Hypertensive Notfälle: Update 2025

Hypertensive Notfälle (HN) sind durch einen deutlichen Anstieg des Blutdrucks (BD) in Verbindung mit einer akuten Zielorganschädigung (ZOS) gekennzeichnet, die eine schnelle und kontrollierte Blutdrucksenkung erfordern. Sie müssen von schwerer arterieller Hypertonie (AHT) ohne ZOS unterschieden werden, die in akuten Situationen häufig auftritt und oft kontextabhängig ist und keine sofortige intravenöse Behandlung erfordert. Die Erstuntersuchung basiert auf der Bestätigung der AHT, der Identifizierung klinischer oder paraklinischer Anzeichen einer ZOS und der Suche nach einem auslösenden Faktor. Die Behandlung der HN umfasst eine titrierbare intravenöse Therapie, die an den klinischen Kontext angepasst ist, sowie eine kontinuierliche hämodynamische Überwachung. Im Gegensatz dazu wird eine schwere, unkomplizierte AHT meist ambulant mit oraler Medikation und engmaschiger Überwachung behandelt. Dieser Artikel bietet eine praktische Zusammenfassung der aktuellen europäischen und nordamerikanischen Empfehlungen.

Hypertensive emergencies (HE) are characterized by a significant increase in blood pressure (BP) in conjunction with acute target organ damage (AOTD), which requires rapid and controlled BP reduction. They must be distinguished from severe arterial hypertension (AH) without ZOS, which often occurs in acute situations and is often context-dependent and does not require immediate intravenous treatment. The initial examination is based on confirmation of AH, identification of clinical or paraclinical signs of ZOS, and search for a triggering factor. Treatment of HN includes titratable intravenous therapy tailored to the clinical context and continuous hemodynamic monitoring. In contrast, severe uncomplicated AH is usually treated on an outpatient basis with oral medication and close monitoring. This article provides a practical summary of current European and North American recommendations.
Keywords: Hypertensiver Notfall, Schwere Hypertonie, Zielorganschädigung (ZOS), Intravenöse Blutdrucksenkung

Einführung

Arterielle Hypertonie (AHT) ist weltweit der wichtigste veränderbare Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität (1). In akuten Situationen kann ein starker Anstieg des Blutdrucks (BD) zu einer Schädigung von Zielorganen (ZOS) – Gehirn, Herz, Nieren, Augen, Gefässe oder Blut – führen oder diese verschlimmern, was kurzfristig lebensbedrohlich sein kann.

Diese Situationen, die unter dem Begriff hypertensive Notfälle (HN) zusammengefasst werden, erfordern eine sofortige Behandlung im Krankenhaus mit einer intravenösen blutdrucksenkenden Therapie, die auf die Ätiologie und den klinischen Kontext abgestimmt ist. Sie müssen von schweren Blutdruckanstiegen ohne ZOS unterschieden werden, die eine nicht dringende Therapieoptimierung erfordern und nicht unbedingt einen längeren Krankenhausaufenthalt notwendig machen. Die schnelle Erkennung eines akuten Koronarsyndroms, die Interpretation des Kontextes und die Beherrschung der Empfehlungen sind unerlässlich, um sowohl Behandlungsverzögerungen als auch potenziell schädliche, unangebrachte Eingriffe zu vermeiden.

Definition

Die Klassifizierung schwerer Blutdruckanstiege basiert auf dem Vorliegen oder Nichtvorliegen einer organischen Schädigung. Die aktuellen Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften betonen die Abschaffung bestimmter historischer Begriffe, die zu Verwirrung führen, und die Einführung einer standardisierten Terminologie, die in Tab. 1 dargestellt ist (2–4).

Epidemiologie

Weltweit sind etwa 1.3 Milliarden Erwachsene von Bluthochdruck betroffen, wobei die Blutdruckkontrolle insgesamt sehr unzureichend ist: Fast die Hälfte der Patienten weiss nichts von ihrer Erkrankung, weniger als jeder Zweite wird behandelt und nur 20 % erreichen die therapeutischen Ziele (8). Diese ohnehin schon hohe Prävalenz dürfte mit der Alterung der Bevölkerung und der Veränderung der Lebensgewohnheiten weiter zunehmen.

In der klinischen Praxis machen schwere Blutdruckerhöhungen 4 bis 5 % der Gründe für Notaufnahmen aus (9). Echte Notfälle, die bei bekannten Bluthochdruckpatienten häufiger auftreten, sind jedoch selten und machen nur etwa 0.6 % der Notaufnahmen aus (10). Im Laufe ihres Lebens erleben etwa 1–2 % der hypertensiven Patienten eine Episode von hypertensiver Krise (11). Dieser Anteil scheint seit mehreren Jahrzehnten stabil zu sein oder sogar zu steigen, während die Krankenhaussterblichkeit zurückgegangen ist, was die Fortschritte in der Patientenversorgung widerspiegelt und heute je nach Serie zwischen 0.2 % und 11 % liegt (11–13). Der eingeschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung, anhaltende und unkontrollierte Hypertonie (sehr oft verbunden mit einer mangelnden Therapietreue) sowie bestimmte klinische Faktoren wie fortgeschrittenes Alter, männliches Geschlecht, chronische Niereninsuffizienz und vorbestehende kardiovaskuläre Erkrankungen sind die wichtigsten Risikofaktoren oder Faktoren für eine schlechte Prognose im Zusammenhang mit einer HN (14–16).

Pathophysiologie

Die Pathophysiologie der HN ist nach wie vor unzureichend charakterisiert. Sie ist das Ergebnis einer komplexen, multifaktoriellen Kette von Ereignissen, deren Hauptelemente wie folgt lauten: Die am weitesten verbreitete Hypothese basiert auf einem akuten Versagen der vaskulären Autoregulationsmechanismen, was zu einem plötzlichen Anstieg des systemischen Gefässwiderstands führt. Diese Kaskade führt zu diffusen mikrozirkulatorischen Läsionen, einer übermässigen Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS), einer ausgeprägten Vasokonstriktion sowie einer druckinduzierten Natriurese, was zu einem Volumenmangel führt. All dies ist Teil eines sich selbst verstärkenden Teufelskreises, der für einen raschen und anhaltenden Anstieg des Blutdrucks verantwortlich ist (17).
Im Gehirn führt eine längere Exposition gegenüber unkontrollierter Hypertonie zu einer strukturellen und funktionellen Umgestaltung der arteriellen Gefässwände, wodurch die obere Schwelle der Autoregulation auf höhere Werte verschoben wird. So können bestimmte Patienten einen deutlich über den physiologischen Werten liegenden mittleren Blutdruck ohne unmittelbare klinische Symptome tolerieren. Diese Anpassung, die mittelfristig unter Behandlung reversibel ist, stellt ein grosses Problem dar, da sie das Risiko einer Hypoperfusion und Ischämie bei einer zu schnellen Blutdrucksenkung, insbesondere im Gehirn und im Herzen, erklärt (18–21).

Diagnostische Beurteilung bei Vermutung eines hypertensiven Notfalls

Die Untersuchung eines Patienten mit stark erhöhtem Blutdruck (Hypertonie Grad III), sei es in der Arztpraxis oder in der Notaufnahme, muss unbedingt mit der Bestätigung beginnen, dass es sich tatsächlich um eine echte Hypertonie handelt. Tatsächlich kann ein schwerer Blutdruckanstieg aufgrund verschiedener kontextbezogener Faktoren wie technische Fehler bei der Blutdruckmessung, einer stressigen Umgebung, Schmerzen oder dem Weisskittel-Effekt häufig in akuten Situationen beobachtet werden (3). In der Notaufnahme treten solche Blutdruckanstiege häufig auf, und obwohl sie mit einem erhöhten langfristigen kardiovaskulären Risiko verbunden sind, stellen sie in den meisten Fällen keinen echten lebensbedrohlichen Notfall dar (22). Daten zeigen sogar, dass ein erheblicher Teil der in der Notaufnahme festgestellten Blutdruckerhöhungen nach 30 Minuten Ruhe spontan abklingt (23). Eine randomisierte Studie hat sogar gezeigt, dass eine zweistündige Ruhepause den Blutdruck um etwa 30 mmHg senkt, ein Ergebnis, das mit einer blutdrucksenkenden Behandlung vergleichbar ist (24). In Übereinstimmung damit haben kleinere Studien gezeigt, dass Anxiolytika wie Diazepam, aber auch Entspannungsmassnahmen (Achtsamkeit, langsame Atmung) ebenfalls den Blutdruck senken, was die Rolle von Stress und kontextbezogener Angst bei diesen Blutdruckanstiegen unterstreicht, obwohl dieses Thema weiterhin umstritten ist (25).

Aus diesen Gründen betonen die aktuellen Empfehlungen nachdrücklich die Notwendigkeit, die Messungen nach einer Ruhephase zu wiederholen, eine standardisierte Methodik (angepasste Manschette, korrekte Position, Patient seit ≥ 15 min in Ruhe) und, wenn möglich, eine automatisierte, unbeaufsichtigte Messung zu verwenden, um den Einfluss des Pflegepersonals zu begrenzen (2).

Sobald eine schwere und anhaltende Hypertonie bestätigt ist, besteht der zweite Schritt darin, eine echte HN von einer schweren Hypertonie ohne ZOS zu unterscheiden, was für die Behandlungsstrategie und die Prognose entscheidend ist (Abb. 1). Eine hypertensive Krise erfordert nämlich eine sofortige Krankenhausaufnahme, die Einleitung einer titrierbaren intravenösen blutdrucksenkenden Behandlung, die an die Art der hypertensiven Krise angepasst ist, sowie eine kontinuierliche hämodynamische Überwachung. Eine schwere Hypertonie ohne ZOS kann hingegen in den meisten Fällen ambulant behandelt werden, mit einer schrittweisen Senkung des Blutdrucks durch orale Medikation und einer engen Überwachung durch den behandelnden Arzt.

Zu diesem Zweck muss ein diagnostischer Ansatz verfolgt werden, der auf einer gezielten Befragung und einer systematischen klinischen Untersuchung basiert, um Anzeichen oder Symptome zu identifizieren, die auf eine neurologische, kardiovaskuläre, renale oder ophthalmologische Beeinträchtigung hindeuten. Die wichtigsten Elemente sind in Tab. 2 zusammengefasst. Es müssen auch dringende, dem Kontext angepasste Zusatzuntersuchungen durchgeführt werden, um eine ZOS zu bestätigen und eine auslösende Ursache zu identifizieren, deren Details in Tab. 3 dargestellt sind.

Behandlung von hypertensiven Notfällen

Allgemeine Grundsätze

Bei Vorliegen einer ZOS muss der Blutdruck in den meisten Fällen (ausser bei ischämischem Schlaganfall) schnell gesenkt werden, vorzugsweise intravenös mit titrierbaren Wirkstoffen (z. B. Labetalol, Nicardipin) und unter kontinuierlicher hämodynamischer Überwachung (Notaufnahme, Intermediate Care oder Intensivstation). Die Geschwindigkeit und das Ausmass der Senkung hängen vom Kontext ab: schnelle Senkung bei Lungenödem oder Aortendissektion, äusserste Vorsicht bei ischämischem Schlaganfall, individueller Ansatz bei intrakranieller Blutung (27). Wie oben erwähnt, muss bei diesen Behandlungen stets das Risiko einer Hypoperfusion aufgrund einer übermässigen Senkung berücksichtigt werden, was die Einhaltung der Prinzipien der zerebralen und renalen Autoregulation erfordert (19). Tatsächlich zeigen mehrere Studien, dass eine übermässige (> 50 % des mittleren Blutdrucks) und/oder zu schnelle Senkung des Blutdrucks, insbesondere in Situationen mit zentraler Beeinträchtigung (hypertensive Enzephalopathie oder ischämischer Schlaganfall), mit einem erhöhten Risiko für ischämischen Schlaganfall, Erblindung und Mortalität korreliert (28, 29).

