgrundlage bzw. der Rahmen für eine FbM ist in der AP typischerweise die Fürsorgerische Unterbringung (FU). Das ZGB enthält einen Abschnitt mit den Artikeln 426 bis 439 zur Regelung der FU. Grundsätzlich möglich und für die AP relevant, kann eine FU auch mit schwerer Verwahrlosung begründet werden, wobei sie dann ohne Behandlungsziel und somit lediglich zur Betreuung erfolgt (Art. 426, Abs. 1) sofern die Verhältnismässigkeit gegeben ist und nicht z.B. die häusliche Unterstützung oder Platzierung in einer Pflegeeinrichtung geeigneter wäre.
Zu den FbM nach ANQ-Definition zählen bewegungseinschränkende Massnahmen nach Art. 383 ff und 438 ZGB und die BoZ nach Art. 434 ZGB (mit FU) und 379 und 435 ZGB (ohne FU, z.B. wenn die anfechtbare Verfügung erst nach einer notfallmässigen Intervention verfügt werden kann).
Willigt eine urteilsfähige Person in eine FbM ein, gilt dies nicht als Zwangsmassnahme. Zu beachten ist aber, dass die Einwilligung einer nicht-urteilsfähigen Person nicht als rechtsgültig anzusehen ist. Für die Bewertung unter ethischen Gesichtspunkten spielt eine solche Einwilligung einer urteilsunfähigen Person aber durchaus eine Rolle.
Die BoZ gilt als stärkste FbM. Die Behandlung darf deshalb nur bei betreffend die Behandlung nicht urteilsfähigen
Personen erfolgen. Es muss zudem eine ernsthafte Gefährdung und eine Verhältnismässigkeit der Massnahme vor­liegen. Auch die BoZ wird zumeist im Rahmen einer FU oder im Notfall durchgeführt. Findet diese Behandlung einer psychischen Erkrankung in einer psychiatrischen Einrichtung statt, liegen die Entscheidungen nicht bei den vertretungsberechtigten Personen, sondern bei den behandelnden Chefärztinnen und -ärzten2. Erforderlich ist jedoch ein Behandlungsplan (Art. 433), welcher unter Beizug der betroffenen Person und ggf. ihrer Vertrauensperson zu erstellen ist. Der Behandlungsplan stellt die Grundlage für eine BoZ dar. Die gesetzlichen Anforderungen an den Behandlungsplan sind hoch und umfassen Gründe, Zweck, Art, Modalitäten, Risiken und Nebenwirkungen der geplanten medizinischen Massnahme, sowie Angaben über Folgen eines Unterlassens der Behandlung und über allfällige alternative Behandlungsmöglichkeiten. Viele Patientinnen und Patienten der AP dürften deshalb für die Zustimmung urteilsunfähig sein.
Von grosser Bedeutung für die rechtliche Bewertung ist die Definition von Zwang. Im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungen wird der Begriff «Zwang» im ZGB nicht verwendet. Für eine ethische Bewertung und die Invasivität der Massnahme ist aber die Unterscheidung zwischen der Behandlung mit Einwilligung der betroffenen nicht-urteilsfähigen Person und deren aktivem Widerstand sehr wichtig. Die Notwendigkeit der Zustimmung hat für die AP weitreichende Konsequenzen, da sie von urteilsunfähigen Personen mit schweren kognitiven Defiziten weder rechtsgültig noch im Sinne einer eindeutigen Willens­bekundung erteilt werden kann. Dies beginnt schon beim Spitaleintritt, der aufgrund der fehlenden eindeutigen Zustimmung oft im Rahmen einer FU erfolgt, die auch die Aufnahme auf einer geschlossenen Station umfasst, was dann auch eine Einschränkung der persönlichen Freiheit darstellt. Diese Patientinnen und Patienten können sodann auch nicht in die weiteren FbM, wie beispielsweise dies bei sturzpräventiven Fixierungen am Stuhl mittels Softgurt, einwilligen. Aus diesem Grund sind auch diese Massnahmen als FbM zu erfassen. Es spielt dabei keine Rolle, wenn diese FbM von den Patientinnen und Patienten gar nicht bemerkt werden, was sehr häufig der Fall ist.

Erfassung von FbM

Stationäre psychiatrische Behandlungseinrichtungen sind gesetzlich verpflichtet, FbM zu dokumentieren. Zuständig für die zentrale Erfassung ist der ANQ. Die folgenden FbM werden erfasst und für ein Benchmarking ausgewertet.

• Isolation (psychiatrisch vs. infektiologisch/somatisch)
• Fixierungen
• Zwangsmedikation (oral vs.Injektion)
• Festhalten
• Bewegungseinschränkungen im Stuhl
• Bewegungseinschränkungen im Bett

Für jede Massnahme sind jeweils Beginn und Ende zu erfassen (nur Zeitpunkt für die BoZ). Es existieren noch zahlreiche weitere Massnahmen, welche von der Definition der FbM der ANQ nicht erfasst werden. Diese Massnahmen, wie zum Beispiel die 1:1-Betreuung oder Ausgangsbeschränkungen greifen ebenfalls in die persönliche Freiheit ein. Sie entsprechen als freiheitseinschränkende Massnahmen einer weiter gefassten Definition der
FbM3.
Da die AP erst seit 2023 eine eigene Klinikkategorie im ANQ-System bildet, liegen wenig Daten zu Häufigkeiten in der AP vor. Im Durchschnitt sind etwa 11% der in ­stationärer Behandlung bei einem psychiatrischen Grundversorger befindlichen Patientinnen und Patienten von einer FbM betroffen [1]. Der ANQ erhebt keine Daten zu FbM in der Akutsomatik. Im Rahmen von Studien erhobene Daten aus der Schweiz weisen auf nur leicht niedrigere Raten hin, wenn der im Durchschnitt deutlich kürzere Aufenthalt im Spital berücksichtigt wird [2].

Bewegungseinschränkende Massnahmen

Wie bereits ausgeführt umfasst der Begriff der FbM die BoZ und die bewegungseinschränkenden Massnahmen. Unter letzteren versteht man mechanische Massnahmen, die nicht primär der Behandlung, sondern der Abwendung von Schaden für die Patientin bzw. den Patienten oder Dritte dienen. Gesetzlich geregelt ist diese Gruppe von Massnahmen in Art. 383 ZGB der primär formuliert wurde für Wohn- und Pflegeeinrichtungen. Zu den Voraussetzungen zählen die akute Eigen- oder Fremdgefährdung, zudem dürfen
keine weniger invasiven Alternativen geeignet sein. Die betroffene Person muss vorgängig informiert werden und die Massnahme muss zeitlich so kurz wie möglich gehalten werden, zudem regelt Art. 384 ZGB die Pflichten bei der Dokumentation. Im Sinne des Erwachsenenschutzrechts bzw. des ZGB gehören medikamentös verursachte Bewegungseinschränkungen nicht zu den Bewegungseinschränkungen nach Art. 383 ZGB, sondern stellen eine medizinische Massnahme dar.

Bewegungseinschränkung zur Sturzprävention

Stürze im Alter sind häufig und haben unterschiedliche Gründe. Diese umfassen Störungen der Sensorik (Hindernisse werden übersehen; Bodenunebenheiten schlechter gespürt etc.), des Bewegungsapparats (Muskelschwund verhindert rasche Ausgleichsbewegungen) und ausserdem verursachen Hirnerkrankungen (z.B. Demenzen) Störungen der Koordination. Kognitive Störungen erhöhen jedoch nicht nur die Sturzhäufigkeit sondern auch das Risiko sich bei Stürzen zu verletzen [3]. Diese Faktoren bestehen dauerhaft, können aber z.B. durch Physiotherapie, Sehhilfen etc. abgeschwächt werden. Insbesondere in der stationären Akutalterspsychiatrie kommen jedoch weitere Faktoren dazu: Hierzu gehört die akute psychische Erkrankung, die verbunden mit z.B. Bewegungsdrang, akuter Verwirrtheit oder Halluzinationen, die Sturzgefahr erhöht. Hinzu kommen zahlreiche Psychopharmaka mit Stürzen als unerwünschte Medikamentenwirkung. Beobachtungsstudien aus der alterspsychiatrischen Akutalterspsychiatrie zeigen entsprechend auch hohe Sturzhäufigkeiten von 17 Stürzen pro 1000 Pflegetagen [4]. Internationale Empfehlungen schlagen ein multifaktorielles Assessment der Sturzneigung vor. Dies umfasst z.B. die Erfragung von Stürzen in der Vorgeschichte, den klinischen Eindruck und den Einsatz von Fragebögen zur Sturzangst [5]. Präventiv wird in erster Linie auf Schulungen verwiesen, die sich bei kognitiv beeinträchtigen Personen primär an das Umfeld richten. Grosse Bedeutung haben aber auch die Umgebungsgestaltung (Vermeidung der Stolperfallen, gute Beleuchtung), die Bewegung und die Physiotherapie.
Neben den genannten therapeutischen Ansätzen werden auch bewegungseinschränkende Massnahmen zur Reduktion der Sturzgefährdung eingesetzt. Von besonderer
Bedeutung in der AP sind mechanische Bewegungseinschränkungen wie beispielsweise Softgurte und Steckbretter an Rollstühlen. Nur noch selten im Einsatz sind Bettgitter, da diese die Sturzhöhe vergrössern. Eine Klingelmatte  liegt vor dem Bett der Patientinnen und Patienten und alarmiert (z.B. über Funk) das Pflegeteam sobald jemand drauftritt. Der Einsatz von Klingelmatten zeigt beispielhaft, wie unterschiedlich die Sicht auf derartige Massnahmen ist. In einigen Institutionen wird sie als FbM erfasst. Für den ANQ fällt sie aber nicht in diese Kategorie, da diese Massnahme als wenig invasiv gilt und zudem hilft, invasivere Massnahmen (insb. die Fixierung am Bett) zu verhindern. Die Klingelmatte ist keine Bewegungseinschränkung, wenn sie nur dazu dient, dass Patientinnen und Patienten Hilfe beim Aufstehen erhalten. Vom Einzelfall abhängig ist der Einsatz von tiefen Stühlen und Sofas sowie Sitzsäcken und Bodenbetten, die für gebrechliche Patientinnen und Patienten das Aufstehen unmöglich machen können und deshalb im konkreten Fall als bewegungseinschränkende Massnahmen im Sinne des ZGB anzusehen sind.

Ausgangsbeschränkungen und weitere bewegungseinschränkende Massnahmen

Beschränkungen des Ausgangs sind häufige Massnahmen in der stationären Psychiatrie, beispielsweise wenn eine suizidale Patientin bzw. ein suizidaler Patient nicht ohne geeignete Begleitung oder nur mit zeitlicher Begrenzung die Station verlassen darf. In der AP werden Ausgangsbeschränkungen und dauerhaft geschlossene («geschützte») Stationen häufig eingesetzt, wenn Patientinnen und Patienten aufgrund von Desorientiertheit nicht alleine auf die Station zurückfinden bzw. sich verirren können oder davon ausgegangen werden muss, dass im Ausgang eine hohe Gefährdung durch Stürze besteht. Da diese Form der FbM nicht explizit vom ANQ erfasst wird, steht sie weniger in der Diskussion. Für den Teil der Patientinnen und Patienten mit fehlender Krankheitseinsicht ist diese Massnahme jedoch eine relevante Einschränkung. Dies gilt auch für weitere von der SAMW aufgelistete Massnahmen, wie z.B. die Beschränkung von Besuchsmöglichkeiten, der Zugang zu gesundheitsschädlichen Genussmitteln oder auch der Entzug des Mobiltelefons. Häufiger in der Somatik aber auch in der stationären Psychiatrie vorkommend sind bewegungseinschränkende Massnahmen mit dem Ziel, z.B. die ­Entfernung von Infusionsbesteck, einer Nasensonde oder einem Blasenkatheter zu verhindern.

Bewegungseinschränkende Massnahmen aufgrund infektiologischer Gesichtspunkte

Nicht nur die COVID-Pandemie, sondern auch andere infektiologische Erkrankungen (z.B. Norovirus) machen Isolationen von Patientinnen und Patienten erforderlich, die aufgrund der fehlenden Urteilsfähigkeit den Sinn der Massnahme nicht verstehen und deshalb eine FbM bei ANQ zu erfassen ist. Anders als Bewegungseinschränkungen aus psychiatrischer Sicht werden diese aufgrund einer infektiologischen Indikation verordnet und können meist nicht durch andere Massnahmen verhindert werden. Hier bestehen Überschneidungen mit der weiter oben erwähnten Ausgangsbeschränkung, wenn z.B. ganze Stationen isoliert werden müssen.

Folgen bewegungseinschränkender Massnahmen für ältere Menschen

Beim Einsatz von bewegungseinschränkenden Massnahmen zur Sturzvermeidung ist jeweils zwischen den Folgen durch Stürze (Verletzungen, Sturzangst) und den psychischen und somatischen Nachteilen durch die Massnahme abzuwägen. Sobald durch die Beschränkung eine gewohnte Bewegung nicht mehr möglich ist (z.B. das Aufstehen bei Fixierung mit Softgurt), kann dies zu Verunsicherung und Unruhe führen. Auch die soziale Teilhabe kann gefährdet sein, wenn Personen abseits vom Stationsgeschehen fixiert werden. Zu beachten sind aber auch nachteilige Folgen direkt durch die Immobilisierung. Diese reichen von Thrombosen über erheblichen Muskelschwund und Krafteinbussen bis hin zu einer längerfristig erhöhten Sturzneigung, weil Bewegungsabläufe nicht mehr trainiert werden. Gerade im akutpsychiatrischen Setting, mit den oft durchgeführten raschen Medikamentenumstellungen muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass die Sturzneigung kurzfristig erheblich erhöht sein kann. Es liegen jedoch keine Daten aus dem Akutsetting vor, die den Nutzen bewegungseinschränkender Massnahmen für die längerfristige Mobilität belegen [6]. Eher können sie Risikofaktor für Stürze sein [7]. Stürze sind zwar im alterspsychiatrischen Setting aufgrund der Patientencharakteristika und des akuten Zustandsbildes häufig, doch die Folgen von Stürzen scheinen in den meisten Fällen nicht schwer zu sein [8]. Weiter kommen Stürze häufig beim Transfer und im eigenen Zimmer vor [8, 9], was nur bedingt durch bewegungseinschränkende Massnahmen verhindert werden kann.
Oft sind es die Pflegefachpersonen, die Ärztinnen und Ärzten Empfehlungen für oder gegen bewegungseinschränkende Massnahmen abgeben [10]. Im Vordergrund steht dabei das Verantwortungsgefühl für die unmittelbare Sicherheit der Patientinnen und Patienten und weniger die mittel- und langfristigen Folgen [11,12].
Befragungen zur rückblickenden Betrachtung von Bewegungseinschränkungen bei dementiell veränderten Menschen sind naturgemäss schwierig. Erhebungen bei nicht-dementen Patientinnen und Patienten unter 65 Jahren weisen zumindest darauf hin, dass ältere Betroffene Bewegungseinschränkungen kritischer sehen als jüngere [13]. Diese Befragungen sind wichtig, weil sie einschätzen helfen, ob die Massnahmen im Sinne der Patientin bzw. des Patienten waren.

