Anti-Amyloid-Therapien in der Alzheimerbehandlung: Licht und Schatten

Die Alzheimer-Krankheit ist eine schwere und häufige Erkrankung, bei der die derzeitigen Behandlungsmethoden nur symptomatisch wirken und den Krankheitsverlauf nicht beeinflussen. Im Juli 2023 und Juli 2024 wurden Behandlungen mit monoklonalen Antikörpern, die auf eines der an der Pathophysiologie der Krankheit beteiligten Proteine, das ss-Amyloid, wirken, von der FDA in den USA zugelassen und werden derzeit in der Schweiz geprüft. Diese Behandlungen, die einen statistisch signifikanten klinischen Nutzen gezeigt haben, sind mit Nebenwirkungen verbunden, die durch Ödeme oder Hirnblutungen gekennzeichnet sind und als ARIA für Amyloid Related Imaging Abnormalities bezeichnet werden. Eine strenge Auswahl der Patienten und eine sorgfältige Überwachung sind daher unerlässlich, um ein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis zu erzielen.

Alzheimer’s disease is a serious and common illness, and current treatments have only a symptomatic effect and have no influence on its progres- sion. In July 2023 and July 2024, monoclonal antibody treatments acting on one of the proteins involved in the pathophysiology of the disease, B-amyloid, were approved by the FDA in the United States and are currently being evaluated in Switzerland. These treatments, which have shown a statistically significant clinical benefit, are associated with side effects characterised by cerebral oedema or haemorrhage, known as ARIA for Amyloid Related Imaging Abnormalities. Careful patient selection and monitoring will therefore be essential if the benefit-risk ratio is to be favourable.
Key words: Alzheimer, Anti-Amyloid, ARIA

Einführung

Die Alzheimer-Krankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung des Gehirns und die häufigste Ursache für neuro-kognitive Störungen, die meist nach dem 65. Lebensjahr auftreten. Weltweit sind derzeit 50 Millionen Menschen von der Krankheit betroffen, davon etwa 25 000 in der französischsprachigen Schweiz. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung wird diese Zahl voraussichtlich weiter steigen, wobei bis 2050 mit 152 Millionen Patienten weltweit gerechnet wird. Die Alzheimer-Krankheit hat nicht nur Auswirkungen auf die Patienten selbst, sondern auch auf deren Familien, die Gesundheitssysteme, die psychosozialen Systeme und den Arbeitsmarkt, wobei die weltweiten Kosten auf 1 Billion US-Dollar pro Jahr geschätzt werden (1).

Zu den häufigen klinischen Erscheinungsformen der Krankheit gehören Amnesie, Sprache (primär progressive logopenische Aphasie) oder visuelle Formen (posteriore kortikale Atrophie). Diese behindernden Symptome führen zu einem fortschreitenden Verlust der Selbstständigkeit aufgrund progressiv globaler kognitiver Störungen und zu einer verkürzten Lebenserwartung. Nach der Erstbeschreibung im Jahr 1906 durch Alois Alzheimer wurde nachgewiesen, dass diese Erkrankung insbesondere durch die fortschreitende extrazelluläre Akkumulation von Beta-Amyloid-Proteinen in abnormaler Konformation und die intrazelluläre Akkumulation von Neurofibrillen aus phosphoryliertem Tau-Protein gekennzeichnet ist, was zu zellulärer Dysfunktion und neuronalem Tod führt. Die Symptome treten jedoch erst Jahre nach Beginn dieser Proteinveränderungen auf, die Synergien und Wechselwirkungen mit mikroglialer und vaskulärer Aktivität aufweisen.

Derzeit zielen die Behandlungen für die Alzheimer-Krankheit hauptsächlich darauf ab, die Symptome zu lindern. Die beiden wichtigsten Medikamentenklassen sind Anticholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin und Rivastigmin, die den Acetylcholinspiegel im Gehirn erhöhen, und Memantin, das die Aktivität von Glutamat, den Neurotransmittern, die am Lernen und Gedächtnis beteiligt sind, reguliert. Diese Behandlungen bieten jedoch oft nur einen geringen Nutzen und verändern die Pathophysiologie der Krankheit nicht.
Aufgrund der Häufigkeit und Schwere dieser Krankheit versucht die Wissenschaft seit Jahrzehnten, Behandlungen zu entwickeln, die diese Krankheit behandeln oder ihren Verlauf deutlich verlangsamen können.

Anti-Amyloid-Behandlungen

Nach der Entdeckung der senilen Plaques und dem Vorschlag der Hypothese der Amyloidkaskade durch Hardy et al. im Jahr 1992 (2) wurden zahlreiche klinische Studien durchgeführt, um «disease-modifying»-Therapien zu entwickeln, die auf die an den Krankheitsmechanismen beteiligten Proteine abzielen. Seit den ersten vielversprechenden Ergebnissen bei Mäusen von Schenk et al. im Jahr 1999 wurden mehrere Versuche beim Menschen durchgeführt, die jedoch aufgrund von Komplikationen, ungeeigneten Zielstrukturen oder dem Fehlen pathophysiologischer Biomarker nicht erfolgreich waren. In der Folgezeit führten eine bessere Auswahl der therapeutischen Ziele, verbesserte diagnostische Methoden (insbesondere der Zugang zu Amyloid-PET und die Bestimmung von Proteinen im Liquor) und höhere Dosierungen zu einer schrittweisen Verbesserung der Ergebnisse, bis 2021 die erste Anti-Amyloid-Therapie, Aducanumab, zugelassen wurde (und 2024 wieder zurückgenommen wurde). Seitdem wurde 2023 ein zweites Medikament, Lecanemab, und im Juni 2024 eine weitere Behandlung, Donanemab, zugelassen. Die beiden letztgenannten Medikamente werden derzeit von den Regulierungsbehörden in der Schweiz geprüft. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung ist für die Beratung von Patienten und die Überwachung von Nebenwirkungen von entscheidender Bedeutung. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die Behandlungen, die sich im Zulassungsverfahren befinden, und diskutieren die erwarteten Vorteile und die damit verbundenen Risiken.
Bei diesen Molekülen handelt es sich um menschliche monoklonale Antikörper, die zielen selektiv auf Beta-Amyloid ab und induzieren eine mikrogliale Aktivierung, die zur Phagozytose und zum Abbau des toxischen Proteins führt. Obwohl diese Moleküle auf das gleiche Protein abzielen, verleihen ihre unterschiedlichen Wirkmechanismen Aducanumab eine höhere Affinität zu Oligomeren, Lecanmab mit Protofibrillen und Donanemab mit Amyloid-Plaque.

Nach einer Phase-2-Studie mit vielversprechenden Wirksamkeitsergebnissen wurde Aducanumab in zwei randomisierten klinischen Studien der Phase 3 (ENGAGE und EMERGE) mit über 3200 Patienten in 20 Ländern untersucht. Die Studien zeigten eine deutliche dosisabhängige Senkung der Amyloid- und Tau-Belastung sowie eine Verlangsamung des Rückgangs des CDR-Scores um 18 % über 18 Monate in der EMERGE-Studie und um 15 % über 18 Monate in der ENGAGE-Studie, wobei nur in der ersten Studie signifikante Ergebnisse erzielt wurden (3).

Ähnliche Ergebnisse wurden in den Phase-3-Studien CLARITY-AD und TRAILBLAZER-ALZ 2 mit Lecanemab bzw. Donanemab erzielt. Die erste Studie ergab eine Verlangsamung des kognitiven Verfalls um 27 % auf der CDR-SB-Skala nach 18 Monaten zwischen der Experimental- und der Placebogruppe, die zweite um 36 % auf der CDR-Skala und um 41 % beim Verlust der Selbstständigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens.

Neben der ähnlichen Wirkungsweise unterscheiden sich diese Behandlungen auch in der Art der Verabreichung. Lecanemab wird zweimal im Monat intravenös verabreicht. Donanemab wurde einmal im Monat intravenös verabreicht.

Diese Studien betrafen Patienten in frühen Stadien der Krankheit (MMSE > 22/30), mit einem gemeinsamen Phänotyp (Amnesie) und mit einer Pathophysiologie der pro- uvativen Alzheimer-Krankheit (Amyloid-positiv).

Diese positiven Ergebnisse für die primären Outcomes rechtfertigten die Zulassung durch die US-Behörden. Die klinische statistische Signifikanz und der pathophysiologische Proof of Concept sind unbestreitbar. Das klinische Ausmass des beobachteten Effekts und der langfristige Nutzen bleiben jedoch angesichts des Studiendesigns und der auf 18 Monate begrenzten Dauer bei einer wenig symptomatischen Population fraglich. Die ersten gemeldeten Ergebnisse der Erweiterungsphase und die günstigen Daten zu den Biomarkern der Krankheit (Tau-Protein) deuten auf einen langfristigen krankheitsmodifizierenden Effekt hin.

Dieser biologische Effekt wurde bei mehr als 30 % der behandelten Patienten mit klinischen und radiologischen Nebenwirkungen in Verbindung gebracht, die grösstenteils asymptomatisch waren.