Spezifische Behandlung je nach Art des hypertensiven Notfalls

Tab. 4 fasst die empfohlenen Blutdruckziele und die Geschwindigkeit der Blutdrucksenkung je nach Art des hypertensiven Notfalls sowie die Erstlinienbehandlungen auf der Grundlage der neuesten Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Hypertonie aus dem Jahr 2023 zusammen (2). Diese Elemente bilden die Grundlage für die Behandlung und ermöglichen es, die Therapie an jeden klinischen Kontext anzupassen.

Auswahl des Therapeutikums

Die Wahl der blutdrucksenkenden Mittel hängt stark vom klinischen Kontext und der lokalen Verfügbarkeit ab. Am häufigsten wird Labetalol (α- und β-Blocker) verwendet, das oft als erste Wahl bevorzugt wird, insbesondere bei neurologischen Notfällen und Aortendissektionen, sowie Nicardipin, ein weit verbreiteter und gut verträglicher Kalziumkanalblocker, der auch bei Niereninsuffizienz eingesetzt werden kann. Weitere Optionen sind Esmolol (ein sehr kurz wirksamer β-Blocker), Nitroglycerin (insbesondere bei Lungenödem oder akutem Koronarsyndrom) oder Natriumnitroprussid, dessen Verwendung bei intrakranieller Hypertonie vermieden werden sollte, können je nach Indikation in Betracht gezogen werden. In der Praxis hängt die Auswahl des Wirkstoffs von der klinischen Situation, den Begleiterkrankungen, der Fachkompetenz des behandelnden Teams und den Überwachungsmöglichkeiten ab. Die pharmakologischen und praktischen Eigenschaften der einzelnen Wirkstoffe sind Tab. 5 zu entnehmen.

Behandlung von schwerer arterieller Hypertonie ohne akute Zielorganbeschwerden

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass unabhängig von einer akuten Schädigung eines Zielorgans eine Episode schwerer Hypertonie mit einer erhöhten langfristigen kardiovaskulären Mortalität einhergeht und nicht bagatellisiert werden darf (30). Darüber hinaus sind schwere Blutdruckerhöhungen in der Notaufnahme oder in der Arztpraxis sehr häufig und bieten eine einzigartige Gelegenheit, eine bisher unerkannte chronische Hypertonie zu erkennen, die bei fast der Hälfte der Patienten auftritt, die wegen eines schweren Blutdruckanstiegs die Notaufnahme aufsuchen (31). Nachdem eine hypertensive Krise ausgeschlossen wurde (siehe oben), besteht der zweite Schritt darin, die Wahrscheinlichkeit einer zugrunde liegenden chronischen Hypertonie zu beurteilen: Diese ist umso wahrscheinlicher, je länger der Blutdruckanstieg bei wiederholten Messungen in Ruhe, mit einer geeigneten Manschette und korrekter Positionierung, anhält. Es ist zu beachten, dass die Nichteinhaltung der verschriebenen blutdrucksenkenden Behandlung eine sehr häufige Ursache für schweren Bluthochdruck ist. Bei hoher Wahrscheinlichkeit einer chronischen zugrunde liegenden Hypertonie, insbesondere bei Patienten, bei denen eine Nachsorge unwahrscheinlich ist oder die keinen Hausarzt haben, sollte die Einleitung einer blutdrucksenkenden Behandlung in Betracht gezogen und eine engmaschige ambulante Nachsorge organisiert werden (17). Bei Patienten, die sich nicht an die Therapie halten, kann die Behandlung unter Berücksichtigung der Gründe für die Nicht-Compliance (Nebenwirkungen, Unverträglichkeit usw.) erneut begonnen werden. Eine enge Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums ist dabei unerlässlich.

Wie oben erwähnt, gibt es in solchen Situationen in der Literatur keinen klar definierten Blutdruckgrenzwert, ab dem eine sofortige Senkung des Blutdrucks erforderlich wäre. Es scheint jedoch klar zu sein, dass eine schnelle Senkung des Blutdrucks in der Notaufnahme ohne akutes Koronarsyndrom keinen klinischen Nutzen hat und sogar schädliche Auswirkungen haben kann, indem sie die Durchblutung der Organe beeinträchtigt (32, 33). Dies wurde insbesondere mit sublingualem Nifedipin nachgewiesen, dessen Anwendung zu unvorhersehbaren, manchmal gefährlichen Blutdruckabfällen (Schlaganfall oder akute Erblindung) führt, ohne dass ein dokumentierter prognostischer Nutzen vorliegt. Ausserhalb geburtshilflicher Situationen (Präeklampsie/Eklampsie) wird seine Verwendung von wissenschaftlichen Gesellschaften mittlerweile nicht mehr empfohlen, obwohl es immer noch zu oft als Erstbehandlung eingesetzt wird (34). Gleiches gilt für schnell wirkende Antihypertensiva wie bestimmte Vasodilatatoren.

Es stellt sich daher die Frage nach der Wahl der Therapie in der Notaufnahme. Derzeit gibt es keine klar festgelegten Empfehlungen speziell für diesen Kontext. Dennoch scheint die Einleitung oder Anpassung einer Behandlung in der Notaufnahme sicher und wirksam zu sein: In der Studie von Brody et al. ist die Verschreibung in der Notaufnahme mit einem signifikanten Rückgang des systolischen Blutdrucks bei der kurzfristigen ambulanten Nachsorge verbunden, ohne dass es zu einer Zunahme von Nebenwirkungen oder zu einer Blutdrucksenkung über potenziell schädliche Schwellenwerte hinaus kommt (35). In Ermangelung spezifischer Empfehlungen werden die Behandlungsprinzipien aus der Behandlung der chronischen Hypertonie in Übereinstimmung mit den aktuellen Empfehlungen abgeleitet (2).

Diesen Empfehlungen zufolge müssen diese Patienten in der Regel nicht stationär aufgenommen werden. Die Senkung des Blutdrucks muss oral, schrittweise über 24–48 Stunden erfolgen, entweder durch die Wiedereinführung oder Intensivierung der vorherigen Behandlung oder durch die Einführung eines neuen Behandlungsschemas. Bei einem unbehandelten Patienten wird ein langwirksamer Kalziumkanalblocker vom Dihydropyridin-Typ als Erstbehandlung empfohlen (wenig Kontraindikationen, beeinträchtigt die Untersuchung auf sekundäre Hypertonie nicht). Es ist auch möglich, andere langwirksame orale Kombinationen zu verabreichen, beispielsweise einen Renin-Angiotensin-Aldosteron-System-Blocker mit einem langwirksamen Kalziumkanalblocker und/oder einem Thiaziddiuretikum. Wie bereits erwähnt, sollten intravenöse Behandlungen oder schnell wirkende orale Wirkstoffe in diesem Zusammenhang nicht angewendet werden. Eine kurze Überwachungsphase auf der Beobachtungsstation vor der Entlassung ist in der Regel angezeigt. Da der Blutdruck nach der Entlassung aus der Notaufnahme weiterhin erhöht sein kann, sind weitere Messungen in der Praxis und ausserhalb der Praxis (ABPM) erforderlich. Eine engmaschige ambulante Nachsorge ist daher von grundlegender Bedeutung, um die Wirksamkeit, Verträglichkeit und Therapietreue zu beurteilen. Da es sich um eine schwere Hypertonie handelt, sollte schliesslich auch eine Untersuchung auf sekundäre Hypertonie gemäss den aktuellen Empfehlungen organisiert werden.

Fazit

Die unverzügliche Unterscheidung zwischen einer echten HN und einer schweren Hypertonie ohne ZOS bleibt entscheidend. Ersteres erfordert eine schnelle, kontrollierte und titrierbare intravenöse Blutdrucksenkung mit auf den klinischen Kontext abgestimmten Zielen. Letzteres erfordert eine vorsichtige und strukturierte Strategie: Bestätigung des Blutdruckanstiegs, Bewertung des Risikos einer chronischen zugrunde liegenden Hypertonie, schrittweise Senkung des Blutdrucks mit langwirksamen oralen Medikamenten. Notfälle bieten daher eine hervorragende Gelegenheit, eine unerkannte chronische Hypertonie zu erkennen, eine Behandlung einzuleiten oder zu optimieren und die Kontinuität der Versorgung im ambulanten Bereich sicherzustellen. Schliesslich gibt es nur wenige randomisierte Studien zur Behandlung schwerer Hypertonie in der Notaufnahme, was die Notwendigkeit zusätzlicher Daten zur Orientierung in der klinischen Praxis unterstreicht.

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Maxime Berney

Abteilung für Innere Medizin
Ensemble Hospitalier de La Côte
Hôpital de Morges
Chem. du Crêt 2
1110 Morges

Prof. em. Dr. med. Michel Burnier

Fakultät für Biologie und Medizin,
Universität Lausanne

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Hypertensive Notfälle sind durch einen schweren Blutdruckanstieg in Verbindung mit einer akuten Schädigung eines Zielorgans definiert und nicht allein durch die Blutdruckwerte.
  • Die Wahl der Behandlung, die Geschwindigkeit und das Ausmass der Blutdrucksenkung müssen an die Art des betroffenen Organs und den klinischen Kontext angepasst werden.
  • Intravenös verabreichte, titrierbare Antihypertensiva sind nur in hypertensiven Notfällen unter kontinuierlicher hämodynamischer Überwachung angezeigt.
  • Eine schwere Hypertonie ohne Zielorganschädigung rechtfertigt keine intravenöse Behandlung; eine schrittweise orale Behandlung auf ambulanter Basis wird empfohlen.
  • Eine engmaschige Nachsorge nach einer Episode schwerer Hypertonie mit oder ohne Organbeteiligung ist unerlässlich, um die Blutdruckkontrolle sicherzustellen und langfristige kardiovaskuläre Komplikationen zu verhindern.

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Antibiotikagebrauch bei Atemwegsinfektionen in Pflegeheimen

Die unsachgemässe Verschreibung von Antibiotika ist bei Atemwegsinfektionen weit verbreitet. Dies ist insbesondere in Pflegeheimen der Fall, was zur Antibiotikaresistenz beiträgt und die Bewohner vermeidbaren Nebenwirkungen aussetzt. In diesem Artikel werden verschiedene Möglichkeiten zur Optimierung der Verschreibungspraxis untersucht. Dabei werden sowohl bewährte Strategien aus Antibiotika-Stewardship-Programmen als auch innovative Ansätze, wie z. B. Entscheidungsalgorithmen, die Point-of-Care-Tests integrieren, oder die Verwendung von Lungenultraschall als Diagnosehilfe, berücksichtigt.