Alternativen zu bewegungs­einschränkenden Massnahmen

Aufgrund der negativen Folgen von mechanischen bewegungseinschränkenden Massnahmen ist es wichtig, Alternativen zu berücksichtigen. Präferiert sind Verfahren, die weniger invasiv sind als Bewegungseinschränkungen an Bett oder Stuhl. Hierzu zählen z.B. die verschiedenen Ansätze der basalen Stimulation der Sinne (Massage, Aromen, gleichmässige Bewegungen). Die Evidenz basiert jedoch oft nur auf der klinischen Erfahrung. Insbesondere bei der akuten Sturzgefahr muss als Alternative häufig auf die 1:1-Betreuung zurückgegriffen werden. Bei dieser wird die Patientin oder der Patient durchgehend von Personal begleitet, welches z.B. beim Aufstehen aus dem Rollstuhl eingreifen kann. Dies ist verbunden mit hohen organisatorischen und finanziellen Aufwänden für die Klinik. Für einen Teil der Patientinnen und Patienten ist diese Massnahme zudem aufgrund der ständigen Beobachtung durch eine physisch vorhandene Person unangenehm und wird als invasiv empfunden. Beim ANQ wird dies jedoch nicht als FbM erfasst. Insbesondere beim Einsatz von Bewegungseinschränkung zur Sturzprävention ist deshalb der Einbezug des Umfelds wichtig. Dies einerseits, um die vermutete Präferenz der Patientin bzw. des Patienten zu klären (soweit aus der Verhaltensbeobachtung nicht bereits abzuleiten) und andererseits, um im Falle von schwerwiegenden Sturzverletzungen Rechtssicherheit zu haben. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Kampagne «Laufen Lassen» der Fachgesellschaft Gerontologische Pflege [14].

Behandlung ohne Zustimmung

Während bewegungseinschränkende Massnahmen primär der Abwehr von Selbst- oder Fremdgefährdung dienen, kann auch eine Behandlung der Krankheit ohne die Zustimmung des Patienten erfolgen. Wie bereits ausgeführt sind hierfür die gesetzlichen Anforderungen besonders hoch. Aus Sicht der SAMW kann in der Praxis zwischen einer Medikation zur Therapie und einer Medikamentengabe zur Verhinderung insb. von Fremdgefährlichkeit unterschieden werden.

Medikamentenabgabe

Medikamentöse Behandlungen bei urteilsunfähigen Patientinnen bzw. Patienten unterscheiden sich anhand ihrer Invasivität (von Überredung bis hin zur intramuskulären oder gar intravenösen Gabe gegen körperlichen Widerstand). In der AP geht es häufig um Behandlungen, die zwar ohne explizite bzw. rechtgültige Zustimmung aber auch ohne
ersichtliche Ablehnung erfolgen. Ein Beispiel ist die selbstständige Einnahme einer angebotenen Tablette durch einen nicht-urteilsfähigen Patienten. Unter Umständen ist für diesen Patienten oder diese Patientin nicht klar, dass es sich um eine Tablette handelt. Da es sich um eine BoZ handelt, ist der weiter oben bereits dargestellte Behandlungsplan auch hier von zentraler Bedeutung. Ethisch herausfordernd ist auch der Umgang mit der verdeckten Medikamentenabgabe, bei der diese z.B. flüssig oder gemörsert mit der Nahrung gegeben werden. Entsprechend den Richtlinien der SAMW [15] muss hier unterschieden werden zwischen Situationen, in denen der Patient zustimmt bzw. die Zustimmung angenommen werden kann, und solchen, in denen die Ablehnung des Medikaments erklärt wurde oder vermutet werden muss. Hier liegt neben der «fürsorgerischen Täuschung» eine Zwangsmassnahme vor, die entweder mit einem Notfallentscheid oder einem elektiven Entscheid (gegebene Behandlungsbedürftigkeit gemäss Art. 434 ZGB) begründet werden muss. Unterschiedlich geregelt sind die erforderlichen Zustimmungen zwischen medikamentösen Behandlungen einer somatischen bzw. einer psychischen Erkrankung im stationären Bereich einer psychiatrischen Einrichtung. Nur für die somatische Behandlung gilt das medizinische Vertretungsrecht. In beiden Fällen zu berücksichtigen ist aber eine Patientenverfügung.

Positionen zu den Herausforderungen

Die Durchführung von Massnahmen gegen den Willen stellt einen erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar und ist daher zu Recht mit hohen Anforderungen verknüpft. Eine Abgrenzung von Massnahmen, die ohne Zustimmung aber auch ohne Ablehnung durchgeführt werden, erscheint jedoch sinnvoll. Es stellt sich aber die Frage, ob eine solche Abgrenzung in der Praxis durchzuhalten ist, da es Übergänge gibt (z.B. bei Überredung, Verknüpfung der Zustimmung mit Vorteilen für den Patienten). Zahlreiche Verbände und Initiativen haben zum Thema Stellung genommen. Zwei Stellungnahmen die uns für die AP besonders relevant erscheinen sind dargestellt.

Die Haltung der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften

Nach SAMW [15] umfasst der Zwang Massnahmen, die durchgeführt werden «obwohl die davon betroffene Person durch Willensäusserung oder Widerstand kund tut oder früher kund getan hat, dass sie damit nicht einverstanden ist». Im Anhang zur Richtlinie führt die SAMW vier Dimensionen für Zwang aus [15]. Nach der ersten Dimension liegt Zwang vor, wenn gegen den Willen einer Person gehandelt wird (freier Wille einer urteilsfähigen Person oder vorverfügter bzw. mutmasslicher Wille einer urteilsunfähigen Person). Die zweite Dimension bewertet das Verhalten der Person gegenüber der Massnahme. Hier wird Zwang definiert als Überwindung einer verbalen Ablehnung oder eines physischen Widerstands. Bereits aus der Betrachtung dieser beiden Dimensionen lassen sich vier Situationen differenzieren, bei denen in einer oder beiden Dimensionen ein Zwang vorliegt oder nicht. Die weiteren Dimensionen betreffen den Zweck (Therapie oder Abwendung akuter Eigen- oder Fremdgefährdung) und die Invasivität der Massnahme (von Überredung bis zur Anwendung von körperlicher Gewalt). Entsprechend der Definition der SAMW erfüllen zahlreiche Bewegungseinschränkungen und Behandlungen ohne Zustimmung in der AP nicht das Kriterium von Zwang, wenn man die oben genannten Definitionen ansieht.

Die Haltung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie

Aus Sicht der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie (SGAP), der die beiden Autoren angehören, ist die Betrachtung der vier Dimensionen der SAMW sehr nützlich für die Bewertung von Bewegungseinschränkungen und BoZ in der AP. FbM werden bisher in der ANQ-Erfassung nicht differenziert nach dem Unterschied erfasst, ob sie dem mutmasslichen Willen widersprechen bzw. auf verbalen oder physischen Widerstand stossen oder ob sich die betroffene Person, aus welchem Grund auch immer, gar nicht dazu äussert. In letzterem Fall läge zwar rechtlich – im Sinne des ZGB – tatsächlich eine «Massnahme ohne Zustimmung» vor, eine Massnahmejedoch, die der Patient oder die Patientin toleriert ohne jeden Hinweis darauf, dass er oder sie damit nicht einverstanden ist.
Aus Sicht der SGAP braucht es zu dieser Thematik eine substantielle Diskussion aus medizinischer, rechtlicher und ethischer Sicht. Gerade sturzpräventive Massnahmen werden insbesondere in Phasen des raschen Medikamentenwechsels häufig eingesetzt und sind oft (z.B. Softgurt bei der Teilnahme an Gruppentherapien) von geringer Invasivität. Teilweise, z.B. in der breit abgestützten deutschen S3-Leitlinie «Verhinderung von Zwang» wird dies auch begrifflich betont, indem zwischen «freiheitsbeschränkenden» und «freiheitsentziehenden» Massnahmen unterschieden wird [16].
Aus Perspektive der SGAP ist die Reduktion insbesondere der invasiven Zwangsmassnahmen ein wichtiges Qualitätskriterium [17]. Vor diesem Hintergrund greift die undifferenzierte Erfassung von Zwangsmassnahmen zu kurz, um für qualitätsbasierte Anreizsysteme geeignet zu sein. Registerdaten aus Deutschland zeigen auf, dass z.B. der prozentuale Anteil der Fälle mit Zwangsmassnahmen kein geeigneter Qualitätsindikator ist, da er zu abhängig ist von u.a. dem Anteil der Patienten mit FU-Status, den weiteren Kliniken und ambulanten Angeboten im Umkreis, den kantonalen Versorgungsaufträgen, und der lokalen Bevölkerungsstruktur (z.B. Häufigkeit ethnischer Minderheiten) [18]. Da urteilsunfähige Patienten in der Regel basierend auf einer FU behandelt werden müssen, ist die Anzahl der FU ebenfalls kein geeigneter Qualitätsindikator. Auf der anderen Seite sind etliche infrastrukturelle Faktoren durchaus veränderbar und geeignet, den Einsatz von FbM zu reduzieren. Hierzu zählen neben einer entsprechenden Gestaltung der
Innen- und Aussenräume (Barrierefreiheit / Einrichtung die im Sinne eines «Universal Design» für möglichst viele
Menschen nutzbar sind, Orientierungshilfen / ablesbares Umfeld, Bewegungs- und Aktivierungsanreize, Licht­konzept, durchgehende Handläufe) auch die neuen digitalen Systeme zur Sturzprävention und das sensorbasierte Patientenmonitoring. Stürze und Sturzangst sind ein wichtiges Thema der Altersmedizin und sollten mehr Beachtung finden [19]. Dies beinhaltet auch die fehlende direkte Finanzierung und den Einsatz von mehr Physiotherapie sowie Bewegungs- und Sporttherapie in der stationären AP.

Ausblick

Die Definition der Alterspsychiatrie als eigener Kliniktyp beim ANQ ist zu begrüssen. Sie legt den Grundstein einer geeigneten Erfassung von FbM. Es muss sichergestellt
werden, dass FbM anhand ihrer Invasivität unterschieden werden können. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten spielt es eine grosse Rolle, ob eine FbM gegen den erklärten Willen oder gar gegen den Widerstand des Patienten durchgeführt wird oder ob diese akzeptiert wird, aber aufgrund der bei Urteilsunfähigkeit grundsätzlich fehlenden Einwilligungsfähigkeit als FbM erfasst wird. Hierzu müssen geeignete Wege zur Objektivierung gefunden werden, damit Übergänge (Überredung, Verknüpfung mit Vorteilen etc.) geeignet abgebildet werden. Die gesetzlich geforderte Verhältnismässigkeit einer FbM entspringt den Erwartungen der Gesellschaft an den Umgang mit psychisch Erkrankten. Dies betrifft auch die Finanzierung psychiatrischer Grundversorger, da mehr Personal und entsprechende Infrastruktur helfen, FbM zu verhindern. Für die Zukunft wünschenswert wäre die Vereinheitlichung der Begrifflichkeit. Der ANQ ist mit seiner Begrifflichkeit sehr präsent in den meisten Institutionen. Es kann zudem leicht der Eindruck entstehen, die Liste der für den ANQ zu erfassenden FbM sei abschliessend. Demgegenüber sind die juristischen Begrifflichkeiten viel weniger in Verwendung.

Stellenwert technischer Neuerungen

Technische Entwicklungen können an vielen Stellen helfen, FbM weniger invasiv zu gestalten. Dies betrifft z. B. den Ersatz von Klingelmatten durch Sensorsysteme, die das Aufstehen des Patienten signalisieren und gleichzeitig die Umgebungsbeleuchtung anschalten, einerseits um Stürze zu verhindern und andererseits um das Pflegeteam zu alarmieren. Dies gilt auch für Ortungssysteme, die sicherstellen, dass desorientierte Patienten bei Bedarf rasch gefunden werden können. Aus ethischer Sicht ist hier abzuwägen zwischen der erwünschten Zunahme von Patientensicherheit und dem Anforderungen des Datenschutzes. So dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Ortungssysteme z. B. basierend auf Ganganalyse und Gesichtserkennung präzise die Position aller Personen auf der Station erkennen können. Diese Systeme könnten zusätzlich helfen, eine Sturzneigung besser einzuschätzen und nur dort Bewegungseinschränkungen zur Sturzprävention einzusetzen, wo sie erforderlich sind. Die Hemmschwellen für den Einsatz einer solchen Technik dürften auch international deutlich unterschiedlich sein, was sich schon jetzt beim Einsatz von Videokameras in der Akutpsychiatrie zeigt. Auch hier ist deshalb der gesellschaftliche Diskurs erforderlich.

1 Eine Freiheitsbeschränkende Massnahme wird per definitionem gegen den Willen des Patienten oder der Patientin durchgeführt, d.h. gegen eine verbale und/oder nonverbale Weigerung bzw. gegen die klare Ablehnung sich isolieren, fixieren, festbinden und/oder medizieren zu lassen, sich Bettgittern oder tiefen Sitzgelegenheiten ausgesetzt zu sehen, unabhängig von der Heftigkeit der Weigerung, der Urteilsfähigkeit, von früheren Einwilligungen oder der Meinung von Angehörigen. Ist der Wille der Patienten oder der Patientin nicht eindeutig erkennbar, beispielsweise bei Demenz, ist der mutmassliche Wille massgebend, im Zweifelsfall ist dies interdisziplinär und mit Angehörigen oder vertretungsberechtigten Personen zu diskutieren. Aus: Erfassungsinstrument Freiheitsbeschränkende Massnahmen. ANQ, 01.08.2022

2 Wobei auch eine Abteilung (und nicht die gesamte Klinik) leitende Personen gemeint sein können.

3 «Freiheitsbeschränkende Massnahmen sind alle Massnahmen, mit denen in die körperliche und geistige Unversehrtheit eingegriffen wird, ohne dass dafür eine gültige, aktuelle und erklärte Zustimmung des Betroffenen vorliegt, bzw. ohne dass die Massnahme dem mutmasslichen Willen des kommunikationsunfähigen Betroffenen entspricht».3 Peter Mösch Payot, Rechtliche Rahmenbedingungen für freiheitsbeschränkende Massnahmen im Heimbereich. Zeitschrift für Kindes- und Erwachsenenschutzrecht 2014; 69 (1): 5-30. Peter Mösch Payot, Freiheitsbeschränkungen für Erwachsene in Heimen: ist dank dem neuen Erwachsenen­schutzrecht alles klar? Pflegerecht. 2018; 2: 67-75.