Unerwünschte Wirkungen – ARIAs

Die wichtigsten Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Anti-Amyloid-Behandlungen sind die sogenannten «Amyloid Related Imaging Abnormalities», kurz ARIAs genannt. Diese Abnormitäten, die durch bildgebende Verfahren im Gehirn (MRT) festgestellt werden, werden durch die Behandlung zur Entfernung von Amyloid-Plaques begünstigt. Es gibt zwei Arten von ARIAs: ARIA-E, die durch vasogene Ödeme bedingte Anomalien aufweisen, und ARIA-H, bei denen es sich um Mikroblutungen oder oberflächliche Hämosiderose handelt. Obwohl die eigentliche Physiopathologie der ARIAs nicht bekannt ist, scheint die Schädigung der Gefässwandintegrität zu Beginn der Immunisierung (in den ersten 3–6 Monaten der Behandlung), die durch die Eliminierung der pathologischen Proteine durch die Antikörper verursacht wird, signifikant damit in Verbindung zu stehen.

Neben der Behandlung und einer prävalenten Amyloidangiopathie ist das Vorhandensein eines ε4/ε4-APOE-Protein-Allels der dritte Faktor, der das Risiko für ARIAs signifikant erhöht. Obwohl in den meisten Fällen asymptomatisch, können sich diese Anomalien durch ungewöhnliche Kopfschmerzen, Verwirrung oder Schwindel bemerkbar machen. In schwereren Fällen können sie zu fokalen neurologischen Zeichen, Bewusstseinsstörungen, epileptischen Anfällen oder zum Tod führen.

Seit ihrer Beschreibung in den Bapineuzumab-Studien von Sperling et al. im Jahr 2011 haben Expertenausschüsse Empfehlungen für die Nachsorge von Patienten, die mit Anti-Amyloid-Medikamenten behandelt werden, und für den Umgang mit möglichen ARIAs formuliert (4, 5).

Welche Empfehlungen zur Nutzung gibt es?

In der Schweiz werden derzeit Empfehlungen für eine angemessene Anwendung erarbeitet, die auf den Kriterien der CLARITY-Studie und den von Cummings 2023 veröffentlichten Empfehlungen basieren.

(6). Die Behandlungen werden in geeigneten Einrichtungen durchgeführt, die über das nötige Fachwissen und die technischen Voraussetzungen für die Durchführung und den Umgang mit möglichen Nebenwirkungen verfügen. Die wichtigsten Elemente, die Sie kennen sollten, sind die folgenden:

1. Auswahl der Patienten

In Frage kommen Patienten mit Alzheimer-Krankheit im Frühstadium und Amyloid-Biologie. Diejenigen mit dem höchsten Risiko für Behandlungskomplikationen, wie z. B. Patienten, die Antikoagulantien einnehmen, die einen ischämischen Schlaganfall innerhalb eines Jahres erlitten haben, die eine schwere Leukaroidose oder eine wahrscheinliche Amyloidangiopathie haben, sowie Patienten mit schweren somatischen oder psychiatrischen Komorbiditäten (z. B. Krebs oder instabile Organinsuffizienz) müssen entsprechend behandelt werden. Es wird geschätzt, dass weniger als 10 % der Alzheimer-Patienten, die in Gedächtniszentren behandelt werden, Zugang zu einer Behandlung haben werden (7).

2. Nachverfolgung von Patienten

Patienten unter Behandlung sollten regelmässig radiologisch mittels MRT überwacht werden und bei Symptomen, die auf eine ARIA hindeuten, sofort eine Bildgebung erhalten. Bei Auftreten einer leichten, asymptomatischen ARIA kann die Behandlung unter engmaschiger Überwachung fortgesetzt werden. In den anderen Fällen sollte die Behandlung ausgesetzt werden, wobei eine regelmässige radiologische Überwachung erfolgen sollte, bis die Anomalien und Symptome abgeklungen sind. Bei schweren Symptomen, Rezidiven oder schweren ARIAs sollte die Behandlung gemäss den Empfehlungen der Arbeitsgruppe ADRD Therapeutics (6) endgültig abgebrochen werden.

3. Umgang mit symptomatischen ARIAs

Bei ARIAs wird eine neurologische Beratung empfohlen, sowie gegebenenfalls eine Krankenhauseinweisung. Je nach Symptomen kann eine Behandlung mit Kortikoiden oder Antikonvulsiva in Betracht gezogen werden (6).

Schlussfolgerung

Anti-Amyloid-Therapien sind die ersten krankheitsmodifizierenden Therapien, die für die Behandlung der Alzheimer-Krankheit im Frühstadium zugelassen wurden, und bieten neue Hoffnung für diese häufige und schwere Krankheit, die Millionen von Familien auf der ganzen Welt betrifft. Trotz dieser Hoffnung sind die bislang beobachteten Vorteile in den ersten Studien jedoch relativ bescheiden und die Auswirkungen auf die Gesundheit sind noch nicht absehbar.

Die Nebenwirkungen können schwerwiegend sein. Eine sorgfältige Auswahl von Patienten mit einem günstigen Ansprechprofil und einem geringen Risiko von Nebenwirkungen sowie eine sorgfältige Nachsorge durch spezialisierte Zentren sind daher unerlässlich, um eine optimale Behandlung zu gewährleisten.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Übersetzung aus la gazette médicale 09/2024

Henri Perrin

Centre Leenaards de la mémoire
Abteilung für klinische Neurowissenschaften,
CHUV und UNILL
Chemin de Mont-Paisible 16
1011 Lausanne

Dr. med. Olivier Rouaud

Centre Leenaards de la mémoire
Abteilung für klinische Neurowissenschaften,
CHUV und UNILL
Chemin de Mont-Paisible 16
1011 Lausanne

Prof. Dr. med. Gilles Allali

Centre Leenaards de la mémoire
Abteilung für klinische Neurowissenschaften,
CHUV und UNILL
Chemin de Mont-Paisible 16
1011 Lausanne

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Breijyeh Z, Karaman R. Comprehensive Review on Alzheimer’ s Disease: Causes and Treatment. Molecules. 2020 Dec 8;25(24):5789. doi: 10.3390/molecules25245789. PMID: 33302541; PMCID: PMC7764106.
2. Hardy JA, Higgins GA. Alzheimer’ s disease: the amyloid cascade hypothesis. Science. 1992 Apr 10;256(5054):184-5. doi: 10.1126/science.1566067. PMID: 1566067.
3. Budd Haeberlein S, Aisen PS, Barkhof F, Chalkias S, Chen T, Cohen S, Dent G, Hansson O, Harrison K, von Hehn C, Iwatsubo T, Mallinckrodt C, Mummery CJ, Muralidharan KK, Nestorov I, Nisenbaum L, Rajagovindan R, Skordos L, Tian Y, van Dyck CH, Vellas B, Wu S, Zhu Y, Sandrock A. Two Randomized Phase 3 Studies of Aducanumab in Early Alzheimer’ s Disease. J Prev Alzheimers Dis. 2022;9(2):197-210. doi: 10.14283/jpad.2022.30. PMID: 35542991.
4. Cummings J, Aisen P, Apostolova LG, Atri A, Salloway S, Weiner M. Aducanumab: Appropriate Use Recommendations. J Prev Alzheimers Dis. 2021;8(4):398-410. doi: 10.14283/jpad.2021.41. PMID: 34585212; PMCID: PMC8835345.
5. Cummings J, Rabinovici GD, Atri A, Aisen P, Apostolova LG, Hendrix S, Sabbagh M, Selkoe D, Weiner M, Salloway S. Aducanumab: Appropriate Use Recommendations Update. J Prev Alzheimers Dis. 2022;9(2):221-230. doi: 10.14283/jpad.2022.34. PMID: 35542993; PMCID: PMC9169517.
6. Cummings J, wstolova L, Rabinovici GD, Atri A, Aisen P, Greenberg S, Hendrix S, Selkoe D, Weiner M, Petersen RC, Salloway S. Lecanemab: Appropriate Use Recommendations. J Prev Alzheimers Dis. 2023;10(3):362-377. doi: 10.14283/jpad.2023.30. PMID: 37357276; PMCID: PMC10313141.
7. Chiabotti PS, Rouaud O, Allali G. Reader Response: Eligibility for Anti-Amyloid Treatment in a Population-Based Study of Cognitive Aging. Neurology. 2024 May 14;102(9):e209375. doi: 10.1212/WNL.0000000000209375. Epub 2024 Apr 22. PMID: 38648577.

Wirkung von Gleichgewichtstraining: Integration eines Programms in der Rehabilitation

Das Altern beeinträchtigt die Koordination und erhöht das Risiko von Stürzen, was sich auf die Lebensqualität der älteren Menschen auswirkt. Fortschritte in den Neurowissenschaften legen nahe, dass ein aktiver Lebensstil und das Trainieren des Gleichgewichts wichtig sind, um dieses Risiko zu mindern. Die steigende Lebenserwartung in Verbindung mit der Beeinträchtigung der posturalen Kontrolle im Alter erklärt die hohe Prävalenz von Stürzen bei Senioren und rechtfertigt die Bedeutung von gezielten Rehabilitationsprogrammen. Die Zusammenarbeit zwischen Bewegungsphysiologen und Physiotherapeuten im Réseau Hospitalier Neuchâtelois (RHNe) führt zu neuen Ansätzen in der Rehabilitation innerhalb der Institution und mündet in der Einführung eines Koordinationstrainings in Form einer therapeutischen Gruppe. Eine interdisziplinäre Arbeit, die wissenschaftliches Fachwissen mit klinischer Anwendung verbindet mit dem Ziel, eine optimale Betreuung zu erreichen.