The inappropriate prescription of antibiotics is common for respiratory infections. This is particularly the case in nursing homes, contributing to antibiotic resistance and exposing residents to preventable adverse effects. This article explores various ways to optimise prescribing practices, drawing on both validated antibiotic stewardship programme strategies and innovative approaches, such as decision-making algorithms incorporating point-of-care tests or the use of lung ultrasound as a diagnostic aid.
Keywords: Antibiotic prescription, Nursing homes, Antibiotic stewardship, Respiratory infections, Rapid diagnostic tests

Der Verbrauch von Antibiotika

Antibiotikaresistenzen stellen eine Gefahr für die globale öffentliche Gesundheit dar, und der unsachgemässe Einsatz von Antibiotika trägt wesentlich dazu bei (1). Bewohner von Pflegeheimen erhalten doppelt so häufig Antibiotika wie ältere Personen, die zu Hause leben (2). Dabei ist die Hälfte dieser Verschreibungen nicht indiziert (3). Eine aktuelle Studie zur Prävalenz von Verschreibungen hat gezeigt, dass in der Schweiz 2.9 % der Bewohner am Tag der Erhebung eine Antibiotikabehandlung erhielten, wobei es Unterschiede zwischen den Einrichtungen in den Kantonen Waadt und St. Gallen gab (3.9 % gegenüber 1.8 %; p = 0.05) (4). Die häufigsten Fälle unzweckmässiger Verschreibungen in Pflegeheimen sind asymptomatische Bakteriurie und Atemwegsinfektionen. Zusätzlich zu den Resistenzen können Antibiotika den Bewohnern durch Nebenwirkungen wie Magen-Darm-Beschwerden und Hautausschläge sowie Veränderungen der Mikrobiota direkt schaden (5, 6). Bewohner von Pflegeheimen mit hohem Antibiotikaverbrauch haben ein erhöhtes Risiko für Magen-Darm-Beschwerden, selbst wenn sie nicht direkt Antibiotika ausgesetzt sind, im Vergleich zu Bewohnern von Einrichtungen mit geringerem Verbrauch (7).

Atemwegsinfektionen

Die Verschreibungsrate für Atemwegsinfektionen in europäischen Einrichtungen schwankt zwischen 53 und 80 % (2), wobei es zu einer erheblichen Überverschreibung bei akuten Bronchitiserkrankungen kommt, die meist viralen Ursprungs sind und daher spontan abklingen (8). Dieser hohe Einsatz lässt sich durch mehrere Faktoren erklären: (i) eine erhöhte Inzidenz von Atemwegsinfektionen aufgrund von Immunoseneszenz und Schluckstörungen, die das Verschlucken begünstigen, und (ii) die Schwierigkeit, Bewohner mit einer Lungenentzündung zu identifizieren. Dies ist auf unspezifische klinische Symptome (7), die begrenzte Verfügbarkeit diagnostischer Tests, insbesondere Blut- und Röntgenuntersuchungen, sowie die Tatsache, dass in den meisten Einrichtungen keine Ärzte vor Ort sind, zurückzuführen (3).

Antibiotika-Stewardship-Programme

Antibiotika-Stewardship-Programme sind Programme, die einen verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika aufzeigen. Sie umfassen Strategien, die sicherstellen sollen, dass Patientinnen und Patienten mit einer behandlungsbedürftigen Infektion das am besten geeignete Antibiotikum in der richtigen Dosierung und über die optimale Dauer erhalten (10). Die Einführung von Antibiotika-Stewardship-Programme in Pflegeheimen ist eine schwierige Aufgabe. Im Gegensatz zur Akutversorgung sind diese Programme in der Regel weniger gut organisiert und verfügen über weniger Ressourcen (3). Weitere Hindernisse für die Umsetzung sind: (i) der eingeschränkte Zugang zu bestimmten diagnostischen Tests vor Ort (Laboruntersuchungen und Radiologie) in Verbindung mit einer unsachgemässen Verwendung anderer Tests (Urinstix), (ii) die erste klinische Beurteilung durch das Pflegepersonal mit zahlreichen telefonischen Verschreibungen, (iii) das Fehlen von Daten zur Resistenz in diesem Umfeld und (iv) die hohe Kolonisationsrate, insbesondere der Harnwege und der Haut (3). Auch wenn nur wenige Studien die Wirksamkeit und Sicherheit von Antibiotika-Stewardship-Programmen in Pflegeheimen bewerten, deuten einige Literaturübersichten darauf hin, dass diese Programme tendenziell den Einsatz von Antibiotika verbessern, ohne die Zahl der Krankenhausaufenthalte oder die Sterblichkeit zu erhöhen (11–14).

Angesichts der hohen Überverschreibungsrate und der negativen Auswirkungen auf die Bewohner ist es dringend erforderlich, Antibiotika-Stewardship-Programme einzuführen, die an den Kontext von Pflegeheimen angepasst sind, um den Selektionsdruck durch Antibiotika zu verringern und die Qualität der Pflege zu verbessern (11). Es gibt zahlreiche mögliche Massnahmen (Tab. 1), wie z. B. die Förderung lokaler Empfehlungen für die Diagnose und Behandlung häufiger Infektionen, die Reduzierung unnötiger mikrobiologischer Tests sowie die Förderung von Point-of-Care-Schnelltests (POC), die vor Ort durchgeführt werden können und deren Ergebnisse schnell verfügbar sind (3).

Antibiotika-Stewardship-Instrumente für Atemwegsinfektionen

Lokale Empfehlungen

Ein Teil der Schweizer Pflegeheime (in der Westschweiz, im Kanton Bern und im Tessin) profitiert von lokalen Empfehlungen zur Diagnose und empirischen Behandlung häufiger Infektionen (https://guide-ems-hpci.ch/). Eine Studie zur «Qualität der Pflege» in Waadtländer Pflegeheimen hat gezeigt, dass die Verbreitung von Empfehlungen zur empirischen Verschreibung von Antibiotika und die Einrichtung von Qualitätszirkeln, in denen Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal zusammenkommen, zu einer Verringerung der Verschreibungen geführt haben (15). Bei Atemwegsinfektionen unterscheiden die Empfehlungen zwischen der Behandlung während und ausserhalb der Grippe- und anderen Atemwegsvirus-Saison (Abb. 1a und 1b). Während einer Virus-Epidemie wird empfohlen, Atemwegsviren zu testen und bei einem positiven Testergebnis nicht sofort eine Antibiotikatherapie zu verschreiben.

Entzündungsbiomarker

Eine kürzlich in niederländischen Pflegeheimen durchgeführte randomisierte kontrollierte Studie zeigte einen signifikanten Rückgang der Antibiotikaverordnungen bei Bewohnern mit Atemwegsinfektionen in Pflegeheimen, die Zugang zu POC-C-reaktivem Protein (CRP) hatten, im Vergleich zu Pflegeheimen der Kontrollgruppe (54 % gegenüber 83 % Verordnungen, p < 0.001) (16). Diese Ergebnisse sind zwar ermutigend, lassen sich jedoch nur schwer auf den Schweizer Kontext übertragen. In der zitierten Studie waren Ärzte vor Ort, um die Bewohner klinisch zu untersuchen, während in unserem Kontext die klinische Beurteilung der Bewohner in Pflegeheimen hauptsächlich vom Pflegepersonal durchgeführt wird und die Verschreibungsentscheidungen oft telefonisch von den Ärzten getroffen werden.

Screening auf Atemwegsviren

Ein zweites Beispiel für einen POC-Test ist das Screening auf Atemwegsviren. Obwohl es sich um molekulare Tests handelt, deren Ergebnis in der Regel innerhalb von 1 bis 2 Stunden vorliegt, werden sie derzeit in Labors ausserhalb der Pflegeheime durchgeführt, was die Ergebnis­ermittlung für eine Entscheidung in Echtzeit verzögert. Eine Metaanalyse hat gezeigt, dass der systematische Einsatz molekularer Schnelltests für Atemwegsviren in Notaufnahmen die Verschreibung von Antibiotika nicht reduziert (17). Die Auswirkungen dieser Tests in Pflegeheimen wurden jedoch nicht bewertet, und SARS-CoV-2-Tests wurden in dieser Studie nicht untersucht.

Daten aus französischsprachigen Schweizer Pflegeheimen

Faktoren im Zusammenhang mit Verschreibungen bei Atemwegsinfektionen

In einer Kohorte von 114 Bewohnern mit einer Infektion der unteren Atemwege (18) erhielten 55 % Antibiotika, was einer relativ geringen Verschreibungsrate im Vergleich zum Durchschnitt in europäischen Einrichtungen (53 bis 80 %) entspricht (2). Unter den mit Antibiotika behandelten Bewohnern wies die Mehrheit (74 %) keine radiologischen Anzeichen einer Lungenentzündung auf, was auf eine unangemessene Verschreibung hindeutet.

Mehrere Faktoren standen im Zusammenhang mit der Verschreibung von Antibiotika: (i) ein Frailty-Score ≥  7 beim Bewohner, (ii) eine Sauerstoffsättigung < 92 %, was den Schweregrad der Infektion widerspiegelt, (iii) das Fehlen einer biologischen Untersuchung einschliesslich CRP und/oder eines Blutbildes und (iv) institutionelle Merkmale, wie z. B. eine Einrichtung in einem städtischen Gebiet oder die Anwesenheit eines männlichen Arztes. Die Durchführung eines PCR-Tests auf Atemwegsviren war der einzige Schutzfaktor gegen unangemessene Verschreibungen.

Diese Studie legt nahe, dass diagnostische Tests, insbesondere Blutuntersuchungen und virale PCR-Tests, die Verschreibung von Antibiotika, insbesondere unangemessenen Antibiotika, reduzieren könnten. Dennoch werden sie in der Praxis nur selten eingesetzt: In dieser Kohorte erhielten nur 44 % der Bewohner einen Virustest und 14 % einen Bluttest. POC-Tests scheinen eine geeignete Lösung zu sein, und ihre Verwendung könnte als Instrument zur Antibiotikastewardship gefördert werden.

Entwicklung eines Score zur Vorhersage einer ­Lungenentzündung

In derselben Kohorte, die seit der ersten Analyse um 92 Bewohner gewachsen ist (insgesamt 206), wurde ein ­Entscheidungsindex entwickelt, der Vitalparameter und Entzündungsbiomarker, die am Point-of-Care verfügbar sind, kombiniert, um das Vorliegen einer Lungenentzündung vorherzusagen (SGAIM 2025, Abstract 254). Dieser Score basiert auf fünf Variablen, die vom Pflegepersonal leicht zu erfassen sind: Alter ≥ 80 Jahre [1 Punkt], Body-Mass-Index <18.5 kg/m2 [2 Punkte], Herzfrequenz >100/min [1 Punkt], Atemfrequenz ≥ 22/min [1 Punkt] und CRP > 60 mg/L [2 Punkte], was insgesamt 0 bis 7 Punkte ergibt. Es wurden drei Risikostufen definiert: gering (0–1), mittel (2) und hoch (3–7). Der Score zeigte eine gute diagnostische Leistung für die Gruppen mit geringem und hohem Risiko (Sensitivität 86 %, Spezifität 74 %, positiver prädiktiver Wert 71 %, negativer prädiktiver Wert 89 %). Er könnte als Leitfaden für die Verschreibung dienen: keine Antibiotika für Bewohner mit einem niedrigen Score, Antibiotika für diejenigen mit einem hohen Score und eine medizinische Beurteilung vor der Entscheidung für Bewohner mit einem mittleren Score. Obwohl er ein vielversprechendes Potenzial für die Verschreibung hat, ist eine randomisierte kontrollierte Studie erforderlich, um seine klinische Sicherheit und seine Auswirkungen auf die Verschreibung zu bestätigen (Tab. 2).