Prof. Dr. med. Stefan Klöppel

Universitätsklinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie
Murtenstrasse 21
3008 Bern
Schweiz

Dr. med. Dan Georgescu

Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie
Psychiatrische Dienste Aargau AG
Königsfelderstrasse 1
5210 Windisch

Historie
Manuskript akzeptiert: 27.09.2023

Interessenkonflikte
Es bestehen keine Interessenkonflikte.

  •  Freiheitsbeschränkende Massnahmen (FbM) umfassen ein breites Spektrum.
  • FbM widersprechen nicht notwendigerweise dem mutmasslichen Willen der urteilsunfähigen Person.
  • Bei Urteilsunfähigkeit z.B. durch Demenz oder Delir muss die stationäre psychiatrische Behandlung unter einem entsprechenden Rechtsmittel erfolgen.
  • Die Anzahl der Fürsorgerischen Unterbringungen (FU) ist abhängig von verschiedenen Einweisungsgründen und deshalb kein sinnvoller Qualitätsindikator für die AP.

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Polymedikation und orale antitumorale Therapien – welche Arzneimittelinteraktionen gilt es zu beachten?

Orale antitumorale Therapien bieten verschiedene Vorteile, bergen aber auch Risiken aufgrund ihrer Toxizität und engen therapeutischen Breiten. Da diese Arzneimittel vermehrt auch bei Patienten und Patientinnen mit bestehender Polymedikation als Dauertherapien eingesetzt werden, ist das Identifizieren und Beurteilen von potentiellen Arzneimittelinteraktionen für eine sichere und effektive Therapie von grosser Bedeutung. Dieser Artikel bietet einen Überblick zu den häufigsten pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Arzneimittelinteraktionen zielgerichteter antitumoraler Therapien, mit Fokus auf die Wirkstoffklasse der Proteinkinaseinhibitoren.

Einführung

Orale zielgerichtete Tumortherapien wie Proteinkinaseinhibitoren haben in der Onkologie in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Proteinkinasen sind Enzyme, die einem Protein eine Phosphatgruppe hinzufügen und dadurch seine Funktion ändern. Proteinkinaseinhibitoren sind Arzneistoffe, welche eine oder mehrere Proteinkinasen hemmen. Die Hemmung der kinaseabhängigen Phosphorylierung kann eine Vielzahl von Zellprozessen beeinflussen. Vor allem bei malignen Zellen spielt die Aktivität von Proteinkinasen eine Schlüsselrolle, da mutierte oder überexprimierte Proteinkinasen zu enthemmtem Tumorwachstum führen. Durch den Einsatz von Proteinkinaseinhibitoren können Tumorzellen in die Apoptose getrieben werden.
Proteinkinaseinhibitoren werden in drei Hauptgruppen kategorisiert: Serin/Threoninkinase Inhibitor (STKI), Tyrosinkinase Inhibitoren (TKI) und Multikinaseinhibitoren (Tabelle 1).
Neben verschiedenen Vorteilen in Hinblick auf die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten sind die antitumoralen Wirkstoffe, aufgrund ihrer Toxizität und der engen therapeutischen Breite, mit einem hohen Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Interaktionen assoziiert. Ältere Krebspatienten und -patientinnen sind besonders anfällig für Arzneimittelinteraktionen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen, da oft verschiedene Medikamente sowohl für die Behandlung von tumorassoziierten Beschwerden wie auch für andere Co-Morbiditäten eingesetzt werden. Zusätzlich sind Veränderungen in den pharmakokinetischen Parametern zu beachten, welche die Arzneimittelabsorption, die Metabolisierung und Elimination beeinflussen können [1].
Untersuchungen zur Prävalenz zeigen, dass 27-58% der Patientinnen und Patienten unter oraler Tumortherapie von mindestens einer Arzneimittelinteraktion betroffen sind [1,2], wobei davon etwa ein Drittel als potentiell schwerwiegend eingestuft wird [2]. Als die häufigsten Folgen von Arzneimittelinteraktionen wurden eine reduzierte Wirksamkeit der antitumoralen Therapie und Risiko für QT-Zeit Verlängerung identifiziert [3].

Wie können Arzneimittelinteraktionen mit oralen antitumoralen Therapien entstehen?

Pharmakokinetische Interaktionen

Pharmakokinetische Interaktionen treten auf, wenn ein Arzneistoff die Absorption, die Verteilung, den Metabolismus und/oder die Ausscheidung eines anderen Wirkstoffes beeinflusst [1]. Solche Arzneimittelinteraktionen können zu reduziertem Therapieansprechen wie auch zu verstärkter Toxizität führen.
Da relevante pharmakokinetische Arzneimittelinteraktionen bei oralen Onkologika häufig auftreten, ist ein sorgfältiges Überprüfen auf solche Wechselwirkungen äusserst wichtig.
Für manche Arzneistoffe ist eine Blutspiegel-Bestimmung möglich. Lassen sich gewisse Arzneimittelinteraktionen nicht verhindern, kann eine solche Laboranalyse in ausgewählten Fällen zur Abschätzung des Ausmasses einer veränderten Wirkstoffexposition hilfreich sein.

Absorption

Die Bioverfügbarkeit eines Arzneistoffes ist unter anderem abhängig von der Freisetzung aus der Arzneiform und der Löslichkeit des Wirkstoffes. Diese wiederum ist beeinflusst durch den vorliegenden pH Wert im Gastrointestinal-Trakt.
Viele Proteinkinaseinhibitoren sind schwache Basen. Bei höheren pH Werten verschiebt sich deren Löslichkeitsgleichgewicht, abhängig von den spezifischen chemischen Wirkstoffeigenschaften, vermehrt zu der schwerer löslichen nicht-ionisierten Form [4]. Werden Proteinkinaseinhibitoren gleichzeitig mit Medikamenten verabreicht, welche den Magen pH erhöhen, kann deren Absorption aus dem Gastrointestinal-Trakt in relevantem Ausmass vermindert sein, was infolgedessen zu einer Abnahme der antitumoralen Wirksamkeit führen kann.
Das Ausmass und somit die Relevanz dieser Interaktion unterscheidet sich für die verschiedenen Wirkstoffe (Tabelle 1). Werden orale antitumorale Therapien mit pH-abhängiger Löslichkeit eingesetzt, soll die Indikation für eine gleichzeitige Verschreibung von Protonenpumpen-Inhibitoren und Antazida streng gestellt werden. Wenn immer möglich, ist auf eine Co-Medikation zu verzichten.
Für weitere orale Tumortherapie Klassen wie Poly-(ADP-Ribose)-Polymerase (PARP) Inhibitoren und antihormonelle Therapien ist keine Beeinflussung der Absorption durch Protonenpumpen Inhibitoren zu erwarten [5].

Metabolismus

Eine Vielzahl der zielgerichteten oralen Tumortherapien wird über das Cytochrom 3A4 (CYP3A4), dem wichtigsten Enzym im Arzneistoffmetabolismus, verstoffwechselt und ist deshalb anfällig für pharmakokinetische Interaktionen (Tabelle 1).
Von grosser klinischer Relevanz sind Wechselwirkungen von CYP3A4 Substraten mit starken Enzym-Induktoren bzw. –Inhibitoren, da eine bis zu fünf-fach erhöhte oder erniedrigte Wirkstoffexposition resultieren kann [6]. Aber auch für moderate Enzym-Induktoren bzw. –Inhibitoren können die Auswirkungen auf die Wirkstoffexposition der oralen Tumortherapien von Bedeutung sein.
Eine Überprüfung von Arzneimittelinteraktionen soll, insbesondere auch bei oralen antitumoralen Therapien, bei jeder Veränderung der Begleitmedikation erfolgen. Entsprechende Kontraindikationen und Empfehlungen zu Dosisanpassungen sind den jeweiligen Fachinformationen zu entnehmen.

Therapeutisches Drug Monitoring ist bislang für orale Tumortherapien nicht routinemässig etabliert. Für einige der zielgerichteten Tumortherapien ist eine Blutspiegelbestimmung jedoch möglich und kann hilfreich sein, um das Ausmass einer unumgänglichen Arzneimittelinteraktion abzuschätzen. Ein Therapeutisches Drug Monitoring kann somit bereits heute in ausgewählten Fällen sinnvoll sein, um eine wirksame und sichere Anwendung der zielgerichteten oralen Tumortherapien zu unterstützen [7]. Es wird sich zeigen, ob zukünftig eine routinemässige Blutspiegelbestimmung im klinischen Alltag Einzug finden wird.
Proteinkinaseinhibitoren sind nicht nur Substrate von CYP3A4, sie fungieren teilweise auch als Hemmer oder Induktoren dieser Enzyme (Tabelle 1) und können so die Verstoffwechselung anderer Medikamente beeinflussen.

Pharmakodynamische Interaktionen

Pharmakodynamische Wechselwirkungen resultieren aus der Kombination von Arzneimitteln mit ähnlichen Wirkungs- bzw. Nebenwirkungsmechanismen, welche sich synergistisch, additiv oder auch antagonistisch verhalten können. Klinische Effekte bzw. unerwünschte Arzneimittelwirkungen können verstärkt oder auch abgeschwächt auftreten.
Für orale antitumorale Therapien wurde ein erhöhtes Risiko für QT-Zeit Verlängerung als die häufigste pharmakodynamische Arzneimittelinteraktion identifiziert [3]. Proteinkinaseinhibitoren mit QT-Zeit Verlängerung als unerwünschte Arzneimittelwirkung sind in der Tabelle 1 aufgelistet. Zusätzlich kann eine durch Chemotherapie vermittelte Dyselektrolytämie das Risiko für kardiale unerwünschte Arzneimittelwirkungen begünstigen. Auch wenn eine Torsade de pointes als schwerwiegende Komplikation nur mit einer niedrigen Inzidenzrate auftritt, kann diese fatale Folgen haben, weshalb ein sorgfältiges Monitoring diesbezüglich indiziert ist. Um einer arzneimittelinduzierten QT-Zeit-Verlängerung vorzubeugen, soll vor Behandlungsbeginn das patientenspezifische Risiko diesbezüglich identifiziert werden. Auf die Kombination mit weiteren QT-Zeit verlängernden Medikamenten soll, wenn möglich, verzichtet werden [3]. Falls eine gleichzeitige Einnahme von Arzneimitteln mit Risiko für QT-Zeit Verlängerung indiziert ist, soll ein Monitoring des Elektrokardiogramms (EKG) 24-48 Stunden vor und 1 Woche nach Behandlungsbeginn erfolgen [4]. Arzneimittelspezifische Empfehlungen zur EKG Überwachung sind, sofern vorhanden, den entsprechenden Fachinformationen zu entnehmen.
Im Gegensatz zu vielen Proteinkinaseinhibitoren sind PARP-Inhibitoren nicht mit einer klinisch relevanten QT-Zeit Verlängerung assoziiert [9]. Jedoch ist in der Fachliteratur ein Fall von Torsade des pointes in Assoziation mit Rucaparib bei einem Patienten mit vorbestehender QT-Zeit Verlängerung berichtet worden [10].
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass orale antitumorale Therapien verschiedenen pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Arzneimittelinteraktionen unterliegen können. Die obenstehende Tabelle bietet einen Überblick zu den Interaktionsrisiken verschiedener oraler Tumortherapien in Hinblick auf die in Studien am häufigsten identifizierten Wechselwirkungen. Weitere Arzneimittelinteraktionen, z.B. durch die Beeinflussung anderer am Arzneistoffmetabolismus beteiligter Cytochrome oder Transportproteine, wie auch Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln sind möglich. Ein sorgfältiger Interaktionscheck ist bei jeder Anpassung der Medikation indiziert.

Prof. Dr. med. Anne Leuppi-Taegtmeyer

Kantonsspital Baselland Liestal
Rheinstrasse 26
4410 Liestal

anne.leuppi-taegtmeyer@ksbl.ch

keine

1. Riechelmann RP, Tannock IF, Wang L, Saad ED, Taback NA, Krzyzanowska MK. Potential drug interactions and duplicate prescriptions among cancer patients. J Natl Cancer Inst. 2007, Apr 18;99(8):592–600.
2. Van Leeuwen RWF, Brundel DHS, Neef C, et al. Prevalence of potential drug-drug interactions in cancer patients treated with oral anticancer drugs. British Journal of Cancer. 2013, 108:1071–8.
3. Kim SH, Suh Y, Ah YM, Jun K, Lee JY. Real-world prevalence of potential drug-drug interactions involving oral antineoplastic agents: a population-based study. Supportive Care in Cancer. 2020 Aug 1;28(8):3617–26.
4. Van Leeuwen RWF, Van Gelder T, Mathijssen RHJ, Jansman FGA. Review Drug-drug interactions with tyrosine-kinase inhibitors: a clinical perspective. 2014. Available from: www.thelancet.com/oncology
5. Bridoux M, Simon N, Turpin A. Proton Pump Inhibitors and Cancer: Current State of Play. Vol. 13, Frontiers in Pharmacology. Frontiers Media S.A.; 2022.
6. DeRemer D. Clinically Relevant Drug Interactions in the Cancer Setting. J Adv Pract Oncol. 2022 Apr 1;13(3):231–5.
7. Escudero-Ortiz V, Domínguez-Leñero V, Catalán-Latorre A, Rebollo-Liceaga J, Sureda M. Relevance of Therapeutic Drug Monitoring of Tyrosine Kinase Inhibitors in Routine Clinical Practice: A Pilot Study. Pharmaceutics. 2022 Jun 1;14(6).
8. Fachinformationen CH [cited 2023 July 07] Available from: https://www.swissmedicinfo.ch
9. Coppola C, Rienzo A, Piscopo G, Barbieri A, Arra C, Maurea N. Management of QT prolongation induced by anti-cancer drugs: Target therapy and old agents. Different algorithms for different drugs. Cancer Treat Rev. 2018 Feb 63:135-143.
10. Segan L, Beekman A, Parfrey S, Perrin M. PARP inhibitor-induced torsades de pointes in long QT syndrome: a case report. Eur Heart J Case Rep. 2019 Dec 31;4(1):1-5.