Aging affects coordination and increases the risk of falls, impacting quality of life. Advances in neuroscience suggest the importance of an active lifestyle and balance training to mitigate these effects. The increasing life expectancy and differences in postural control between the young and elderly highlight the high incidence of falls among seniors, justifying the need for tailored rehabilitation programs. Collaboration between exercise physiologists and physiotherapists at RHNe introduces novel rehabilitation approaches within the institution, leading to the establishment of a coordination training group. This interdisciplinary work combines scientific expertise and clinical application for improved care.
Key words: Aging, Coordination, Fall Prevention, Rehabilitation, Interprofessional Collaboration

Wissenschaft und Gleichgewicht: Die Mobilität von Senioren neu überdenken

Auch wenn einige Forschungsarbeiten in der Vergangenheit bereits auf die altersbedingten Funktionsverluste hingewiesen hatten (1), haben die Neurowissenschaften und die kognitive Forschung hauptsächlich der letzten Jahre unser Denken über das Altern verändert, vor allem in Bezug auf Gesundheit und Lebensqualität (2). Das Ausmass dieser Verluste, wie z.B. ein schlechteres Gedächtnis, ein erhöhtes Sturzrisiko oder eine langsamere Informationsverarbeitung, kann zwar von Person zu Person variieren, aber beim Vergleich von Senioren und jungen Erwachsenen zeigen sich die Unterschiede generell (3). Ein aktiver Lebensstil, der körperliche, kognitive und soziale Anreize bietet, scheint nicht nur für die Verringerung von Funktionsverlusten und die Verbesserung der Mobilität älterer Menschen Vorteile zu bringen, sondern auch für die Aufrechterhaltung guter kognitiver Fähigkeiten (4). Die Kontrolle des Gleichgewichts hat für die Aufrechterhaltung oder Wiedererlangung eines aktiven Lebensstils entscheidende Bedeutung, erfordern ja die verschiedenen Prozesse der motorischen Kontrolle schon bei alltäglichen Aktivitäten wie Gehen oder Radfahren eine kontinuierliche Integration von multisensorischen Informationen über den Körper im Raum (5).

Prävalenz von Stürzen bei Senioren

In den entwickelten Ländern beträgt die Lebenserwartung von 65-jährigen Personen etwa 17 Jahre für Männer und 21 Jahre für Frauen. Zudem ist belegt, dass der posturale Kontrollmechanismus zwischen jungen und alten Menschen erheblich variiert (6), was die Zunahme von Stürzen bei Senioren erklärt. Mindestens ein Drittel der über 65-Jährigen erleidet mindestens einen Sturz pro Jahr (7). Diese Rate steigt mit zunehmendem Alter rapide an und erreicht Werte von 56 % in den Altersgruppen von 90 bis 99 Jahren (8). In der Schweiz zeigen Statistiken, dass Stürze die Hauptursache für Todesfälle und Verletzungen durch nicht-berufliche Unfälle sind (9). Jährlich verletzen sich nicht weniger als 300 000 Menschen aufgrund von Stürzen, was mehr als die Hälfte aller Unfälle zuhause ausmacht (10).

Beeinträchtigung der posturalen Kontrolle

Ältere Menschen zeigen signifikante Unterschiede in ihrer posturalen Kontrolle bei der Ausführung einer Doppelaufgabe (Dual-Task, DT) (11). Dieser Unterschied ist umso ausgeprägter, je komplexer die Aufgabe ist (12): Es ist eine Verminderung der Leistung in Verbindung mit der konkurrierenden Aufgabe zu beobachten. In Verbindung mit dieser Verschlechterung der posturalen Kontrolle kann die Zunahme von Stürzen bei Personen über 65 Jahren durch eine Schwächung bestimmter altersbedingter neuromechanischer Fähigkeiten, wie z. B. der sensorischen Gewichtung, erklärt werden (13). Die nachlassende Kontrolle der sensorischen Gewichtung scheint eine wichtige Rolle bei der Zunahme von Stürzen bei Senioren zu spielen (14). Die Gründe für diese positive Korrelation zwischen der Beeinträchtigung der posturalen Kontrolle und dem steigenden Alter sind vielfältig: Die Sarkopenie, d.h. der unfreiwillige Verlust von Muskelmasse, ist eine kritische pathophysiologische Komponente der Gebrechlichkeit (15), die Verschlechterung der sensorischen Fähigkeiten wie Sehen, Hören und Tasten, eine verminderte körperliche Fitness, die zu einem Verlust der Muskelkraft (insbesondere der Explosivkraft) führt, eine längere Immobilisierung, die Nebenwirkungen, die sich aus der Einnahme bestimmter Medikamente ergeben, und schliesslich die Angst vor dem «Kontrollverlust» und vor der Gefahr zu stürzen (6). Ein Sturz im Alter kann schwerwiegende Folgen haben und die Lebensqualität einer Person drastisch beeinträchtigen. Daher ist es wichtig, die Ursachen und Risiken von Stürzen bei älteren Menschen zu untersuchen. Ein besseres Verständnis der Beeinträchtigung der posturalen Kontrolle ermöglicht, den potentiellen Verminderungen gewisser neuromechanischer Fähigkeiten vorzubeugen und so die Betreuung der älteren Menschen zu optimieren mit dem Ziel, ihr Sturzrisiko zu verringern.

Die Auswirkungen von Gleichgewichtstraining

Im Kampf gegen die Zunahme von Stürzen bei älteren Menschen scheint Gleichgewichtstraining insbesondere bei der Verbesserung gewisser Parameter der posturalen Kontrolle (16), aber auch auf struktureller Ebene (17) von Vorteil zu sein. Ausdauernde körperliche Aktivität kann die posturale Kontrolle verbessern (18). Mehrere Studien (19) empfehlen das Gleichgewichtstraining als wirksame Massnahme, um der natürlichen Beeinträchtigung bestimmter neuromechanischer und kognitiver Funktionen entgegenzuwirken (20). Die positiven Effekte, die aus dem Training und Verbessern des Gleichgewichtes resultieren, zeigten Verhaltensverbesserungen auf mehreren Ebenen, wie z. B.: geringere Inzidenz von Stürzen (mit oder ohne medizinische Folgen), bessere Rehabilitationsfähigkeiten, weniger Nackenschmerzen, verbesserte sensomotorische Funktionen der Halswirbelsäule und verbesserte plyometrische Leistungen. Diese Forschungsergebnisse unterstreichen die zahlreichen Vorteile, die sich aus dem Gleichgewichtstraining bei älteren Menschen ergeben. Daher ist die Einführung solcher Programme in der Rehabilitation von grosser Bedeutung.

Umsetzung: Erfahrungen in RHNe

Einrichtung einer Therapiegruppe «Koordination»

Die Notwendigkeit, ein Gleichgewichtstraining in die Rehabilitation zu integrieren, erscheint daher unerlässlich. Aus diesem Grund und im Rahmen eines institutionellen Projekts zur Verbesserung der Rehabilitationsprozesse wurde ein proaktiver Ansatz entwickelt und geschaffen, um die Lebensqualität unserer Patienten, insbesondere der älteren Rehabilitanden, durch die Gründung einer Therapiegruppe «Koordination» zu verbessern.

Ziele

Das Hauptziel dieser Koordinationsgruppe besteht darin, die motorische Koordination zu stärken; diese Kompetenz ist für ihre täglichen Aktivitäten und zur Vermeidung von Stürzen unerlässlich. Die praktische Arbeit kann sowohl im Sitzen als auch im Stehen durchgeführt werden und ist auf vier Ziele ausgerichtet:
1. Die Patienten für die lebenswichtige Bedeutung der Koordination für ihre täglichen Aktivitäten zu sensibilisieren
2. Die Koordination in allen Bereichen zu verbessern, was insbesondere eine wirksame Prävention vor Stürzen gewährleistet
3. Einfache und reproduzierbare Übungen für zu Hause anzubieten, was die Selbstständigkeit der Patienten und die Kontinuität der Pflege fördert
4. Die Fortschritte jedes Patienten zu beobachten und zu quantifizieren, um die Übungen so anzupassen, dass sie den persönlichen Bedürfnissen entsprechen.

Kriterien

Die Gruppe ist so konzipiert, dass sie ein breites Spek-trum an Patienten aufnehmen und ihnen ein mass-geschneidertes und individuelles Programm bieten kann. Jedoch soll die Wirksamkeit und Sicherheit der Sitzungen für alle Teilnehmer gewährleistet sein, weshalb bestimmte Ausschlusskriterien zur Anwendung kommen. Dieses Programm ist ideal für diejenigen, die sich aktiv an den Übungen beteiligen können, mit folgenden Ausnahmen:
1. Patienten mit schweren kognitiven Störungen und einem Mini-Mental State Examination (MMS)-Wert von weniger als 15
2. Patienten mit schwerer Taubheit oder Blindheit
3. Patienten mit Verhaltensstörungen, die die Gruppendynamik beeinträchtigen könnten
4. Patienten mit einer zu starken Abhängigkeit, was durch einen FIM-Wert (Functional Independence Measure)von weniger als 4 für Transfers und Fortbewegung angezeigt wird.

Häufigkeit und Ablauf der Sitzungen

Die Sitzungen der Therapiegruppe «Koordination» finden dreimal pro Woche statt. Unser Ziel war es, die wissenschaftlichen Erkenntnisse so genau wie möglich in die klinische Praxis zu integrieren. Die Forschung legt nämlich eine substantielle Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Gleichgewichts bei einer Frequenz von drei wöchentlichen Sitzungen nahe (21) (Abb. 1).

Die Sitzungen dauern 45 Minuten. Jede Gruppe besteht aus bis zu sechs Patienten, die von einem Bewegungsphysiologen oder einem Physiotherapeuten betreut werden. Die Teilnehmer der Gruppe sind dem Spital bekannte Patienten. Dies ermöglicht eine personalisierte Auswahl der Übungen und erlaubt, deren Anforderungen vorauswählen und so individuell auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen.