Screening auf Atemwegsviren

Eine retrospektive Beobachtungsstudie, die zwischen 2021 und 2023 in 45 Pflegeheimen im Kanton Waadt (ca. 2400 Betten) durchgeführt wurde, untersuchte den Zusammenhang zwischen (i) dem Screening auf SARS-CoV-2, (ii) einem positiven SARS-CoV-2-Test und der Verschreibung von Antibiotika (SGAIM 2025, Abstract 257). Während das Screening an sich nicht mit der Verschreibung in Verbindung stand, war ein positives SARS-CoV-2-Ergebnis mit einer Verringerung der Antibiotikaverordnung verbunden. Im Durchschnitt sind 3.5 positive Tests erforderlich, um eine Verschreibung zu vermeiden. Dies deutet darauf hin, dass SARS-CoV-2-Tests in einem Umfeld mit hoher Prävalenz dazu beitragen könnten, die Verschreibung von Antibiotika zu reduzieren. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit den lokalen Empfehlungen zur Behandlung von Atemwegsinfektionen während einer Virusepidemie (Abb. 1, Tab. 2).

Lungenultraschall

Die Diagnose einer Lungenentzündung basiert auf einer radiologischen Untersuchung, aber eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs ist in der Praxis in Pflegeheimen nur schwer durchführbar. In der oben genannten Kohorte von Bewohnern mit Atemwegsinfektionen wurden nur 3 % der Bewohner dieser Untersuchung unterzogen (18). Die Lungenultraschalluntersuchung, die auch von der Schweizerischen Gesellschaft für Infektionskrankheiten empfohlen wird, stellt eine interessante Alternative dar, die mehrere Vorteile vereint: eine gute diagnostische Leistungsfähigkeit bei älteren Menschen (19) und die Verfügbarkeit von tragbaren Sonden, die mit Tablets und Smartphones kompatibel sind (20, 21). Die Lungenultraschalluntersuchung kann am Bett des Patienten durchgeführt werden, wodurch Transportwege vermieden werden und sie zu einer Bildgebungsmethode der Wahl in Pflegeheimen werden könnte. Um die Einführung dieses Instruments in einer Umgebung mit Anwendern ohne Vorkenntnisse zu fördern, hat sich gezeigt, dass einfach durchzuführende Techniken zur Untersuchung des Brustkorbs genauso wirksam sind wie eine gezielte Untersuchung auf pathologische Anzeichen (ESCMID 2025, Poster P3146). Darüber hinaus scheint die KI-gestützte Bildinterpretation sehr vielversprechend zu sein und das Potenzial zu haben, den Einsatz von Ultraschall durch Kliniker zu erleichtern (22) (Tab. 2).

Fazit

Der unsachgemässe Einsatz von Antibiotika in Pflegeheimen, insbesondere bei Atemwegsinfektionen, ist ein grosses Problem für die öffentliche Gesundheit, da er die Antibiotikaresistenz fördert und die Bewohner vermeidbaren Nebenwirkungen aussetzt. Trotz der strukturellen Zwänge, die diesen Einrichtungen eigen sind, bieten gezielte Strategien wie angepasste Empfehlungen, POC-Tests, einfache Entscheidungshilfen oder Lungenultraschalluntersuchungen vielversprechendes Potenzial, um die Relevanz der Verschreibungen bei Atemwegsinfektionen zu verbessern. Wir benötigen mehr Evidenz in diesem wenig erforschten Bereich der Gesundheitsversorgung, um geeignete, sichere und wirksame Strategien umsetzen zu können. Es ist daher notwendig, diese innovativen Ansätze in prospektiven Studien zu validieren, um sie in Antibiotika-Stewardship-Programme integrieren und die Verschreibung von Antibiotika optimieren zu können, ohne die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zu beeinträchtigen.

Dr. med. Alexia Roux 1
Dr. med. Nicola De Pasquale 1
M. Marc Jeanneret 1
Dr. med. Diem-Lan Vu 2, 3
Dr. med. Anne Niquille 4, 5
Dr. med. Eve Rubli Truchard 6
Dr. med. Tosca Bizzozzero 7
Dr. med. Emmanouil Glampedakis 8
Prof. Dr. med. Virginie Prendki 9,10
Prof. Dr. med. Noémie Boillat-Blanco 1

1 Infectious Diseases Service, Lausanne University Hospital and University of Lausanne, Lausanne
2 Communicable disease unit, Division of General cantonal physician, Geneva Directorate of Health, Geneva
3 Paediatric Infectious Diseases Unit, Department of Woman, Child and Adolescent, University Hospitals of Geneva, Geneva
4 Institute of Pharmaceutical Sciences of Western Switzerland, University of Geneva, University of Lausanne, Geneva
5 Department of ambulatory care, Unisanté, Center for Primary Care and Public Health, University of Lausanne, Lausanne
6 Geriatric Medicine and Geriatric Rehabilitation Division, Lausanne University Hospital and University of Lausanne, Lausanne
7 Department of Internal Medicine and Geriatrics, Morges Hospital, Morges
8 Cantonal Unit for Infection Control and Prevention, Public Health Service, Lausanne
9 Division of Infectious Diseases, Geneva University Hospitals, Geneva, Switzerland
10 Division of Internal Medicine for the Aged, Department of Rehabilitation and Geriatrics, Geneva University Hospitals

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

Übersetzung aus la gazette médicale 07/25 (noch nicht erschienen)

Dr. med. Alexia Roux

Infectious Diseases Service, Lausanne University Hospital and University of Lausanne, Lausanne

Dr. med. Nicola De Pasquale

Infectious Diseases Service, Lausanne University Hospital and University of Lausanne, Lausanne

Prof. Dr. med. Noémie Boillat-Blanco

Infectious Diseases Service, Lausanne University Hospital and University of Lausanne, Lausanne

Die Autorenschaft hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die unsachgemässe Verschreibung von Antibiotika in Pflegeheimen ist häufig, insbesondere bei Atemwegsinfektionen, und stellt einen wichtigen Faktor für vermeidbare Nebenwirkungen bei den Bewohnern dar.
  • Auf Pflegeheime zugeschnittene Antibiotika-Stewardship-Programme sind unerlässlich, ihre Umsetzung wird jedoch durch einen Mangel an Ressourcen und lokalen Daten eingeschränkt.
  • Schnelltests (Point-of-Care) für Entzündungsmarker wie C-reaktives Protein haben das Potenzial, die Relevanz der Verschreibungen zu verbessern.
  • Die Lungenultraschalluntersuchung ist eine vielversprechende Alternative zur Röntgenuntersuchung und eignet sich zur Diagnose einer Lungenentzündung, ohne dass die Bewohner transportiert werden müssen.

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Kardioprotektive Ernährung: Evidenzbasierte Strategien bei koronarer Herzkrankheit

Herz-Kreislauf-Erkrankungen stellen weltweit die häufigste Todesursache dar (1). Eine gesunde Lebensweise und insbesondere eine Anpassung der Ernährungsgewohnheiten sind ein wesentlicher Bestandteil bei der Vorbeugung und Behandlung der koronaren Herzerkrankung (2). Trotz der grossen Relevanz von Ernährungs-assoziierten Faktoren in der Pathogenese der koronaren Herzerkrankung sind eine routinemässige Erfassung des Ernährungsstatus sowie eine strukturierte Beratung hinsichtlich präventiver Ernährungsinterventionen durch geschultes Fachpersonal in vielen Institutionen nicht etabliert. In diesem Artikel werden die Zusammenhänge von Ernährungsfaktoren im Rahmen der koronaren Herzerkrankung erläutert sowie aktuelle Empfehlungen zum Gewichtsmanagement und zu einzelnen Nahrungsmitteln hinsichtlich der kardiovaskulären Prävention dargestellt.

Cardiovascular diseases are the most common cause of death worldwide (1). A healthy lifestyle and, in particular, changes to dietary habits are an essential part of the prevention and treatment of coronary heart disease (2). Despite the great relevance of nutrition-related factors in the pathogenesis of coronary heart disease, routine assessment of nutritional status and structured counselling on preventive nutritional interventions by trained professionals is not established in many institutions. This article explains the links between dietary factors and coronary heart disease and presents current recommendations on weight management and individual foods with regard to cardiovascular prevention.
Keywords: Koronare Herzerkrankung (KHK), Atherosklerose, Übergewicht, Adipositas, herzgesunde Ernährung

Einfluss der Ernährung auf atherosklerotische Prozesse

Die Atherosklerose ist gekennzeichnet durch chronische inflammatorische Prozesse innerhalb der Gefässwände, die zu einer zunehmenden Funktionsstörung des Endothels, Lipideinlagerungen und Plaquebildungen führen. Eine übermässige Nahrungsaufnahme mit Ansammlung von metabolisch ungünstigem Fettgewebe im Körper sowie westliche Ernährungsmuster tragen zu einer chronischen Sekretion von proinflammatorischen Zytokinen im Körper bei (3, 4). Hingegen zeigen Studien, dass bestimmte, eher pflanzlich-betonte Ernährungsmuster mit niedrigeren Entzündungsmarkern im Blut einhergehen und mit geringeren atherosklerotischen Gefässveränderungen assoziiert sind (5, 6, 7). Insbesondere eine mediterrane Ernährung scheint sich protektiv hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse auszuwirken, so dass diese in den aktuellen Leitlinien empfohlen wird (8, 9, 10).

Es ist wichtig zu betonen, dass weniger die Auswahl einzelner Lebensmittel, sondern vielmehr das gesamte Ernährungsmuster eines Individuums einen Einfluss auf die kardiovaskuläre Mortalität zu haben scheint (11). Dementsprechend muss die Anwendung von zeitlich begrenzten Diäten oder die Zufuhr einzelner Nahrungsergänzungsmittel kritisch betrachtet und stattdessen eine langfristige, individuell an Alter, Gewicht, Lebensgewohnheiten und das kardiovaskuläre Risiko angepasste Ernährungsumstellung mit potenziell protektiven Nahrungsbestandteilen angestrebt werden (12).

Übergewicht und Adipositas bei kardiovaskulären Erkrankungen

Das Vorhandensein von Übergewicht (WHO-Definition: BMI 25 bis < 30 kg/m2) oder Adipositas (WHO-Definition: BMI ≥ 30 kg/m2) begünstigt einerseits die Entstehung von kardiovaskulären Risikofaktoren (u. a. arterielle Hypertonie, Dyslipidämie und Typ-2-Diabetes) und ist anderseits auch direkt mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert (13). Insbesondere das viszerale Fettgewebe trägt, am ehesten durch eine Ausschüttung von proinflammatorischen und proatherogenen Zytokinen, zu einem erhöhten kardiometabolischen Risiko bei (14).