Langzeitnebenwirkungen der Immuncheckpoint-Inhibitoren

Der Einsatz von Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI) hat die Behandlung solider Tumore in den letzten Jahren grundlegend verändert. Gerade in fortgeschrittenen Tumor-Stadien oder bei Tumoren mit historisch schlechter Prognose, wie dem Triple-negativen Mammakarzinom, konnte das progressionsfreie Überleben sowie das Gesamtüberleben der betroffenen Patientinnen und Patienten verbessert werden. Vor dem Hintergrund der deutlich verbesserten Prognose, gewinnt das Management von Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der verbesserten Therapie an Bedeutung, deren Erkennung und Behandlung Gegenstand dieses Artikels sein soll.

Einführung

Das Immunsystem

Eine wichtige Aufgabe unseres Immunsystems ist das Erkennen und Bekämpfen maligner Zellen, wobei die Unterscheidung zwischen gesunden Körperzellen und Tumorzellen aufgrund der Erkennung von tumorspezifischen Antigenen durch die Immunzellen gewährleistet ist. Nach Präsentation des Antigens durch antigenpräsentierende Zellen, werden sogenannte naive T-Zellen aktiviert und bilden sich zu antigen-spezifischen CD4+ T-Helfer-Zellen (TH) und CD8+ zytotoxischen-T-Zellen (CTL) aus. Diese dringen in die Tumorumgebung ein, erkennen Antigene mittels T-Zell-Rezeptor (TCR), greifen die Tumorzellen durch toxische Moleküle an, und initiieren die Apoptose der Tumorzelle. Als Antigene fungieren zum einen tumorspezifische Antigene, wie beispielsweise das Melanom-Antigen A1 (MAGE – 1) bei Melanomen und Keimzelltumoren, aber auch das Carcinoembryonale Antigen (CEA), Prostata-spezifische Antigen (PSA) und der Human epidermal growth factor receptor 2 (HER2/neu). Daneben exprimieren Tumoren eine Reihe von Neo-Epitopen, welche durch die somatischen Mutationen der Tumorzelle hervorgerufen werden. Für die Aktivierung von T-Zellen ist nebst Antigenerkennung über den TCR auch eine Co-Stimulation, beispielsweise über die Bindung von CD80/86 an CD28 nötig. Tumorassoziierte Antigene, die auch von gesunden Körperzellen exprimiert werden und nicht zuletzt Virusproteine, wie bei HPV-assoziierten Tumoren, sind weitere mögliche Stimulatoren einer Immunreaktion. [1]

Tumorzellen besitzen jedoch die Fähigkeit, eine immunsuppressive Umgebung zu schaffen, in der weiteres Tumorwachstum toleriert wird, ein Prozess der Evasion genannt wird. Sie entgehen der Elimination durch das Immunsystem durch Minderung der Antigenpräsenz auf ihrer Zelloberfläche, Hemmung der Co-Stimulation, Mobilisierung von immunsuppressiven regulatorischen T-Zellen und Zytokinen und nicht zuletzt durch eine Inhibition der T-Zell-Wirkung durch Überexpression von Immuncheckpoints, wie Programmed Cell Death Protein 1 (PD-1), Cytotoxic T-lymphocyte associated protein 4 (CTLA4) und dem B- and T- lymphocyte attenuator (BTLA). [2, 3] Zwar sind die Immuncheckpoints durch ihren hemmenden Einfluss auf die T-Zell-Aktivität entscheidende Regulatoren in der Homöostase der körperlichen Immunantwort und beugen einer übermäßigen Aktivierung des Immunsystems mit dem Risiko der Autoimmunität vor, sie können aber der Tumorzell-Evasion Unterstützung leisten.
ICI stellen durch Bindung der Immuncheckpoints als monoklonale Antikörper eine therapeutische Möglichkeit dar, den hemmenden Einfluss der Immuncheckpoints auf die T-Zell-vermittelte Tumorabwehr aufzuheben und somit die Sichtbarkeit der Tumorzellen für das Immunsystem zu verbessern.

Seit vor mehr als zehn Jahren der erste Immuncheckpoint-Inhibitor Ipilimumab in der Therapie des metastasierten Melanoms zugelassen wurde, sind Immuntherapien für eine Vielzahl weiterer Tumorerkrankungen erfolgreich getestet und als Erstlinientherapeutika in die Tumortherapie integriert worden. Die Bedeutung der CTLA-4 (Ipilimumab, Tremelimumab), PD-1 (Pembrolizumab, Nivolumab, Cemiplimab, Dostarlimab, Retifanlimab) und PD-L1 (Atezolizumab, Durvalumab und Avelumab ) gerichteten Immuntherapie ist groß, da sie das progressionsfreie Überleben und das Gesamtüberleben vieler Patienten bei günstigem Nebenwirkungsprofil entscheidend positiv beeinflusst haben. Besonders hervorzuheben ist die Verbesserung bei Tumorerkrankungen mit traditionell schlechter Prognose, wie der Einsatz von Atezolizumab und Pembrolizumab in der Behandlung des Triple-negativen Mammakarzinoms zeigen konnte. Zur Etablierung neuer ICI gehört die Suche nach weiteren Angriffspunkten, wie dem Lymphocyte activation gene-3 (LAG3, CD223), T cell immunoglobulin-3 (TIM3) und Natural killer group protein 2 a (NKG2A)[2]. Relatlimab wurde kürzlich als erster anti-LAG3 Antikörper in Kombination mit Nivolumab zugelassen.

Eingeschränkt wird die Einsetzbarkeit der Immuntherapie durch Tumorprogression, das Auftreten von Rezidiven, Resistenzentwicklung und Nebenwirkungen. Letztere sind insbesondere durch den Eingriff in die feine Regulation zwischen (Gewebe-)Toleranz und Autoimmunität bedingt.

Immunvermittelte Nebenwirkungen

Neben allgemeinen Nebenwirkungen, wie Appetitlosigkeit, Fatigue und Pyrexie, handelt es sich bei typischen Checkpoint-Inhibitor-bedingten Nebenwirkungen um immunvermittelte Nebenwirkungen (immune related adverse events, irAEs), die Haut, endokrine Drüsen, den Gastrointestinaltrakt, Lunge, Augen oder das muskuloskelettale System und selten das zentrale Nervensystem betreffen.

Obwohl die zugrundeliegenden Mechanismen der irAEs nicht gänzlich erforscht sind, scheint eine Dysbalance zwischen proinflammatorischen T-Helferzellen und immunsuppressiven regulatorischen T-Zellen in einer übermäßigen T-Zell-Aktivierung sowie Produktion von Zytokinen und Auto-Antikörpern zu münden. Zusätzlich reagieren T-Zellen auf tumorassoziierte Antigene, die auch von gesundem Körpergewebe exprimiert werden [6-8]. So zeigt sich beispielsweise bei der Behandlung des malignen Melanoms mit CTLA-4-Inhibitoren das Auftreten von Vitiligo im Sinne einer Kreuzreaktivität auf gemeinsame Antigene der Melanomzellen und gesunden Melanozyten [9]. ICI vermittelte CTLA4-Inhibition hemmt regulatorische T-Zellen auch direkt und führt zu erhöhter T-Zell-Proliferation und Zytotoxizität. [10]

Man unterscheidet akute, verspätete und chronische Nebenwirkungen nach zeitlichem Auftreten. Akute Nebenwirkungen werden binnen drei Monaten nach Therapiebeginn, verspätete Nebenwirkungen ein Jahr nach Abschluss der Therapie auffällig [11]. Die chronischen Folgen zeigen eine Persistenz über zwölf Monate nach Beendigung der ICI Therapie und betreffen bis zu 40% der Patienten [4]. Insbesondere bei Patienten mit langanhaltendem Ansprechen auf die Therapie bilden sich T-Gedächtniszellen aus, die jedoch auch die chronischen Therapiefolgen vermitteln [12, 13]. So zeigte sich bei Patienten mit höhergradigen irAE auch häufiger ein langanhaltendes Therapieansprechen [14, 15]. Die Erkennung chronischer irAEs kann durch ihren schleichenden Beginn, die zusätzlich bestehenden Begleitsymptome fortgeschrittener Tumorerkrankungen und Komorbiditäten erschwert sein. Nichtsdestotrotz wird davon ausgegangen, dass 43% der Patienten von chronischen irAEs betroffen sind, wobei Arthritiden, Myalgien, Endokrinopathien, Xerostomie und Neurotoxizität, sowie okuläre Nebenwirkungen besonders häufig chronifizieren [5, 16].

Besonders in der Kombinationstherapie zeigen sich vermehrt Nebenwirkungen. Das Update der Keynote 189 Studie zeigte bei 616 Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom (NSCLC) ein signifikant verlängertes Überleben unter Chemotherapie mit Pembrolizumab (n= 410) gegenüber Chemotherapie mit Placebo (n = 206) (OS HR 0.49; 95% CI 0.38 – 0.64), unabhängig von der PD-L1 Expression. Jedoch kam es häufiger zu allgemeinen Nebenwirkungen wie Nausea, Fatigue, Obstipation/Diarrhoe, Anämie und Neutropenie, aber auch zu mehr irAEs. Am häufigsten traten Hypothyreose (7.9%), Hyperthyreose (4.9%), Pneumonitis (4.9%) und Colitis (3.2%) auf. [17] In der Keynote-024 wurde die ICI – Monotherapie mit der Chemotherapie als Erstlinientherapie bei PD-L1 Expression > 50% bei NSCLC verglichen. Die 305 Patienten erhielten entweder Pembrolizumab (n = 154) oder Carboplatin + Pemetrexed (n = 67), wobei das progressionsfreie Überleben unter Pembrolizumab-Monotherapie 10.3 Monate vs. 6.0 Monate mit Chemotherapie betrug. Unter Therapie mit Pembrolizumab traten Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen, Fatigue, Anämie und Neutropenie deutlich seltener auf. Jedoch zeigte die Pembrolizumab-Monotherapie mehr irAEs, wobei Hypothyreose (9.1%), Hyperthyreose (7.8%), Pneumonitis (5.8%) und Hauttoxizität (3.9%) am häufigsten und unter Chemotherapie kaum auftraten [18]. In der Checkmate 067, einer klinischen Phase III Studie, wurde bei 945 Patienten mit fortgeschrittenem malignem Melanom die Kombinationstherapie aus Ipilimumab und Nivolumab (n=314) mit der Nivolumab (n=316) und Ipilimumab (n=315) Monotherapie verglichen. Hier zeigte sich unter der Kombinationstherapie zwar ein deutlich längeres medianes Überleben, jedoch bei 59% der Patienten unter Kombinationstherapie höhergradige Nebenwirkungen, gegenüber 23% und 28% bei der Monotherapie. Auffallend war das häufigere Auftreten von endokrinen, hepatischen und pulmonalen Nebenwirkungen im Vergleich zur Monotherapie. [19] Auch die Kombination aus Durvalumab und Tremelimumab in der Erstlinientherapie beim fortgeschrittenen Lungenkarzinom, untersucht in der Mystic Studie, zeigte gegenüber der Durvalumab-Monotherapie und Chemotherapie vermehrt immun-vermittelte Nebenwirkungen, hierbei traten insbesondere Hypothyreose, Pneumonitis und Diarrhoe auf (28.3% vs. 13.6%, 3.4%). Es sollte jedoch angemerkt werden, dass die alleinige Chemotherapie insgesamt mehr allgemeine Nebenwirkungen zeigte [20]. Ebendiese ICIs wurden in Kombination (Tremelimumab plus Durvalumab, n=393) in der Himalaya-Studie als Erstlinientherapie bei 1171 Patienten mit inoperablem Hepatozellulären Karzinom mit der Sorafenib-Monotherapie (n=389) und Durvalumab-Monotherapie (n=389) verglichen. Hierbei zeigte sich ein verlängertes medianes Überleben unter der Kombinationstherapie von 16.43 Monaten im Vergleich zu 13.77 Monaten unter der Sorafenib-Monotherapie und nach 36 Monaten Follow-up Überlebensraten von 30.7% für die Kombinationstherapie gegenüber 20.02% für die Sorafenib-Monotherapie. Ausserdem wurde eine ausbleibende Krankheitsprogression in 12.5% vs. 4.9% beobachtet. Unter der Kombinationstherapie wurden insgesamt weniger insbesondere höhergradige allgemeine Nebenwirkungen als unter Sorafenib-Monotherapie beobachtet. Grad 3-4 IrAEs waren unter Kombinationstherapie (12.6%) jedoch häufiger als unter Durvalumab und Sorafenib-Monotherapie (6.2%, 2.4%), wobei insbesondere die Hepatitis mit Transaminasenerhöhung, Hauttoxizität und Hypothyreose häufiger vorkamen als unter der Sorafenib-Monotherapie. [21]

Im Pacific-Trial, wo der Anti-PD-L1 IgG1 Antikörper Durvalumab zur Therapie des NSCLC im Stadium III für zwölf Monate zur Konsolidation nach Radiochemotherapie verwendet wurde, konnte ein deutlicher Überlebensvorteil gegenüber dem Placebo gezeigt werden. Grad 3-4 Nebenwirkungen zeigten sich in 30.5% gegenüber 26.1% in der Placebo-Gruppe. Husten und Pneumonitis waren die häufigsten Nebenwirkungen mit 35.4% und 33.9% gegenüber 25.2% und 24.8% in der Placebo Gruppe [22]. Besonders toxisch scheinen Kombinationen aus ICI und zielgerichteten Therapien zu sein. [7, 23].