Auswahl der Übungen

Die Übungen werden aus einer Reihe von gezielten Übungen ausgewählt, welche sich um fünf Schlüsselthemen drehen: Orientierung, Reaktion, Differenzierung, Rhythmus und Gleichgewicht (ORDER). Jedes dieser Themen bietet sechs Schwierigkeitsgrade, vom einfachsten bis zum komplexesten. Diese Abstufung ermöglicht einen hohen Grad an Personalisierung. Einfache Übungen, wie das Stehen auf einer instabilen Oberfläche, oder komplexere Übungen, wie die Ausführung einer Doppelaufgabe (DT), ermöglichen es, den Schwierigkeitsgrad fein auf die Fähigkeiten des Patienten abzustimmen (Abb. 2) und auch seinen Fortschritten anzupassen. Diese Anpassungsfähigkeit sorgt nicht nur für maximale Sicherheit beim Üben, sondern erhält auch das Engagement der Patienten auf hohem Niveau, was ein Schlüsselfaktor für den Erfolg eines jeden Rehabilitationsprogramms ist.

Positives Feedback

Empirische Rückmeldungen deuten auf eine gute Adhärenz der Patienten hin und betonen, dass bestimmte Aspekte der Koordination, die lange Zeit vernachlässigt wurden, wie Rhythmus oder Reaktion, wieder antrainiert werden konnten. Die Patienten erhöhten die Anzahl ihrer täglichen Bewegungen und gaben an, die Vielfalt der Bewegung zu schätzen. Physiotherapeuten, die Einzelsitzungen als Teil ihrer spezifischen Rehabilitationspfads des Patienten anboten, gaben auch positive Rückmeldungen ab über den Trainingserfolg für ihre Patienten aus der Gruppe.

Neue Kooperationen: Komplementarität von Physiologe und Physiotherapeut

Die Gründung einer Koordinationsgruppe innerhalb unseres Netzwerks ergab sich aus der bereichernden Zusammenarbeit zwischen dem Bewegungsphysiologen und dem Physiotherapeuten. Dies hat eine innovative Perspektive auf das Training und die Therapie unserer Patienten eröffnet.

Der Bewegungs- oder Sportphysiologe liefert eine solide wissenschaftliche Grundlage, die die gesundheitlichen Vorteile körperlicher Aktivität hervorhebt. Sein fundiertes Wissen in den Bereichen Gleichgewicht, Ausdauer, der Biomechanik der Bewegung und der Kraft ermöglicht die Einführung innovativer Praktiken. Insbesondere für den letztgenannten Bereich und im Rahmen eines Rehabilitationszentrums bringt er wissenschaftliche Präzision in die Kraftarbeit ein. Er passt die Arbeitsbelastung individuell an die relative Maximalkraft jedes Patienten an und nutzt das gesamte Spektrum des Trainings aus, dh. gegen Widerstand, Maximalkraft, Explosivkraft.

Um den für die Patienten fixierten Therapiezielen am besten gerecht zu werden, erarbeitet der Bewegungs- oder Sportphysiologe adaptierte Protokolle, die sich auf gesicherte Daten und wirksamen und abwechslungsreichen Methoden abstützen, wie das exzentrische (22) oder Maximalkraft-Training. Die letztere Form erfordert weniger Wiederholungen, aber mit mehr Gewicht, um den Zuwachs an Kraft zu maximieren (Abb. 3).

Wenn z. B. das gewünschte Ziel ist, Kraft zu gewinnen, empfehlen gängige Protokolle 10-20 Wiederholungen mit Gewichten unter 75 % der Maximalkapazität, gefolgt von kurzen Pausen.

Für eine optimale Verbesserung der Kraft empfiehlt die Fachliteratur jedoch seit langem kraftintensivere Uebungen (> 75 %), die aber auf 8 Wiederholungen limitiert und von längeren Pausen (2–4 Min) gefolgt sind (23).

Durch diese wissenschaftliche Expertise erfährt die Verschreibungspraxis von Übungen einen neuen Ansatz, der sich von konventionellen Praktiken entfernt und ausgeprägtere physiologische Adaptationen empfiehlt. Dieser Ansatz trägt auch dazu bei, die Zurückhaltung von Physiotherapeuten bei der Anwendung von Kraftübungen, insbesondere mit höheren Intensitäten, bei als fragil geltenden Patienten zu zerstreuen.

Parallel dazu bringt der Physiotherapeut eine ergänzende Dimension ein, nämlich einen klinischeren und funktionelleren Blickwinkel einnimmt, der direkt auf die Bedürfnisse der Patienten ausgerichtet ist. Dieses Fachwissen ermöglicht es, die Durchführbarkeit der vorgeschlagenen Übungen abzuschätzen und so ihre Anpassung und Sicherheit für jeden Einzelnen zu gewährleisten. Darüber hinaus fördert die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Professionen einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem wissenschaftliche Theorie auf klinische Praxis trifft, was einen optimalen Nutzen für den Patienten ergibt.

Diese Komplementarität hat zu einer neuen Sichtweise auf die Anwendung der Bewegungswissenschaften bei einer als gebrechlich geltenden Bevölkerung geführt. Sie ermöglicht, über traditionelle therapeutische Ansätze hinauszugehen, Befürchtungen zu beseitigen und etablierte Praktiken in Frage zu stellen.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Übersetzung aus la gazette médicale 05-06/2024

Jeremy Barfuss

Réseau Hospitalier Neuchâtelois
Coordinateur Médecine du Sport /
Physiologiste du Sport
Swiss Olympic Sport Medical Base
Route de Landeyeux
2046 Fontaines

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Auswirkungen des Alterns auf die Koordination und das erhöhte Sturzrisiko beeinträchtigen die Lebensqualität.
  • Die Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität unterstützt die Koordinationsfähigkeit und reduziert die negativen Auswirkungen des Alterns.
  • Die Zusammenarbeit zwischen Bewegungsphysiologen und Physiotherapeuten kann zur Einführung neuer Ansätze führen, die die Betreuung älterer Patienten in der Rehabilitation erheblich verbessern.

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20. Liu-Ambrose T, Donaldson MG. Exercise and cognition in older adults: is there a role for resistance training programmes? Br J Sports Med. 19 nov 2008;43(1):25-7.
21. Lesinski M, Hortobágyi T, Muehlbauer T, Gollhofer A, Granacher U. Effects of Balance Training on Balance Performance in Healthy Older Adults: A Systematic Review and Meta-analysis. Sports Med. déc 2015;45(12):1721-38.
22. Suchomel TJ, Nimphius S, Bellon CR, Stone MH. The Importance of Muscular Strength: Training Considerations. Sports Med. avr 2018;48(4):765-85.
23. Benedict T. Manipulating Resistance Training Program Variables to Optimize Maximum Strength in Men: A Review. J Strength Cond Res. 1999;13(3):289.

Teil 9: Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen mit der Industrie

Seit 50 Jahren veröffentlicht die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizin-ethische Richtlinien. Diese bieten Informationen und Orientierungshilfen für den Arbeitsalltag von Ärztinnen, Ärzten und weiteren Gesundheitsfachpersonen. Die meisten Richtlinien sind Teil der FMH-Standesordnung. In einer losen Serie hatte die Zeitschrift «Primary and Hospital Care» die Inhalte einzelner SAMW-Richtlinien anhand praktischer Beispiele vorgestellt. Teil 9 erscheint erstmals in «der informierte arzt/die informierte ärztin». Alle bisher publizierten Beiträge dieser Serie sind hier zu finden: www.samw.ch/richtlinien/fallbeispiele

Ein Fortbildungsangebot einer pharmazeutischen Firma an einen hausärztlichen Qualitätszirkel wirft Fragen zu möglichen Interessenkonflikten auf. Die SAMW-Richtlinien betonen, dass medizinische Entscheidungen unabhängig von finanziellen Anreizen sein müssen und transparente Rahmenbedingungen erfordern. Insbesondere Gratisproben, Honorare und luxuriöse Rahmenprogramme stehen im Spannungsfeld zwischen Wissenserweiterung und Marketinginteressen.

An offer of further training from a pharmaceutical company to a GP quality circle raises questions about possible conflicts of interest. The SAMS guidelines emphasize that medical decisions must be independent of financial incentives and require transparent framework conditions. In particular, free samples, fees and luxurious supporting programs are caught between knowledge expansion and marketing interests.

Key Words: SAMS guidelines, conflict of interest, free samples, honoraria

Aus der Praxis: Fortbildungsangebot eines Aussendienstmitarbeiters

Dr. L.M. leitet einen hausärztlichen Qualitätszirkel in der Zentralschweiz. Die zehn Mitglieder dieses Qualitätszirkels, alle im gleichen Notfallkreis tätig, treffen sich einmal monatlich zu einem fachlichen Austausch.

Nun ist der Aussendienstmitarbeiter der Firma X bei Dr. L.M. zu Besuch und stellt ihm ein neues hochwirksames Medikament zur Behandlung von Asthma und COPD vor. Die Wirksubstanz dieses Medikamentes sei in keiner Weise vergleichbar mit den anderen sich auf dem Markt befindlichen Substanzen für diese Indikationen. Daher müsse das Medikament mit einem eigens hierfür entwickelten Inhalator appliziert werden.