Obwohl Übergewicht und Adipositas prinzipiell durch ein Ungleichgewicht zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch zu erklären sind, sind die Ursachen komplex und multifaktoriell zu betrachten. Sowohl genetische, intrauterine und hormonelle Einflüsse als auch frühkindliche und lebenslange Gewohnheiten können die individuelle Entwicklung von Übergewicht beeinflussen, wobei die Zunahme in den letzten Jahrzehnten stark durch gesellschaftliche Faktoren (z. B. leichter Zugang zu stark verarbeiteten Lebensmitteln, veränderte Essgewohnheiten und vermehrt sitzender Lebensstil) begünstigt wurde (15, 16). Da es insbesondere im Erwachsenenalter schwierig ist, empfohlene Ernährungsinterventionen langfristig aufrechtzuerhalten und kalorienreduzierte Diäten häufig mit einer erneuten Gewichtszunahme einhergehen, sollte in der Gesellschaft die Prävention von Übergewicht und Adipositas bereits in frühen Lebensjahren im Vordergrund stehen. Ansätze zur Gewichtsreduktion bei erwachsenen Patienten umfassen eine Kombination aus regelmässiger körperlicher Aktivität, quantitativen und qualitativen Anpassungen der Ernährungsgewohnheiten und allenfalls psychologischen Interventionen, die je nach Ausprägung der angestrebten Gewichtsreduktion mit pharmakologischen oder bariatrischen Verfahren ergänzt werden können (2).

Diätetische Interventionen zur Gewichtsreduktion zielen meist auf eine reduzierte Kalorienzufuhr mit einem Energiedefizit von 500–750 kcal/Tag ab, die jedoch an das individuelle Körpergewicht und an vorliegende Begleiterkrankungen angepasst werden müssen (17). Dies kann durch verschiedene Strategien, wie z. B. durch eine Verkleinerung der Portionsgrösse, Vermeidung von ungesunden Zwischenmahlzeiten, Reduktion von freiem Zucker und hochverarbeiteten Lebensmitteln sowie durch eine Verringerung des Alkoholkonsums erzielt werden. Die Erhöhung des Proteingehaltes (1.0–1.2 g pro kg Körpergewicht) trägt zu einem verstärkten Sättigungsgefühl und zur Vermeidung eines Muskelverlustes (in Kombination mit körperlicher Aktivität) bei (18). In der SELECT-Studie konnte zudem durch eine pharmakologisch induzierte Gewichtsreduktion mittels GLP1-Rezeptoragonisten (Semaglutid) bei Patienten mit einem BMI ≥27 kg/m2 und bereits bestehender kardiovaskulärer Erkrankung das Risiko eines unerwünschten kardiovaskulären Ereignisses (Tod durch Herz-Kreislaufversagen, Herzinfarkt oder Schlaganfall) signifikant reduziert werden, wobei diese Effekte nicht allein auf die Gewichtsreduktion zurückzuführen sind (19).

Ernährungsempfehlungen zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen

Fleisch und Fisch

In einigen Metaanalysen prospektiver Beobachtungsstudien konnte eine erhöhte kardiovaskuläre Mortalität bei vermehrtem Fleischkonsum aufgezeigt werden, wobei eine starke Heterogenität in den Studienergebnissen zu beobachten ist (20, 21). Diese Heterogenität ist am ehesten aufgrund der Tatsache zu erklären, dass einerseits zwischen verschiedenen Fleischsorten mit unterschiedlichem Fett- und Eisengehalt sowie andererseits zwischen verschiedenen Verarbeitungsprozessen des Fleisches, vor allem durch Einsatz von Konservierungsstoffen wie Salz, Nitrit- und Nitratzusätzen, unterschieden werden muss. Insbesondere der Konsum von verarbeitetem Fleisch (z. B. Speck, Wurst, Salami) zeigt eine starke Assoziation mit kardiovaskulären Endpunkten, während unverarbeitetes «rotes Fleisch» (z. B. Rind- oder Schweinfleisch) eine weniger eindeutige und «weisses Fleisch» (z. B. Hühnchen- oder Truthahnfleisch) keine signifikante Assoziation bezüglich der kardiovaskulären Mortalität aufweist (22, 23, 24). Basierend auf diesen Erkenntnissen wird derzeit ein Fleischkonsum nur in moderaten Mengen (zwei bis drei Portionen je 100 g pro Woche), bevorzugt als möglichst unverarbeitetes und «weisses» Fleisch, empfohlen (25).

Ein regelmässiger Fischverzehr ist hingegen mit einer signifikant verringerten Inzidenz und Mortalität für Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden, wobei auch diesbezüglich regionale Unterschiede aufgrund verschiedener Fischsorten, Zubereitungsprozesse und einer möglichen Kontamination mit Schadstoffen diskutiert werden (24, 26, 27). Die Vorteile des Fischkonsums im Hinblick auf die Prävention von Atherosklerose werden im Allgemeinen auf den höheren Gehalt an langkettigen Omega-3-Fettsäuren in fettreichen Fischen (z. B. Lachs, Hering, Makrele) zurückgeführt. Als Mechanismen für die protektiven Effekte der Omega-3-Fettsäuren, zu denen unter anderem die Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) gehören, werden eine Optimierung des Lipidprofils, eine verbesserte Endothelfunktion und Plaquestabilität sowie eine Modulation von inflammatorischen und immunologischen Prozessen diskutiert (28, 29). Der tatsächliche Effekt der Omega-3-Fettsäuren auf kardiovaskuläre Ereignisse in der klinischen Praxis und insbesondere die Empfehlung einer zusätzlichen Supplementation wird jedoch weiterhin kontrovers diskutiert (30, 31, 32). In den aktuellen europäischen Leitlinien der Kardiologie wird daher ein Fischkonsum von ein bis zwei Portionen pro Woche empfohlen (10). Ein noch höherer Fischkonsum muss auch aus Gründen der Nachhaltigkeit angesichts der weltweiten Überfischung der Meere kritisch hinterfragt werden. Die zusätzliche Supplementierung von Omega-3-Fettsäuren (in Form von 2 x 2 g Icosapent-Ethyl) kann hingegen bei Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko und erhöhten Triglyceridwerten (> 1.5 mmol/L bzw. 135 mg/dl) trotz Statintherapie erwogen werden (10).

Gemüse und Früchte

Der Konsum von Obst und Gemüse ist dosisabhängig mit einem signifikant niedrigeren Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert (23, 33, 34). Bei häufigem Verzehr von Obst ist jedoch eine erhöhte Kalorienaufnahme durch einzelne Obstsorten mit hohem Anteil an schnell resorbierbaren Kohlenhydraten (z. B. Trauben, Ananas) zu vermeiden. Die vorteilhaften Effekte von Obst und Gemüse werden vorwiegend auf ihren hohen Ballaststoffgehalt und die enthaltenen Polyphenole zurückgeführt, welche günstige Auswirkungen auf den Glukose- und Lipidstoffwechsel sowie antioxidative und entzündungshemmende Eigenschaften aufweisen (35). In den Empfehlungen der europäischen Gesellschaft für Kardiologie wird der Verzehr von jeweils mindestens 200 g Obst und Gemüse pro Tag empfohlen (10).

Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte

Der Konsum von raffinierten Getreideprodukten, die einen hohen glykämischen Index aufweisen (z. B. Weissmehlprodukte), ist mit einem gesteigerten Atheroskleroserisiko assoziiert (36). Hingegen wirkt sich der Ersatz der raffinierten Kohlenhydrate durch Vollkornprodukte aufgrund des erhöhten Nahrungsfasergehaltes, der Dichte an gesunden Nährstoffen (u. a. Vitamine, Spurenelemente) sowie der vorteilhaften postprandialen Effekte, günstig auf das metabolische und kardiovaskuläre Risiko aus (23, 37). Des Weiteren ist auch der regelmässige Verzehr von Hülsenfrüchten, die neben einem hohen Gehalt an Proteinen und Nahrungsfasern zusätzliche sekundäre Pflanzenstoffe beinhalten, mit einer Reduktion des kardiovaskulären Risikos verbunden (25, 38, 39). In den Leitlinien der europäischen Gesellschaft für Kardiologie wird die erhöhte Zufuhr von Nahrungsfasern (30 – 45 g pro Tag) mit Hilfe von Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten sowie Obst und Gemüse empfohlen (10).

Nahrungsfette

In Bezug auf das kardiovaskuläre Risiko scheint mehr die Zusammensetzung der Nahrungsfette als die absolute Menge in der Ernährung von Bedeutung zu sein. Insbesondere Lebensmittel mit einem hohen Anteil an industriell produzierten Transfettsäuren (z. B. Backwaren, frittierte Nahrungsmittel) sind mit einem höheren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und plötzlichen Herztod assoziiert (40). Gesättigte Fettsäuren (v. a. tierische Lebensmittel, wie Fleisch und fettige Milchprodukte) sollten möglichst durch ein- und mehrfach ungesättigte Fette (z. B. fetter Fisch, pflanzliche Öle, Nüsse und Hülsenfrüchte) ersetzt werden (41, 42, 43). Pflanzliche Speiseöle mit einem hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren, wie natives Olivenöl und Leinsamenöl, wirken sich im Gegensatz zu Palm- oder Kokosöl, unter anderem aufgrund des hohen Gehaltes an Öl- und Linolsäure sowie Tocopherol (Vitamin E), vorteilhaft auf das Lipidprofil und kardiovaskuläre Risiko aus (44). Bei Umsetzung einer «fett­armen» Ernährung ist hingegen darauf zu achten, dass dies nicht durch einen erhöhten Anteil an raffinierten Kohlenhydraten kompensiert wird, da dies mit einem erhöhten Risiko für Adipositas, Typ-2-Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen einhergeht (25).

Milchprodukte und Eier

Aufgrund des hohen Anteils an gesättigten Fettsäuren wurde bis vor wenigen Jahren von fettreichen Milchprodukten in der Ernährung abgeraten. Allerdings enthält diese sehr heterogene Gruppe an Lebensmitteln auch viele vorteilhafte Bestandteile, wie mittelkettige gesättigte Fette, verzweigtkettige Aminosäuren, Vitamin K und Kalzium (45). Sowohl fettreiche als auch fettarme Milchprodukte zeigen bis zu einem Verzehr von 200 g pro Tag keine signifikanten Assoziationen mit dem Auftreten einer koronaren Herzerkrankung (46). Ein moderater Konsum von Milchprodukten, auch mit höherem Fettanteil, ist daher unter Berücksichtigung der Gesamtenergiezufuhr vertretbar (25).

Hinsichtlich des Konsums von Eiern finden sich in den vergangenen Jahren teils widersprüchliche Ergebnisse. In mehreren Metaanalysen konnte durch einen moderaten Verzehr (max. 1 Ei pro Tag) kein signifikant erhöhtes kardiovaskuläres Risiko nachgewiesen werden (47, 48, 49). Hingegen liess sich in Populationen, die bereits eine erhöhte Aufnahme von Nahrungscholesterin und gesättigten Fettsäuren in der Ernährung aufweisen, durchaus eine dosis­abhängig gesteigerte kardiovaskuläre Mortalität durch den vermehrten Konsum von Eiern feststellen (50, 51, 52). Eine mögliche Ursache für die heterogenen Ergebnisse können unter anderem auch verschiedene Zubereitungsarten sowie eine individuell variable Reaktion auf diätetisches Cholesterin, insbesondere bei bereits bestehender Hyperlipidämie, sein (53). Zusammenfassend sollte daher eine Begrenzung des Konsums von Eiern, vor allem bei Patienten mit bereits bestehender koronarer Herzerkrankung, diskutiert werden (25).