Nebenwirkungen

Zu den endokrinen irAEs gehört die Hypophysitis, die Schilddrüsendysfunktion, der Diabetes Typ I und die Nebenniereninsuffizienz. Endokrine Nebenwirkungen treten vergleichsweise früh auf, beispielsweise tritt im Median vier bis sechs Wochen nach Therapiebeginn eine Thyreotoxikose mit folgender Hypothyreose auf [23]. Während die Hypophysitis selten ist und häufiger bei Kombinationstherapien aus Nivolumab und Ipilimumab (6.4%) beobachtet wird, kommt die Thyreoiditis häufiger bei PD-1/PD-L1 Inhibition vor und wurde in bis zu 10% der Patienten beobachtet [4, 24]. Die Hypophysitis zeigt sich durch Kopfschmerzen, Fatigue, Muskelschwäche, Gewichtsverlust, Obstipation und Symptome der Hypothyreose bei Beteiligung der thyreoidalen Hormonachse oder auch mit erektiler Dysfunktion und Amenorrhoe bei Beeinträchtigung der gonadalen Hormonachse [25]. Bei 48 Patienten, die Pembrolizumab bei NSCLC im Rahmen der Keynote 001 Studie erhielten, zeigte sich in 21% eine neu aufgetretene, therapiewürdige Schilddrüsendysfunktion, wobei eine transiente Hyperthyreose bei 6 von 10 Patienten vor Hypothyreose auffiel. Auffällig war das signifikant verlängerte Überleben bei Patienten mit thyreoidaler Dysfunktion (median 40 vs. 14 Monate HR 0.29; 95% CI 0.09-0.94) [26]. Bei 16.7% der Patienten, die bei unterschiedlichen Tumoren eine Behandlung mit Nivolumab oder Pembrolizumab erhielten, zeigte sich eine Schilddrüsendysfunktion. Auch hier konnte ein positiver Einfluss auf das Progressionsfreie Überleben (Median 66 vs. 27 Wochen, HR: 0.50, 95% CI: 0.26-0.89) und Gesamtüberleben (median: 156 vs. 59 Wochen, HR 0.34, 95% CI: 0.13-0.75) gezeigt werden [27]. In der Behandlung des malignen Melanoms zeigte sich eine höhere Inzidenz für eine Schilddrüsendysfunktion in der Kombinationstherapie aus PD-1 Inhibition und CTLA4-Inhibition mit 14.6% (gegenüber 3.6% bei CTLA4-Inhibition und 7.5% bei PD-1 Blockade) [26]. Nebenniereninsuffizienz und Diabetes Typ I wurden im Rahmen der Keynote-522 Studie bei 2.3% und 0.3% festgestellt, in deren Rahmen Pembrolizumab neoadjuvant begleitend zur Chemotherapie zur Behandlung des Triple-negativen Mammakarzinoms verabreicht wurde [28]. Endokrinologische Nebenwirkungen bedürfen keiner Behandlung mit Glukokortikoiden sondern einer Substitution von Schilddrüsenhormonen bei Hypothyreose, Insulin bei Diabetes Typ I oder Hydrokortison bei der Nebenniereninsuffizienz, da es nicht selten zur dauerhaften Einschränkung der endokrinen Organfunktion kommt und diese nicht durch die Gabe von Steroiden verhindert werden kann.
Gastrointestinale Nebenwirkungen betreffen 30-40% der Patienten und zeigen sich als Diarrhoe, Kolitis, Hepatitis, Pankreatitis oder auch selten Ösophagitis, Mukositis, Xerostomie und Zöliakie. Während die Kolitis bei PD-1/PDL-1 Inhibition selten (5%) beobachtet wird, kommen Diarrhoe und Kolitis bei CTLA-4 Inhibition häufiger vor [11]. Entzündliche Darmerkrankungen treten im Median nach 8-16 Wochen auf, während die Hepatitis im Median nach 13-22 Wochen auftritt [23]. Die Kolitis geht im Gegensatz zur Diarrhoe mit abdominellen Schmerzen, Hämatochezie sowie objektivierbarem Nachweis einer Darmschleimhautentzündung mit Erythem und Ulzeration einher und sollte zur Diagnosesicherung bioptisch gesichert werden [25]. Zur Therapie werden primär Glukokortikoide eingesetzt, wobei auch Infliximab und Vedolizumab in schwersten Fällen Einsatz finden können. Die Hepatitis kann nach Ausschluss relevanter Virusinfektionen bei erhöhten Transaminasen in Betracht kommen und sich asymptomatisch, mit Ikterus oder als akutes Leberversagen zeigen. Autoimmunhepatitis-Antikörper sind meistens negativ, jedoch kann bioptisch eine T-Zell-Invasion des Leberparenchyms festgestellt werden. Auch die Hepatitis kann mit Glukokortikoiden behandelt werden.
Zu den pulmonalen Nebenwirkungen gehört die interstitielle Pneumonitis, die insgesamt 5% der Patienten betrifft und somit zu den seltenen Nebenwirkungen gehört. Die Pneumonitis tritt insbesondere bei Patienten mit Lungentumoren und unter Kombinationstherapien auf, sie geht mit einer hohen Morbidität einher. [4] Patienten präsentieren sich mit Dyspnoe, trockenem Husten, Sauerstoffpflichtigkeit und Thoraxschmerzen. Im CT-Thorax zeigen sich möglicherweise Ground-Glass-Opazitäten, Bronchiolitis und Tree-in-Bud-Phänomene, die mitunter Jahre persistieren können. Zur Sicherung der Diagnose wird eine bronchoalveoläre Lavage (BAL) angestrebt und therapeutisch eine Glukokortikoidtherapie initiiert.
Eine große Belastung für die Patienten stellen rheumatische Folgeerkrankungen dar. Die meist seronegative Rheumatoide Arthritis, Polymyalgia Rheumatica, Polymyositis, und das Sjögren Syndrom. Beschwerden sind Arthritiden, insbesondere der großen Gelenke und Myalgien bis hin zur Muskelschwäche, die noch bis zu zwölf Monate nach Therapieende persistieren können. Zur Therapie kommen neben Glukokortikoiden auch Disease Modifying Antirheumatic Drugs (DMARDs) in Betracht. [4]

Die kutanen Nebenwirkungen gehören zu den frühen Nebenwirkungen, die zwei bis drei Wochen (kombinierte CTLA-4- und PD(L)1-Inhibition) oder fünf Wochen (PD-1-Inhibition mono) nach Therapiebeginn auftreten und sich durch Juckreiz, Exanthem, Vitiligo, Psoriasis oder das bullöse Pemphigoid zeigen [7]. Symptomkontrolle kann durch topische oder systemische Steroide und GABA-Agonisten wie Pregabalin erreicht werden.

Zu den hämatologischen Nebenwirkungen zählen neben Thrombozytopenien im Rahmen einer ITP (1% der Patienten) hämolytische Anämien oder die hämophagozystische Lymphohistiozytose (HLH), die zwar selten ist, jedoch bei Zytopenien mit Multiorganversagen mit einer erhöhten Letalität einhergeht. [29]

Zu den seltenen Nebenwirkungen zählen auch Beteiligungen des Nervensystems, okuläre und kardiale irAEs. Nebenwirkungen des Nervensystems betreffen die Synapsen, zentrale oder periphere Nerven. Eine Beteiligung des okulären Systems tritt insbesondere bei CTLA-4-Inhibitoren auf. Sie präsentieren sich durch trockene Augen oder eine Uveitis [30]. Kardiale Toxizität ist selten, tritt früh auf und kann neben der Myokarditis, eine Perikarditis, Kardiomyopathien und Reizleitungsstörungen umfassen. Kardiale Nebenwirkungen treten ebenfalls häufiger bei Kombinationstherapien auf und zeigen sich klinisch mit Dyspnoe, Ödemen und Palpitationen. Erhöhte Biomarker sind insbesondere die Creatin-Kinase (CK) und das Troponin I. Weitere mögliche Langzeitfolgen der ICI sind akute kardiale Ereignisse, da die proinflammatorische Umgebung bei erhöhter T-Zellaktivität ein erhöhtes Risiko für Atherosklerose mitbringt. Außerdem sind PD-1 und CTLA-4 an der Plaquestabilisierung beteiligt. [31]

Therapie

Viele der irAEs sind sensibel für die Therapie mit Steroiden und bilden sich binnen drei Monaten zurück. Dabei sollten Steroide je nach Schweregrad dosiert werden und über mindestens vier Wochen ausgeschlichen werden [25].
Dabei sollte die Prophylaxe opportunistischer Infektionen (z.B. Pneumocystis-Pneumonien) und eine Osteoporoseprophylaxe erfolgen. Für steroidrefraktäre Verläufe stehen TNF α-Inhibitoren wie Infliximab, Azathioprin, MMF oder Vedolizumab als Anti–Integrin α4β7 Antikörper zur Verfügung.

Ob eine Immunsuppression zur Behandlung der irAES auch die antitumorale Aktivität beeinträchtigt und die Wirkung der ICI abschwächt, ist nicht gänzlich gesichert, wobei sich in retrospektiven Analysen kein schlechteres Outcome für Patienten mit Einnahme von Immunsuppressiva zeigte. [32] Andererseits scheint früher Glukokortikoid-Einsatz und ein Wiederbeginn nach immunsuppressiver Therapie mit einer geringeren Wirkung der ICI einherzugehen. So konnte der Wiederbeginn einer ICI-Therapie nach Auftreten von irAE das Überleben von Patienten bei verschiedenen Tumorentitäten nicht verlängern. [14]

Ob ein erneuter Therapiebeginn nach initialer Pausierung bei irAEs sicher ist, wurde retrospektiv bei 482 Patienten mit fortgeschrittenem NSCLC, die eine PD-1 oder PD-L1 Inhibition als Monotherapie (90%) oder in Kombination mit einem CTLA-4-Inhibitor (10%) erhalten hatten, untersucht. Bei 68 Patienten wurden irAEs festgestellt, wobei Pneumonitis (19%), Colitis (17%), Ausschlag (16%) und Transaminasenerhöhung (10%) auftraten. Nach Re-Exposition entwickelten 39 der 68 Patienten (51%) keine irAEs, 26% zeigten ein Wiederauftreten gleicher irAEs und 23% der Patenten entwickelten neue irAEs [33]. Eine erneute Therapie sollte bei schwerwiegenden irAEs wie Myokarditis und Pneumonitis nicht erfolgen. Auch bei Notwendigkeit hoher Glukokortikoiddosen sollte von einer Re-Exposition abgesehen werden. Bei erneuter Therapie sind PD-1/PD-L1 Inhibitoren den CTLA-4 Inhibitoren vorzuziehen, da letztere mit einer erhöhten Rezidivrate von bis zu 88% einhergehen. [34]

Prävention

Für die Therapie ist es entscheidend Hochrisikogruppen zu identifizieren und regelmäßig auf irAEs zu untersuchen. Zu den Risikofaktoren gehören das weibliche Geschlecht, vorbestehende Autoantikörper, Autoimmunerkrankungen, Vaskulitiden oder eine positive Familienanamnese. Für eine verlässliche Aussage über die Folgen für diese Patientengruppe mangelt es jedoch an Forschungsdaten, da Patienten mit Autoimmunerkrankungen oder vorbestehenden Autoantikörpern häufig nicht in klinische Studien eingeschlossen wurden. Auch bestimmte genetische Polymorphismen wie HLA-QQB1 03:01 zeigten ein gehäuftes Auftreten der Kolitis, während eine diverse Darmflora sowie hohes Vorkommen von Faecalibacterium, Ruminococcaceae, Bifidobakterium und Bacteroides fragilis mit einem verbesserten Ansprechen auf ICI beim Melanom assoziiert sind. Bei endokrinen irAEs zeigte sich eine erhöhte Rate von Schilddrüsendysfunktionen bei Patienten mit vorbestehenden Autoantikörpern, eine Myositis gehäuft bei positivem Nachweis von mAchR-Antikörpern [7, 35].

Auf der Suche nach geeigneten Prädiktoren für irAEs, korrelierten folgende Laborveränderung mit irAEs: CRP-Erhöhung, Abnahme der Lymphozyten, Anstieg der Leukozyten, eine erhöhte Il17-Baseline, eine geringere Baseline von Il6, die Zytokine CXCL9 – 11 mit steilem Anstieg 3 und 6 Wochen nach Therapiebeginn. Beispielsweise zeigte sich ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Kolitis bei Il-17-Erhöhung unter Ipilimumab-Therapie. [7, 36, 37]

Fazit

Insbesondere chronifizierende Nebenwirkungen stehen in klinischen Studien selten im Fokus, gehen jedoch mit einem erheblichen Verlust der Lebensqualität einher. Nebenwirkungen der ICI sollten zur Optimierung der Therapie von Betroffenen im Rahmen interdisziplinärer Boards besprochen werden, in denen über Therapie (-pausen), begleitende immunsuppressive Medikation und den Wiedereinsatz der Therapie gemeinsam entschieden wird. Bisher mangelt es an Biomarkern zur Prädiktion von ICI-induzierten Nebenwirkungen, sodass der engmaschigen Betreuung der Patientinnen und Patienten eine wichtige Bedeutung zukommt. Vor dem Hintergrund des wachsenden Einsatzes der ICI sollte das Bewusstsein für ICI-induzierte Nebenwirkungen gestärkt werden, da das Erkennen sowohl in der ambulanten PatientInnenbetreuung, als auch in Notaufnahmen und spezialisierten Fachbereichen für die Therapie essentiell ist.

Dr. med. Helena Stricker

Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8006 Zürich

helena.stricker@usz.ch

Helena Stricker: keine
Andreas Wicki: Institutional Research Grant: Roche. Travel Grant: Amgen

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Nebenwirkungen von Onkologika bei älteren Patienten

Krebs ist eine Erkrankung des Alters mit ungefähr 50 % der neuen Krebsfälle die beim Menschen im Alter von 65 Jahren oder älter auftreten, und diese Zahl wird voraussichtlich bis 2030 auf 58 % steigen. Die Chemotherapie ist nach wie vor ein Standardbestandteil der Krebsbehandlung, neben den neuen Therapien wie Immuntherapie und gezielten Therapien. Allerdings besteht bei älteren Patienten im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen ein erhöhtes Risiko für eine Chemotherapieinduzierte-Toxizität. Verschiedene pharmakologische Parametern müssen berücksichtigt werden bei der onkologischen Behandlung von älteren Patienten.
Die Beurteilung von Altersbedingten Veränderungen durch eine geriatrische Untersuchung ist vor Behandlungsbeginn einer
Chemotherapie sehr wichtig. Mehrere Studien haben gezeigt, dass mit Hilfe von Geriatric Assessment-Variablen, ältere Erwachsene identifiziert werden können, bei denen das Risiko einer schweren Toxizität durch die Chemotherapie am höchsten ist.
Orale onkologische Therapien stellen mehrere Vorteile dar. Sie enthalten aber auch Nachteile, vor allem beim älteren Patienten, die zu einer schlechteren Effizienz oder früherem Therapieabbruch führen können.
Trotz der physiologischen Phänomene der Immunoseneszenz und des Inflammaging, die Daten, die aus Subgruppenanlaysen von Metaanalysen hauptsächlich kommen, zeigen tendenziell, dass eine Immuntherapie auch bei älteren Patienten wirksam und gut verträglich ist.