Der Aussendienstmitarbeiter macht Dr. L.M. folgendes Angebot: Speziell für die Mitglieder des Qualitätszirkels würde der Medical Advisor der Firma X, selbst Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, im Rahmen eines nächsten Treffens einen Vortrag zur Thematik Asthma und COPD halten. Die Ärztinnen und Ärzte sowie die medizinischen Praxisassistentinnen würden auch im Gebrauch des Inhalators geschult. Anschliessend an den Vortrag würden den zehn Mitgliedern des Qualitätszirkels kostenlos je zehn Inhalatoren und zehn Originalpackungen des neuen Medikamentes abgegeben, damit die Hausärztinnen und -ärzte persönliche Erfahrungen sammeln könnten. Die Firma X wäre dankbar für Rückmeldungen der Hausärztinnen und -ärzte zu drei Fragen auf einem vorbereiteten Formular. Für jede erfolgte Rückmeldung könne die Firma X ein Honorar von 250 CHF ausbezahlen. Falls Bedarf für weitere Inhalatoren und Originalpackungen bestehe, könnten diese den Hausärztinnen und -ärzten zu einem vorteilhaften Preis abgegeben werden. Der Aussendienstmitarbeiter würde sich freuen, die zehn Hausärztinnen und -ärzte gemeinsam mit ihren Praxisassistentinnen und dem Medical Advisor der Firma X im Anschluss an den Vortrag in das nahe gelegene, mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant zum Abendessen einzuladen.

Was sagen die SAMW-Richtlinien (1) dazu?

Medizinisches Handeln muss sich stets am Patientenwohl und den Interessen der Gesellschaft orientieren. Wenn medizinische Fachpersonen und Gesundheitsorganisationen mit der Industrie zusammenarbeiten, können Eigeninteressen und Interessenkonflikte das professionelle Verhalten beeinflussen und die Glaubwürdigkeit von medizinischen Fachpersonen sowie das in sie gesetzte Vertrauen beeinträchtigen.

Gemäss Definition besteht ein Interessenkonflikt aus ­verschiedenen Umständen, von denen insgesamt ein bedeutsames Risiko ausgeht, dass Sekundärinteressen das ­professionelle Urteilsvermögen im Verhältnis zu Primärinteressen unangemessen beeinflussen (2).

Die Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen und der Industrie wird durch diverse rechtliche Bestimmungen geregelt. Hervorzuheben sind u.a. das Heilmittelgesetz (HMG), das Krankenversicherungsgesetz (KVG), die Verordnung über Integrität und Transparenz im Heilmittelbereich (VITH) und die Arzneimittel-Werbeverordnung. Die Fachpersonen sind verpflichtet, die Regelungen einzuhalten. Die SAMW-Richtlinien ergänzen und konkretisieren die Bestimmungen.

In den SAMW-Richtlinien werden Handlungsprinzipien dargelegt, die dazu dienen
– Interessenkonflikte zu erkennen,
– Interessenkonflikte zu vermeiden, sowie
– transparent und proaktiv mit Interessenkonflikten umzugehen.

Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle die folgenden Prinzipien, die in den Richtlinien erläutert werden:
Trennungsprinzip: Medizinisches Handeln muss den Patienten gegenüber unbeeinflusst sein von angebotenen, versprochenen oder erhaltenen Leistungen oder Vorteilen. Die entsprechenden Vorgänge und Entscheidungen sind klar voneinander zu trennen.

Transparenzprinzip: Interessenbindungen und damit verbundene mögliche Interessenkonflikte sind offenzulegen. Geldwerte Leistungen oder Vorteile sollen dargelegt und der Umfang der erhaltenen geldwerten Leistungen soll zugänglich sein.

Äquivalenzprinzip: Interessenkonflikte sollen möglichst vermieden werden. Um Interessenkonflikte gar nicht entstehen zu lassen, müssen Leistungen und Gegenleistungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Bei der Bemessung des Werts der Gegenleistung ist zudem zu berücksichtigen, ob diese bereits durch anderweitige gesetzliche Leistungen vergütet wird.

Die Richtlinien leiten zu einer selbstkritischen Reflexion über Abhängigkeiten und Eigeninteressen an. Zudem empfehlen sie, bei Vorliegen von möglichen Interessenkonflikten Verträge mit der Industrie immer von je zwei Personen pro Institution unterzeichnen zu lassen. Vereinbarungen über die Gewährung von geldwerten Leistungen und Vorteilen sind schriftlich festzuhalten und Geschenke resp. Vorteile von bescheidenem Wert (maximal 300 CHF/Jahr) dürfen nur angenommen werden, wenn das Geschenk resp. der Vorteil in Zusammenhang mit der Berufsausübung steht, für die medizinische Praxis von Belang ist und den Patientinnen und Patienten zugutekommt.

Professionelle Integrität im Zusammenhang mit der Unterstützung von Aus-, Weiter- und Fortbildungsaktivitäten bedeutet, dass
– Ausbildungsinhalte und Referentinnen unabhängig von den unterstützenden Organisationen gewählt werden;
– Fachthemen objektiv und gestützt auf wissenschaftliche Kriterien behandelt werden;
– die Zusammenarbeit mit der Industrie schriftlich geregelt wird;
– die Unterstützung durch die Industrie auch von den Veranstaltenden offengelegt wird und
– Fortbildungsanlässe von mehreren Firmen unterstützt werden (Multisponsoring).

Bedeutung der Richtlinien für den hausärztlichen Qualitätszirkel

In der oben geschilderten Situation ist es entscheidend, dass die Interessenkonflikte erkannt werden: Es besteht eine nicht zu unterschätzende Gefahr, dass das Primärinteresse – im vorliegenden Fall die Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Menschen mit Asthma und COPD nach den WZW-Kriterien gemäss Art. 32 KVG – durch Sekundärinteresse beeinflusst wird. Im vorliegenden Fall durch die Abgabe von Gratispackungen des Medikaments und den geldwerten Leistungen des Honorars für das Ausfüllen des Fragebogens und das Abendessen. Der Erhalt von 250 CHF pro ausgefülltem Fragebogen mit insgesamt drei Fragen sowie das Abendessen im Nobelrestaurant stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Leistung der Ärztin oder des Arztes, womit das Äquivalenzprinzip verletzt ist. Gemäss den SAMW-Richtlinien handelt es sich bei dem angebotenen Abendessen um ein sogenanntes Rahmenprogramm, dessen Finanzierung durch eine pharmazeutische Firma nicht zulässig ist. Nicht problematisch erscheint mit Blick auf den Patientennutzen die Vermittlung von Informationen zur korrekten Handhabung des Inhalators.

Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die hausärztlichen Erfahrungsberichte kaum wissenschaftlichem oder praktisch-medizinischem Erkenntnisgewinn dienen, sondern den Marketing-Interessen der Firma X. Auch wenn der Medical Advisor der Firma X Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie ist, muss davon ausgegangen werden, dass er in seiner Rolle als Medical Advisor bei der Firma X nicht neutral ist und damit als Referent nicht in Frage kommt.

Schlussfolgerungen

Die Richtlinien halten fest, dass die Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten mit der Industrie seit Langem etabliert ist. Sie liegt grundsätzlich im Interesse einer guten Gesundheitsversorgung und trägt zur Mehrung des Wissens, zur Entwicklung neuer und Verbesserung bestehender Therapien und insgesamt zum medizinischen Fortschritt bei. Gleichzeitig kann sie Abhängigkeiten mit sich bringen und zu Interessenkonflikten führen.

Die Richtlinien wenden sich an medizinische Fachpersonen und dabei insbesondere an Ärztinnen und Ärzte, nicht an die Industrie. Denn es ist nicht die Aufgabe der pharmazeutischen Firma, sondern der im vorliegenden Beispiel genannten Gesundheitsfachpersonen, Interessenkonflikte zu erkennen und den oben geschilderten Handlungsprinzipien gerecht zu werden. Allerdings sollte die Firma die Vorschriften des Verhaltenskodex der pharmazeutischen Industrie in der Schweiz einhalten.

Grundsätzlich ist es denkbar, als Ergänzung der interkollegialen Qualitätszirkelarbeit eine Referentin oder einen Referenten für ein spezifisches Fachgebiet einzuladen. Diese Person darf aber in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu den pharmazeutischen Firmen stehen, deren Produkte im Vortrag vorgestellt werden. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Abhängigkeiten oder Interessenkonflikte der Fachperson, sondern z. B. auch um die Unterstützung eines Forschungsvorhabens durch eine Firma.

Sollte sich eine pharmazeutische Firma an sogenannten Praxiserfahrungsberichten für bereits zugelassene Arzneimittel interessiert zeigen, gilt es, dieses Anliegen sehr kritisch zu prüfen. In den Richtlinien der SAMW ist klar festgehalten, dass Studien nach Marktzulassung von Arzneimitteln respektive Nutzerbewertungen von Produkten eine wissenschaftlich relevante Fragestellung untersuchen müssen. Es ist grundsätzlich zulässig, dass die Evaluationsprodukte im Austausch gegen eine Nutzerbewertung zur Verfügung gestellt werden. Medizinische Fachpersonen dürfen allerdings durch das Bereitstellen von Evaluationsprodukten und zugehörigen Leistungen nicht unangemessen abgegolten und/oder ermutigt werden, die Produkte oder Leistungen einzukaufen, zu empfehlen, zu verschreiben oder anzuwenden.

Dr. L.M., der Leiter des Qualitätszirkels in der Innerschweiz, sowie seine hausärztlich tätigen Kolleginnen und Kollegen tragen den SAMW-Richtlinien dann Rechnung, wenn sie
– eine ihnen aus der täglichen Arbeit vertraute unabhängige Fachperson für den Vortrag einladen;
– das Anliegen der Firma X bezüglich Praxiserfahrungsberichten kritisch bewerten und eine Zusammenarbeit nur dann zusichern, wenn der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn durch die Praxiserfahrungsberichte im Vordergrund steht;
– für die Praxiserfahrungsberichte höchstens ein Honorar annehmen, das in angemessenem Verhältnis zu ihrem Aufwand steht;
– sich bewusst sind, dass Musterpackungen ein Mittel der Arzneimittelwerbung sind und das professionelle Verhalten beeinflussen können;
– sie diese Packungen im Sinne von Art. 9 VITH nicht verkaufen;
– höchstens ein bescheidenes bezahltes Abendessen annehmen, dessen Sponsoring durch mehrere Firmen erfolgt und die Firmen zugleich keinerlei Einfluss auf Referentinnen und Referenten sowie Fortbildungsinhalte nehmen.

Letztlich lohnt sich in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Webseite der Initiative unbestechlicher
Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (https://mezis.de).

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Bianca Schaffert-Witvliet
APN, Spital Limmattal Schlieren und Vizepräsidentin der ZEK der SAMW

lic. theol., dipl. biol. Sibylle Ackermann
Leiterin Ressort Ethik der SAMW und Mitglied der ZEK der SAMW

 

PD em Dr. med. Klaus Bally

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel, uniham-bb
Kantonsspital Baselland
Rheinstrasse 26
4410 Liestal

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen mit der Industrie. Medizin-ethische Richtlinien der SAMW. 2022,
vgl. www.samw.ch/zusammenarbeit-industrie
2. Emanuel EJ, Thompson DF: The Concept of Conflicts of Interest. In: The Oxford Textbook of Clinical Research Ethics. edn. Edited by Emanuel EJ, Grady C, Crouch RA, Lie RK, Miller FG, Wendler D. Oxford: Oxford University Press; 2008: 758–66.

Prävention ist besser als Heilung

Vorbeugen ist besser als heilen. Den Organisatoren des Prevention Summits – Prof. Thomas Lüscher, Zürich und London, Prof. François Mach, Genf, Prof. Felix Mahfoud, Basel und Prof. Stephan Windecker, Bern – ist es gelungen, hochkarätige Referenten einzuladen. Mit einem aktuellen Überblick über Risikofaktoren und neue Behandlungsmethoden haben sie ein äusserst interessantes Programm gestaltet, das auch eine grosse Anzahl von Zuhörern anzog. Der folgende Bericht umfasst den dritten Teil des Symposiums.

Die 2024 ESC-Leitlinien zu Vorhofflimmern und Prävention von Schlaganfall

Die Definition zum Vorhofflimmern (VHF) / atrial fibrillation (AF) präsentierte Prof. Tobias Reichlin, Kardiologische Universitätsklinik Inselspital Bern, wie folgt:
- Paroxymales VHF: Das Vorhofflimmern tritt nur anfallartig auf und geht spätestens nach sieben Tagen spontan oder durch Intervention wieder in den normalen Sinusrhythmus (SR) über.
- Persistierendes VHF: Das Vorhofflimmern ist mehr als 7 Tage anhaltend vorhanden und endet nicht spontan; eine medikamentöse oder elektrische Kardioversion ist erforderlich.
- Permanentes VHF: Das Vorhofflimmern besteht dauerhaft. Eine Rhythmuskontrolle ist unwirksam oder kann nicht durchgeführt werden.

Der AF-Behandlungspfad

C Comorbidity and risk factor management
Komorbidität und Risikofaktormanagement: Lebensstilhilfe, Grundversorgung, Kardiologie, Innere Medizin, Pflege, andere
A Avoid stroke and thromboembolism
Vermeide Schlaganfall und Thromboembolie: Grundversorgung, Kardiologie, Neurologie, Pflege, Antikoagulation, e-Health
R Reduce symptoms by rate and rhythm control
Reduziere Symptome durch Herzfrequenz- und Rhythmuskontrolle: Grundversorgung, Kardiologie, Elektrophysiologie, Herzchirurgie, e-Health
E Evaluation and dynamic reassessment
Evaluation und dynamische Neubeurteilung: Grundversorgung, Kardiologie, Pharmazie, Pflege, Pflegende, Angehörige, e-Health
Gleichstellung in der Gesundheitsversorgung ­(Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomische Faktoren (Klasse I).
Aufklärung von Patienten, Familien und Angehörigen der Gesundheitsberufe (Klasse I).
Patientenzentriertes AF. Management mit einem ­multidisziplinären Ansatz (Klasse IIa).

Komorbiditäten und Risikofaktor-Management

AF-CARE

Ein Wechsel von einem DOAC zu einem anderen oder von einem DOAC zu einem Vitamin-K-Antagonisten ohne klare Indikation wird bei Patienten mit Vorhofflimmern zur Vermeidung eines wiederkehrenden Schlaganfalls nicht empfohlen (Evidenzgrad III).

Der chirurgische Verschluss des linken Vorhofohrs wird als Ergänzung zur oralen Antikoagulation bei Patienten mit Vorhofflimmern empfohlen, die sich einer Herzoperation unterziehen, um einen ischämischen Schlaganfall und Thromboembolien zu verhindern (Evidenzgrad I).Der perkutane Verschluss des linken Vorhofohrs kann bei Patienten mit Vorhofflimmern und Kontraindikationen für eine Langzeitbehandlung mit Antikoagulanzien in Betracht gezogen werden, um ischämische Schlaganfälle und Thromboembolien zu vermeiden (Evidenzgrad IIb). (Abb. 1)

Rhythmus- vs. Frequenzkontrolle

Die frühzeitige Einleitung einer Rhythmuskontrolle war bei Patienten mit frühem Vorhofflimmern und kardiovaskulären Erkrankungen mit weniger häufigen kardiovaskulären Ereignissen verbunden als die übliche Behandlung, ohne dass sich dies auf die Zahl der Kranken-
­hausbesuche auswirkte.

Prävention von embolischem Hirnschlag. Antikoagulation oder Verschluss des linken Vorhofohrs?

Das linke Vorhofohr wurde als Hauptquelle für Thromboembolien bei Patienten mit Vorhofflimmern identifiziert, stellte Prof. Stephan Windecker, Vorsitzender des Departements Kardiologie und des Swiss Cardiovascular Center, Inselspital Bern, eingangs fest.

Rationale für Verschluss des linken Vorhofohrs

Die Rationale für den Verschluss des linken Vorhofohrs umfasst viele Gründe: Mehr als 90% der intrakardialen Thrombi befinden sich im linken Vorhofohr, Thromben im linken Vorhofohr verursachen Schlaganfälle durch Embolisation. Die Einschränkungen der oralen Antikoagulation sind schwere Blutungen: 5.3%/Patienten/ Jahr, schlechte Compliance: 40% der Patienten stoppen die orale Antikoagulation nach 1,3 Jahren, Schlaganfälle trotz Antikoagulation: 0.9%–1.8%/ Patient/Jahr. Bei Patienten mit Vorhofflimmern, die sich einer Herzoperation unterzogen hatten und von denen die meisten weiterhin eine antithrombotische Therapie erhielten, war das Risiko eines ischämischen Schlaganafalls oder einer systemischen Embolie bei gleichzeitigem Verschluss des linken Vorhofohrs während der Operation geringer als ohne diese (Whitlock RP et al NEJM 2021).

Techniken des Vorhofohrverschlusses

Der Referent stellte die grundsätzlichen Verfahren vor: den perkutanen Verschluss des linken Vorhofohrs (Ball-Typ, DISC-Typ und Naht) einerseits und den chirurgischen Verschluss des linken Vorhofohrs (Naht oder Atri­Clip®-Gerät) andererseits. In der PROTECT AF-Studie war der perkutane Verschluss des linken Vorhofohrs mit dem Watchman der Warfarin-Therapie nicht unterlegen. In der PREVAIL RCT bei Patienten mit nicht-ventrikulärem Vorhofflimmern und erhöhtem Schlaganfall- oder Blutungsrisiko, die für eine chronische Antikoagulation in Frage kamen, führte der Vorhofohrverschluss mit dem Watchman Implantat im Vergleich zu Warfarin zu einer verbesserten Rate an hämorrhagischen Schlaganfällen, kardiovaskulären/unerklärlichen Todesfällen und nicht-prozedurbedingten Blutungen. Die 5-Jahres-Ergebnisse der PREVAIL-Studie in Kombination mit den 5-Jahres-Daten der PROTECT-Studie zeigen, dass der Verschluss des linken Vorhofohrs mit dem Watchman-Implantat bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern eine vergleichbare Schlaganfallprävention wie Warfarin bietet, mit einer zusätzlichen Reduktion schwerer Blutungen, insbesondere hämorrhagischer Schlaganfälle, und der Mortalität.

Vier-Schrittverfahren des Transkatheterverschlusses

1) Venenpunktion der Leiste, 2) Angiography des linken Vorhofohrs, 3) transseptale Punktion, 4) Gerätefreigabe.

PROTECT AF: Watchman vs. VKA

In einer Übersichtsarbeit über die Wirksamkeit und Sicherheit des linken Vorhofohrverschlusses bei Patienten, bei denen eine Kontraindikation für orale Antikoagulation besteht, wird vorgeschlagen, dass die Implantation der Watchman-Vorrichtung wirksam und sicher ist.

Transkatheter Verschluss des linken Vorhofohrs – Perikarderguss

In einem grossen Register zum Vorhofohrverschluss wurde bei weniger als einem von 20 Patienten ein Perikarderguss beobachtet, der in der Regel innerhalb von 6 Stunden nach dem Eingriff auftrat. Die Mehrheit der frühen Perikardergüsse war klinisch relevant und trat bei Amplatzer-/Amuletteneingriffen auf. Zu den unabhängigen Prädiktoren gehörten die Verwendung von Doppelverschlussvorrichtung, weibliches Geschlecht, orale Antikoagulation.

Verbleibende Peridevice-Leckagen

Bei einem signifikanten Prozentsatz der Patientinnen werden nach 45 bis 90 Tagen mittels transösophagealer Echokardiographie neue Peridevice Leckagen festgestellt, was mit schlechteren klinischen Ergebnissen verbunden war.
Beim interventionellen Verschluss des Vorhofohrs müssen Leckagen vermieden werden.

AMULET DIE Studie (Lakkireddy D … Windecker S. Circulation 2021;144:1543–1552)

Der Amulet-Okkluder war hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit der Schlaganfallprävention bei nicht valvulärem Vorhofflimmern dem Watchman-Gerät nicht unterlegen und beim LAA-Verschluss überlegen. Die verfahrensbedingten Komplikationen waren beim Amulet-Okkluder höher und nahmen mit der Erfahrung des Operateurs ab.

Linker Vorhofohrverschluss versus DOAC

Bei Hochrisikopatienten mit Vorhofflimmern hat der Verschluss des linken Vorhofohrs im Vergleich zu DOACs möglicherweise eine ähnliche Wirksamkeit bei der Schlaganfall-Prophylaxe, aber ein geringeres Risiko für schwere Blutungen und Mortalität. In der langfristigen Nachbeobachtung der PRAGUE-17-Studie war der linke Vorhofohrverschluss den DOACs in Bezug auf die Prävention schwerer, kardiovaskulärer, neurologischer oder blutungsbedingter Ereignisse nicht unterlegen. Darüber hinaus wurde die Zahl der nicht prozeduralen Blutungen durch den Vorhofohrverschluss signifikant reduziert.
Laufende Studien zum Vorhofohrverschluss sind:
OPTION (Ablation + Watchman vs. DOAC + Ablation,
CATALYST (Amulet + DAPT, 3 Monate gefolgt von ASA während 9 Monaten vs. DOAC)
CHAMPION-AF (Watchman + OAC + ASA oder OAC allein oder DAPT während 3 Monaten) vs. (nicht Unterlegenheit) DOAC.
LAAOS-4 (Watchman + DOAC vs. DOAC),
ELAPSE (LAAC + DOAC vs DOAC
Laufende Studien bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern
ASAP-TOO (Watchman FLX + DAPT gefolgt von ASA vs. SAPT oder keine Therapie)
COMPARE LAAO (LAAC + DAPT während 3 Monaten gefolgt von ASA5 Monaten vs. SAPT oder keine Therapie

Derzeitige Europäische Empfehlungen für Vorhofohrverschluss bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern

CHADSDS2-VA Score ≥2: chirurgischer Vorhofohrverschluss (IIb/C) bei Patienten unter Herzchirurgie = Pat. unter Herzchirurgie (on Top von OAC) (I/B).
Transkatheter linker Vorhofohrverschluss (IIb/C).

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Fachwissen, Fallstudien und Philosophie

Das alljährliche Hausarzt-Symposium der Spitalregion Fürstenland-Toggenburg (SRFT) in Wil ist im Fortbildungskalender der praktizierenden Ärzte der Ostschweiz zu einem fest eingeplanten Bestandteil geworden. Es fand am 28. November bereits zum 14. Mal statt und zog wieder eine beträchtliche Zahl von Hausärzten an. Das ausgeschriebene Programm (Motto «Fortbildung und Austausch») mit vier Vorträgen im Plenarsaal und vier Workshops in Gruppenräumen scheint sich also zu bewähren, besonders da die Liste der Referenten wiederum ein hohes Niveau der Fortbildung versprach. Die Veranstaltung stand auch diesmal unter der bewährten Gesamtleitung von Dr. Markus Rütti, Chefarzt Medizin Spital Wil.

Der erste Haupt-Vortrag gab ein willkommenes Update in der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2.

Dr. Tilman Drescher, Leitender Arzt Endokrinologie (KSp St. Gallen) erinnerte anhand eines instruktiven Falles mit plötzlicher extremer Hyperglykämie daran, dass Kohlehydrat-Restriktion (hier täglich 5 Liter Süssgetränke) und die Therapie mit einem GLP-1-Rezeptor-Agonisten den Blutzucker praktisch normalisieren kann. Der Keton-Test im Urin kann schwierig zu interpretieren sein, wenn nur schon 1 Tag ganz gefastet wird. Der Stellenwert von Metformin ist zwar in den letzten Jahren stark gesunken, besonders bei verminderter Nierenfunktion. DPP4-Hemmer (Gliptine), häufig in Kombination mit Metformin, werden aber oft angewendet. Zahlreiche Guidelines und Medikamenten-Übersichten orientieren über die Vielzahl an neuen Antidiabetika (besonders die GLP-1-Hemmer und die SGLT2-Blocker und ihre vielen Generika). Neu sind Wegovy (Semaglutid) und Mounjaro (Tirzepatid, ein GIP = glucose-abhängiges insulinotropes Peptid), welche auch zur Gewichtsreduktion verwendet werden. Vielfach ist die Kassenzulässigkeit ein Problem, vor allem ist die Kombination eines GLP-1- und eines SGLT2-Hemmers nicht zulässig.

Im Vortrag «Update Kolon-Carcinom» sprach Dr. Irene Peter, OAz Onkologie St. Gallen/Wil zuerst über die erschreckende Zahl von Dickdarm-Krebsfällen, davon 75 % im Colon, 25 % im Rectum. 15–30 % haben bereits bei der ersten Diagnosestellung metastasiert. In 20 % liegt eine genetische Belastung vor. Die Restriktion von Rauchen, Alkohol und Übergewicht verringert die Fallzahlen deutlich. Die Prävention mit Aspirin wird nicht generell empfohlen. Ein regelmässiges Screening – Koloskopie mindestens alle 10 Jahre, besser alle 5 Jahre –, und der Fecal Occult Blood Test sind nachweislich sehr nützlich. Der CEA-Wert und das CEA 19-9 sind unspezifische Tumormarker. Das therapeutische Vorgehen beim Colon-Carcinom hängt vom Stadium (bei der Koloskopie) ab. Im Stadium III wird eine adjuvante Chemotherapie durchgeführt, meist mit XELOX = Capecitabin + Oxaliplatin, oder mit FOLFOX = Folinsäure, Fluorouracil + Oxaliplatin; sie verringern die Zahl der Mikrometastasen, und die Überlebenszeit wird erhöht. Im Stadium IV (mit Fernmetastasen) entscheidet das Tumorboard über das weitere Vorgehen (multinodale Therapie, kurativ, palliativ).

Der Psychiater und Psychotherapeut Dipl. med. Thomas Pauli (Wil) sprach im 3. Hauptvortrag über das «Erkennen und Behandeln von Angststörungen». Angst ist an sich nichts Negatives, ja «es sichert Leben». Die pathologische Angst hingegen manifestiert sich in Panikattacken, die generalisierte Angststörung und verschiedene Formen von phobischer Angst, wie Agoraphobie, soziale Phobien und verschiedenen isolierte Phobien (Höhenangst, Spinnenphobie, Klaustrophobie, Angst vor Erröten etc.). Es ist eigentlich eine «Angst vor der Angst», man verliert die Selbstkontrolle und fühlt sich in die Enge getrieben. Oft sind Angststörungen auch mit Depression verbunden, oft besteht zusätzlich eine Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit (besonders Benzodiazepine!). In 45 % werden Angststörungen in der Primärversorgung nicht erkannt. Der Patient gibt vielmehr somatische Beschwerden, wie Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Atemnot, Schmerzen sowie Schlafstörungen an. Die Therapie ist vielfach schwierig und der Patient muss dazu motiviert sein und in das Behandlungskonzept einbezogen werden. Offenbar kann die Hypnose in bestimmten Fällen unterstützend wirken. Von den vier angebotenen Workshops im kleineren Rahmen konnten vom Berichterstatter leider nur drei besucht werden.

Im ersten behandelte der Allgemein-Internist und Leiter des med. Ambi KSp St. Gallen Georg Hafer das schwierige Thema von Long Covid bzw. Post Covid. Die pathophysiologischen Erklärungsversuche sind alle noch nicht durch grosse Studien belegt und die Behandlungsansätze nicht evidenzbasiert. (Psycho)-Somatische Beschwerden wie Stechen, Schwindel, Schüttelfrost und vor allem das vielfältige Post-virale Fatigue-Syndrom und PEM (post exertional malaise) werden fast immer geschildert, sind aber durch keine fundierten Tests messbar. Der Leidensdruck der Patienten ist oft sehr gross und geht bis zur Erwägung einer EXIT-Lösung. Der Verkehr mit der IV und den Krankenkassen kann zusätzlich sehr schwierig sein. Die Behandlungsversuche beinhalten aktivierende Ergo- und Physiotherapie, das Energie-/Pausen-Management (Pacing!), gezielte Schlafhygiene, Medikamente (meist off-label!) wie SSRI, Low dose Naltrexon, Aripipazol, Ivabradin und andere. Es besteht die Gefahr der Polypragmasie.

Dr. Danny Anthony, Leiter der Akutgeriatrie Spital Wil, behandelte das Problem «Frailty» von wechselnder Perspektive her. Im sehr interaktiven Gespräch diskutierten die Teilnehmenden anhand von drei gleichaltrigen, aber unterschiedlich mobilen Patienten, Fragen der Hospitalisation, Operationsfähigkeit, Verlegung auf die Intensiv-Medizin, Prophylaxe von Osteoporose und Hyperlipidämie und Zielwerten von Laborresultaten. Das Resultat war die Forderung, die Wunschvorstellungen und Ressourcen des Patienten, der Angehörigen und auch des Pflegepersonals zu berücksichtigen. Auf die Wichtigkeit einer Patientenverfügung und einmal mehr des «Runden Tisches» wurde hingewiesen.

Ein weiterer Workshop wurde vom Pneumologen Dr. Gabriel Thomas, LA Spital Wil, geleitet. Sein erster Fall (28j., postgrippaler Infekt, Dyspnoe) war zuerst unklar, das Röntgenbild und die übliche Spirometrie (ausser einer reduzierten Vitalkapazität) vorerst unauffällig. Erst die ergänzende Bodyplethysmographie ergab ein viel zu hohes Residualvolumen. Der Patient litt unter einer obstruktiven Ventilationsstörung mit Pseudorestriktion. Diese spezielle Asthma-br.-Form sprach dann sehr rasch auf Cortison peroral an. Vor Ventolin-Spray allein wurde gewarnt. Asthma bronchiale sollte fast immer mit inhalativen Kortisteroiden /LABA behandelt werden.

Der 2. Fall (dyspnoisch, ohne Sputum) liess im Röntgen an einen typischen Pneumothorax bei massivem Lungenemphysem denken. Dem Patienten wurde mit einer operativen Lungen-Volumen-Reduktion geholfen, eine Drainage wäre hier gefährlich gewesen.

Der 3. Fall (Landwirt, Nichtraucher, mit Gewichtsverlust und Nachtschweiss) verschlechterte sich sehr rasch. Das Röntgenbild ergab eine posterolaterale «Raumforderung» rechts und die Zytologie «Nekrotisches Material und epitheloid-histiocytäre Reaktion» Erst die nochmalige Anamneseerhebung ergab einen Mäusebiss kurz vor der Erstkonsultation. Der Patient war an einer Tularämie («Hasenpest») erkrankt. Der Erreger ist Francisella tularensis. Die Inkubationszeit kann sehr kurz sein, die antibiotische Behandlung hilft relativ rasch (Aminoglycoside, Doxycyclin, Ciprofloxacin).

Der 4. Workshop konnte vom Berichterstatter nicht besucht werden, er behandelte ein «Update Handchirurgie» (Leiter Dr. Dominik Hoigné, St. Gallen) und sei durch praktisches Üben bereichert worden.

Wie schon in früheren Jahren stellten auch diesmal zwei Kollegen, beide aktive Praktiker aus Wil, ganz speziell eindrückliche Fälle aus ihrer Praxis vor.

Dr. Maurilio Bruni berichtete über einen Patienten (56j, Raucher, mit Nykturie, Flankenschmerz, St.n. Burnout, arbeitslos), bei welchem die Abklärung eine Raumforderung suprahilär rechts ergab. Kein Sputum, und die Bronchoskopie war unauffällig! Erst die Oberlappen-Wedge-Resektion konnte säurefeste Stäbchen nachweisen und der Patient musste sich einer antituberkulösen Behandlung unterziehen. Auch in der Schweiz ist noch Tuberkulose möglich.

Dr. Alois Haller referierte über einen schweren akuten Fall einer SGLT-2-induzierten Ketoazidose nach Jardiance. Die Komplikation kann lebensgefährlich sein. Davon zu unterscheiden ist die Lactat-Azidose bei Biguaniden.

Ein besonderes Highlight am Wiler Hausarzt-Symposium ist alljährlich der Schlussvortrag – diesmal unter dem Titel «Wie viel Glück braucht es, dass es uns gibt» von Frau Prof. em. Dr. Kathrin Altwegg (Astrophysikerin, Bern). Auf beeindruckende Art verstand es die Wissenschaftlerin, dieses naturwissenschaftliche, physikalische aber auch philosophische Thema mit vielen klärenden Bildern darzustellen. Die Referentin berichtete über die ganze Geschichte des Universums (ca. 13 Milliarden Jahre seit dem Urknall bis in alle Ewigkeit …. Da ist der Mensch höchstens «ein Staubkorn in der Wüste»). An den Anfang stellte sie die Aussage von Albert Einstein: «Gott würfelt nicht». Und was braucht es, damit intelligentes Leben entsteht? Antwort: Ein Planet, weder zu gross noch zu klein, flüssiges Wasser, Atmosphäre, langzeit-stabile Verhältnisse, etwas, aber nicht zu viel kosmische Strahlung (für die Evolution). Resultat: Einfach unvorstellbar, aber sehr eindrücklich.

Die Vorträge sind im Original unter www.wiler-symposium.ch abrufbar.

Dr. med. Hans-Ulrich Kull

Küsnacht

Osteoarthritis: pathogene Signalwege und therapeutische Ziele

Osteoarthritis (OA) ist eine der häufigsten Arten von Arthritis und eine chronische degenerative und behindernde Erkrankung, die durch komplexe Störungen des gesamten Synovialgelenks gekennzeichnet ist (1), einschliesslich struktureller Defekte des hyalinen Gelenkknorpels, Verlust des intakten subchondralen Knochens, Gewebehypertrophie und Zunahme der Vaskularität im Synovium sowie Instabilität der Sehnen und Bänder.

Epidemiologie

Im Jahr 2021 litten mehr als 22 % der Erwachsenen über 40 Jahren an Knie-OA, und Schätzungen zufolge sind derzeit weltweit mehr als 500 Millionen Menschen von OA betroffen (2). Da es keine langfristige klinische Behandlung gibt, müssen sich OA-Patienten im Endstadium der Erkrankung schliesslich einer Gelenkersatzoperation unterziehen. Die Zahl der Gelenkersatzoperationen steigt weltweit um 10 % pro Jahr, und 95 % davon werden bei OA-Patienten durchgeführt (3).

Die Lebensdauer des künstlichen Gelenks ist jedoch begrenzt, und es besteht das Risiko schlechter Ergebnisse. Schätzungen zufolge wird OA bis zum Jahr 2020 weltweit die vierthäufigste Ursache für Behinderungen sein, was enorme Kosten für Medizin und Gesundheitswesen sowie indirekte Kosten durch Arbeitsplatzverlust und Frühverrentung verursacht.

Pathologische Mechanismen und Signalwege bei OA

Früher ging man davon aus, dass OA durch die Abnutzung und das Reissen des Gelenkknorpels verursacht wird, doch heute wird sie eher als chronische Erkrankung des gesamten Gelenks bezeichnet, die mit biochemischen und zellulären Ver­änderungen im synovialen Ge­-
lenkgewebe beginnt, die zu histologischen und strukturellen Veränderungen des Gelenks führen und schliesslich in einer Funktionsstörung des gesamten Gewebes enden. Gegenwärtig gibt es keine Heilung für OA, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass der pathologische Mechanismus für die Entstehung und das Fortschreiten der Krankheit nicht umfassend verstanden wird. Daher ist ein besseres Verständnis der pathologischen Signal­wege und der Schlüsselmoleküle, die an der OA-Pathogenese beteiligt sind, von entscheidender Bedeutung für das Design therapeutischer Ziele und die Entwicklung von Medikamenten.

Therapeutische Ansätze

In einer neueren Übersichtsarbeit (4) wurden zunächst die Epidemiologie der OA zusammen, einschliesslich ihrer Prävalenz, der Inzidenz und der Belastung sowie der OA-Risikofaktoren zusammengefasst. Zudem konzentrierte sich die Autoren auf die Rolle und Regulierung der pathologischen Signalwege wie Wnt/β-Catenin, NF-κB, fokale Adhäsion, HIFs, TGFβ/ΒΜP und FGF-Signalwege sowie die Schlüsselregulatoren AMPK, mTOR und RUNX2 bei der Entstehung und Entwicklung von OA. Darüber hinaus wurde die Rolle von Faktoren, die mit OA in Verbindung gebracht werden, wie MMPs, ADAMTS/ADAMs und PRG4, im Detail erörtert. Schliesslich wurden aktuelle Informationen zu den aktuellen klinischen Therapien und klinischen Versuchen mit biologischen Behandlungen und Medikamenten gegen OA gegeben. Forschungsfortschritte in der Grundlagenforschung vermittelt.

Quelle:
Yao Q et al. Osteoarthritis: pathogenic signaling pathways and therapeutic targets. Signal Transduct Target Ther. 2023; 8: 56. Published online 2023 Feb 3. doi: 10.1038/s41392-023-01330-w

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. Hunter DJ, Bierma-Zeinstra S. Osteoarthritis. Lancet. 2019;393:1745–1759. [PubMed] [Google Scholar]
2. Quicke JG, Conaghan PG, Corp N, Peat G. Osteoarthritis year in review 2021: epidemiology & therapy. Osteoarthr. Cartil. 2022;30:196–206. [PubMed] [Google Scholar]
3. Little CB, Hunter DJ. Post-traumatic osteoarthritis: from mouse models to clinical trials. Nat. Rev. Rheumatol. 2013;9:485–497. [PubMed] [Google Scholar]
4. Yao Q et al. Osteoarthritis: pathogenic signaling pathways and therapeutic targets. Signal Transduct Target Ther. 2023; 8: 56. Published online 2023 Feb 3. doi: 10.1038/s41392-023-01330-w