Salzkonsum

Trotz komplexer physiologischer Zusammenhänge und teils heterogener Studienergebnisse lassen sich durch eine Verringerung des Salzkonsums in der Nahrungsaufnahme positive Auswirkungen auf das kardiovaskuläre System, welche über den Effekt einer Blutdrucksenkung hinausgehen, erkennen (54). In einer vor wenigen Jahren publizierten Metaanalyse aus 24 Kohortenstudien konnte demnach ein linearer Zusammenhang zwischen der Höhe der nutritiven Salzaufnahme und dem Auftreten von kardiovaskulären Erkrankungen nachgewiesen werden (55). Derzeit wird in den Empfehlungen der Kardiologie eine Reduktion des Salzkonsums auf unter 5 g pro Tag (entspricht ca. 2.3 g Natrium) angestrebt, wobei dies in der Regel nur durch den Verzicht auf hochprozessierte Nahrungsmittel in unserer Ernährung zu erreichen ist (10).

Nüsse

Der regelmässige Verzehr von ungesalzenen Nüssen ist in mehreren Studien mit einer Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert, so dass eine tägliche Portion (etwa 30 g) empfohlen wird (56, 57). Die positiven Effekte werden unter anderem aufgrund des hohen Gehaltes an Nahrungsfasern, ungesättigten Fettsäuren sowie antioxidativen und antiinflammatorischen Bestandteilen, insbesondere Vitamin E, Polyphenole und Omega-3-Fettsäuren, erklärt (58).

Getränke

Der Konsum von ungezuckerten Kaffee- oder Teeprodukten in moderater Menge (etwa drei Tassen pro Tag) ist anhand der derzeitigen Studienlage mit einer Reduktion des kardiovaskulären Risikos verbunden (59, 60). Der regelmässige Konsum von zuckerhaltigen Getränken (Soft- und Energydrinks) ist hingegen mit einem signifikant erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert (61). Der hohe Fruktosegehalt in diesen Getränken fördert die Triglycerid-Synthese in der Leber und trägt zur Entwicklung von Übergewicht, Dyslipidämie und Insulinresistenz bei (62). Es ist zu erwähnen, dass auch für niedrigkalorische Süssgetränke mit Zuckerersatzstoffen (Light- oder Zero-Getränke) eine leicht erhöhte Inzidenz von kardiovaskulären Erkrankungen festgestellt wurde und diese daher nicht als Alternative empfohlen werden sollten.

Der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und koronarer Herzerkrankung wird in den letzten Jahren differenzierter betrachtet. Ein häufig postuliertes reduziertes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse durch einen moderaten Alkoholkonsum (sog. J-förmige Beziehung) muss aufgrund von methodischen Mängeln und Verzerrungen in einzelnen Studien mit Vorsicht interpretiert werden (63, 64). In neueren Daten konnten bezogen auf die Gesamtmortalität weder ein sicherer Schwellenwert noch gesundheitliche Vorteile bei einem Konsum von niedrigen Mengen von Alkohol nachgewiesen werden (65, 66, 67). Ein chronisch erhöhter Alkoholkonsum ist stattdessen dosisabhängig sowohl mit ungünstigen kardiovaskulären Effekten als auch mit zahlreichen medizinischen sowie psychischen Folgeerkrankungen assoziiert (67, 68). Dementsprechend sollte Alkohol vorwiegend als Genussmittel, welches in moderaten Mengen unter Einhaltung von «alkoholfreien Tagen» gelegentlich konsumiert werden kann, betrachtet werden (10, 69).

Fazit

In der Kardiologie gewinnt die Berücksichtigung von Übergewicht und Adipositas sowie ernährungsmedizinischen Aspekten in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt aufgrund der medikamentösen Möglichkeiten durch GLP1-Rezeptoragonisten zur Gewichtsreduktion, an Bedeutung. Es ist jedoch in der Prävention und langfristigen Therapie der koronaren Herzerkrankung essenziell, dass dies nicht auf eine alleinige medikamentöse Intervention beschränkt bleibt. Zwar ist eine langfristige Umstellung von individuellen Ernährungsgewohnheiten eine grosse Herausforderung, jedoch ist die konsequente Berücksichtigung von Ernährungs-assoziierten Risikofaktoren innerhalb der ärztlichen Konsultation ein wesentliches Element zur Förderung einer nachhaltigen Lebensstilanpassung. Strukturierte Behandlungsabläufe mit Integration ernährungstherapeutischer Massnahmen, Vermittlung von notwendigem Wissen zu Ernährungsfragen sowie eine enge Zusammenarbeit mit den Fachpersonen der Ernährungstherapie sollten fester Bestandteil in der Behandlung der koronaren Herzerkrankung sein.

Copyright
Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Marvin Grossmann, MHBA

Facharzt Kardiologie und Allgemeine Innere Medizin,
Leitung stationäre kardiovaskuläre Rehabilitation
Zentrum für Rehabilitation & Sportmedizin
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Ernährung spielt durch Einfluss auf atherosklerotische Prozesse, inflammatorische Marker und kardiometabolische Risikofaktoren eine zentrale Rolle in der Prävention und Behandlung der koronaren Herzkrankheit.
  • Ein mediterran geprägtes, ballaststoffreiches und pflanzenbetontes Ernährungsmuster reduziert signifikant das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und wird daher in den Leitlinien empfohlen.
  • Verarbeitetes Fleisch sowie zucker- und salzreiche Lebensmittel sind mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko assoziiert, wohingegen Fisch, Hülsenfrüchte, ungesättigte Fette und Nüsse protektiv wirken.
  • Eine strukturierte Ernährungstherapie und interdisziplinäre Betreuung sollten integraler Bestandteil der Versorgung von Patient/-innen mit KHK sein.

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Der Dokumentationsbogen nach Schultertrauma

Läsionen der Rotatorenmanschette sind eine häufige Ursache von Schulterschmerzen. Die Sehnen der Rotatorenmanschette durchlaufen mit zunehmendem Alter degenerative Prozesse, was eine Differenzierung zwischen traumatischer oder degenerativer Ursache von Sehnenläsionen oftmals schwierig macht. Alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer/-innen sind obligatorisch unfallversichert, somit ist diese Differenzierung nach einem Trauma äusserst relevant hinsichtlich der Festlegung des Kostenträgers. Essentiell ist eine möglichst detaillierte und strukturierte Erfassung von unfallbezogenen Informationen bei der ärztlichen Erstkonsultation, welche in aller Regel hausärztlich oder auf Notfallstationen erfolgt. Gemeinsam haben die Expertengruppe Schulter und Ellbogen der Swiss Orthopaedics und die Suva einen Dokumentationsbogen nach Schultertrauma erarbeitet, der dies ermöglichen soll. Mit diesem Artikel soll dieser Dokumentationsbogen nach Schultertrauma bekannter gemacht und seine Relevanz für die versicherungsmedizinische Aufarbeitung eines Schultertraumas aufgezeigt werden.

Lesions of the rotator cuff are a common cause of shoulder pain. The tendons of the rotator cuff undergo degenerative processes with increasing age, which makes it difficult to distinguish between traumatic and degenerative causes of tendon injuries. The swiss population is covered by a compulsory accident insurance, thus the differentiation of trauma and degeneration is important regarding responsibilities of the insurance providers. A detailed and structured documentation of all injury-related information at the first medical consultation, which frequently is conducted by general practitioners and emergency wards, is essential. To provide a reproducible template for this critical documentation, the shoulder and elbow expert group of Swiss Orthopaedics in collaboration with Suva created a shoulder trauma documentation form. The purpose of this article is to introduce, popularise and underline the importance of this form.
Keywords: Rotatorenmanschette, Schultertrauma, Versicherungsmedizin, Dokumentationsbogen

Schulterschmerzen gehören zu den häufigsten Symptomen für muskuloskelettale Konsultationen bei Erstversorgern (1). In einem umfassenden systematischen Review wurden 61 Studien einbezogen, in denen die Prävalenz von Schulterschmerzen bei Patienten der Grundversorgung zwischen 1–4.8 % ermittelt wurde. Die jährliche Inzidenz wird mit ca. 12–25/1000 angegeben (2). Rund 50 % der Patient/-innen berichten 6 Monate nach der Erstkonsultation, ohne Berücksichtigung der eingeleiteten Behandlung, über anhaltende Symptome (3). Läsionen der Rotatorenmanschette machen einen grossen Anteil der Schulterpathologien aus (2). Die Prävalenz über alle Altersgruppen liegt bei rund 20 %, wobei mit steigendem Alter eine deutliche Zunahme festzustellen ist (4). Dabei handelt es sich sowohl um degenerativ als auch traumatisch bedingte Rupturen der Rotatorenmanschette. Enger et al. (5) finden mit ihrer prospektiven Studie zu Schulter­traumata innerhalb eines Jahres die Diagnose einer Rotatorenmanschettenläsion in 4 % aller Schulterverletzungen bestätigt, wobei diese bei einem Median von 60 Jahren auftraten.
Nicht selten treten Schwierigkeiten bei der genauen Differenzierung zwischen Traumafolgen und degenerativen/alters- und abnützungsbedingten Läsionen der Rotatorenmanschette (sogenannt «acute-on-chronic») auf.

Alle in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer/-innen sind gemäss Bundesgesetz über die Unfallversicherung obligatorisch bei einer Unfallversicherung versichert (Art. 1 UVG). Wer nicht berufstätig ist, erhält bei einem Unfall Versicherungsschutz über die Krankenkasse. Arbeitslose Personen sind obligatorisch bei der Suva gegen Unfälle versichert. Ein Unfallereignis muss der zuständigen Unfallversicherung, dem Arbeitgeber oder der Arbeitslosenversicherung gemeldet werden (Art. 45 UVG). Mit dieser Anmeldung werden der Versicherung Angaben zum Unfallzeitpunkt, zum Hergang und zu einer eventuell resultierenden Arbeitsunfähigkeit gemacht. Oft erfolgt die Unfallmeldung durch oder über den Arbeitgeber. Ein Arztzeugnis UVG enthält diese Informationen und wird durch den erstbehandelnden Arzt ausgefüllt. Die Unfallversicherung prüft anhand der vorhandenen Daten, ob ein Unfall (wie in Artikel 4 ATSG definiert), eine Berufskrankheit nach Artikel 6 Absatz 1 UVG oder nach Artikel 6 Absatz 2 UVG eine Listendiagnose vorliegt. In vielen Fällen ist eine versicherungsmedizinische Beurteilung erforderlich.

Die Unterscheidung zwischen traumatischer und degenerativer Ursache von Läsionen der Rotatorenmanschette ist schwierig

Das Dilemma der Versicherungsmedizin besteht häufig darin, dass sowohl asymptomatische als auch symptomatische Läsionen der Rotatorenmanschette bestehen (4). Neben Alterungsvorgängen, einer repetitiven Fehl- oder Überbelastung (z. B. bei Überkopfsportarten) sowie z. B. auch genetischen Einflüssen sollten akute, unfallkausal entstandene Läsionen der Rotatorenmanschette bedacht werden. Bei der versicherungsmedizinischen Beurteilung von Fällen nach einem Schultertrauma zeigt sich, dass häufig wichtige und entscheidungsrelevante Informationen nicht dokumentiert sind. In Zusammenarbeit zwischen der Versicherungsmedizin der Suva und der Expertengruppe Schulter und Ellbogen von Swiss Orthopaedics wurde definiert, welche Informationen im Rahmen einer Erstuntersuchung erhoben und dokumentiert werden sollten. Informationen zur Anamnese, dem Hergang, dem Verlauf nach dem Ereignis, zum ärztlichen Erstbefund und den Ergebnissen apparativer Diagnostik haben Einfluss auf die Diagnosefindung, die Therapieplanung und das Outcome der verletzten Personen wie auch auf die versicherungsmedizinische Beurteilung.