Einleitung

Krebs ist eine Erkrankung des Alters mit ungefähr 50 % der neuen Krebsfälle die beim Menschen im Alter von 65 Jahren oder älter auftreten, und diese Zahl wird voraussichtlich bis 2030 auf 58 % steigen.(1) Obwohl die meisten Krebserkrankungen bei älteren Menschen auftreten, werden neue Krebsmedikamente hauptsächlich zugelassen auf der Grundlage von Daten die bei jüngeren Menschen oder einer Auswahl gesunder älterer Menschen ohne Komorbiditäten oder geriatrische Beeinträchtigungen untersucht werden.
Die Chemotherapie ist nach wie vor ein Standardbestandteil der Krebsbehandlung, neben den neuen Therapien wie Immuntherapie und gezielten Therapien. Allerdings besteht bei älteren Patienten im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen ein erhöhtes Risiko für eine Chemotherapieinduzierte-Toxizität.(2) Darüber hinaus wird älteren Erwachsenen seltener eine Chemotherapie angeboten, da sie Bedenken hinsichtlich ihrer Fähigkeit haben, die Behandlung zu überstehen.(3)
Wichtig ist, dass sich die Pharmakologie von Krebsmedikamenten bei jüngeren und älteren Menschen aufgrund von Veränderungen in der Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten, dem Leberstoffwechsel, der renalen und hepatischen Ausscheidung und der Pharmakodynamik unterscheiden kann. (4)

Pharmakokinetik bei älteren Leuten

Verschiedene pharmakologische Parametern müssen berücksichtigt werden bei der onkologischen Behandlung von älteren Patienten.
Die folgenden gelisteten Parametern können einen Einfluss in der onkologischen Behandlung haben:

– Orale Absorption
– Verteilungsvolumen
– Körperzusammensetzung
– Serum Albumin
– Hemoglobin
– Lebermetabolismus
– Renale Ausscheidung
– Biliäre Ausscheidung
– Medikamentöse Interaktionen
– Pharmakodynamik auf die zelluläre Ebene

(5) Das Verteilungsvolumen (Vv) ist Funktion der Körperzusammensetzung, des Serumproteinprofils und der Blutzellen (z. B. Erythrozyten). Bis zum Alter von 85 Jahren kommt es in der Regel zu einem fortschreitenden Anstieg des Körperfetts und einem Rückgang des Körperwassers. Es wird geschätzt, dass der Fettgehalt im Alter zwischen 25 und 75 Jahren von 15 % auf 30 % des Körpergewichts ansteigt und der intrazelluläre Wassergehalt von 42 % auf 33 % abnimmt.[4] Diese Veränderungen neigen dazu, das Verteilungsvolumen von wasserlöslichen Arzneimitteln wie Anthrazyklinen zu verringern und dem Verteilungsvolumen von fettlöslichen Verbindungen wie Carmustin (BCNU) zu erhöhen. Auch die Leberfunktion wird durch das Alter verändert: Es wurde über eine Abnahme der Lebergrösse (um 18–44 %), des Blutflusses, der Albuminproduktion und der CYP-Funktion berichtet. Die abnehmende renale Ausscheidung von Arzneimitteln ist wegen der glomerulären Veränderung die am besten vorhersehbare pharmakokinetische Veränderung. Die Filtrationsrate (GFR) nimmt ab einem Alter von 40 Jahren kontinuierlich mit dem Alter um etwa 1 ml/min pro Jahr ab.

Geriatrische Evaluation

Bewertung von alterungsbedingten Bedingungen, die die Verträglichkeit beeinflussen mit der geriatrischen Evaluation: Das chronologische Alter allein ist ungenügend um die Toleranz einer Therapie vorauszusehen. (6)
Bei der geriatrischen Beurteilung (Geriatric Assessment, GA) werden validierte Instrumente zur Beurteilung altersbedingter Erkrankungen eingesetzt, darunter Funktion, körperliche Leistungsfähigkeit (z. B. Mobilität), Komorbiditäten, Medikamente, Kognition, Ernährungszustand, psychischer Status und soziale Unterstützung.
• Funktion: Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und instrumentelle ADL (IADL)
• Komorbidität: aktualisierter Charlson-Komorbiditätsindex
• Mobilität: Timed Up and Go
• Kognition: Mini-Cog
• Ernährung: Gewichtsverlust und Body-Mass-Index
• Stimmung: kurze geriatrische Depressionsskala
• soziale Unterstützung: Alleinleben versus Unterstützung zu Hause.
In den Vereinigten Staaten hat sich die Alliance for Clinical Trials in Oncology für eine standardisierte geriatrische Beurteilung in therapeutischen Studien mit älteren Erwachsenen eingesetzt.(7) In therapeutischen klinischen Studien hat sich gezeigt, dass GA das Verständnis der Verträglichkeit durch (1) eine bessere Charakterisierung der Studie verbessert Stichprobe über das Alter hinaus, (2) verbesserte Erkennung von Faktoren, die mit schlechter Verträglichkeit verbunden sind, (3) Integration in zufällige Zuordnungen, um Behandlungsentscheidungen zu leiten, und (4) Bewertung, wie sich die Behandlung auf für ältere Erwachsene wichtige Ergebnisse auswirkt. Von 2000 bis 2017 umfassten nur 41,5 % der 41 Phase-II-III-Studien zur systemischen Therapie, an denen ausschließlich ältere Erwachsene mit Krebs teilnahmen, eine Beurteilung der Komorbidität oder Gebrechlichkeit, und nur 36,6 % berücksichtigten Todesfälle aus anderen Gründen.

Chemotherapie-Toxizität Prädiktoren

Mehrere Studien haben gezeigt, dass mit Hilfe von GA-Variablen, ältere Erwachsene identifiziert werden können, bei denen das Risiko einer schweren Toxizität durch Chemotherapie am höchsten ist. Das CARG(Cancer and Aging Research Group)-Toxizitätstool(2) und die Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients (CRASH)(8)wurden jeweils bei ca. 1.000 älteren Patienten entwickelt und validiert. Diese Instrumente wurden in bestimmten klinischen Szenarien, wie der adjuvanten Chemotherapie bei Brustkrebs und in Gesundheitssystemen ausserhalb von USA weiter untersucht, mit unterschiedlichen Resultaten.
Das CRASH Score erlaubt Patienten in 4 Kategorien zu stratifizieren: low, medium-low, medium-high und high Risk einer hämatologische (H) oder nicht-hämatologische (NH) Toxizität zu entwickeln. In der CARG Studie, interessanterweise der vom Arzt bewertete Karnofsky Performance Score war weder in der Entwicklungskohorte noch in der Validierungskohorte prädiktiv für die Toxizität der Chemotherapie.
Beide dienen als zusätzliche Hilfe für den Onkologen im klinischen Alltag, wenn ein Zweifel bezüglich optimal adaptierter Behandlung besteht. Diese Modelle sollten berücksichtigt werden, wenn die Risiken und Vorteile einer Chemotherapie mit älteren Patienten besprochen werden.

Uebersicht verschiedener Chemotherapien bei betagen Karzinompatienten (9)

Alkylanzien

Alkylanzien sind seit Jahrzehnten die Grundlage der onkologischen Therapie. Ihre wichtigste dosislimitierende Toxizität (DLT) ist die Hämatotoxizität. Es besteht eine große interindividuelle Variabilität hinsichtlich der Knochenmarkreserven und die sind physiologisch mit dem Alter reduziert.
Der Stoffwechsel stellt für die meisten Verbindungen den biliären Ausscheidungsweg dar.
Häufig sind enzymatische Prozesse in der Leber beteiligt und können sich ändern mit zunehmendem Alter.
– Cyclophosphamid:
Der Metabolismus von Cyclophosphamid zu aktiven Metaboliten wird durch Zytochrom P450 (Unterfamilie 3A und 2B) eingeleitet, hauptsächlich in der Leber.
Mit Niereninsuffizienz ist es mit einer Anreicherung toxischer alkylierender Metaboliten zu rechnen, die eine Dosisreduktion von 20 bis 30 % rechtfertigt, je nach Grad der Niereninsuffizienz. Es besteht präklinische Indikation dass Cyclophosphamid bei älteren Menschen langsamer metabolisiert wäre, ohne solide Evidenz dass die Dosis von Cyclophosphamid bei älteren Patient reduziert werden soll.(10)

Intravenöse Fluoropyrimidine

Die Fluorpyrimidine sind eine der am häufigsten verwendeten Wirkstoffklassen in der Onkologie.(11) Es gibt keine pharmakokinetische Grundlage für eine Dosisanpassung allein aufgrund des Alters. (10) Es kann aber zu erheblichen altersbedingten Toxizitäten führen. Bisherige Daten empfehlen keine Dosireduktion rein auf dem Alter basierend ausser bei schwerer Niereninsuffizienz oder Komorbiditäten.
– Capecitabine
Die Pharmakokinetik der Capecitabine ist nicht vom Alter beeinflusst, eine normale Nierenfunktion vorausgesetzt.(12) Patienten mit Niereninsuffizienz: Eine höhere Inzidenz von Toxizitäten Grad 3 und 4 (Hand-Fuss Syndrom, Durchfall, Myelotoxizität) ist bei Patienten mit mäßiger Nierenfunktionsstörung (geschätzte CrCl 30 bis 50 ml/min) beschrieben.

Platine

– Oxaliplatin
Oxaliplatin wird hauptsächlich bei Patienten mit Darmkrebs eingesetzt. Die wichtigsten Dosis-limitierenden Toxizitäten sind periphere Neuropathie und Knochenmarkssuppression. Die Kombination von Oxaliplatin und Capecitabin wurde bei Patienten über 70 Jahren untersucht und es wurde kein Zusammenhang gezeigt zwischen dem Ansprechen und dem Patientenalter oder dem ECOG Performance status, oder der Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) oder instrumentelle ADL (IADL) auszuführen. (13) Es liegen keine Daten vor, die eine Dosisreduktion allein aufgrund des Alters belegen. Eine Dosisreduktion sollte aber bei Patienten mit einer starken Abnahme der Nierenfunktion erfolgen.
– Cisplatin
Aufgrund des Beitrags der renalen Elimination von Cisplatin hängt die Pharmakokinetik von Cisplatin von einer normalen Nierenfunktion ab. Das Alter ist ein unabhängiger und signifikanter Prädiktor für die AUC (Area Under the Curve) der freien ultrafiltrierbaren Platinfraktion und Gesamtplasmaplatinum, mit einer höheren AUC mit zunehmendem Alter(14). Auch die hohe Inzidenz von altersbedingtem Hörverlust sollte berücksichtigt werden. Cisplatin sollte im niedrigeren Dosierungsbereich (z. B. 60 mg/m2) und vorzugsweise mit einer reduzierten Infusionsrate (z. B. über 24 Stunden) angewendet werden, um eine übermäßige Toxizität bei älteren Menschen zu vermeiden.
– Carboplatin
Carboplatin hat einen ähnlichen Wirkungsmechanismus im Vergleich zu Cisplatin mit antineoplastischer Wirkung in mehreren onkologischen Indikationen, die mehr oder weniger mit Cisplatin vergleichbar sind. Carboplatin wird renal elimiert und in der Regel nicht nach der Körperoberfläche berechnet sondern nach der Creatinin-Clearance.  Der Cockcroft-Gault, Calvert und Chatelut Formeln ermöglichen eine genaue und sichere Dosierung, die AUC berücksichtigt die Nierenfunktion und das Alter(15). Aufgrund der geringen Inzidenz nichthämatologischer Toxizität kann Carboplatin das Cisplatin im palliativen Setting oder bei Nebenwirkungen ersetzen.

Anthrazykline

Anthrazykline sind Bestandteile von mehreren Chemotherapieprotokollen die auch bei älteren Patienten benutzt werden können. Die häufigere beobachtete Toxizität ist eine Kardiotoxizität und sie äussert sich am stärksten während der Therapie mit Doxorubicin. Eine erhöhte Inzidenz von Herzinsuffizienz wurde nach der Behandlung mit Anthrazyklinen mit zunehmenden Alter nach 70 Jahren beschrieben. (16)

Antimikrotubuli

– Vinka alkaloide: Aktuell gibt es keine Daten für Dosismodifkationen rein auf dem Alter basierend für die Medikamente Vincristin und Vinorelbine. Mit Vinorelbine wurden viele Interaktionen mit anderen Medikamenten beschrieben, was für ältere Patienten relevant sein könnte. (17)
Vincristin hat gegenüber Vimorelbin eine erhöhte Neurotoxizität und sollte bei älteren und vorerkrankten Patienten in der Dosis angepasst werden.
– Taxane: es gibt widersprüchliche Daten über den Einfluss von Alter auf die Clearance von Paclitaxel. Haupttoxizität ist hämatologisch und neurologisch mit peripherer Neuropathie. Die wöchentliche Verabreichung scheint besser verträglich zu sein ohne Wirksamkeitsverlust (18) aber ohne klare Daten für den einen oder den anderen Zeitplan.

Mehrere Studien haben die Toxizität von Docetaxel bei älteren Patienten untersucht (19). Schlussendlich gibt es keine klaren Daten um Dosismodifikationen rein auf dem Alter basierend zu unterstützen; allerdings mit dem Wissen, dass die 3-wöchentliche Verabreichung mehr hämatotoxisch istund dass bei älteren Patienten die Knochenmarksreserve physiologisch reduziert ist.

Zytidine Analoga

– Gemcitabine zeigt generell als Monotherapie minimale Toxizität bei älteren Patienten. (20)

Antimetaboliten

– Pemetrexed soll mit Vorsicht bei älteren Patienten mit beeinträchtigter Nierenfunktion verabreicht werden da das Riskio einer Hämatotoxizität erhöht sein kann.

Adhärenz zu oralen Medikamenten

Orale onkologische Therapien stellen mehrere Vorteile dar. Sie ermöglichen weniger klinische Termine, sind weniger invasiv und verbessern die Patientenautonomie. Sie enthalten aber auch Nachteile, vor allem beim älteren Patienten, die zu einer schlechteren Effizienz oder früherem Therapieabbruch führen können.
Es existieren verschiedene Faktoren die die Adhärenz zu oralen Therapien bei älteren Patienten beeinflussen(21):
– Patientenbezogene Faktoren: Alter, Gender, Gesundheitsstatus
– Alterspezifische Faktoren: kognitive Defizite, visuelle oder auditive Beeinträchtigungen, Komorbiditäten, Polypharmazie
– Sozioökonomische Situation: soziale Situation, caregiver-Qualität, familiäre Unterstützung
– Krankheitsbedingte Faktoren: Krankheitschwere, unkontrollierte Beschwerden, psychologische Komponente
– Therapiebezogene Faktoren: Toxizität der Therapie, Therapiedauer, Wirksamkeit
– Health-care Team Faktoren: Medikamentenverfügbarkeit und –versorgung, Patient-Anbieter Beziehung, Kommunikationsbarriere, unzureichende oder unklare Arzneimittelinformation
Bei schlechterer Effizienz, früherem Abbruch oder erhöhter Toxizität ist Non-Adherenz mit einer erhöhten Mortalität assoziiert.
Verschiedene Interventionen wie Patientenanweisungen mit klaren und schriftlichen Instruktionen, Caregiverimplikation, soziale Unterstützung, kontinuierliche Überwachung und Bewertung durch das medizinische Betreuungsteam ermöglichen die Therapieadhärenz zu verbessern.

Toxizität der Immuntherapie bei älteren Patienten (22)

Immunbedingte Nebenwirkungen können bei älteren Menschen eine grössere Herausforderung darstellen aufgrund verminderter Funktionsreserve und altersbedingten Komorbiditäten.(23)
Trotz der physiologischen Phänomene der Immunoseneszenz und des Inflammaging, die Daten, die aus Subgruppenanlaysen von Metaanalysen hauptsächlich kommen, zeigen tendenziell, dass eine Immuntherapie auch bei älteren Patienten wirksam und gut verträglich ist.
In der klinischen Praxis sind Checkpoint-Inhibitoren daher eine gute Behandlungsmöglichkeit, auch für ältere Patienten. (24)

Dr. med. Vérène Dougoud-Chauvin

HFR Freiburg – Kantonsspital
Chemin des Pensionnats 2-6
1752 Villars-sur-Glâne

verene.dogoud-chauvin@h-fr.ch

Dr. med. Dougoud-Chauvin hat Travel Grants von Amgen erhalten.

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Tumor-Immuntherapie – Wirkung und Nebenwirkungen

Seit der Entwicklung des ersten Immuncheckpoint-Inhibitors, ist in der Tumor-Immuntherapie eine neue Ära eingeleitet worden, und die Ansprech- und Überlebensraten vieler Tumorentitäten haben sich verbessert. Trotz dieser ermutigenden Fortschritte, ist die Zahl der Patienten, die ein dauerhaftes Ansprechen erreichen durch Resistenzmechanismen limitiert und immun-vermittelte Nebenwirkungen (immune-related adverse events, irAE) erschweren die Behandlung. Der Mechanismus der irAE ist nicht in allen Details verstanden. Wir fassen in dieser Übersichtsarbeit die Wirkmechanismen von Immuncheckpoint-Inhibitoren, die verschiedenen Formen von irAE und deren mögliche Entstehungsmechanismen zusammen und beschreiben mögliche Strategien zur Prävention sowie Behandlungsmöglichkeiten.

Einführung

In den letzten Jahren wurden grosse Fortschritte in der Tumor-Immuntherapie erzielt, wodurch die Überlebensrate von Tumorpatienten für einige Tumorentitäten deutlich verbessert werden konnte. Es gibt verschiedene Arten von Immuntherapeutika, darunter Tumorimpfstoffe, zelluläre Immuntherapien, immunmodulatorische Medikamente und Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI). Eine Vielzahl neuer immuntherapeutischer Therapien ist in Entwicklung. Trotz dieser grossen Fortschritte bleiben im klinischen Alltag die konventionelle Chemotherapie sowie die Radiotherapie wichtige Säulen der onkologischen Therapie. Die ICI haben sich in den letzten Jahren jedoch bei verschiedenen Tumorentitäten zu einer wichtigen Behandlungsoption entwickelt, wobei diese Substanzen als Monotherapie, in Kombination oder zusammen mit einer Chemotherapie eingesetzt werden. Mit dem zunehmenden Einsatz der ICI nimmt die Zahl der immun-vermittelten Nebenwirkungen (immune-related adverse events, irAE) zu und es ist wichtig, dass alle an der Behandlung beteiligten Spezialisten über diese Nebenwirkungen Bescheid wissen und sie frühzeitig erkennen können. Die typischen irAE unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von Nebenwirkungen der klassischen Chemotherapie. Sie können in unterschiedlichen Organsystemen und zu jeglicher Zeit unter der Therapie oder selten auch erst nach einer abgeschlossenen Therapie auftreten. Es ist wichtig zu beachten, dass irAE oft einen verzögerten Beginn und einen protrahierten Verlauf haben. IrAE können jedes Organ betreffen, sie sind in der Regel gut behandelbar und reversibel, aber einige irAE können schwerwiegend sein und zu dauerhaften gesundheitlichen Folgen und zum Tod führen. Mit dieser Übersicht möchten wir die wichtigsten irAE darstellen und aufzeigen, dass eine frühe Erkennung und ein interdisziplinäres und multiprofessionelles Vorgehen von grosser Bedeutung ist.

Wirkmechanismus der Tumor-Immuntherapie

In den meisten Fällen eliminiert das Immunsystem neu entstehende Tumorzellen in einer frühen Phase, so dass kein Tumor manifest wird. Tumorzellen können aber verschiedene Strategien entwickeln, um das Immunsystem zu umgehen. Diese immunsuppressiven Mechanismen von Tumorzellen können bei verschiedenen Tumoren unterschiedlich ausgeprägt sein. Das Wissen um die komplexe Interaktion zwischen dem Immunsystem und Tumorzellen hat zur Entwicklung der Tumor-Immuntherapie geführt. Die sogenannten Immuncheckpoints sind einer der Mechanismen, mit denen sich Tumorzellen im Körper tarnen. Über die Expression von inhibitorischen Immuncheckpoints können sich Tumorzellen der Erkennung durch das Immunsystem entziehen (Immunevasion). Daneben können Tumoren immunsuppressive Zytokine sezernieren und die Rekrutierung von immunsuppressiven Immunzellen fördern. Die T-Lymphozyten (auch T-Zellen genannt) stehen im Zentrum der zellvermittelten Immunität. Aktivierte T-Zellen können eine grosse Anzahl von Zytokinen sezernieren, um Immuncheckpoints zu aktivieren. Tumorzellen hemmen die Aktivierung von T-Zellen durch die Expression bestimmter Checkpoint-Proteine. Zu den bisher identifizierten inhibitorischen Immuncheckpoints gehören vor allem PD-1 (programmed cell death 1), der zugehörige Ligand PD-L1, CTLA-4 (cytotoxic T-lymphocyte-associated protein 4) und LAG-3 (lymphocyte-activation gene 3). Weitere Immuncheckpoints sind TIM-3 (T-cell immunoglobulin and mucin-domain containing-3), CD47, TIGIT (T cell immunoreceptor with Ig and ITIM domains) und VISTA (V-domain Ig suppressor of T-cell activation). Die Immun-Checkpoint-Blockade zielt darauf ab, in die hemmenden Signalwege, die die T-Zell-Reaktivität auf natürliche Weise einschränken, einzugreifen. Dadurch wird die Aktivierung und Aufrechterhaltung der Effektorfunktion von T-Zellen ermöglicht [1]. Die am häufigsten eingesetzten ICI sind die monoklonalen anti-PD-1/PD-L1 Antikörper Nivolumab, Pembrolizumab, Atezolizumab, Durvalumab, Avelumab, Dortarlimab und Cemiplimab, die monoklonalen anti-CTLA-4 Antikörper Ipilimumab und Tremelimumab, die in Kombination mit Nivolumab bzw. Durvalumab eingesetzt werden, sowie der anti-Lag-3 Antikörper Relatlimab, der in Kombination mit Nivolumab eingesetzt wird.

Epidemiologie der immun-vermittelten Nebenwirkungen

IrAEs sind häufig und treten bei 90 % der Patienten, die mit einem anti-CTLA-4 Antikörper behandelt werden und bei 70 % der Patienten, die mit anti-PD-1/PD-L1 Antikörpern behandelt werden auf. Die Inzidenz von irAE bei einer Monotherapie liegt zwischen 15-90%, wobei höhergradige Nebenwirkungen (Grad 3/4 nach CTCAE-Kriterien) mit einer Inzidenz von 0-66% vorkommen. Im Vergleich zu den Antikörpern gegen PD-1/PD-L1 gehen anti-CTLA-4-Antikörper mit einer höheren Inzidenz von irAE einher. Bei Kombinationstherapien ist die Inzidenz höher als bei einer Monotherapie. Bei einer Monotherapie mit anti-PD-1/PD-L1 Inhibitoren liegt die Gesamtrate von irAE bei rund 70%, höhergradige irAE kommen mit einer Inzidenz von 14% vor. Die Therapie-assoziierte Mortalität liegt bei weniger als 1%. Die meisten irAE treten in den ersten 3-4 Monaten nach Behandlungsbeginn auf, aber auch eine verzögerte Toxizität ist möglich [2]. ICI-bedingte irAE sind organspezifisch, wobei kutane irAE (insbesondere leichter Juckreiz oder Hautausschlag) am häufigsten vorkommen, gefolgt von gastrointestinaler Toxizität, die sich häufig als Durchfall in Folge einer Kolitis manifestiert [3]. Am dritthäufigsten sind endokrine irAE, einschliesslich Schilddrüsenfunktionsstörungen (Hypothyreose und Hyperthyreose), Hypophysitis und Nebenniereninsuffizienz. Muskuloskelettale Toxizität (wie leichte Gelenk- oder Muskelschmerzen) und okuläre Toxizität (trockene Augen und Uveitis) werden ebenfalls häufig berichtet. Lungenentzündung, Myokarditis, Neurotoxizität, Myositis, Nephritis und hämatologische Toxizität sind nicht sehr häufig, aber der potentielle Schweregrad ist erwähnenswert. Die Mortalitätsrate bei Auftreten einer Myokarditis ist mit 39,7 % sehr hoch. Die Neurotoxizität ist insgesamt selten, kann aber schwerwiegend verlaufen, wobei Enzephalitis und schwere Myasthenia gravis die häufigsten schwergradigen Ereignisse sind. Die Rate der irAE ist bei unterschiedlichen Tumorentitäten ähnlich, unterscheidet sich jedoch zwischen den verschiedenen Substanzklassen der ICI, abhängig vom entsprechenden Zielmolekül der Wirkung. CTLA-4 Inhibitoren verursachen häufig Kolitis, Hypophysitis und Hautausschlag, während PD-1/PD-L1 Inhibitoren häufiger Schilddrüsenfunktionsstörungen und auch pulmonale Toxizität verursachen. Die häufigsten unerwünschten Wirkungen von CTLA-4 Inhibitoren in Kombination mit PD-1/PD-L1 Inhibitoren sind kutane und endokrine Nebenwirkungen. Gastrointestinale Beschwerden in Form von Durchfall durch eine immun-vermittelte Kolitis sind ebenfalls häufig.

Mechanismen der immun-vermittelten Nebenwirkungen

Es ist offensichtlich, dass irAE Ähnlichkeiten mit Autoimmunerkrankungen aufweisen. Der genaue pathophysiologische Mechanismus von irAE ist nach wie vor unklar. Gegenwärtig geht man davon aus, dass irAE mit den Veränderungen in der Funktion des körpereigenen Immunsystems zusammenhängen. Es wurden verschiedene Mechanismen vorgeschlagen, die das Auftreten von irAE erklären, so zum Beispiel die Produktion von Autoantikörpern, die Infiltration von aktivierten T-Zellen in unterschiedliche Organe, wobei hier die Bedeutung von übereinstimmenden Antigenen diskutiert wird und die Ausschüttung von entzündlichen Zytokinen wie Interleukinen [4].

Häufige immun-vermittelte Nebenwirkungen

IrAEs betreffen verschiedene Organsysteme des gesamten Körpers. Es können alle Organe betroffen sein. Am häufigsten manifestieren sich irAE an der Haut, im Verdauungstrakt, im endokrinen System und in den Atemwegen. Selten, aber von Relevanz und potentiell bedrohlich sind neurologische und kardiale Nebenwirkungen.

Kutane immun-vermittelte Nebenwirkungen

Kutane irAE sind am häufigsten und treten in der Regel zuerst auf. Die häufigsten kutanen Veränderungen sind ekzematöse, morbilliforme und lichenoide Dermatosen sowie Vitiligo und Pruritus. Zu den weniger häufigen unerwünschten Ereignissen gehören psoriatiforme Hautveränderungen, bullöse Läsionen sowie schwere kutane Nebenwirkungen, einschließlich Stevens-Johnson-Syndrom, toxische epidermale Nekrolyse, Arzneimittelreaktionen mit Eosinophilie und konstitutionellen Symptomen. Aufgrund des Wirkmechanismus von ICIs gibt es eine Vielzahl von rheumatischen Nebenwirkungen, die zusammen mit den kutanen Veränderungen auftreten können, wie eine Sklerodermie, eine Der­matomyositis, ein kutaner Lupus erythematodes und verschiedene Formen von Vaskulitiden. Die Inzidenz kutaner Ne­benwirkungen ist bei der Monotherapie mit CTLA-4 Anti­körpern höher als bei PD-1 Antikörpern, ist jedoch am häufigsten bei einer Kombinationstherapie. Ein makulopapulöser Hautausschlag tritt bei bis zu 60 % der mit CTLA-4 Inhibitoren behandelten Patienten und bei 24% unter einer anti-PD1 Therapie auf und kann ein Vorläufer anderer unerwünschter immun-vermittelter Reaktionen sein. Der Ausschlag tritt in der Regel am Rumpf und/oder an den Extre­mi­täten auf, meist an den Streckseiten. Die Beugeseiten, die
Kopfhaut, die Handflächen und das Gesicht sind seltener
betroffen.

Gastrointestinale immun-vermittelte Nebenwirkungen

Die Manifestationen von gastrointestinalen und hepatobiliären Nebenwirkungen, die durch die ICI-Behandlung verursacht werden, sind umfangreich. Die wichtigsten gastrointestinalen Nebenwirkungen sind Enteritis und Kolitis, die sich mit Durchfall manifestieren. Gastrointestinale Nebenwirkungen können jederzeit unter der Therapie auftreten. Sie können aber auch erst Wochen oder Monate nach der ICI-Therapie auftreten. Begleitende Symptome wie Bauchschmerzen, Fieber, Blut- oder Schleimabgang ab ano, Übelkeit und Erbrechen können ebenfalls auftreten. Die häufigsten Erscheinungsformen von irAE, die den oberen Magen-Darm-Trakt betreffen, sind Appetitlosigkeit und Übelkeit. Stomatitis, Ösophagitis, Dysphagie, Gastritis, Erbrechen und gastroösophageale Refluxkrankheit können in einigen Fällen ebenfalls auftreten. Bei Patienten, die PD-1/PD-L1 Inhibitoren erhalten, liegt die Häufigkeit von Durchfall bei 12,1-13,7 % und die Häufigkeit einer Kolitis bei 0,7-1,6 %. Gastrointestinale irAE sind bei Patienten, die CTLA-4 Inhibitoren erhalten häufiger und schwerer als bei Patienten, die PD-1 Inhibitoren erhalten, wobei die Raten für Durchfall bei 27-54 % und für Kolitis bei 8-22 % liegen. Wenn die beiden Inhibitoren zusammen eingesetzt werden, sind die Häufigkeit und der Schweregrad von irAE im Gastrointestinaltrakt deutlich erhöht. Darüber hinaus wird die zeitgleiche Verwendung von nichtsteroidalen Antirheumatika mit einem erhöhten Risiko einer Kolitis in Verbindung gebracht.

Immun-vermittelte Hepatotoxizität

Der detaillierte Mechanismus der Hepatotoxizität ist nicht bekannt. Es wurde festgestellt, dass die sekundäre Aktivierung von CD8+ zytotoxischen T-Lymphozyten, verschiedenen CD4+ T-Zell-Populationen sowie Zytokinen zu einer Leberschädigung führt. Anhand der Serum-Aspartat-Aminotransferase (AST) / Alanin-Aminotransferase (ALT)-Werte kann die Leberschädigung gradiert werden. Histologisch gesehen können ICI verschiedene Formen der Leberschädigung verursachen, darunter eine panlobuläre Hepatitis, eine perivaskuläre infiltrierende Endotheliitis oder ein acholestatisches Muster mit einer proliferativen Destruktion der Gallengänge sowie eine gemischte Pfortader-Entzündung mit einer leichten lobulären nekrotisierenden Entzündung. Eine Lebertoxizität manifestiert sich typischerweise innerhalb der ersten 6 bis 12 Wochen nach Behandlungsbeginn. Im Rahmen der ICI-Therapie verläuft die Hepatitis in der Regel asymptomatisch und äussert sich in einem Anstieg der ALT- und/oder AST-Werte. Ein akutes Leberversagen ist selten (0.1-0.2%). Die Raten einer immun-vermittelten Hepatotoxizität jeden Grades waren am niedrigsten bei einer anti-PD-1/PD-L1 Monotherapie (0,7 %-2,1 %) und am höchsten bei einer Kombinationstherapie mit anti-CTLA-4/PD1 Antikörpern (13 %). Die Gesamtinzidenz einer höhergradigen Lebertoxizität lag zwischen 0,6 % und 11 %.

Endokrine immun-vermittelte Nebenwirkungen

Zu den endokrinen Organen, die am häufigsten von einer ICI-bedingten irAE betroffen sind, gehören die Schilddrüse, die sich typischerweise als Hypothyreose manifestiert, die oft sekundär zu einer Thyreoiditis auftritt, die Hypophyse (Hypophysitis oder Hypopituitarismus) und die Beta-Zellen des Pankreas (ähnliches Erscheinungsbild wie bei Diabetes Typ I). Die Gesamtinzidenz klinisch signifikanter endokriner Nebenwirkungen bei Patienten, die mit Checkpoint-Inhibitoren behandelt wurden, liegt bei etwa 10 %.

Schilddrüse

Die meisten Schilddrüsenfunktionsstörungen treten 1-2 Monate nach Beginn der ICI-Therapie auf. irAE der Schilddrüse können in Thyreotoxikose und Hypothyreose unterteilt werden. Schilddrüsenentzündungen können während der Behandlung mit jeder Art von ICI auftreten. Eine Hypothyreose tritt bei 6-9 % der mit anti-PD-1/PD-L1 Inhibitoren behandelten Patienten, bei 4-9 % der mit anti-CTLA-4 behandelten Patienten und bei etwa 16 % der mit einer Kombinationstherapie behandelten Patienten auf. Damit sind Schilddrüsenfunktionsstörungen die häufigsten endokrinen irAE.

Hypophyse

Die Hypophysitis ist eine seltene, aber wichtige irAE, die häufig mit Symptomen wie Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Anorexie, Schwäche, Kopfschmerzen und Gonadotropin­mangel, einschließlich Libidoverlust oder erektiler Dysfunktion, einhergeht. Im Labor zeigt sich eine Hyponatriämie sowie eine Erniedrigung von ACTH und TSH. Die Rate der Hypophysitis liegt unter Ipilimumab bei 3,2 % und ist bei anti-PD-1/PD-L1 Antikörpern deutlich seltener (0,1-0,4 %). Die Hypophysitis tritt in der Regel innerhalb der ersten 2-3 Monate nach Beginn der Behandlung auf, kann sich aber auch erst später manifestieren.

Diabetes

Der relativ seltene ICI-assoziierte Diabetes mellitus hat eine geschätzte Inzidenz von 3,5 %. Er kann einen schwerwiegenden Verlauf haben. Die Symptome bei Patienten mit ICI-bedingtem Diabetes sind vielfältig und reichen von asymptomatischer Hyperglykämie, Polyurie und Polydipsie bis hin zur gefährlichen diabetischen Ketoazidose. Ein Diabetes mellitus manifestiert sich in der Regel in den ersten Monaten der ICI-Therapie. Bei Patienten, die eine anti-CTLA-4 Therapie erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken, deutlich geringer als bei Patienten, die mit einem anti-PD-1/PD-L1 Antikörper behandelt werden.

Immun-vermittelte Neurotoxizität

Die Inzidenz neurologischer irAE wird mit ca. 1 % angegeben . Obwohl sie selten sind, können sie die Lebensqualität der Patienten erheblich beeinträchtigen und lebensbedrohliche Verläufe aufweisen. Sie verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. Die Kombinationstherapie mit anti-PD-1/ PD-L1 und anti-CTLA-4 Antikörpern führt zu der höchsten Inzidenz von neurologischen Nebenwirkungen, gefolgt von der anti-PD-1/ PD-L1 Monotherapie, und der Therapie mit anti-CTLA-4 Antikörpern, mit Inzidenzraten von 12 %, 6,1 % bzw. 3,8 %. Die Neurotoxizität kann sich als myasthenisches Syndromen, Meningitis, isolierte oder generalisierte Neuropathie und selten als Enzephalitis manifestieren.

Kardiotoxizität

Wie die herkömmliche Chemotherapie können auch die Immuntherapeutika kardiovaskuläre Nebenwirkungen haben, einschliesslich Myokarditis, Rhythmusstörungen, Myokardfibrose und Kardiomyopathie. Das Auftreten einer Myokarditis ist selten, wobei aber letale Fälle beschrieben sind. Studien haben gezeigt, dass PD-1 und PD-L1 in Kardiomyozyten von Ratten und Menschen exprimiert werden. Die Mutation des PD-1-kodierenden Gens in Mäusen führt zu dilatativer Kardiomyopathie. Die Deletion von CTLA-4 und PD-1 führt zu einer autoimmunen Myokarditis. Ein weiterer möglicher Mechanismus ist, dass aktivierte T-Zellen übermäßig viel Interferon-alpha, Granzyme B und TNF-alpha produzieren, was zu Herzschäden führen kann. Daher könnte die Blockade von TNF-alpha ein Ansatz sein, um die Manifestation einer ICI-bedingten Kardiotoxizität zu verhindern. Die ICI-assoziierte Kardiotoxizität tritt typischerweise in den ersten Monaten unter der ICI-Therapie auf. Eine verzögerte, chronische Kardiotoxizität, wie wir sie von der Chemotherapie kennen, ist bei mit ICI behandelten Patienten nicht beschrieben.

Immun-vermittelte Nephrotoxizität

Eine Nephrotoxizität unter ICI tritt eher selten auf, wird aber aufgrund diagnostischer Schwierigkeiten häufig unterschätzt. Unter einer ICI-Therapie kann es zu einer akuten Niereninsuffizienz im Rahmen einer interstitiellen Nephritis kommen, wobei mehrere Kompartimente der Niere (Glomeruli, proximale/distale Tubuli und interstitielles Gewebe) betroffen sein können. Wie bei den meisten anderen irAE ist auch das Risiko einer immun-vermittelten Nephritis bei einer Kombinationstherapie mit anti-PD-1/PD-L1 und anti-CTLA-4 Antikörpern höher als bei einer Monotherapie. Besonders zu beachten ist das Risiko einer Nierenfunktionsstörung bei der Kombination einer ICI-Therapie mit einer Chemotherapie. Andere Arten von Nierenschäden, wie eine IgA-Nephropathie sowie eine renale tubuläre Azidose können ebenfalls mit ICI in Verbindung gebracht werden. Veränderungen im Elektrolythaushalt, einschliesslich Hyponatriämie, Hypokalzämie, Hypokaliämie und Fanconi-Syndrom, erfordern eine sorgfältige Überwachung, um lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden.

Pulmonale Nebenwirkungen

Über eine Atemwegstoxizität aufgrund von ICIs wird häufig berichtet. Die Häufigkeit respiratorischer irAE korreliert mit bestimmten Tumorarten, einschließlich einer erhöhten Inzidenz bei Patienten mit Bronchialkarzinom, wobei 17 % der Patienten mit einem nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom über mindestens eine respiratorische irAE berichten. Pulmonale irAE treten typischerweise in den ersten drei Monaten der Therapie auf, wobei die Inzidenz bei Männern höher ist als bei Frauen. Dies möglicherweise, weil die Inzidenz von Lungenkrebs bei Männern höher ist als bei Frauen. Anti-PD-1- und anti-PD-L1 Therapien waren signifikant mit respiratorischer Toxizität assoziiert, während der kausale Zusammenhang zwischen anti-CTLA-4 Antikörpern und respiratorischer Toxizität nicht signifikant war. Pulmonale irAE manifestieren sich typischerweise als interstitielle Lungenerkrankungen.

Management von immun-vermittelten Nebenwirkungen

Der breite Einsatz der Immuntherapien erfordert Kenntnisse über die häufigen und typischen Nebenwirkungen von allen Fachpersonen, die in die Betreuung von Tumorpatienten involviert sind. Die meisten irAE sind reversibel, wenn sie rechtzeitig diagnostiziert werden. Daher ist es wichtig, bei Patienten, die unter einer Immuntherapie stehen bei neu auftretenden Symptomen oder Befunden immer an eine mögliche immun-vermittelte Reaktion zu denken.
Die Behandlung von irAE folgt einem Ansatz, der dem von Autoimmunerkrankungen ähn elt. Kortikosteroide sowie andere Immunmodulatoren spielen eine zentrale Rolle. Zudem sollte die Immuntherapie immer pausiert werden. Eine Dosisanpassung ist nicht empfohlen, da die Nebenwirkungen weitgehend dosisunabhängig sind. Ein definitiver Abbruch der Therapie sollte in Abhängigkeit der Art und des Schweregrades der Nebenwirkung evaluiert werden. Für diese Entscheidung und die generelle Handhabung der immun-vermittelten Nebenwirkungen ist eine enge Abstimmung zwischen dem behandelnden Onkologen/Hämatologen und anderen Fachspezialisten notwendig. An vielen Kliniken haben sich Immuntherapie-Boards etabliert, bei denen komplexe Fälle interdisziplinär besprochen werden.
Leichtgradige Nebenwirkungen bedürfen mit wenigen Ausnahmen keine immunsuppressive Therapie und können durch eine alleinige Pausierung des ICI kontrolliert werden. Die meisten irAE Grad 2 können durch die Gabe von Kortikosteroiden (Anfangsdosis 0,5-1 mg/kg/Tag Prednison oder Äquivalent) behandelt werden. Bei irAE des Grades 3 empfiehlt sich der Einsatz hochdosierter Kortikosteroide (Prednison 1-2 mg/kg/Tag oder äquivalente Kortikosteroide). Die Steroide sollten unter sorgfältiger Überwachung der Symptome über 4-6 Wochen ausgeschlichen werden.
Ein Wiederbeginn der Immuntherapie ist möglich, wenn die Symptome und/oder Laborwerte wieder ≤Grad 1 sind. Bei Auftreten von Grad 4 irAE sollte die Therapie mit ICI dauerhaft abgesetzt werden. Eine Ausnahme davon stellen endokrinologische Nebenwirkungen dar, die einer Hormonsubstitution bedürfen.
Verschiedene immunmodulierende Wirkstoffe, wie zum Beispiel Infliximab, Rituximab oder der anti-Interleukin-6-Rezeptor Inhibitor Tocilizumab stehen für spezifische und schwere irAE zur Verfügung. Auch werden bei schweren Verläufen andere immunsuppressive Substanzen eingesetzt. Hierbei ist stets eine interdisziplinäre Besprechung der Situation notwendig und die problematischen Folgen hinsichtlich der Suppression der Immunantwort auch auf den Tumor sind vorsichtig abzuwägen. Der genaue Ansatz und die Dosierung hängen vom Schweregrad und der Form der vorliegenden irAE ab.
Nach den derzeitigen Behandlungsrichtlinien können die meisten immunbedingten unerwünschten Ereignisse (irAE) kontrolliert und rückgängig gemacht werden, und die Behandlungsdauer beträgt normalerweise 4-8 Wochen. Bei einigen endokrinen Erkrankungen handelt es sich jedoch um besondere Situationen, die eine langfristige Anwendung der Hormonersatztherapie erfordern.
Um möglichen irAE vorzubeugen oder sie früh zu erkennen ist eine gute Beurteilung der Patienten vor Beginn einer Immuntherapie von grosser Bedeutung. Patienten mit vorbestehenden Autoimmunerkrankungen oder anderen entzündlichen Erkrankungen haben ein höheres Risiko und der Einsatz der Immuntherapien sollte vorsichtig abgewogen werden. Zudem sollte bei allen Patienten vor Beginn der Therapie eine ausführliche Anamnese erhoben werden und auch sollten einige Laborparameter vor Beginn der Therapie und regelmässig unter laufender Therapie bestimmt werden (u.a. Blutbild, Kreatinin, Elektrolyte, Transaminasen, Glucose, TSH, Cortisol, Troponin) (5). Eine gute Aufklärung der Patienten ist ebenso wichtig wie die Information des Hausarztes und anderer beteiligter Fachspezialisten, damit bei Auftreten von möglichen irAE rasch und richtig reagiert wird.

dipl. med. Christian Diehl

Oberarzt
Kantonsspital Baden
Zentrum für Onkologie & Hämatologie
Im Ergel 1
5404 Baden

christian.diehl@ksb.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Sacha Rothschild

Kantonsspital Baden
Zentrum für Onkologie & Hämatologie
Im Ergel 1
5404 Baden

sacha.rothschild@ksb.ch

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