In der Praxis zeigt sich, dass entscheidende Informationen oft fehlen. Dies führt u. a. dazu, dass die Anmeldung beim Schulterspezialisten verzögert erfolgt und dass im Verlauf wesentliche Informationen verloren gehen. Den Aussagen der ersten Stunde (der versicherten Personen zum Ereignishergang) sowie den Befunden der ersten ärztlichen Konsultationen kommt bezüglich Beweiswürdigung und Kausalitätsbeurteilung eine wichtige Rolle zu.

Aus den genannten Gründen kann rasch ein Spannungsfeld entstehen. Die erhobenen medizinischen Befunde werden zudem von den kurativ tätigen Ärzt/-innen und den Versicherungsmediziner/-innen unterschiedlich gewichtet. Die Aussagen der wissenschaftlichen Literatur (zur Unfallkausalität) sind – auch aufgrund der unterschiedlichen Definition des Unfallbegriffes – nicht einheitlich.

Aus Sicht der Schulterspezialisten ergibt sich:

Einige Sehnenläsionen sind eine zeitkritische Angelegenheit und benötigen eine rasche operative Therapie, um gute Ergebnisse zu erzielen, den Leidensdruck der Patienten rasch zu reduzieren und auch die volkswirtschaftlichen Schäden wie beispielsweise durch den Arbeitsausfall gering zu halten. Dies begründet hinsichtlich der Therapieentscheidung und der Beurteilung der Unfallkausalität einen gewissen Zeitdruck. Eine beschleunigte Leistungsprüfung durch die Unfallversicherungen hat Vorteile für die versicherten Personen: Sie haben weniger Unsicherheit und eine geringere Wartezeit auf die Therapien. Wenn weniger Rückfragen seitens der Versicherungen notwendig sind, werden die behandelnden Ärzt/-innen entlastet. Auch für die Planung einer konservativen Therapie bei nicht dringlicher Indikation ergeben sich Vorteile aus einer verkürzten Bearbeitungsdauer und wenn Klarheit bezüglich der Kostenübernahme besteht.

Aus versicherungsmedizinischer Sicht ergibt sich:

Bei der versicherungsmedizinischen Beurteilung nach einem Schultertrauma zeigt sich häufig, dass viele wichtige und entscheidungsrelevante Informationen nicht dokumentiert sind. Die versicherten Personen (Patient/-innen) profitieren jedoch von einer strukturierten und vollständigen Erhebung der medizinischen Befunde. Im Zweifelsfall und bei mangelnder Entscheidungsgrundlage tragen sie die Folgen der Beweislosigkeit. Liegen zum Zeitpunkt der Vorlage an die Versicherungsmedizin alle relevanten Befunde und Informationen vor, so kann die Beurteilung rasch, gezielt und gut begründet erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass die Versicherungsmedizin und die kurative Medizin die gleichen Fakten lediglich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.

Als Konklusion ergibt sich:

Um die Informationserfassung zu vereinfachen und zu vereinheitlichen, wurde in Zusammenarbeit zwischen Swiss Orthopaedics und der Versicherungsmedizin der Suva der Dokumentationsbogen nach Schultertrauma entwickelt. Dieser Bogen soll es ermöglichen, im Rahmen der Erstkonsultation zeitnah zu einem Ereignis die relevanten Informationen strukturiert zu erfassen. Ergänzend zu der Schadenmeldung UVG werden mit dem erarbeiteten Dokumentationsbogen u.a. eine Erfassung einer möglichst genauen Schilderung des Hergangs des Ereignisses, des Verhaltens nach dem Ereignis (z. B. sofortige Beendigung der Aktivität, Notwendigkeit der Rettung etc.), der Frage nach früheren Beschwerden an der betroffenen Schulter und von Begleitverletzungen und die Dokumentation des klinischen Untersuchungsbefundes inklusive einer Standardtestung der Rotatorenmanschette möglich. Der Befund einer allfälligen Röntgenuntersuchung der Schulter, die eingeleitete Primärtherapie und die Frage, ob eine weiterführende Diagnostik und spezialisierte fachorthopädische Behandlung als notwendig erachtet werden, komplettieren die Dokumentation.

Ergänzend steht unter https://tinyurl.com/4jxv3fwh eine Dokumentation zu den Untersuchungstechniken des Schultergelenks zur Verfügung.

Der Dokumentationsbogen kann über medForms aufgerufen werden (https://www.medforms.ch). Der Dokumentationsbogen für die Erstkonsultation nach kraniozervikalem Beschleunigungstrauma hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Dem Dokumentationsbogen nach Schultertrauma ist ein vergleichbarer Erfolg zu wünschen. Wir rechnen mit einem Aufwand von ungefähr 5 Minuten für das Ausfüllen des Bogens.

Wir sehen den Dokumentationsbogen nach Schultertrauma als ein nützliches und sinnvolles Tool an und möchten insbesondere die Erstversorger/-innen wie Hausärzt/-innen und Ärzt/-innen auf Notfallstationen auf diesen Bogen aufmerksam machen und motivieren, ihn regelhaft auszufüllen.

Dr. med. Stefan Loske 1
med. prakt. Peter Bülow 2 (shared first)
Prof. Dr. med. Andreas Müller 3
Dr. med. Josef Grab 2
Prof. Dr. med. Samy Bouaicha 4
Prof. Dr. med. Matthias Zumstein 5
PD Dr. med. Hannjörg Koch 2
Dr. med. Thomas Meier 2
Shoulder and Elbow Expert Group of Swiss Orthopaedics 6
Prof. Dr. med. Claudio Rosso 1

1 Arthro Medics AG, Eichenstr. 31, 4054 Basel, c.rosso@arthro.ch und s.loske@arthro.ch
2 Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstr. 1, 6002 Luzern
3 Universitätsspital Basel, Spitalstr. 21, 4056 Basel
4 Universitätsklinik Balgrist, Forchstr. 340, 8008 Zürich
5 Orthopädie Sonnenhof, Salvisbergstr. 4, 3006 Bern
6 Bauer Stefan, Candrian Christian, Cikes Alec, Cunningham Gregory, Goetti Patrick, Hertel Ralph, Hoffmeyer Pierre, Holzer Nicolas, Jost ernhard,
Lädermann Alexandre, Puskàs Gàbor, Schär Michael, Schneeberger Alberto, Spross Christian, Wieser Karl, Wirth Barbara

Dr. med. Stefan Loske

Arthro Medics AG
Eichenstr. 31
4054 Basel

s.loske@arthro.ch

med. prakt. Peter Bülow

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva)
Fluhmattstr. 1
6002 Luzern

Prof. Dr. med. Claudio Rosso

Arthro Medics AG
Eichenstr. 31
4054 Basel

c.rosso@arthro.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die Unterscheidung zwischen einer unfallbedingten oder altersbedingten/degenerativen Ursache von Läsionen der Rotatorenmanschette ist zumeist nicht einfach und bedarf vieler Informationen.
  • Die Unterscheidung ist zur Ermittlung des zuständigen ­Kostenträgers nötig
  • Eine möglichst vollständige und detaillierte Dokumentation der ärztlichen Erstkonsultation nach Trauma der Schulter ­liefert wichtige Informationen für die Entscheidungsfindung; nicht selten sind dafür zu wenig Daten erfasst
  • Zur Standardisierung der Ersterfassung haben die Expertengruppe Schulter und Ellbogen der Swiss Orthopaedics
    und die Suva gemeinsam einen Dokumentationsbogen nach Schultertrauma entwickelt, der den erstbehandelnden ­Ärzt/-innen nun zur Verfügung steht.

1. Urwin M, Symmons D, Allison T, Brammah T, Busby H, Roxby M, et al. Estimating the burden of musculoskeletal disorders in the community: the comparative prevalence of symptoms at different anatomical sites, and the relation to social deprivation. Ann Rheum Dis. 1998;57(11):649-55.
2. Mitchell C, Adebajo A, Hay E, Carr A. Shoulder pain: diagnosis and management in primary care. BMJ (Clinical research ed). 2005;331(7525):1124-8.
3. Kuijpers T, van der Windt DAWM, van der Heijden GJMG, Bouter LM. Systematic review of prognostic cohort studies on shoulder disorders. PAIN. 2004;109(3):420-31.
4. Yamamoto A, Takagishi K, Osawa T, Yanagawa T, Nakajima D, Shitara H, et al. Prevalence and risk factors of a rotator cuff tear in the general population. Journal of shoulder and elbow surgery. 2010;19(1):116-20.

Impfmanagement und Kommunikation zu Impfungen in der Hausarztpraxis

Im Rahmen des diesjährigen Herbstkongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), präsentierte Dr. med. Thomas Steffen, Facharzt für Prävention und Public Health, am Moderna-Symposium aktuelle Daten zur Impfbereitschaft bei Erwachsenen und zeigte auf, warum Prävention im Alltag oft an einfachen Hürden scheitert.

Abstand zwischen Empfehlung und Realität

Trotz klarer Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) bleibt die Impfquote bei Schweizer Erwachsenen tief. Besonders gefährdet sind ältere und multimorbide Personen. Nur ein kleiner Teil der über 65-Jährigen ist gegen Influenza, COVID-19 oder RSV geschützt, obwohl diese Infekte die häufigsten Ursachen schwerer Atemwegserkrankungen darstellen. Dr. Steffen stellte die zentrale Frage: Warum gelingt es uns trotz des Wissens um die Wirksamkeit von Impfungen nicht, einfache Präventionsmassnahmen konsequent umzusetzen? Der Workshop richtete den Blick auf diese Diskrepanz zwischen Wissen und Verhalten und fragte nach den Gründen.

Krankheitslast: Atemwegsinfekte bleiben dominierend

Anhand von Surveillance-Daten des BAG und der Sentinella-Ärzte zeigte Steffen, dass Influenza und COVID-19 auch 2024/25 die Hauptursachen viraler Atemwegsinfekte bleiben. Hinzu kommt das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV), das bei Erwachsenen lange unterschätzt wurde. In der Altersgruppe über 60 Jahre führen RSV-Infektionen jährlich zu über 5000 Hospitalisationen, mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von zwölf Tagen. COVID-19 und Influenza verursachen in dieser Gruppe zehntausende Spitalaufenthalte und mehrere Tausend Todesfälle. Die im Vortrag gezeigten Zeitreihen veranschaulichten, dass alle drei Viren – Influenza, COVID-19 und RSV – saisonal eng überlappen und jedes Jahr substanzielle Morbidität verursachen. Gerade RSV wurde in der Vergangenheit systematisch unterschätzt; die Präsentation zeigte jedoch, dass die tatsächliche Hospitalisationszahl aufgrund unzureichender Diagnostik vermutlich viermal höher liegt als in den offiziellen ICD-Daten erfasst. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass die Surveillance-Strukturen in der Schweiz (CH-SUR, Sentinella, Abwasseranalysen) zwar wertvoll, aber fragmentiert sind, was die Einschätzung der Krankheitslast zusätzlich erschwert.

Neue Impfstoffe – ungenutzte Chancen

Im Vortrag wurden die aktuellen Impfempfehlungen vorgestellt:
• RSV-Impfung: empfohlen für alle ab 75 Jahren sowie für 60- bis 74-Jährige mit chronischen Erkrankungen oder Pflegebedürftigkeit.
• COVID-19-Impfung: jährlich für über 65-Jährige und Risikopatienten.
• Influenza-Impfung: jährlich für dieselben Gruppen, idealerweise zwischen Mitte Oktober und Beginn der Grippewelle.

Der Referent hob besonders hervor, dass diese saisonalen Impfungen zeitlich gut koordinierbar sind. Die Möglichkeit der Co-Administration, etwa COVID-19, Influenza und RSV in derselben Konsultation zu verabreichen, wurde im Vortrag als grosse Chance für Hausärztinnen und Hausärzte präsentiert. Damit können Praxisabläufe optimiert und mehrere Präventionslücken gleichzeitig geschlossen werden. Trotz dieser Synergien bleibt die Impfquote in der Schweiz hinter internationalen Vergleichswerten zurück: Länder wie Dänemark oder Spanien erreichen bei Influenza-Impfraten deutlich höhere Werte (um 70 %), während die Schweiz bei unter 40 % liegt. (Das WHO-Ziel für die Influenzadurchimpfung in der Altersgruppe 65+ und Risikogruppen < 65 liegt bei 75 %).

Impfwirksamkeit: Mehr als Infektionsschutz

Der Referent betonte den Zusatznutzen von Impfungen über die reine Infektprävention hinaus. Studien zeigen, dass die Influenza-Impfung nicht nur Hospitalisationen reduziert, sondern auch kardiovaskuläre Ereignisse senkt. Auch die COVID-19-Impfung mindert Todesfälle und Long-COVID-Risiken. Im Vortrag wurden zusätzliche Real-World-Daten präsentiert, die zeigen, dass respiratorische Impfstoffe in der Altersgruppe 60+ eine Wirksamkeit zwischen 30 % und 80 % im Schutz vor schweren Verläufen erreichen. Ergebnisse aus Phase-3-Studien zur RSV-Impfung bestätigen die Wirksamkeit gegen schwere RSV-Erkrankungen von über 80 %. In der Kommunikation mit Patienten sollte auch auf den Zusatznutzen, etwa die Reduktion von Herzinfarkten nach einer Influenza-Impfung, hingewiesen werden. Denn diese indirekten Effekte werden von vielen Patienten unterschätzt.

Warum impfen sich so wenige?

Es wurden mehrere Gründe genannt, u.a.:
• 42 % der Befragten gaben an, den Impftermin einfach vergessen zu haben.
• 33 % hielten sich nicht für gefährdet.
• 29 % fürchteten Nebenwirkungen.
• 21 % glaubten nicht, dass eine Impfung vor der Krankheit schützt.
• 20 % war es zu zeitaufwendig, deswegen zum Arzt zu gehen.
• 15 % lehnen Impfungen generell ab.

Eine im Vortrag gezeigte Schweizer Umfrage (Q4/2024, n=601) belegte zusätzlich, dass 62 % der über 65-Jährigen nicht wissen, dass ihnen eine jährliche COVID-19-Impfung empfohlen wird, und 43 % die Empfehlung für die Grippeimpfung nicht kennen. Nur ein Fünftel plant, sich in der kommenden Saison impfen zu lassen. Besonders problematisch ist, dass viele Menschen ihr persönliches Risiko systematisch unterschätzen und eine vermeintlich «natürliche Immunität» überschätzen, ein Befund, den sowohl eine Pfizer-Umfrage (2025) als auch BAG-Daten bestätigen.

Kommunikation statt Konfrontation

Im letzten Teil stellte der Referent praxisnahe Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte vor. Der Schlüssel liege in Vertrauen, Empathie und klarer Kommunikation.
Seine fünf Punkte gegen Impfskepsis:
1. Vertrauen aufbauen, zuhören, Ängste ernst nehmen.
2. Wissen vermitteln, Nutzen und Risiken verständlich erklären.
3. Impfung als Normalfall darstellen, klare, verbindliche Sprache ohne Druck.
4. Vorbild sein, proaktive Impfkultur im Team.
5. Rahmenbedingungen optimieren, einfache Abläufe, Informationsmaterial bereitstellen.
Hausärztinnen und Hausärzte bleiben laut Steffen die wichtigsten Multiplikatoren. Ihre Empfehlung ist der stärkste Antrieb zur Impfung.

Fazit

Ärztliche Empfehlung bleibt der entscheidendste Faktor: Die Bereitschaft zur Impfung steigt signifikant, wenn sie aktiv und persönlich empfohlen wird. Die hausärztliche Rolle ist damit zentral für höhere Impfquoten. Ebenso sind regelmässige Impfchecks, einfache Abläufe und klare Informationsmaterialien notwendig, damit Impfungen selbstverständlich in den Praxisalltag integriert werden.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

Asthma und COPD

An einem weiterer Vortrag am SGAIM Herbstkongress stellte Prof. Dr. med. Daniel Franzen, Uster, an einem Symposium von MSD & Sanofi/Regeneron die neuesten Erkenntnisse zur Differenzierung und Behandlung von Asthma, COPD und Mischformen vor. Der Schwerpunkt lag auf der Versorgung durch Allgemeinmediziner, für die die Unterscheidung zwischen den beiden Erkrankungen oft schwierig ist.

Der Referent betonte eingangs, dass viele Patienten mit unspezifischen Atemwegssymptomen wie Dyspnoe, Husten oder Belastungsintoleranz in der Grundversorgung erscheinen – Beschwerden, die sowohl bei Asthma als auch bei COPD auftreten. Eine korrekte Differenzierung ist jedoch entscheidend, um wirksame Therapien einzuleiten und Fehldiagnosen zu vermeiden.

Unterschiede in Klinik und Diagnose

Asthma tritt häufig bereits im Kindes- oder Jugendalter auf, oft in Verbindung mit Allergien, und zeigt ein meist variables und reversibles Muster der Atemwegsobstruktion. COPD hingegen entwickelt sich schleichend über Jahre und betrifft typischerweise ältere Patienten, fast immer mit signifikanter Tabakexposition in der Vorgeschichte. Der Vortrag zeigte anhand einer Übersichtstabelle klar auf, wie stark sich beide Erkrankungen in typischen Merkmalen wie Anfallscharakter, Symptomdauer, FEV₁-Verlauf, nächtlichen Beschwerden und der Präsenz reversibler Obstruktionen unterscheiden.

Für Allgemeinmediziner besonders hilfreich ist ein diagnostischer Algorithmus, der die Beurteilung von FEV₁-Reversibilität, PEF-Variabilität und der Blut-Eosinophilen berücksichtigt (Abb. 1). Dieser zeigt, dass Asthma auch dann vorliegen kann, wenn keine Obstruktion messbar ist, vorausgesetzt, Variabilität der Lungenfunktion und ein Ansprechen auf eine inhalative Therapie sind gegeben.

Moderne Therapieansätze bei Asthma

Die GINA-Empfehlungen von 2019 haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet: Kurz wirksame Bronchodilatatoren sollen nicht mehr als alleinige Bedarfstherapie eingesetzt werden. Bereits bei milden Symptomen wird eine ICS-basierte Behandlung empfohlen. Prof. Franzen betonte, dass Asthma heute als heterogene Erkrankung verstanden wird, bei der die Identifikation von Phänotypen – insbesondere des Typ-2-entzündlichen Asthmas – eine zentrale Rolle spielt.

Biomarker wie FeNO, Blut-Eosinophile und IgE ermöglichen eine genauere Klassifizierung und ein besseres Verständnis des individuellen Entzündungsmusters. Je nach Phänotyp stehen verschiedene zielgerichtete biologische Therapien zur Verfügung. Dazu gehören u. a. Dupilumab, das IL-4/IL-13-Signale blockiert, sowie Tezepelumab, ein TSLP-Inhibitor mit breiter Wirksamkeit auch bei nicht-eosinophilem Asthma. In den höheren GINA-Stufen (4 und 5) bilden diese Medikamente mittlerweile einen festen Bestandteil der Therapie.

Neue Ära mit biologischen Medikamenten

Während sich die COPD-Therapie traditionell auf Spirometrie, Symptombewertung und Exazerbationsrisiko stützt, gewinnt auch hier die Phänotypisierung zunehmend an Bedeutung. Eosinophile haben sich als relevanter Biomarker etabliert, der sowohl das Exazerbationsrisiko als auch das potenzielle Ansprechen auf eine ICS-Therapie vorhersagen kann. Aktuelle Studien zeigen, dass auch COPD-Patienten mit einem Typ-2-entzündlichen Profil von Biologika profitieren können. Besonders hervorzuheben sind neue Daten zu Dupilumab, das bei Patienten mit erhöhter Eosinophilenzahl eine signifikante Reduktion moderater und schwerer Exazerbationen zeigte. Dies markiert den Beginn eines Paradigmenwechsels: weg von einer rein symptom- und risikoorientierten Therapie hin zu einer immunologisch fundierten, personalisierten Behandlung.

Überlappung von Asthma und COPD

Eine zentrale Botschaft des Vortrags war, dass Asthma und COPD nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden können. Der Fall einer 69-jährigen Patientin aus dem Spital Uster verdeutlichte diese Herausforderung: Sie wies sowohl COPD-typische Merkmale wie ein ausgeprägtes Emphysem mit Überblähung als auch Asthma-typische Parameter wie eine ausgeprägte Eosinophilie und eine erhöhte Exazerbationsfrequenz auf. Bei ihr erwies sich Dupilumab als vielversprechende Therapieoption, da sowohl die Exazerbationsrate als auch die Lungenfunktion unter der Behandlung deutlich verbessert wurden.

Prof. Franzen erklärte, dass das Konzept des Asthma-COPD-Overlap (ACO) am besten als Kontinuum verstanden wird, das durch genetische Faktoren, Umweltbelastungen, frühe Lebensereignisse und bronchiale Umbauprozesse geprägt ist. Die grafischen Darstellungen im Vortrag zeigten eindrücklich, wie sich Phänotypen entlang dieses Kontinuums bewegen können und warum eine individualisierte Beurteilung unabdingbar ist.

Fazit

Für die hausärztliche Betreuung bleibt eine sorgfältige Anamnese, ergänzt durch Spirometrie und Biomarker, die Basis für eine korrekte Zuordnung der Atemwegserkrankung. Da moderne Therapien zunehmend phänotypbasiert wirken, wird die Identifikation des individuellen Entzündungsmusters immer wichtiger. Die zentrale Botschaft von Prof. Franzen lautet daher: «Der Phänotyp ist entscheidend». Nur wenn die individuellen Merkmale eines Patienten bekannt sind, kann eine zielgerichtete, effektive und langfristig erfolgreiche Behandlung erfolgen. Die Zukunft der Atemwegstherapie liegt in der Präzisionsmedizin – und diese beginnt bereits in der hausärztlichen Praxis.

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch