Anpassungsstörungen gemäss ICD-11 im Kontext von somatischen Erkrankungen

Einleitung

Anpassungsstörungen entwickeln sich als psychische Reaktionen auf belastende Lebensereignisse oder einschneidende Veränderungen, die die individuelle Bewältigungsfähigkeit überschreiten (1). Somatische Erkrankungen ­–­ also körperliche Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Krebserkrankungen oder chronische Schmerzen – gelten häufig als solch belastende Ereignisse, da sie in der Regel mit erheblichen Einschnitten in den Alltag, mit Ängsten und Unsicherheiten sowie mit körperlichen Einschränkungen verbunden sind. Infolge der Belastung durch die somatische Erkrankung können vorbestehende psychische Erkrankungen exazerbieren und psychische Störungen neu auftreten. Die Prävalenz von Anpassungsstörungen, Depressionen oder Angsterkrankungen bei somatischen Erkrankungen ist dementsprechend hoch (2). Die psychiatrische Komorbidität verschlechtert die Pro­gnose der somatischen Erkrankungen deutlich (3). Anpassungsstörungen spielen zudem für das Auftreten von Suizidalität im Kontext von somatischen Erkrankungen eine signifikante Rolle (4).

Für somatische Mediziner ergeben sich im Umgang mit Anpassungsstörungen die Schwierigkeit, dass derzeit keine Leitlinien für die Therapie existieren. Ziel dieses Artikels ist es, die Diagnosestellung gemäss ICD-11 vorzustellen und therapeutische Möglichkeiten zusammenzufassen.

Die Diagnose Anpassungsstörung im ICD-11

Die Kernmerkmale für die Diagnose einer Anpassungsstörung gemäss Klassifikationssystem ICD-11 (1) sind:
– Präokkupation: Eine anhaltende gedankliche Beschäftigung mit dem belastenden Ereignis oder dessen Konsequenzen, die das Denken und Handeln dominieren kann. Dies geht einher mit einer hohen emotionalen Belastung, häufig in Form von Ängsten und Depressivität.
– Funktionseinschränkungen: Schwierigkeiten im alltäglichen Leben, wie in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen, die auf die emotionale Belastung und Präokkupation zurückzuführen sind.

Die Symptome treten in Reaktion auf ein klar definierbares belastendes Ereignis oder eine signifikante Lebensveränderung auf. Sie beginnen innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis und klingen in der Regel innerhalb von sechs Monaten ab, sofern die Belastung nicht anhält.

Epidemiologie

Die Prävalenz von Anpassungsstörungen als Komorbidität schwankt je nach Kontext zwischen 12 und 35 %, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist (5). Besonders häufig treten Anpassungsstörungen auf bei Diagnosen, die
– eine akute Bedrohung darstellen, wie Krebserkrankungen (6, 7) oder kardiovaskuläre Ereignisse (8, 9),
– das Wohlbefinden anhaltend beeinträchtigen, wie Schmerzsyndrome (10, 11) oder entzündliche Darmerkrankungen (12),
– Anpassungen im Lebensablauf zur Folge haben mit Verlust von Lebensqualität oder Funktionseinschränkungen, beispielsweise durch einen Diabetes (13) oder eine COPD (14).

Einfluss von Anpassungsstörungen auf den Verlauf und die Prognose der somatischen Erkrankung

In einer prospektiven Mainzer Studie über Prädiktoren auf das Ein-Jahres-Outcome von distalen Beinfrakturen konnte neben Rauchen ausschliesslich die Anpassungsstörung als relevanter Faktor für eine Verschlechterung der Pro­gnose identifiziert werden (3).

Der negative Einfluss einer hohen psychischen Belastung auf den Verlauf somatischer Erkrankungen (15, 16, 17) lässt sich erklären durch:
• eingeschränkte Adhärenz und Compliance: Eine psychische Beeinträchtigung kann dazu führen, dass ärztliche Empfehlungen nicht konsequent befolgt werden und Medikamente unregelmässig eingenommen werden.
• ungünstige Lebensführung: Bei psychischer Belastung treten vermehrter Alkohol- oder Nikotinkonsum, ungesunde Ernährung oder Bewegungsmangel auf (18).
• immunologische Prozesse: Chronischer Stress ist nachweislich mit einer erhöhten Entzündungsbereitschaft und einer Schwächung des Immunsystems assoziiert (19).
• soziale Isolation: Rückzugstendenzen können den Zugang zu sozialen Bewältigungsressourcen erschweren (20).
Umgekehrt kann eine rechtzeitige effektive Behandlung der psychischen Belastung die Lebensqualität deutlich verbessern (21) und möglicherweise sogar den medizinischen Verlauf günstig beeinflussen (22). Die Beziehung zwischen somatischen und psychischen Symptomen ist hierbei als bidirektional anzusehen (23). Bermudez et al. (18) untersuchen und bestätigen die Fluktuationen psychischer Symptomatik und deren Einfluss auf das Gesundheitsverhalten. Ihr Ergebnis unterstreicht die Bedeutung umgehender und zielführender Interventionen zur Verhinderung des schädlichen Einflusses von Anpassungsstörungen auf die somatische Grunderkrankung.

Psychologische Modelle zur Entstehung von Anpassungsstörungen

Die Ressourcenkonservierungstheorie nach Hobfoll (1989)

Nach der Ressourcenkonservierungstheorie (Conservation of Resources Theory, COR) von Hobfoll (24) entsteht Stress, wenn Ressourcen bedroht sind, tatsächlich verloren gehen oder wenn der Aufwand, neue Ressourcen zu gewinnen, die vorhandenen Ressourcen übersteigt. Der Verlust von Ressourcen hat eine stärkere Wirkung als deren Gewinn (25), wodurch sich eine Verlustspirale entwickeln kann. Eine somatische Erkrankung führt häufig zu einem Ressourcenverlust bzw. zu deren Bedrohung und zu einer reduzierten Bedürfnisbefriedigung.

Das Transaktionale Stressmodell nach Lazarus (1984)

Gemäss dem Transaktionalen Stressmodell von Lazarus (26) entsteht Stress, wenn negative Ereignisse als bedeutsam und deren Anforderungen als die eigenen Bewältigungsressourcen übersteigend bewertet werden. Bewältigungsstrategien zielen darauf ab, entweder die Situation zu verändern oder die emotionale Belastung zu reduzieren. Die beschränkte Kontrollierbarkeit somatischer Erkrankungen stellt eine besondere Stressbelastung dar.

Abklärung und Frühintervention

Früherfassung
Wenn Patienten über Bewältigungsschwierigkeiten und das Auftreten von Symptomen wie Gedankenkreisen oder Schlafstörungen klagen, ist eine Abklärung auf Vorliegen einer Anpassungsstörung empfehlenswert. In der klinischen Praxis eignet sich hierfür der ADNM-8 als kurzes Screeninginstrument. In Tab. 1 finden sich die darin enthaltenen Abklärungsitems. Die Zahlen werden zusammengezählt. Der Cut-off, ab dem das Vorliegen ­einer Anpassungsstörung wahrscheinlich ist, liegt bei 18.5 Punkten (27).

Therapieeinleitung und interprofessionelle Zusammenarbeit
Bei Vorliegen einer Anpassungsstörung ist eine Zuweisung zur psychotherapeutischen Behandlung indiziert. In einem weiteren Teil des ADNM-8 (Tab. 2) werden zudem anderweitige Belastungsfaktoren mit negativem Einfluss auf die allgemeine Stressbelastung erfasst, die durch eine psychosoziale Unterstützung gegebenenfalls reduziert werden können (28). Hierdurch können zusätzliche Bewältigungsressourcen des Betroffenen freigesetzt werden. Durch eine gute Kommunikation zwischen den Verantwortlichen für die somatische und psychische Behandlung können im weiteren Verlauf Behandlungsprozesse so abgestimmt werden, dass negative Dynamiken möglichst reduziert werden.

Medikamentöse Unterstützung
Neu entwickelte Schlafstörungen bedürfen einer möglichst effektiven vorübergehenden Unterstützung (29). In Tab. 3 sind mögliche schlafanstossende Medikamente und deren Charakteristika für den klinischen Gebrauch zusammengefasst. Die Wirkung auf die Symptomatik sollte zeitnah evaluiert werden. Bei belastenden Nebenwirkungen oder einer unzureichenden Wirkung trotz maximaler Dosierung sollte auf eine andere Substanz umgestellt werden (30). Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Medikamente zwar ebenfalls negative Dynamiken abschwächen können, jedoch im Gegensatz zu der Psychotherapie keine kausale Therapieform darstellen.
Bei beginnenden depressiven Symptomen kann ein Therapieversuch mit einem Johanniskrautpräparat gemacht werden. Hyperforinarme Produkte wie beispielsweise Rebalance® (Zeller) sind aufgrund ihrer fehlenden CYP3A4- ­Induktion und somit geringerem Interaktionspotenzial vorzuziehen. Aufgrund von Studien, die auf negative Effekte von Benzodiazepinen auf den Verlauf von Stressfolgeerkrankungen hindeuten (speziell bei Anpassungsstörungen, z. B. 31), sind Benzodiazepine als Präparategruppe trotz verbreiteter Verschreibungspraxis nicht erwähnt.

Suizidprävention: Explizites Ansprechen von Suizidalität
Die innere Not kann so stark werden, dass Betroffene Suizidgedanken entwickeln als Versuch, dem zu entkommen (4). Suizidalität sollte direkt angesprochen und Betroffene an geeignete Ansprechpartner verwiesen werden, beispielsweise die Dargebotene Hand (https://www.143.ch). Die Kommunikation über ein bestehendes Suizidrisiko an alle in die Behandlung Involvierten sowie die Erarbeitung eines Notfallplanes sind empfehlenswert (32).

Verlaufsevaluation

Im Verlauf sollte das etwaige Neuauftreten von Symptomen und die Wirkung der angesetzten Therapien überprüft werden (Ist die Wirkung suffizient? Existieren belastende Nebenwirkungen? Konnte der Patient mit einer Psychotherapie beginnen?).

Zudem muss die symptomatische Medikation überprüft werden, da sie nur für eine begrenzte Zeit eingesetzt werden sollte. Dies gilt für alle hierfür genannten Medikamente, insbesondere für Zolpidem aufgrund seines Abhängigkeitspotenzials.

Fazit für die Praxis

Durch ein gestuftes Vorgehen mit (a) Früherkennung von Anpassungsstörungen, (b) unmittelbarem Ansetzen therapeutischer Massnahmen wie die Zuweisung zur Psychotherapie und/oder eine symptomatische medikamentöse Behandlung und (c) einer proaktiven Verlaufsevaluation lassen sich die gesundheitlichen Folgen von Anpassungsstörungen häufig abmildern oder sogar ganz vermeiden.

Hinweise
In Tabellen und im Text werden Beispiele für geeignete Medikamente kurz umrissen. Es finden sich keine detaillierten Angaben zu Kontraindikationen, Risiken, Nebenwirkungen oder Interaktionen der Substanzen.

Dr. med. Astrid Habenstein

Privatklinik Wyss AG
Fellenbergstrasse 34
3053 Münchenbuchsee

habenstein@gmail.com

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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ASSIP flex Suizidprävention flexibel und nachhaltig

Einleitung

Suizidales Erleben und Verhalten stellen weltweit eine der grössten Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung dar, verursacht hohe gesellschaftliche und soziale Kosten und ist mit grossem individuellen Leid verbunden (1). In der Schweiz lebt über eine halbe Million Menschen mit aktuellen Suizidgedanken, über 200’   000 haben mindestens einmal in ihrem Leben versucht, sich das Leben zu nehmen, davon rund 33 000 in den letzten 12 Monaten (2). Insbesondere nach einem Suizidversuch besteht ein hohes Risiko für eine erneute suizidale Krise (3, 4), im ersten Monat nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ist das Suizidrisiko sogar besonders hoch (5).

Eine entscheidende Herausforderung in der Suizidprävention besteht darin, die kritische Phase zwischen Klinikentlassung und ambulanter Nachsorge zu überbrücken. Diese Versorgungslücke trägt wesentlich zum Risiko erneuter Suizidversuche bei (6). Gleichzeitig zeigen Studien, dass bis zu 50 % der Betroffenen keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen oder diese vorzeitig abbrechen (7). Besonders vulnerable Menschen, die herkömmliche Angebote nicht ausreichend wahrnehmen können oder wollen, müssen gezielt erreicht werden. Vor diesem Hintergrund gewinnen Kurzinterventionen zunehmend an Bedeutung. Eine Metaanalyse von Homan, Ritzinger (8) zeigt, dass diese das Risiko wiederholter Suizidversuche signifikant senken können. Eine solche Kurztherapie ist ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program), ein strukturiertes, aber individuell anpassbares Behandlungsangebot, welches die therapeutische Allianz stärkt und suizidpräventive Massnahmen direkt in den Alltag der Patient/-innen integriert (9). Doch nicht alle Betroffenen können oder wollen ambulante Interventionen in Anspruch nehmen.

Viele Patient/-innen, insbesondere solche mit erhöhtem Rückfallrisiko, profitieren nicht ausreichend von den klassischen ambulanten oder stationären Angeboten. In den letzten Jahren haben sich daher aufsuchende Behandlungsformen, die häufig im häuslichen Umfeld stattfinden, als wirksame Alternative erwiesen. Patient/-innen im Home Treatment berichten über eine höhere Zufriedenheit und eine geringere familiäre Belastung im Vergleich zur stationären Behandlung (10). Studien zeigen, dass gewisse Betroffene mit akuten psychiatrischen Erkrankungen die Behandlung zu Hause gegenüber einer stationären Behandlung bevorzugen (11). Darüber hinaus stehen bestimmte soziodemografische Faktoren wie das weibliche Geschlecht und höheres Alter mit einer höheren Akzeptanz ausser­stationärer Interventionen in Zusammenhang (12). Insbesondere flexible Behandlungsmodelle, die ausserhalb des klassischen stationären Settings angeboten werden, haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Sie gelten als praktikabel, werden insgesamt positiv bewertet (13) und gehen mit einer hohen Zufriedenheit der Patient/-innen einher (14).

Ein solches Modell ist ASSIP flex, ein Suizidpräventionsprojekt, das seit 2021 durch die Projektförderung Prävention in der Gesundheitsversorgung (PGV) bei Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt und in der ganzen Schweiz umgesetzt wird. Im Rahmen dieses Projekts wurde das etablierte Behandlungsangebot ASSIP in einem ersten Schritt auf Home Treatment übertragen und damit auch für Patient/-innen zugänglich gemacht, welche die herkömmlichen Angebote nicht ausreichend nutzen können oder wollen (15). Internationale Erfahrungen bestätigten die Durchführbarkeit dieses Ansatzes: In Belgien wird ASSIP erfolgreich als Home-Treatment-Modell angeboten, wobei rund 90 % der Patient/-innen die Intervention abschliessen (16).

Während der Umsetzung zeigte sich, dass ein breiteres Behandlungsspektrum die Bedürfnisse der Patient/-innen besser abdeckt. Dies führte zur Weiterentwicklung des Home-Treatment-Angebots zu ASSIP flex. Dieses flexible Behandlungsangebot einer Kurztherapie ist für Betroffene niederschwellig zugänglich – sei es stationär während einer akuten Krise, ambulant nach einer Klinikentlassung oder als Home Treatment. Ein zentrales Element der ASSIP-Kurztherapie ist das narrative Interview, in dem die Patient/-innen über die Hintergründe ihres Suizidversuchs erzählen. Anschliessend erfolgt eine gemeinsame Reflexion anhand eines Video-Playbacks und eine kollaborative Überarbeitung der individuellen Fallkonzeption suizidalen Verhaltens mit Psychoedukation sowie der Erarbeitung eines individuellen Sicherheitsplans. Die Kurztherapie ASSIP reduzieren nachweislich suizidales Verhalten und stationäre Hospitalisierungen über einen Zeitraum von zwei Jahren (9).

Trotz der praktischen Relevanz dieses flexiblen Ansatzes fehlen bislang systematische Untersuchungen zur Durchführbarkeit von ASSIP flex. Insbesondere ist unklar, inwieweit die Umsetzung in unterschiedlichen Versorgungskontexten gelingt und welche Faktoren die Akzeptanz und Umsetzung beeinflussen. Nach Bowen, Kreuter (17) umfasst die Beurteilung der Durchführbarkeit einer Intervention Aspekte wie Bedarf (Inanspruchnahme durch die Zielgruppe), Umsetzung (praktische Durchführung), Akzeptanz (Annahme der Intervention durch die Zielgruppe) sowie erste Hinweise auf die (eingeschätzte) Wirksamkeit.

Diese Forschungslücke verdeutlicht den Bedarf an empirischen Untersuchungen zur Umsetzung und praxisnahen Anwendung dieses flexiblen Behandlungsmodells. Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, die Durchführbarkeit von ASSIP flex zu evaluieren. Dazu wurden Bedarf, Umsetzung und Akzeptanz sowie Veränderungen klinischer Variablen (z. B. suizidales Erleben, depressive Symptome, Selbstwirksamkeit) untersucht. Darüber hinaus wurde untersucht, welche Faktoren die Umsetzung von ASSIP flex in den verschiedenen Settings beeinflussen. Es wird angenommen, dass ASSIP flex erfolgreich in unterschiedlichen Behandlungskontexten durchgeführt werden kann und eine hohe Akzeptanz bei Patient/-innen und Behandler/-innen aufweist.

Methode

Studiendesign

Die vorliegende Studie ist Teil einer umfassenderen Längsschnittbeobachtungsstudie, die von 2022 bis 2025 an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern durchgeführt wird. Das Suizidpräventionsprojekt ASSIP flex wird von Gesundheitsförderung Schweiz finanziell unterstützt. Die Evaluationsstudie wurde von der kantonalen Ethikkommission bewilligt (KEK Nr. 2021-02504) und ist auf ClinicalTrials.gov (NCT06322199) und kofam (SNCTP000005100) registriert. Die hier vorgestellte Subanalyse basiert auf einem Prä-Post-Design.

Die Durchführung von ASSIP flex erfolgte in vier Schweizer Kantonen: Bern (Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie), Zürich (Sanatorium Kilchberg, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich), Lausanne (Centre Hospitalier Universitaire Vaudois), und Neuenburg (Center Neuchâtelois de Psychiatrie). Patient/-innen mit einem Suizidversuch in der Vorgeschichte wurden über Fachpersonen aus den Bereichen Psychiatrie und Psychologie, ambulante Spitex und Hausärzte/Hausärztinnen rekrutiert. Zu den Einschlusskriterien zählten mindestens ein dokumentierter Suizidversuch sowie ein Mindestalter von 18 Jahren. Ausgeschlossen wurden Patient/-innen mit schweren ko­gnitiven Einschränkungen, psychotischen Störungen (ICD-10 Codes F20–F23) oder unzureichenden Deutsch- oder Französischkenntnissen.

Studienablauf

Die Patient/-innen wurden zu zwei Messzeitpunkten befragt: vor der ersten ASSIP-flex-Sitzung (t0) und vier bis sechs Wochen danach (t1). Die Befragung dauerte zu t0 ca. 60 Minuten und zu t1 ca. 40 Minuten. Nach der Kurzintervention wurden die Therapeut/-innen zu ihren Erfahrungen mit ASSIP flex befragt. Vor der Datenerhebung gaben alle Patient/-innen ihr schriftliches Einverständnis.

Intervention

ASSIP flex umfasst drei bis vier 50- bis 60-minütige Therapiesitzungen, die nach Absprache stationär, ambulant oder im Home Treatment stattfinden. In der zweiten Sitzung findet ein Video-Playback statt, in dem Patient/-innen und Therapeut/-innen Schritt für Schritt die Hintergründe des Suizidversuchs und den suizidalen Prozess analysieren. Gemeinsam werden persönliche Warnzeichen herausgearbeitet und erste Bewältigungsstrategien besprochen. In der dritten Sitzung steht die Entwicklung einer persönlichen Fallkonzeption inklusive Sicherheitsplan mit Notfallnummern und konkreten Krisenbewältigungsstrategien im Mittelpunkt. Ergänzend findet ein kontinuierlicher Briefkontakt über zwei Jahre statt, um die therapeutische Beziehung aufrechtzuerhalten und eine längerfristige Rückfallprävention zu unterstützen (18).

Messinstrumente

Soziodemografische Merkmale sowie die Einschätzung des Bedarfs und der Akzeptanz von ASSIP flex wurden mit dem soziodemografischen Fragebogen (DEMO; [9], erweitert 2022 in deutscher und französischer Version; t0: 27 Items, t1: 14 Items) erfasst. Der Fragebogen enthält Angaben zu Alter, Geschlecht und gesundheitsbezogenen Daten sowie Fragen zur Motivation und zu positiven, aber auch herausfordernden Aspekten der Behandlung zur Bedarfserhebung (DEMO t0). Die Akzeptanz von ASSIP flex wurde durch Fragen zu positiven Aspekten und Herausforderungen der Intervention erhoben (DEMO t1). Zusätzlich schätzten die Patient/-innen ihre wahrgenommene Wirksamkeit der ASSIP-flex-Behandlung ein.

Der Therapeut/-innen-Feedback-Fragebogen (TFF, eigene Entwicklung, deutsche und französische Version) erfasst die Erfahrungen der Therapeut/-innen nach der Kurzintervention, insbesondere hinsichtlich des flexiblen Settings, der Herausforderungen (Umsetzung) sowie der positiv erlebten Aspekte der ASSIP-flex-Behandlung (Akzeptanz).

Die Intensität des suizidalen Erlebens wurde mit der Beck-Skala für Suizidgedanken (BSS; [19]) erfasst. Es wurde sowohl die deutsche (20) als auch die französische Version (21) verwendet. Die Skala weist eine hohe interne Konsistenz auf (Cronbach’s α = 0.94; [20]) und besteht aus 19 Items mit einem dreistufigen Antwortformat, aus denen ein Mittelwert (0–2) berechnet wird. Suizidales Verhalten wurde durch zwei zusätzliche Items erfasst.

Zur Erfassung depressiver Symptome wurde das Beck-Depressions-Inventar (BDI-II; [22]) eingesetzt. Es lag sowohl die deutsche (23) als auch die französische Version (24) vor. Das Instrument weist eine hohe interne Konsistenz auf (α = 0.84; [25]). Der Fragebogen umfasst 21 Items mit einem vierstufigen Antwortformat, aus denen ein Summenscore (0–63) berechnet wurde.

Die Selbstwirksamkeitserwartung wurde mit der Skala zur Allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) erfasst. Es wurde sowohl die deutsche (26) als auch die französische Version «Auto-efficacité Généralisée» (27) verwendet. Die Skala weist eine gute interne Konsistenz auf (α = 0.80–0.90; [26]) und besteht aus 10 Items mit einem vierstufigen Antwortformat, aus denen ein Summenscore (10–40) berechnet wird.

Statistische Analyse

Die statistischen Analysen wurden mit IBM SPSS Statistics© Version 29.0.1.1 (28) und RStudio Version 12.1 (29) durchgeführt. Aufgrund fehlender Werte bei den klinischen Variablen (BSS, BDI, SWE; t0 23 [18.4 %], t1 25 [20.1 %]) wurde eine Imputation mittels Predictive Mean Matching (PMM; [30]) durchgeführt und 10 Datensätze geschätzt. Nach Little’s Missing Completely at Random-Test (MCAR; [31]) kann davon ausgegangen werden, dass die fehlenden Werte zufällig verteilt waren (χ2145 = 201.1, p = 0.143).

Zur Überprüfung der ersten Fragestellung zur Bedarfserhebung, Umsetzung und Akzeptanz wurden deskriptive Verfahren eingesetzt. Die Fragestellung zwei, die eine mögliche Verbesserung der klinischen Variablen untersuchte, wurde mithilfe paarweiser t-Tests analysiert. Zur Beantwortung der Fragestellung drei, die sich mit den Zusammenhängen zwischen klinischen Variablen und der wahrgenommenen Wirksamkeit befasste, wurden Pearson-Korrelationen berechnet.

Ergebnisse

Patient/-innen- und Therapeut/-innen-Merkmale

Die Stichprobe umfasste 105 Patient/-innen (53.3 % weiblich; Alter M = 38.8, SD = 15.2 Jahre). Alle Patient/-innen berichteten mindestens einen Suizidversuch in der Vorgeschichte (M = 2.3, SD = 2.4, Min. = 1.0, Max. = 15.0). In den 12 Monaten vor der Intervention hatten 85.7 % der Patient/-innen mindestens einen Suizidversuch unternommen (M = 1.2, SD = 0.9, Min. = 0.0, Max. = 6.0). Die Mehrheit der Patient/-innen (81.9 %) gab eine affektive Störung als Hauptdiagnose an. Zu t0 befanden sich 51.0 % der Patient/-innen zusätzlich zur ASSIP-flex-Kurztherapie in stationärer psychiatrischer Behandlung; dieser Anteil sank zu t1 signifikant auf 11.3 % (vgl. Tab. 1). Die Patient/-innen wurden von insgesamt neun Therapeut/-innen aus vier verschiedenen Kantonen behandelt (77.7 % weiblich).

Bedarf nach ASSIP flex

Der Bedarf spiegelte sich in der Motivation zur Teilnahme wider. Die Mehrheit der Patient/-innen gab an, dass sie über ihren Suizidversuch sprechen wollten (48.1 %) oder die Möglichkeit eines suizidspezifischen Angebots schätzten (47.1 %). Am häufigsten wurde die Teilnahme jedoch durch die Empfehlung psychiatrischer Fachpersonen angeregt (57.3 %). Zudem nannten 18.8 % psychische Gründe, wie etwa Angst in öffentlichen Verkehrsmitteln, als ausschlaggebend für ihre Entscheidung zur Teilnahme.

Umsetzung und Akzeptanz von ASSIP flex

ASSIP flex wurde in allen drei angebotenen Settings erfolgreich umgesetzt: Am häufigsten fand die Intervention stationär statt (45.0 %), gefolgt von ambulanten Sitzungen (24.0 %) und Behandlungen im Home Treatment (HT, 17.0 %). Bei 13.0 % der Patient/-innen erfolgte die Durchführung in unterschiedlichen Settings, wobei die Kombination aus stationären und Home-Treatment-Sitzungen mit 69.2 % am häufigsten war. Die erste Sitzung wurde von 58.8 % der Patient/-innen als besonders positiv wahrgenommen, gleichzeitig empfanden 60.0 % sie auch als herausfordernd. Nur 4.1 % gaben an, dass die Videoaufnahme eine Schwierigkeit darstellte. Die Therapeut/-innen bewerteten die erste Sitzung in 75.0 % der Fälle positiv, wobei 51.5 % keine besonderen Herausforderungen sahen. Allerdings berichteten sie bei 19.0 % der Patient/-innen von Schwierigkeiten im initialen Beziehungsaufbau. ASSIP flex wurde hinsichtlich seiner eingeschätzten Wirksamkeit im Durchschnitt mit M = 2.9 (SD = 0.8, Min. = 1, Max. = 4) bewertet (vgl. Tab. 2).

Veränderungen der klinischen Variablen der Patient/-innen

Das suizidale Erleben der Patient/-innen nahm von t0 zu t1 ab (BSS: t104 = 4.5, p < 0.001, d = 0.4), ebenso die depressiven Symptome (BDI: t104 = 6.0, p < 0.001, d = 0.6). Die Selbstwirksamkeit nahm im Verlauf der Kurztherapie zu (SWE: t104 = –2.3, p < 0.05, d = 0.2).

Zusammenhänge zwischen den klinischen Variablen und der eingeschätzten Wirksamkeit der Patient/-innen

Ein geringeres suizidales Erleben zu t1 korrelierte mit einer höheren Einschätzung der Wirksamkeit von ASSIP flex aus Sicht der Patient/-innen. Geringere depressive Symptomatik zu t1 korrelierte mit einer höheren Einschätzung der Wirksamkeit. Eine höher eingeschätzte Wirksamkeit war wiederum mit einer höheren Selbstwirksamkeit zu t1 assoziiert. Darüber hinaus war eine geringere Depressionssymp­tomatik mit einem geringeren suizidalen Erleben und einer höheren Selbstwirksamkeit zu t1 assoziiert (vgl. Abb. 1).

Diskussion

Die vorliegende Studie untersuchte die Durchführbarkeit, Akzeptanz und selbst eingeschätzte Wirksamkeit von ASSIP flex, einer flexiblen Kurzintervention für Patient/-innen nach einem Suizidversuch. Dabei wurden zentrale Durchführbarkeitskriterien berücksichtigt, wie sie von Bowen, Kreuter (17) beschrieben wurden. Dazu gehören unter anderem die Umsetzung (praktische Durchführung), die Akzeptanz durch Patient/-innen und Behandelnde sowie erste Hinweise auf potenzielle klinische Effekte. Angesichts der hohen Abbruchraten ambulanter Behandlungen und der bestehenden Versorgungslücke stellt ASSIP flex eine niederschwellige, adaptierbare Intervention dar, die stationär, ambulant oder im Home Treatment umgesetzt werden kann. Die Ergebnisse zeigen, dass die Intervention in allen drei Settings gut realisierbar war und von Patient/-innen sowie von Therapeut/-innen positiv bewertet wurde. Die individuelle Anpassbarkeit der Therapie erwies sich als entscheidender Faktor für die Akzeptanz. Zudem war ASSIP flex mit klinischen Verbesserungen hinsichtlich suizidalen Erlebens (BSS), depressiver Symptomatik (BDI) und Selbstwirksamkeit (SWE) assoziiert. Die Möglichkeit, ASSIP flex auch aufsuchend im häuslichen Umfeld anzubieten, erweitert das Behandlungsangebot für Patient/-innen, die klassische Versorgungsstrukturen nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen können. Die Ergebnisse sprechen für eine praxisnahe Umsetzung dieser Kurztherapie im gesamten Behandlungsspektrum, um eine kontinuierliche therapeutische Begleitung und eine effektive Suizidprävention zu gewährleisten.

Nachfrage, Umsetzung und Akzeptanz von ASSIP flex

Die vorliegende Studie zeigt, dass ASSIP flex erfolgreich in verschiedenen Behandlungssettings implementiert werden konnte. Die hohe Nachfrage spiegelt sich in der hohen Res­ponserate wider, wobei Empfehlungen durch Fachpersonen eine zentrale Rolle spielten. Dies unterstreicht die Bedeutung des Gesundheitssystems als Multiplikator in der Suizidprävention. Diese Befunde stimmen mit früheren Studien überein, die den Einfluss von Fachpersonen auf die Bereitschaft zur Teilnahme an therapeutischen Interventionen betonen (32). Therapeut/-innen, die ASSIP flex anwenden, berichten zudem von einer hohen Akzeptanz und einer einfachen Umsetzung der Intervention, was die praxisnahe Anwendbarkeit weiter unterstützt.

Ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz von ASSIP flex war die Möglichkeit, sich wertfrei mit dem eigenen Suizidversuch auseinanderzusetzen und offen darüber sprechen zu können. Viele Patient/-innen nannten diesen Aspekt als ausschlaggebend für ihre Teilnahme. Diese Beobachtung bestätigt die Annahme, dass ASSIP flex ein unterstützendes und wertfreies Umfeld schafft (33), welches die therapeutische Allianz stärken und langfristig zur Stabilisierung beitragen kann.

Ein zentraler Aspekt von ASSIP flex ist die Möglichkeit, eine kontinuierliche therapeutische Begleitung über verschiedene Behandlungssettings hinweg sicherzustellen. Die Kurztherapie wurde in 45 % der Fälle stationär, in 24 % ambulant und in 17 % als Home Treatment durchgeführt, wobei die Kombination aus stationären und Home-Treatment-Sitzungen mit 69.2 % am häufigsten war. Diese Verteilung verdeutlicht die Flexibilität des Programms, das den Übergang zwischen stationärer, ambulanter und häuslicher Behandlung erleichtert. Diese kontinuierliche Beziehungsgestaltung könnte für suizidale Patient/-innen von besonderer Bedeutung sein, da stabile therapeutische Beziehungen als zentraler Schutzfaktor gelten (34). Frühere Studien betonen zudem, dass der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung eine Grundvoraussetzung für den Erfolg suizidpräventiver Behandlung ist (18).

Die Möglichkeit, ASSIP flex ambulant oder im häuslichen Umfeld anzubieten, adressiert zudem strukturelle und gesellschaftliche Barrieren, die den Zugang zu suizidspezifischen Behandlungen erschweren. Beispielsweise stellt die Stigmatisierung für viele Betroffene eine erhebliche Hürde dar (35), sodass eine flexible und niederschwellige Umsetzung die Versorgung suizidaler Patient/-innen verbessern könnte. Diese Befunde decken sich mit Studien, die die Relevanz von Flexibilität (36) und Kontinuität (37) in der Suizidprävention betonen und die Wirksamkeit aufsuchender Behandlungsansätze wie ASSIP flex als Ergänzung zu stationären Behandlungen hervorheben (10, 13, 38, 39).
Die Umsetzung von ASSIP flex wurde von Therapeut/-innen insgesamt als weitgehend unproblematisch beschrieben. Eine der grössten Herausforderungen lag in der initialen Kontaktaufnahme mit Patient/-innen (zur Terminvereinbarung), ein kritischer Punkt, der bereits in früheren Studien zur Nachsorgearbeit hervorgehoben wurde (40).

Die hohe Akzeptanz der Intervention sowohl bei Patient/-innen als auch bei Therapeut/-innen bestätigt jedoch die praktische Durchführbarkeit und die wahrgenommene Relevanz der Intervention – selbst bei emotional anspruchsvollen Inhalten (17). Ein weiterer Vorteil für Behandelnde liegt in der klaren Struktur der Intervention, die eine sichere und konsistente Durchführung ermöglicht. Dies gibt Therapeut/-innen eine klare Orientierung und erleichtert die Umsetzung in unterschiedlichen Behandlungskontexten (41).

ASSIP flex kombiniert bewährte therapeutische Elemente wie das narrative Interview, Video-Playback und die kollaborativ überarbeitete Fallkonzeption suizidalen Verhaltens mit einer flexiblen Umsetzung des Behandlungsangebots, die speziell auf die Grundversorgung suizidaler Patient/-innen zugeschnitten ist. Durch diese Struktur kann gezielt auf individuelle Problematiken eingegangen werden, während gleichzeitig die therapeutische Beziehung gestärkt wird, ein zentraler Faktor für den Erfolg suizidpräventiver Behandlungen.

Veränderungen der klinischen Variablen im Verlauf von ASSIP flex

Die Intervention war mit einer Abnahme des suizidalen Erlebens assoziiert, was mit früheren Studien übereinstimmt, die eine Reduktion von Suizidgedanken durch die suizidspezifische Kurztherapie ASSIP bestätigen (42). Ebenso zeigt sich eine Reduktion depressiver Symptome, was besonders relevant ist, da Depressionen häufig mit wiederholten Suizidversuchen assoziiert sind (2). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass insbesondere die Reduktion depressiver Symptome eine klinisch bedeutsame Veränderung darstellt, während die Zunahme der Selbstwirksamkeit möglicherweise längerfristige Effekte auf die Stabilisierung suizidaler Patient/-innen haben könnte. Besonders die Zunahme der Selbstwirksamkeit ist bedeutsam, da sie ein wichtiger Prädiktor für Resilienz in Krisensituationen ist (43). Dies könnte mit der Abnahme des suizidalen Erlebens im Zusammenhang stehen, da eine erhöhte Selbstwirksamkeit nachweislich mit einem geringeren suizidalen Erleben assoziiert ist (44).

Ein wichtiger Aspekt der Evaluation war die subjektive Wirksamkeitseinschätzung der Patient/-innen. Personen mit geringeren Suizidgedanken und depressiven Symptomen bewerteten die Intervention als wirksamer, was mit früheren Erkenntnissen übereinstimmt. Studien zeigen, dass prognostische Überzeugungen – also die Erwartung, von einer Behandlung zu profitieren – einen entscheidenden Einfluss auf den Therapieerfolg haben (45).

Stärken und Einschränkungen

Die multizentrische Stichprobe aus vier Schweizer Kantonen ermöglicht eine Untersuchung der Anwendung von ASSIP flex in unterschiedlichen Versorgungskontexten, darunter städtische und ländliche Regionen sowie verschiedene klinische Strukturen. Die Studie liefert zudem erstmals eine systematische Evaluation von Bedarf, Umsetzung und Akzeptanz dieser flexiblen ASSIP-flex-Kurztherapie.
Trotz dieser Stärken gibt es methodische Einschränkungen. Erstens basieren die erhobenen Daten ausschliesslich auf Selbstbeurteilungsfragebogen, was sowohl die Charakterisierung der Stichprobe als auch die objektive Bewertung des Behandlungserfolgs limitiert. Eine nicht verblindete Beobachtungsstudie, die auf Selbsteinschätzungen der Patient/-innen beruht, birgt das Risiko einer Überschätzung der Wirksamkeit (46). Zweitens fehlte eine Kontrollgruppe, wodurch keine kausalen Rückschlüsse auf die spezifische Wirksamkeit von ASSIP flex im Vergleich zu anderen flexiblen Behandlungsansätzen möglich sind. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) sind notwendig, um den tatsächlichen Effekt des flexiblen Behandlungsangebots von anderen Einflussfaktoren abzugrenzen und eine evidenzbasierte Bewertung vorzunehmen. Drittens erlaubt die kurze Nachbeobachtungszeit von vier bis sechs Wochen keine Aussagen über mögliche Langzeiteffekte der Kurztherapie. Weitere Erkenntnisse zur Stabilität der Effekte über einen längeren Zeitraum werden durch den nach Abschluss der Hauptstudie geplanten 1-Jahres-Follow-up-Verlauf erwartet, der genauere Einblicke in die Nachhaltigkeit der Intervention geben kann.

Zusammenfassung

ASSIP flex stellt eine vielversprechende Erweiterung des bestehenden klinischen Behandlungsangebots dar, die sich flexibel in bestehende Versorgungsstrukturen integrieren lässt. Das flexible Angebot adressiert eine kritische Versorgungslücke zwischen Klinikentlassung und ambulanter Nachsorge und ermöglicht eine kontinuierliche Begleitung suizidaler Patient/-innen – sowohl im stationären als auch im ambulanten und häuslichen Setting. Durch diese Flexibilität können insbesondere schwer erreichbare Patient/-innen, die herkömmliche Angebote nicht wahrnehmen, besser unterstützt werden.

Die hohe Akzeptanz und erfolgreiche Umsetzung in verschiedenen Settings unterstreichen das Potenzial von ASSIP flex als niedrigschwellige, patientenzentrierte Kurztherapie. Die Ergebnisse zeigen, dass die bedarfsgerechte Integration von ASSIP flex in die klinische Praxis die therapeutische Begleitung suizidaler Patient/-innen verbessern und langfristig zur Reduktion suizidalen Verhaltens beitragen könnte. Eine weiterführende Implementierung in das Versorgungssystem könnte somit einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Suizidprävention leisten.

Für die Praxis ist die frühzeitige Identifikation geeigneter Patient/-innen entscheidend. Eine gezielte Ansprache und Information können die Teilnahme an ASSIP flex fördern. Die enge Zusammenarbeit mit psychiatrischen und psychosozialen Diensten erleichtert die Vermittlung und Begleitung. Aufklärung über Suizidalität und Versorgungsangebote helfen, Stigmata abzubauen und den Zugang zu Hilfsangeboten zu erleichtern.

MSc Adriana Frei

Universität Bern, Zentrum für Translationale Forschung
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bolligenstrasse 111
3000 Bern 60

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Interventionelle Psychiatrie und neuartige Substanzen zur Behandlung affektiver Störungen

Neue Entwicklungen in der Behandlung affektiver Störungen

Depressionen gehören zu den affektiven Störungen und sind durch die Kernsymptome niedergedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und Antriebsmangel gekennzeichnet. Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens mindestens einmal an einer depressiven Episode zu erkranken, liegt bei 16–20 % (1). Damit gehören Depressionen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Depressionen werden mit Psychotherapie oder Antidepressiva und bei mittelschwerer und schwerer Ausprägung mit Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie behandelt. Pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungen sind effiziente Verfahren zur Behandlung von Depressionen. Die Wahrscheinlichkeit, auf eine Behandlung mit einem Antidepressivum anzusprechen und eine Remission zu erreichen, liegt während einer depressiven Episode bei einem ersten Behandlungsversuch bei 36 % und fällt bei einem zweiten Versuch auf 30 %, während bei einem dritten oder vierten Behandlungsversuch nur noch 13 % der Patientinnen und Patienten mit Depression ansprechen (2). Unter dem Begriff der Therapieresistenz wird in der Regel ein fehlendes Ansprechen auf mindestens zwei Antidepressiva, die in hinreichender Dosis und Dauer eingenommen wurden, verstanden (3). Abzugrenzen ist die Pseudotherapieresistenz; eine scheinbare Resistenz, die u. a. durch Fehldiagnosen, nicht erkannte psychiatrische Komorbiditäten, somatische Begleiterkrankungen, fehlende Therapie-Compliance oder insuffiziente Medikamentenspiegel bedingt ist. Der Begriff der «Therapieresistenz» geht jedoch mit einer negativen, pessimistischen Konnotation einher. Zudem ist die Implikation, dass nicht geholfen werden kann, inhaltlich nicht gerechtfertigt, da es neue Entwicklungen und innovative Behandlungsmethoden gibt. Daher wird das Konzept der schwer behandelbaren Depression in der letzten Zeit bevorzugt. Der Bereich der interventionellen Psychiatrie umfasst innovative und wirksame Hirnstimulationsverfahren, die die pharmakologische und psychotherapeutische Standardtherapie ergänzen. Im Folgenden soll eine Übersicht über verschiedene Verfahren der interventionellen Psychiatrie und neuartige Substanzen gegeben werden (Abb. 1).

Repetitive transkranielle Magnetstimulation

Bei der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation TMS (rTMS) wird das Prinzip der elektromagnetischen Induktion genutzt, um gezielt spezifische Hirnareale zu aktivieren oder zu hemmen und damit Netzwerke zu beeinflussen. In Abhängigkeit von der Frequenz der applizierten Pulse kann dies zu einer Langzeitpotenzierung oder Langzeitdepression der stimulations- und schädelnahen Hirnrinde führen. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen eines axonalen Aktionspotenzials erhöht (Langzeitpotenzierung) oder erniedrigt (Langzeitdepression) wird (4). Die rTMS zielt darauf ab, Veränderungen von Hirndurchblutung und Aktivität, welche mit neuropsychiatrischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden, zu normalisieren. Bei depressiven Erkrankungen geht man von einer Unteraktivierung des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex (dlPFK) aus, die mit Schweregrad der Symptome wie Antriebslosigkeit korreliert (5). Dementsprechend werden meistens stimulierende Protokolle über dem linken dlPFK verwendet. Seltener wird der rechte dlPFK gehemmt oder ein alternativer Stimulationsort (z. B. orbitofrontaler Kortex) gewählt. Die Geschwindigkeit von technischen Entwicklungen ist in diesem Bereich aktuell sehr hoch. Neben verschiedenen Ansätzen zur Optimierung des idealen Stimulationsortes (z. B. mittels anatomisch gesteuerter Navigation oder basierend auf funktioneller MRT-Bildgebung) kommen zunehmend intensivierte bzw. beschleunigte («accelerated» rTMS) Protokolle zum Einsatz. Beschleunigte Protokolle applizieren eine höhere Anzahl von Pulsen in einer kürzeren Zeit als konventionelle rTMS-Stimulationsprotokolle. Besondere Aufmerksamkeit hat das in Stanford entwickelte Stanford Accelerated Intelligent Neuromodulation Treatment (SAINT) Protokoll hervorgerufen, das 10-mal/Tag für 10 Minuten appliziert wird und bei Patientinnen und Patienten mit Therapieresistenz in Studien innerhalb von 5 Tagen Remissionsraten von über 90 % erreichen konnte (6). Die rTMS-Behandlung ist in der Regel gut verträglich. Kopfschmerzen oder transiente Missempfindungen am Stimulationsort können auftreten. Epileptische Anfälle sind sehr selten beschrieben (7), weswegen vor Beginn der Behandlung ein EEG zum Ausschluss einer erhöhten Anfallsneigung durchgeführt werden sollte. Erste randomisierte kontrollierte Studien bei Patientinnen und Patienten, die nicht auf einen antidepressiv pharmakologischen Behandlungsversuch ansprachen, zeigten die Überlegenheit einer rTMS-Behandlung im Vergleich mit einem Wechsel des Antidepressivums oder einer Augmentation (8, 9). Klinische Stratifizierung von Subgruppen mit besserem Ansprechen und das Nutzen von EEG und bildgebenden Verfahren könnten die Wirksamkeit der rTMS noch deutlich weiter erhöhen (10).

Elektrokonvulsionstherapie

Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) gehört zu den wirksamsten Behandlungsmethoden depressiver Erkrankungen und wird zudem bei schwer behandelbaren psychotischen und katatonen Syndromen angewandt. In Kurznarkose und Muskelrelaxation wird mittels elektrischer Stimulation (kurze bis ultrakurze unipolare Rechteckimpulse) nach erfolgter Präoxygenierung ein kurzer (Dauer optimal 30–60 Sekunden), kontrollierter, generalisierter epileptischer Anfall ausgelöst. Der generalisierte epileptische Anfall wird mittels Elektroenzephalographie (EEG) dokumentiert und quantifiziert. Die EKT zeigt bei Patientinnen und Patienten mit schwer zu behandelnder Depression («Therapieresistenz») Ansprech- und Remissionsraten von über 60 % und ist damit bei dieser Subgruppe wirksamer als Pharmakotherapie (11). Für die EKT gibt es gut belegte klinische Prädiktoren für ein therapeutisches Ansprechen (hohes Alter, Depression mit psychotischen Symptomen, psychomotorische Verlangsamung, katatone Symptome) (12). Exzellente Ansprechraten zeigen sich vor allem bei Patientinnen und Patienten mit psychotischer und mit katatoner bzw. stuporöser Symptomatik, welche auch bei schwer ausgeprägten depressiven Erkrankungen auftreten kann. Hier liegen Remissionsraten bei über 90 %. Im Falle der lebensbedrohlichen perniziösen Katatonie, die auf eine medikamentöse Behandlung häufig nur unzureichend anspricht, ist die EKT die Methode der Wahl (13). Die EKT ist ein sicheres Verfahren. Auftretende Nebenwirkungen sind Kurzzeitgedächtnisstörungen (Schwierigkeiten beim Abspeichern neuer Informationen während des Zeitraums der EKT-Behandlung), kurzdauernde Kopfschmerzen und Übelkeit am Behandlungstag, die gut symp­tomatisch behandelbar sind. Die EKT ruft eine Reihe von neuroplastischen Veränderungen hervor. Besonders gut belegt sind transiente Vergrösserungen der Hippocampi und der kortikalen Dicke insbesondere im cingulären und präfrontalen Cortex. Ob diese Veränderungen einen (kausalen) Zusammenhang mit klinischer Verbesserung haben, ist allerdings umstritten; ein linearer Zusammenhang ist gemäss dem aktuellen wissenschaftlichen Stand eher unwahrscheinlich (14, 15). Grosse internationale Konsortien untersuchen gegenwärtig Neuroplastizität und prädiktive Marker für ein EKT-Ansprechen basierend auf EEG und MRT-Analysen (15, 16). Selbst mit sehr sensitiven Methoden lassen sich keine neuronalen Schädigungen durch die EKT nachweisen.

Transkranielle Gleichstromstimulation

Bei der transkraniellen Gleichstromstimulation (englisch: transcranial direct current stimulation, tDCS) wird im Gegensatz zur rTMS kein Aktionspotenzial ausgelöst, sondern eine Verschiebung des Ruhemembranpotenzials hervorgerufen. Zur Behandlung depressiver Symptome werden Klebeelektroden meist über dem linken (Anode) und dem rechten (Kathode) dlPFK angebracht. Elektronen fliessen von der Anode zur Kathode. Hierdurch kommt es zu einer Depolarisation im Bereich des linken dlPFK, was die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Aktionspotenzials erhöht. Klinisch randomisierte kontrollierte Studien zeigen einen Effekt der tDCS im Vergleich zu einer Scheinstimulation (17). Vergleichsstudien der tDCS mit einer Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) deuten aber eher auf eine unterlegene Wirksamkeit der tDCS-Behandlung im Vergleich zu einer Behandlung mit SSRI hin (18). Die Behandlung mit tDCS ist sicher, Nebenwirkungen wie beispielsweise Hautirritationen und Erytheme sind in der Regel mild und treten selten auf (19). Zwei grosse randomisiere kontrollierte, multizentrische Studien, die die Kombination von tDCS mit Pharmakotherapie bzw. Psychotherapie untersuchten, konnten keine Überlegenheit der tDCS-Gruppe nachweisen (20, 21). Am ehesten geeignet erscheint die tDCS-Behandlung für Patientinnen und Patienten mit leicht ausgeprägtem Schweregrad, die eine Behandlung mit Hirnstimulationsverfahren wünschen. Ein Vorteil der Behandlung mit tDCS (im Vergleich zur rTMS) ist die Möglichkeit, die Behandlung zu Hause durchzuführen (17). Eine vor Kurzem publizierte Studie zeigte, dass eine tDCS-Behandlung, die unmittelbar vor einer Behandlung mit rTMS durchgeführt wurde, die antidepressive Wirksamkeit der rTMS-Behandlung signifikant verbesserte (22). Auch die Wirksamkeit der tDCS als Erhaltungstherapie wird gegenwärtig untersucht (23). Trotz interessanter und vielversprechender Studienergebnisse konnte die Evidenz von tDCS zur Behandlung von Depressionen noch nicht hinreichend belegt werden und ist deswegen gegenwärtig als experimentelle Behandlungsmethode einzustufen.

Esketamin und Ketamin

Intranasal appliziertes Esketamin (S-Enantiomer von Ketamin) und intravenös verabreichtes Ketamin (Racemat von S- und R-Enantiomer) stellen für die Indikation der Behandlung der therapieresistenten Depression relativ neue Substanzen dar. Die Behandlung mit intranasalem Esketamin wurde 2019 sowohl von der Food and Drug Administration (FDA) als auch von der European Medicines Agency (EMA) zugelassen. Die Zulassung wurde 2020 für Patientinnen und Patienten mit Depression und akuter Suizidalität erweitert. Die Behandlung mit intranasalem Esketamin erfolgt in Kombination mit einem Antidepressivum. Die Wirksamkeit und vor allem der im Vergleich zur Behandlung mit Antidepressiva sehr schnelle antidepressive Wirkeintritt nach Stunden bis Tagen konnte in zahlreichen Studien belegt werden (24, 25). Der Hauptwirkmechanismus der Esketaminbehandlung erfolgt durch die antagonistische Affinität an N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptoren. Durch eine Antagonisierung von γ-aminobutyric-acid(GABA)-Interneuronen erfolgt eine erhöhte synaptische Glutamatausschüttung. Glutamat aktiviert unter anderem den ionotropen AMPA-Rezeptor, der eine Kaskade in Bewegung setzt, die zu einer Erhöhung des brain-derived neurotrophic factor (BDNF) führt, was eine verstärkte Neurogenese, unter anderem im Hippocampus und dem medialen präfrontalen Cortex, initiiert (24). Valide Kritikpunkte bezüglich der gegenwärtigen Studienlage sind Schwierigkeiten der Verblindung (Euphorie, Dissoziation bei Verumgabe) und Erwartungseffekte selektierter Patienten, was zu überhöhten Effektstärken führen kann. Zu den Nebenwirkungen gehören Dissoziation, Induktion von Ängsten, Sedation, Schwindel, Blutdruck- und Pulsentgleisungen und Beschwerden des unteren Urogenitaltrakts (z. B. Hämaturie). Eine Reanalyse einer randomisierten kontrollierten Studie zeigte einerseits, dass Patientinnen und Patienten mit einem prognostisch eher ungünstigen Profil für eine EKT (jung, ohne psychotische Symptome) eher von einer intravenösen Ketaminbehandlung als von einer sehr kurzen EKT-Serie profitieren (26). Andererseits deutet eine vor Kurzem publizierte Metaanalyse auf eine eher geringe Effektstärke der Esketaminbehandlung als Add-on-Therapie zu Antidepressiva hin und konnte keine Wirksamkeit bezüglich einer Reduktion der Suizidalität nachweisen (27). Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer weiteren Stratifizierung von Subgruppen mit dem Ziel einer individualisierten Indikationsstellung für spezifische Hirnstimulationsverfahren.

Tiefe Hirnstimulation

In Fällen von schweren, andauernden depressiven Episoden, die sich weder auf Medikamente, spezifische Psychotherapie oder nicht invasiven Hirnstimulationsverfahren (rTMS, EKT) bessern, stellt die Tiefe Hirnstimulation (THS) eine invasive Behandlungsmethode dar. Mittels zweier, bilateral angebrachter Elektroden können tief im Gehirn gelegene Zielregionen stimuliert werden, wodurch dysfunktionale, die Krankheit aufrechterhaltende Netzwerke mittels elektrischer Stimuli beeinflusst werden. Bei neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Dystonien oder essenziellem Tremor findet die THS schon lange Zeit Anwendung. In der Psychiatrie wurde die THS zunächst bei therapieresistenten Zwangsstörungen, im weiteren Verlauf auch bei Depressionen eingesetzt. Zielregionen der THS-Depressionsbehandlung sind Kernregionen und Faserverbindungen des limbischen und des Belohnungssystems (28). Coenen und Kollegen entwickelten ein erweitertes Konzept des mittleren Vorderhirnbündels (29). Das mittlere Vorderhirnbündel verbindet Kernregionen des Belohnungssystems wie das ventrale Tegmentum mit dem Nucleus accumbens und dem orbitofrontalen Cortex. Mikrostrukturelle Veränderungen des mittleren Vorderhirnbündels stehen mit Anhedonie in Verbindung, einem Kernsymptom der Depression (30). Die basierend auf Bildgebungsmethoden gesteuerte DBS-Stimulation des mittleren Vorderhirnbündels könnte besonders wirksam sein, da so depressionsspezifische Netzwerke des Belohnungssystems moduliert werden, die zentral für die Pathophysiologie der Depression sind (31, 32). Bei der THS handelt es sich um eine in der Regel irreversible Operation. Neben mit der Operation assoziierten Risiken muss vor allem auch die Induktion einer Manie sorgfältig monitorisiert werden.

Psychedelika-assistierte Psychotherapie

Die Psychedelika-assistierte Psychotherapie (PAT) ist eine innovative Intervention, die aktuell als Behandlungsmöglichkeit für affektive und andere psychiatrische Störungen untersucht wird. Gegenwärtig kann die PAT in der Schweiz ausschliesslich im Rahmen von Studien oder einer Sonderbewilligung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) für die Behandlung mit Psychedelika (Psilocybin und LSD) durchgeführt werden. Bei der PAT wird strukturierte Psychotherapie mit einer Einnahme von klassischen Psychedelika wie Psilocybin oder Lysergsäurediethylamid (LSD) kombiniert. Die PAT ist meist unterteilt in Vorbereitungssitzungen, Substanzsitzungen und Integrationssitzungen, in denen die erlebten Erfahrungen psychotherapeutisch bearbeitet werden. Metaanalytisch zusammengefasst zeigen sich in bisherigen Studien Ansprechraten von etwa 60 % (33). Zugrunde liegende Wirkmechanismen der PAT sind noch nicht vollständig geklärt. Psychedelika induzieren Neuroplastizität, was im Tiermodell gut belegt ist (34). Dies könnte dazu beitragen, psychotherapeutische Prozesse zu augmentieren bzw. zu katalysieren. So sollen durch PAT zum einen pathologische Denk- und Verhaltensmuster sowie auch die Funktion von krankheitsrelevanten Hirnregionen verändert werden können (35). Vorteile der PAT sind die rasche, anhaltende Reduktion der depressiven Symptomatik bereits nach einmaliger Einnahme sowie das niedrige Risikoprofil in einer kontrollierten Umgebung mit Selektion von Patientinnen und Patienten ohne erhöhtes Psychose- oder Manierisiko (36). Unter Substanzwirkung können Ängste und Paranoia auftreten, die im klinischen Setting in schweren Fällen pharmakologisch behandelbar sind (37). Ob es als Folge der PAT zu Nachhallphänomenen kommen kann (hallucinogen persisting perception disorder), ist nicht abschliessend geklärt. Im Gegensatz dazu zeigte eine kürzlich publizierte Studie, dass unkon­trollierter Konsum von Halluzinogenen in der Freizeit, der zu Vorstellungen auf einem Notfallzentrum führte, mit einem erhöhten Risiko einherging, eine Erkrankung aus dem psychotischen Formenkreis zu entwickeln (38). Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie publizierte 2024 erstmals Behandlungsrichtlinien. Wie auch bei der Ketaminbehandlung wird die Evaluation der Wirksamkeit durch Schwierigkeiten der Verblindung, selektionierte Patientinnen und Patienten und hohe Erwartungseffekte erschwert. Zudem fehlen gegenwärtig Langzeitstudien und gezielte Untersuchungen, inwiefern begleitende Psychotherapie wichtig ist.

Prädiktion, Kombination und individualisierte Behandlung

Oben genannte Behandlungsverfahren haben bei schwer behandelbaren Depressionen erhebliches Potenzial. Die technische Entwicklung und die Anzahl der laufenden Studien sind rasant. Abgesehen von der EKT-Behandlung, bei der es klare und verlässliche klinische Prädiktoren für therapeutisches Ansprechen gibt, steckt die individualisierte Medizin mit einer differenziellen Indikationsstellung für die jeweiligen Verfahren noch in den Anfängen. Physiologische Marker mit potenziell prädiktivem Wert (EKG, EEG, Laborparameter), die im Rahmen der Routineuntersuchungen erhoben werden, könnten relativ einfach in den klinischen Alltag implementiert werden (10). Neben der individualisierten Indikationsstellung für jeweilige Verfahren wird auch die Kombination verschiedener Verfahren (z. B. tDCS vor rTM) [22] oder als Erhaltungstherapie [23] EKT mit Ketaminnarkose [39]) untersucht. Zudem wird erforscht, ob Hirnstimulationsverfahren in Kombination mit Psychotherapie psychotherapeutische Effekte verstärken können.

Prof. Dr. med. Tobias Bracht, PhD

Leiter Kompetenzzentrum für Interventionelle Psychiatrie und augmentierte Psychotherapie
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Murtenstrasse 21
3008 Bern
Schweiz

tobias.bracht@unibe.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Gesundes Altern weltweit: Chancen und Herausforderungen

Die Bevölkerung altert in einem noch nie dagewesenen Tempo und dies auf der ganzen Welt. Während die seit Jahrzehnten steigende Lebenserwartung ein Beweis für medizinischen und gesellschaftlichen Fortschritt ist, stellt der steigende Altersquotient (OADR) eine soziale und volkswirtschaftliche Herausforderung dar. Ein Perspektivwechsel ist erforderlich – Altern sollte nicht länger mit Gebrechlichkeit gleichgesetzt werden, sondern mit erweiterten Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Um die demografische Alterung zu einer nachhaltigen Errungenschaft zu transformieren, sind strukturelle gesellschaftliche Veränderungen erforderlich: Reformen der Rentensysteme, Zusammenarbeit zwischen den Generationen und Anpassungen des Gesundheitswesens. Ein globaler Ansatz für Wissensaustausch, gegenseitiges Lernen und innovative politische Entscheidungen sind hierbei unabdingbar. Durch Förderung von Flexibilität des Arbeitslebens, einer Verbesserung der sozialen Teilhabe und einer präventions-orientierten Priorisierung der Gesundheitssysteme können Gesellschaften das Potenzial einer alternden, aber lange gesunden Bevölkerung umfassend und nachhaltig nutzen.

The world is at a turning point as populations are ageing at an unprecedented rate. While increased life expectancy is a testament to medical and societal progress, the rising old-age dependency ratio (OADR) presents an economic and social challenge. A change in perspective is needed – ageing should not be equated with more years of frailty, but with increased opportunities for participation. To cope with demographic change, structural changes are needed: reforms to pension systems, intergenerational cooperation and adjustments to the healthcare system to meet the increasing demand. A global approach to knowledge sharing and innovative policy-making can turn ageing into an asset rather than a burden. By promoting flexibility at work, improving social participation and prioritising preventive healthcare, societies can harness the potential of an ageing but healthier population.
Key Words: Healthy Ageing, Old-Age Dependency Ratio (OADR), Disability-Adjusted Life Years (DALYs)

Wir stehen an einem Scheideweg: Ein immer längeres Leben breitet sich wie ein Lauffeuer in praktisch allen Ländern aus. Auf der einen Seite ist dies Beweis für den Erfolg eines zunehmend gesünderen Lebensstils und der Leistungsfähigkeit/Verfügbarkeit von Gesundheits-dienstleistungen, auf der anderen Seite ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mit einem Anstieg des Altersquotienten (OADR: old-age dependence ratio)¹ konfrontiert, der zu einer wachsenden Belastung wird. Spannungen zwischen den Generationen können daher zukünftig nicht ausgeschlossen werden, wenn man den Megatrend «demografische Alterung» in gesellschaftlichen Entwicklungsszenarien berücksichtigt.

«Wir können den demografischen Wandel nicht aufhalten, aber wir können uns an seine Auswirkungen anpassen.» Es muss ein neues «Lebensdesign» entwickelt werden! Entscheidungsträger in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft und natürlich jeder selbst sind gefordert, den Sinn und Zweck der verschiedenen Lebensphasen zu überdenken. Länger leben muss nicht unbedingt bedeuten, länger «alt» zu sein.

Ein Ansatz, Gesundheitsentwicklungen über Zeit, Geschlecht und Altersgruppen hinweg fortlaufend zu evaluieren und zu vergleichen, sind behinderungsadjustierte Lebensjahre (DALYs: disability-adjusted-life-year). DALYs berücksichtigen sowohl die Auswirkungen von Krankheiten auf die Morbidität als auch auf die vorzeitige Mortalität. Diese Messgrösse bietet daher eine ganzheitlichere Erfassung der Krankheitslast als die alleinige Messung von Mortalitätsdaten.

Ein DALY entspricht dabei dem Verlust von einem Lebensjahr in voller Gesundheit. Da DALYs die Auswirkungen von Krankheiten über die Zeit standardisieren, ermöglichen sie einen direkten Vergleich der Last verschiedener Krankheiten.

In der Schweiz beispielsweise lag die Lebenserwartung bei der Geburt im Jahr 2023 bei 82,0 Jahren für Männer und 85,8 Jahren für Frauen, was einem Anstieg von 5,1 Jahren bzw. 3,2 Jahren seit dem Jahr 2000 entspricht (1). Hierbei war für die Gruppe der älteren Erwachsenen (60-89 Jahre) eine Reduktion ischämischer Herzkrankheiten und Schlaganfälle um fast 50 Prozent besonders bemerkenswert. Lungenkrebs nahm bei Männern ab und Brustkrebs bei Frauen. DALYs, die auf Beschwerden am Bewegungsapparat, Stürzen sowie depressiven und Angststörungen zurückzuführen sind, blieben jedoch weitgehend unverändert. Krankheiten wie Diabetes, Alzheimer nahmen hingegen leider zu. Da die Langlebigkeitsperspektiven in der Schweiz für die Altersgruppen 60+ in hohem Masse durch nicht- übertragbare Krankheiten (NCDs) und Multimorbidität bestimmt werden, muss der Fokus des Gesundheitswesens zukünftig auf intensivierten präventiven NCD – Massnahmen, Innovationen in den Behandlungen von Krebstherapien und einem wirklich wirksamen Ansatz zur Bekämpfung von Alzheimer, Demenz und anderen altersbedingten Krankheiten liegen. Aber auch die psychische Gesundheit der jüngeren Bevölkerung muss Berücksichtigung finden, denn sie ist letztlich Grundlage für ein gesundes Altern.

Weltweit leben die Menschen länger und gesünder, wobei die globale demografische Alterung auf drei Ebenen stattfindet (Abb. 1):

  • Strukturelle Alterung
  • erlängerung der Langlebigkeit
  • Ausweitung des gesunden Alterns

Alternde Gesellschaften sollten daher ihre Reform- und Entwicklungsbemühungen auf die folgenden drei Schwerpunkte konzentrieren:

• Korrektur des sich abzeichnenden Ungleich­gewichts in der Rentenfinanzierung
Da der OADR sehr deutlich zunehmen wird, ist das lange bewährte umlagefinanzierte Rentensystem nicht mehr nachhaltig. Um ein Rentensystem von Morgen zu entwerfen, müssen wir unter anderem auch Antworten auf die folgenden Herausforderungen finden: Ist wirtschaftliche Produktivität nur für Menschen unter 65 Jahren möglich? Welche Möglichkeiten gibt es ältere Erwachsene sich weiter produktiv zu engagieren? Beispielsweise können ältere Erwachsene durch innovative Formen der Teilnahme am Erwerbsleben, erweiterten Konsum, längeres Sparen/Investitionen sowie einer aktiven Teilnahme am Gesellschaftsleben gezielt zum Wachstum der Wirtschaft beitragen.

• Generationenübergreifender sozialer Stress als «Triggerpunkt» für einen Neuanfang
Die letztlich natürlichen Generationenunterschiede und deren vielfältigen Ursachen sollten eine Einladung zu einem respektvollen Umgang und «neugierigen» Dialogen sein. Es ist notwendig, bestehende Spannungen anzuerkennen, während die Bereitschaft für ein «neues Miteinander» der Schlüssel zur Erschliessung neuer Potenziale in Gesellschaft und Wirtschaft von morgen sein können. Zum Beispiel kann die Zusammenarbeit zwischen erfahrenen, älteren Menschen und jungen Arbeitskräften mit ganz anderem Fachwissen sehr fruchtbar sein und z.B. ungeahnte Produktivitätsverbesserungen erschliessen – und genau dies braucht eine alternde Gesellschaft dringendst.

• Zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen
Wir müssen die jeweiligen Gesundheitssysteme hinsichtlich ihrer bisherigen und zukünftigen Leistungsfähigkeit gut verstehen, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Die Frage des Zuganges für alle ist dabei zentral und entscheidet auch für die Stabilität einer alternden Gesellschaft. Dementsprechend müssen wir sicherstellen, dass wir genügend Ärzte, Hilfspersonal und andere Angehörige der verschiedenen Gesundheitsberufe in der Ausbildungspipeline haben. Ausserdem sollte deren Ausbildung auf dem neuesten Stand des technologischen Fortschritts sein. Gewachsene familiäre Strukturen brauchen ebenfalls Unterstützung und gezielte Einbindung. Sie können einen wichtigen Beitrag in der Pflege- und Betreuungsarbeit übernehmen und damit dringend benötigtes berufliches Potenzial in den jüngeren Generationen freisetzen. Dies ist besonders wichtig, da die jungen Altersgruppen als Folge der niedrigen Geburtenraten absehbar abnehmen.

Diese oben aufgeführten drei Ebenen sind eng miteinander verbunden. Ihre intergenerationelle Dynamik wirkt sich direkt auf die Gesundheit der Bevölkerung und deren Produktivität aus: Zusammenarbeit zwischen den Generationen steigert das persönliche Wohlbefinden und den wirtschaftlichen Wohlstand aller, während Spannungen zwischen den Generationen zu schlechteren Gesundheitsergebnissen und einer weniger robusten Wirtschaftsleistung führen.

Wenn die neue Norm lange und gute Gesundheit auch in den Lebensjahren nach dem offiziellen Rentenalter ist, müssen wir uns fragen, ob es erfüllend ist, diese in einen reinen passiven Konsumstatus zu verbringen oder nicht? Was können Menschen mit diesen zusätzlichen gesunden Lebensjahren oder sogar Jahrzehnten für sich selbst, ihre Nächsten und die Gemeinschaft noch erreichen? Mit dieser Frage gilt es sich auseinander zu setzten – letztlich jeder für sich selbst.

Wenn wir vorurteilsfrei über unseren Tellerrand schauen und nicht alle zusätzlich gewonnenen Lebensjahre pauschal als «altersabhängige Jahre» abstempeln, dann sollten wir beginnen, dieser Lebensphase einen neuen Sinn zu geben. Sozialpolitik, wie auch die Rentenpolitik, ist dazu da, den Menschen zu dienen, und nicht um sie einzuschränken. So sollten wir bei aller «verdienten Ruhe» unserer älteren Bürgerinnen und Bürgern auch ihrem Wunsch nach mehr Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen. Unsere Aussichten, immer länger zu leben, sollten belebend und inspirierend sein, nicht beunruhigend und einschränkend.

Letztlich unterstreicht die kontinuierliche Zunahme gesunder Lebensjahre über das Rentenalter hinaus die Tatsache, dass ein längeres Leben nicht gleichbedeutend mit «älter sein» sein muss. «Alt sein» bedeutet nicht länger körperliche, geistige und soziale Gebrechlichkeit. Gesundheit ist ein wesentlicher Aspekt der Lebensqualität und die Grundlage für die Aktivierung jeder Form von demografischer Dividende². Wie in Abbildung 1 illustriert, ist der «Gürtel» der alters-bedingten Gebrechlichkeit formbar und kann durch eine Ausweitung des gesunden Alterns erweitert werden. Alarmierend sind jedoch die Trends eines früheren Auftretens altersbedingter Komorbiditäten (z.B. Diabetes und Beschwerden des Bewegungsapparates etc.). Sie betreffen zunehmend die jüngere Bevölkerung und verschlechtern deren Potential für ein langes gesundes Leben.

Hier steht viel auf dem Spiel: Wenn es gelingt, die Gesund- heit der ganzen Bevölkerung zu verbessern und etwaige früh einsetzende Gesundheitsbeschwerden zu stoppen oder umzukehren, dann werden wir zukünftig eine robuste Bevölkerung unter 60 Jahren haben, die eine immer gesündere Bevölkerung der über 60-Jährigen unterstützt. Dies würde uns erlauben, von einer dritten demografischen Dividende z.B. der über 60-jährigen zu profitieren. Wenn die Gesundheit der Bevölkerung hingegen nicht verbessert wird, wird das Versprechen der dritten demografischen Dividende fraglich bleiben, und eine wachsende medizinische Belastung wird über alle Generationen hinweg zu spüren sein – physisch, mental, sozial und finanziell.

Was können wir tun?

Im Grunde genommen geht es darum, Veränderungen nicht zu ignorieren oder sich dagegen zu wehren, sondern diese zu verstehen und auch zu nutzen. Jede Herausforderung ist in sich eine Chance.

Das Herzstück eines nachhaltigen, gesunden langen Lebens liegt in der Weitsicht und der Zusammenarbeit. Offenheit für Neues ist in jedem Fall erforderlich, da wir uns auf unbekanntem Terrain bewegen, in dem die bisherigen Erfahrungen und Gewohnheiten sind, immer weiterführen. Das bedeutet, dass bestehende Systeme an ihre Grenzen kommen. Der einzige Weg nach vorne ist gemeinsam. Daher brauchen wir Mut und Offenheit, um uns aus den konzeptionellen Fesseln der Vergangenheit zu befreien und durch Zusammenarbeit unsere neue immer längere Zukunft zu gestalten. Wenn wir unseren Horizont erweitern, können wir unsere heutigen Systeme effektiver umgestalten.

Auf internationaler Ebene können wir unsere Erfahrungen zum gegenseitigen Vorteil austauschen und nutzen. Da der Stand der gesundheitlichen Entwicklung in den verschiedenen Ländern auf einem Kontinuum liegt, kann ein Wissenstransfer zu einer globalen gesundheitlichen Chancengleichheit beitragen und die jeweiligen öffentlichen Gesundheitssysteme messbar weiterentwickeln. Zum Beispiel können viele afrikanische Länder südlich der Sahara von einer breiteren Verabreichung von Impfstoffen profitieren, während Japan seine einzigartigen Erfahrungen im Umgang mit einer älter werdenden Gesellschaft mit dem Rest der Welt teilen kann.

Jedes Land sollte 7 Strategien auf ihre Anwendbarkeit bzw. Machbarkeit in Erwägung ziehen:

• Ein längeres und flexibleres Arbeitsleben auf freiwilliger Basis ermöglichen – ein festes Rentenalter von 65 Jahren gehört der Vergangenheit an. Die Möglichkeiten für ältere, gesunde Menschen müssen erweitert werden, sofern diese an weiteren beruflichen Aktivitäten über das 65. Lebensjahr hinaus interessiert sind;
• Einbeziehung älterer Erwachsener in Freiwilligen­arbeit – soziales Engagement und Zugehörigkeitsgefühl sind ein wesentlicher Bestandteil der psychischen Gesundheit älterer Erwachsener. Sie tragen erwiesenermassen zu einer besseren körperlichen Gesundheit und Lebensqualität bei;
• Förderung sozialen Kompetenzen – Dialog und Zusammenarbeit zwischen den Generationen, die auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt basieren, werden zur zentralen Säule langlebiger Gesellschaften;
• Neugestaltung des Wohnumfeld – die Minimierung von Barrieren und die Gewährleistung der Zugänglichkeit der öffentlichen Infrastruktur – nur so können alle wirklich teilhaben;
• Förderung neuer Märkte und neuer Verbrauchergewohnheiten – die Bedürfnisse eines wachsenden Anteils älterer, gesunder Erwachsener müssen erforscht und berücksichtigt werden;
• Aktivierung von intergenerationellen Transfers – ein enormes Potential liegt in den Interaktionen zwischen den verschiedenen Generationengruppen, sei es durch den Transfer von Wissen oder durch sozialen und finanziellen Reichtum;
• Fördern des familiären Zusammenhalts – familiäre Beziehungen tragen wesentlich zu einer guten Lebensqualität bei. Sie unterstützen das Gefühl der Zugehörigkeit und emotionalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang kann der anhaltende Trend niedriger Heirats- und Geburtenraten bedenklich sein. Gesellschaftspolitische Entscheidungsträger sollten sich mit den kontextuellen Gründen dieser Phänomene befassen. Ausserdem sollte jeder und jede Einzelne einen vorurteils- und verantwortungsvollen Dialog mit sich selbst und seinen Familien, über die daraus resultierenden persönlichen und gemeinschaftlichen Auswirkungen führen.

Es ist an der Zeit, dass wir einen Sprung nach vorne wagen und den demografischen Wandel zu einem immer längeren Leben annehmen. Ein gesünderes, längeres Leben stellt eine Herausforderung aber auch eine Chance für Wachstum und Entwicklung dar. Dieser Sprung beginnt mit einem breit gefächerten Dialog.

In diesem Dialog – sofern wir ihn erfolgreich führen – bauen wir neue Brücken, welche über die derzeitigen konzeptionellen Grenzen hinausgehen – für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganzes. Es ist keine Option uns im Status quo auszuruhen, denn dieser verschwindet bereits im Treibsand des demografischen Wandels.

Uns bleibt aber die Wahl, ehrlich, mutig und proaktiv das nächste Kapitel der Menschheitsgeschichte zu schreiben.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Zusammenfassung eines Strategiepapiers des Global Longevity Council des World Demographic & Ageing Forum (WDA Forum), welches im Dezember 2024 veröffentlicht wurde. In diesem Strategiepapier wurden 32 ausgewählte Länder aus 6 Kontinenten untersucht. Die untersuchten Länder entsprechen 67 % der Weltbevölkerung und 78 % des globalen BIP im Jahr 2023. Das vollständige Dokument ist in Englisch unter www.wdaforum.org abrufbar.

Bei Fragen und für Feedback wenden Sie sich bitte an:
Dr. Hans Groth, E-Mail: hgroth@wdaforum.org

Dr. med. Hans Groth
Sven Bättig
Ziqian Feng
World Demographic
& Ageing Forum (WDA Forum)
Rorschacher Strasse 304
9016 St. Gallen

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Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Hans Groth

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Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2024). World Population Prospects 2024, Online Edition.
2. Mason, A. 2005. Demographic transition and demographic dividends in developed and developing countries. United Nations expert group meeting on social and economic implications of changing population age structures (Vol. 31).
3. Linda P. Fried, Investing in Health to Create a Third Demographic Dividend, The Gerontologist, Volume 56, Issue Suppl_2, April 2016, Pages S167–S177

20. DGK CARDIO UPDATE 2025 – Teil 1

Auch dieses Jahr berichten wir über einige Highlights des alljährlichen, zweitägigen, ausgezeichneten Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie in Berlin. In diversen Vorträgen wurden am 14./15. Februar die neuesten relevanten Fachpublikationen aus dem Jahre 2024 von Experten besprochen und gewertet. Wir geben einige praktische Schlaglichter für die Hausärzte aus einigen relevanten Vorträgen in zwei Teilen wieder.

Vorhofflimmern

2024 wurde am ESC ein Update zum Vorhofflimmern (VHFLi) publiziert (1). VHFLi nimmt weiterhin stark zu. 25 % haben in ihrem Leben VHFLi, bei Risikofaktoren bis 40 %. Die bedeutensten Risikofaktoren sind Herzklappendefekte, Herzinsuffizienz, Hypertonie und Diabetes mellitus Typ II. Den grössten Stellenwert hat aufgrund ihrer hohen Prävalenz die Hypertonie.

Kernelement der neuen Leitlinien ist ein AF-CARE benanntes Konzept, das zentrale Behandlungspfade im Management von Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern vereint. C: Comorbiditäten und Risikofaktoren Management. Dieser Punkt ist zur Prävention und zur Therapie beim VHFLi entscheidend. Eine Hypertonie muss behandelt werden, ebenso eine Herzinsuffizienz, ein Übergewicht resp. eine Adipositas, ein Diabetes, eine Schlafapnoe, ein Alkoholkonsum (≤ 3 Drinks/Woche) und ein Bewegungsmangel. Eine ausreichende körperliche Bewegung ist wichtig. A: Avoid Stroke and Thromboembolism. Eine OAK (DOAK) bedarf es bei einem CHA2DS2-VA Score ≥ 2 (IA). Bei einem Punkt muss die OAK in Betracht gezogen werden (IIaC). In diesem neuen Score (Streichung von «Sc» (Sex category)) ist das weibliche Geschlecht nicht mehr enthalten. Damit wird die Risikoabschätzung nun geschlechtsneutral. Das Blutungsrisiko und dessen Prävention müssen beachtet werden. Es soll aber die OAK nicht verhindern. R: Reduce Symptoms via Rhythmus und Frequenzkontrolle. Eine Rhythmuskontrolle sollte das Ziel sein: Rhythmuskontrolle geht vor Frequenzkontrolle. Bei einem VHFLi > 24 h (neu) bedarf es einer OAK für 3 Wochen oder einem TEE bevor eine EKV durchgeführt wird. Auch bei einer erfolgreichen Rhythmuskontrolle richtet sich die Indikation zur Antikoagulation allein nach dem CHA2DS2-VA-Score. Bei einer Frequenzkontrolle wird ein Betablocker eingesetzt. Beträgt die LVEF > 40 % ist auch Dilzem oder Verapamil möglich. Die Ziel-HF liegt heute bei einem VHFLi bei 70–90/min. Bei dieser HF besteht das geringste Risiko für eine Herzinsuffizienz (HI) resp. für die Mortalität. E: Evaluation und dynamische Neubeurteilung inkl. des thromboembolischen Risikos alle 6–12 Monate nach dem Prinzip CARE.

Die Therapie des Vorhofflimmerns besteht aus den Säulen Symptomkontrolle, Modifikation der Risikofaktoren und Thromboembolie-Prophylaxe.

Eine Katheterablation der Pulmonalvenen (PVI) ist eine Klasse I Indikation bei Patienten < 74 Jahre: bei paroxysmalem VHFLi als Firstline Option, beim Versagen einer antiarrhythmischen Therapie und bei einer HI oder einer Tachykardie-Kardiomyopathie. Die Behandlung des VHFLi ist essenzieller Bestandteil einer wirksamen HI-Therapie zur Erhaltung des Sinusrhythmus.

Mit der Radiofrequenz- oder Kryoablation sowie der Pulsed-field-Ablation (PFA) stehen aktuell 2 thermische und ein nichtthermisches Verfahren zur Behandlung von VHFLi zur Verfügung. Die PFA gilt als gewebeselektiv. Die heutige Bildgebung und die modernen Techniken beschleunigen die Ablation mit ggf. besserem Outcome. Mit einer frühen Ablation kann ein Progress der Krankheit deutlich verzögert werden. Mit jedem Jahr, um das eine Katheterablation hinausgeschoben wird, sinkt die Aussicht, von Vorhofflimmernrezidiven verschont zu bleiben. Patienten mit paroxysmalem Vorhofflimmern profitieren besonders von einer frühen Therapie.

Vor einer Ablation sollte eine Adipositas bei einem BMI ≥ 40 reduziert werden (GLP-1 RA, bariatrische Chirurgie). Blutdruck und Diabetes sollten gut eingestellt werden; dadurch ergibt sich ein stabilerer Sinusrhythmus nach der Ablation. Je fitter der Patient, desto weniger kommt es zu einem VHFLi-Rezidiv. Nach einer PVI gibt es mehr asymptomatisches VHFLi, daher wird die DOAK-Therapie beibehalten.

Bei 218 Männern mit einer erektilen Dysfunktion und VHFLi konnte diese durch eine PVI deutlich verbessert werden.

Asymptomatisches Vorhofflimmern ist keine Seltenheit und sollte insbesondere in Hochrisiko-Populationen gesucht werden. Dieses sollte auf die gleiche Weise behandelt werden wie symptomatisches VHFLi. Die Behandlung von DDAF (Gerät detektiertes subklinisches Vorhofflimmern) ist komplexer, insbesondere angesichts der Entscheidung über die Antikoagulation, und sie sollte das Risikoprofil des Patienten für Schlaganfall und Blutungen berücksichtigen. Die ESC 2024-Leitlinien kommen zu dem Schluss, dass eine DOAK-Therapie in Untergruppen von Patienten mit asymptomatischem gerätedetektiertem subklinischem Vorhofflimmern in Betracht ­gezogen werden kann, die ein hohes geschätztes Schlaganfallrisiko (CHA2DS2-VA Score ≥ 4–5) und das Fehlen schwerwiegender Blutungsrisikofaktoren aufweisen (IIbB). Die Dauer und Belastung durch subklinisches VHFLi, das möglicherweise von oralen Antikoagulanzien profitieren könnte, bleibt ungewiss. Beim subklinischen VHFLi kommt es in ca. 10 %/Jahr zu einem klinischen VHFLi. Dabei spielen folgende Parameter eine Rolle: CHA2DS2-VA Score, ESUS, AF-Burden/Dauer, Blutungsrisiko, LA-Volumen/ Funktion, Nierenfunktion und eine koronare Herzkrankheit. Bei einer vaskulären Erkrankung besteht ein erhöhtes Embolierisiko.

Viele Daten der Versorgungsforschung weisen darauf hin, dass eine Rhythmuskontrolle mit einer geringeren Demenz­entwicklung verbunden ist. Der definitive Beweis muss aber noch erbracht werden. Eine intrakraniale Atherosklerose ist ein unabhängiger Risikofaktor für eine Demenz. Eine grosse Metaanalyse aus China aus drei Kontinenten identifizierte mehrere Faktoren bei VHFLi, die das Risiko für kognitive Beeinträchtigungen beeinflussen. Das grösste Risiko ist mit dem Faktor Rauchen (OR 2.44) assoziiert, gefolgt von weiblichem Geschlecht (OR 2.19), Hypertonie (OR 1.61), T2DM (OR 1.42), höheres Alter (OR 1.38) und Schwerhörigkeit (OR 1.37). Protektiv wirken hingegen die Katheterablation (OR 0.74), Sport (OR 0.66), NOAK (OR 0.61) sowie ein höheres Bildungsniveau (OR 0.57) (3). Ein frühzeitiges Risikoscreening eröffnet die Möglichkeit zur Prävention.

Unabhängig vom Risiko soll eine orale Antikoagulation bei allen Patienten mit VHFLi und hypertropher Kardiomyopathie oder kardialer Amyloidose erfolgen.

Ca. 1-2 % erleiden trotz einer OAK bei VHFLi einen ischämischen Insult/Jahr. Dieser ist aber unter der OAK signifikant kleiner und das Risiko für eine hämorrhagische Transformation ist deutlich geringer; dies ergab eine aktuelle retrospektive Analyse in Deutschland aus 86 Stroke units (4).

Bei einer Kontraindikation für eine OAK sollte bei VHFli ein LAA-Verschluss an einem Zentrum in Betracht gezogen werden, um einen ischämischen Stroke und eine Thromboembolie zu verhüten (IIbC). Es fehlen grössere randomisierte Studien. Bei einem postoperativen VHFLi besteht ein hohes Risiko für ein späteres VHFLi. Ist dieses reversibel, so muss individuell entschieden werden bez. OAK, u.a. am CHA2DS2-VA Score und an der LA-Grösse.

Bei Patienten mit KHK und VHFLi empfehlen die Leitlinien nach Koronarintervention (PCI) oder akutem Koronarsyndrom für eine befristete Zeit (sechs bis zwölf Monate) eine duale antithrombotische Therapie aus Antikoagulation und Plättchenhemmung; danach sollte der Plättchenhemmer abgesetzt und nur noch die Antikoagulation (DOAK) fortgesetzt werden.

Bei HI-Patienten mit einer LVEF < 50 % ohne erklärende KHK, Myokarditis oder Klappenerkrankung aber mit VHFLi und einer Herzfrequenz von > 100/min liegt bei 82 % der Patienten eine Tachymyopathie vor. «Hier sollte die prima causa der Herzinsuffizienz, in diesem Falle das Vorhofflimmern, möglichst konsequent und vorrangig behandelt werden!», betonte der Vortragende Prof. Dr. med. Thorsten Lewalter.

Viele VHFLi-Episoden treten gehäuft nachts auf. Dabei sind verschiedene Faktoren involviert: die biologische Uhr, nächtliche Bewegungen der Beine, Position beim Schlaf, schlechte Schlafqualität, Vagotonus, OSAS, Reflux, abendlicher Alkohol. Therapeutisch Diskussion Flecainid, CPAP, Sport am Tag, Modulation des autonomen Nervensystems.

Die Schlafqualität hat Einfluss auf die VHFLi-Häufigkeit und Episodendauer am folgenden Tag. «Für die klinische Praxis bedeutet dies, dass wir bei Patienten mit paroxysmalem Vorhofflimmern die Schlafgüte hochhalten sollten; mindestens bedeutet dies, dass man den Patienten darüber aufklären sollte und er versuchen muss möglichst «gut» zu schlafen. Bei primär nächtlich auftretendem VHFLi muss nach einer Schlafapnoe gefahndet werden; auch für die medikamentöse Differentialtherapie ist es von Bedeutung.»

Der Einsatz von Cannabis bei chronischen Schmerzpa­tienten führt zu mehr Vorhofflimmern; dies sollte man bei dieser älteren Patientengruppe mit verschiedenen Begleitkrankheiten in der klinischen Praxis beachten; insbesondere kardiovaskulär Vorerkrankte zeigen mit einer Verdopplung der Auftretensrate das höchste Risiko. Gesunde junge Personen weisen diese Cannabis-Nebenwirkung nicht auf.

Bei älteren Patienten, insbesondere mit zusätzlichen Risikofaktoren (Abb. 1) für ein VHFLi, sollte in der täglichen Praxis konsequent an ein Screening auf ein VHFLi gedacht werden. Zur qualitativen Diagnostik von VHFLi ist eine EKG-basierte Technik und eine ärztliche Befundung notwendig; dies kann ein 1-Kanal- oder 12-Kanal-EKG sein. Befunde in Nicht-EKG-basierten Methoden (Puls, PPG, Oszillometrie u.a.) haben dagegen lediglich einen hinweisenden Charakter und müssen durch eine EKG basierte Methode bestätigt werden.


Smartwatches sind als Einkanal-EKG sehr effektiv im Erkennen von Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern bei älteren Erwachsenen – entspricht am Handgelenk EKG Abl. I. Tragbare EKG-Geräte wie Smartwatches werden in Zukunft deutlich mehr Informationen aus dem EKG übertragen als nur die qualitative Feststellung einer Arrhythmie. Durch eine Umpositionierung sind weitere Ableitungen möglich; so kann auch u.a. eine Ischämie, ein QT-Monitoring oder eine Bradykardie oder eine AV-Blockierung erkannt werden.

Eine medikamentöse Kardioversion wird häufig nach dem Prinzip «Pill in the pocket» mit 200–300 mg Flecainid per os durchgeführt. Alternativ kann auch Propafenon 450–600 mg oder Ranolazin 2000 mg verwendet werden. In naher Zukunft wird es eine inhalative Applikation von Flecainid geben mit einer medianen Wirkung nach bereits 13.7 Minuten. Das Medikament wird über die Alveolen resorbiert mit rascher Wirkung am linken Vorhof.

KI–basierte Algorithmen, eine neue Ära der Herzmedizin, ermöglichen detaillierte Risikoabschätzungen für VHFLi-Rezidive nach PVI, die über die bisherigen Ansätze hinausgehen. Zu den wichtigsten prädiktiven Faktoren gehören das Ausmass einer linksventrikulären Fibrose (CMR), die Grösse des LA im TTE und die Pulmonalvenenanatomie im CT. Die frühzeitige Anerkennung von Hochrisiko- Rezidiv-Patienten wird es ermöglichen, gezielte Interventionen oder alternative Therapiestrategien einzuleiten, um die Erfolgsquote von VHFLi-Ablationen zu erhöhen.

Prävention

Zwei grosse US-Studien zeigten, dass Kaffee-Konsum nicht mit negativen Ereignissen assoziiert ist. Angeblich ist der morgendliche Kaffee-Konsum gesünder. Auch die dunkle Schokolade hat erneut günstige Wirkungen gezeigt. Hier sind aber wahrscheinlich sozio-ökonomische Faktoren und das Verhalten zu berücksichtigen.

Nach einer neuen Arbeit, bei 716 Patienten, muss man vor einer Koronarangiographie (1 bis 4h) nicht mehr nüchtern sein. Es kommt zu keiner Aspirationspneumonie, weniger Hypotonien und weniger Bz-Entgleisungen. Auch sind die Patienten bei einer leichten Mahlzeit deutlich zufriedener.

Bei einer koronaren Herzkrankheit ist das LDL-Ziel < 1.4 mmol/l. Bei einer Statinunverträglichkeit oder einer ungenügenden Wirkung kann neben Ezetimib auch die Bempedoinsäure eingesetzt werden. Bei einer CHK und einem T2DM sollte ein SGLT2-H., unabhängig vom HbA1C, verordnet werden (IA).

Bei einer CHK mit Übergewicht/Adipositas (BMI > 27) haben GLP-1 RA eine IIaB-Indikation. Bei ausgewählten Patienten kann auch Colchizin, 0.5 mg/die bei einer eGFR > 45 ml/min, 1.73 m2, diskutiert werden. Hier ist die Datenlage aber sehr heterogen (IIaA).

Mehr als 150 Min. moderate bis anstrengende körperliche Aktivität/Woche ist mit einem tieferen Risiko für mehr als 200 Erkrankungen assoziiert. Dies ergibt eine grosse Analyse der UK-Biobank.

Je höher das genetisch festgelegte Lipoprotein A (Lpa), desto mehr Myokardinfarkte, ischämische Schlaganfälle, HI und Aortenklappenstenosen. Der Wert sollte bei einer Atherosklerose oder einer diesbezüglich positiven FA einmal im Leben bestimmt werden. Aktuell kann bei einem erhöhten Wert neben der Vermeidung der kardiovaskulären Risikofaktoren nur das LDL optimal eingestellt werden. In naher Zukunft stehen aber auch hier verschiedene Medikamente, u.a. ein siRNA-Wirkstoff, zur Verfügung.

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Dr. med. Urs N. Dürst

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u.n.duerst@ggaweb.ch

1. 2024 ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) European Heart Journal (2024) 00, 1–101 https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehae176
2. Hindricks G. et al., 2020 ESC Guidelines for the diagnosis and management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS): The Task Force for the diagnosis and management of atrial fibrillation of the European Society of Cardiology (ESC) Developed with the special contribution of the European Heart Rhythm Association (EHRA) of the ESC, European Heart Journal, Volume 42, Issue 5, 1 February 2021, Pages 373–498
3. Feng Z et al. Factors associated with cognitive impairment in patients with atrial fibrillation: A systematic review and meta-analysis. Arch Gerontol Geriatr 2025;128:105619. https://doi.org/10.1016/j.archger.2024.105619
4. Grosse GM et al. Prior Anticoagulation and Risk of Hemorrhagic Transformation in Acute Stroke: A Post Hoc Analysis of the PRODAST Study. J Am Heart Assoc 2025;14:e037014. https://doi.org/10.1161/JAHA.124.037014

Démence et suicide assisté: quels enjeux éthiques?

Les enjeux éthiques des demandes de suicide assisté venant des personnes atteintes de démence sont complexes. Il s’agit avant tout de pouvoir adresser leurs préoccupations et explorer leurs motivations et attitudes face à la vie et à la mort. Une demande de suicide assisté peut être exprimée en anticipation du déclin cognitif, mais la réalisation nécessite la capacité de discernement. Si souhaité, l’élaboration d’un projet de soins anticipé permet de discuter des alternatives en cas de complications et des préférences y relatives. Une approche interdisciplinaire de soins palliatifs gériatriques est recommandée afin d’offrir des soins concordant avec les objectifs des personnes et de les respecter dans leurs décisions de fin de vie.

The ethical issues surrounding requests for assisted suicide from people with dementia are complex. First and foremost, we need to address their concerns and explore their motivations and attitudes towards life and death. A request for assisted suicide may be expressed in anticipation of cognitive decline, but its realization requires decision-making capacity. If desired, advance care planning can help discuss and determine alternatives in the event of complications and related preferences. An interdisciplinary approach to geriatric palliative care is recommended in order to provide goal-concordant care and to respect the person’s end-of-life decisions.
Keywords: Dementia, assisted suicide, decision-making capacity, advance care planning

Introduction

Dans le présent article, nous proposons d’aborder quelques enjeux éthiques actuels du suicide assisté chez les personnes atteintes de démence. Comme souvent face à une maladie grave et incurable, les préférences des personnes confrontées à un diagnostic de démence sont très variables et dépendent de leurs valeurs et attitudes face à la vie et à la mort. Certains expriment initialement ne pas s’imaginer vivre avec des troubles cognitifs mais montrent plus tard des signes de plaisir à vivre. D’autres présentent des signes de souffrance existentielle, de perte de sens ou d’une crainte face au déclin cognitif, pouvant motiver une demande de suicide assisté dès l’ annonce du diagnostic. Il s’agit aussi, pour certaines personnes comme Gunter Sachs, de garder le contrôle de leur vie et de ne pas subir une fin de vie qu’elles ne jugent pas digne selon leur échelle de valeur (cf. encadré).

Pour les professionnelles de santé, l’expression d’un désir de mort, voire d’une demande d’assistance au suicide, est un défi qui nécessite des compétences communicationnelles, d’écoute active et de respect des valeurs d’autrui (2). Les soignants ont une obligation déontologique d’essayer de comprendre leurs patients en tant que personnes, et de considérer leurs souffrances et ses potentielles causes. Une évaluation pluriprofessionnelle et interdisciplinaire permet de mieux comprendre les enjeux qui découlent de chaque situation, en impliquant des spécialistes médecins, infirmiers, psychologues, accompagnants spirituels des domaines de la gériatrie, de la psycho-gériatrie et des soins palliatifs, mais aussi des éthiciens et juristes parfois.

Comme le montre le cas de Gunter Sachs, un désir de mort au début d’une démence est souvent motivé par la crainte d’un avenir sombre: les craintes d’être totalement dépendant, de perdre son identité et sa personnalité, d’être un fardeau pour les proches, de souffrir de douleurs ou d’autres symptômes insupportables, et finalement les craintes de ne plus pouvoir contrôler sa vie et de ne plus pouvoir mettre fin à ses jours à cause d’une perte de la capacité de discernement (3). Une revue systématique de la littérature a dévoilé que la démence en soi n’est pas un facteur de risque suicidaire, mais que certains sous-groupes peuvent présenter un risque accru, par exemple dans des situations de patients plus jeunes, en cas de comorbidités, de dépression, de démence sémantique, ou dans la phase initiale après l’annonce du diagnostic (4).

Cadre juridique et déontologique

En Suisse, l’assistance au suicide n’est pas considérée comme une infraction pénale à condition que la personne qui assiste n’ait pas de mobile égoïste (art. 155 Code Pénal suisse, CP). L’euthanasie est cependant interdite (art. 114 CP), contrairement à un nombre croissant d’autres pays (Pays-Bas, Belgique, Luxembourg, Canada, Australie, Espagne, Portugal). Dans le cas du suicide assisté la personne désirant mourir garde le contrôle ultime de l’acte: c’est elle qui doit boire la substance létale ou démarrer la perfusion. L’assistance au suicide est uniquement permise si le suicide est volontaire et si la personne a encore sa capacité de discernement par rapport à cet acte. Pour assurer la nature volontaire de l’acte, il est nécessaire d’exclure toutes pressions, manipulations, tromperies ou contraintes intérieures ou extérieures. La capacité de discernement se décline en 4 sous-capacités: la compréhension des informations données de manière compréhensible, l’appréciation de sa propre situation et des conséquences de l’acte, le raisonnement selon la balance des arguments, et finalement le choix personnel exprimé (5). Cependant, l’évaluation de cette capacité est complexe quand elle concerne le suicide assisté et la littérature montre qu’il y a beaucoup d’incertitude et de diversité dans ces évaluations médicales (6).

La directive de l’Académie Suisse des Sciences Médicales « Attitude face à la fin de vie et à la mort », adoptée comme déontologie par la FMH, émet des conditions supplémentaires (7): le médecin doit attester que la personne ait une souffrance insupportable objectivée par un diagnostic ou un pronostic. De plus, les alternatives au suicide assisté doivent avoir été expliquées, discutées et proposées. Selon cette directive, le médecin ne peut apporter une assistance au suicide si le désir de suicide « constitue un symptôme actuel d’un trouble psychique » (7).

Alternatives et enjeux éthiques

Sur le plan éthique, un enjeu majeur est le respect de l’autonomie et de la dignité de la personne atteinte de démence, et des décisions de fin de vie qui en découlent (8). Afin de pouvoir prendre une décision éclairée, la personne capable de discernement doit avant tout être informée de manière complète et objective sur le pronostic de la maladie, les conséquences de celle-ci sur la santé et la fin de vie, les options de projet de soins et les risques et bénéfices de ces options.

Les patients doivent aussi être informés des différentes options légales permettant de soulager la souffrance et d’accompagner la fin de vie, en particulier des soins palliatifs. Comme toutes mesures de soins, les mesures prolongeant la vie et prescrites dans le cadre d’une démence (p.ex. des antibiotiques), ne doivent être entamées que si elles sont alignées avec la volonté autonome de la personne. Afin de respecter au mieux cette autonomie selon l’échelle de valeurs de l’individu, il est primordial de pouvoir engager ces discussions dans la phase précoce de la maladie (« autonomie relationnelle »). Il est recommandé que le patient exprime ses souhaits, valeurs et objectifs de soins en amont avec ses proches, ses médecins et ses soignants, idéalement dans le cadre d’un Projet de Soins Anticipé (ProSA), accompagné par un professionnel qualifié qui anime et documente ces entretiens (9, 10). Dans ce processus, le patient a aussi l’occasion de nommer une personne de confiance comme représentant thérapeutique et de rédiger des directives anticipées. Ces dernières permettent de se déterminer sur les situations dans lesquelles, en cas d’incapacité de discernement, la personne souhaiterait renoncer aux mesures de soins. On ne peut pas diriger son futur soi incapable de discernement à se suicider (comme montré dans le film « Still Alice »), et si on pouvait le faire ceci serait un suicide non volontaire qui devrait être empêché plutôt qu‘assisté.

Le ProSA permet également d’explorer d’autres options possibles, comme celles relatives à l’alimentation et à l’hydratation. Tant qu’une personne garde sa capacité de discernement, un arrêt volontaire de manger et de boire est une décision de fin de vie légitime qui permet de raccourcir sa vie (11). Cependant, il est éthiquement controversé qu’une personne puisse exiger en amont de ne plus recevoir de boissons et de nourriture en cas de démence avancée, surtout si elle montre des signes qu’elle souhaite boire et manger – une offre d’entraide humaine soutenue par le principe bioéthique de bienfaisance (12, 13). La prise hydrique et alimentaire orale n’est pas un traitement médical mais un geste d‘assistance interpersonnelle, tout comme la protection contre le froid. Leur arrêt ne peut pas être prescrit en amont car ceci équivaudrait à un suicide assisté non volontaire (en l‘absence d‘autodétermination), ce qui n’est ni légal ni éthiquement bien-fondé (13, 14).
La démence présumée de Gunter Sachs n’a pas été diagnostiquée et il était connu pour avoir des épisodes dépressifs. Il aurait été mérité d’être accompagné par une équipe médico-soignante et soutenue par une culture de communication ouverte dans une société qui s’engage à respecter les décisions de fin de vie de toutes les personnes, quelles qu’elles soient.

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Dre Rachel Rutz Voumard

Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

Dre Eve Rubli Truchard

 Chaire de soins palliatifs gériatriques
Service de gériatrie et de réadaptation gériatrique
Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV)
Avenue Pierre-Decker 9
1011 Lausanne

Pr Ralf Jox

– Unité d’éthique clinique, Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL
– Chaire de soins palliatifs gériatriques, Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL,

Les auteurs n’ont pas déclaré de conflit d’intérêts en rapport avec cet article.

  • Les personnes atteintes de démence peuvent exprimer une souffrance existentielle, une perte de sens ou une crainte face au risque de déclin cognitif, pouvant motiver un désir de mort précoce à l’annonce du diagnostic.
  • Il est primordial d’écouter leurs préoccupations, les informer de la trajectoire de la maladie, discuter des options de soins et anticiper le projet de soins.
  • Consciente des alternatives possibles, une personne atteinte de démence est plus à même de prendre des décisions existentielles concernant sa vie et sa mort.

1. Der Abschiedsbrief von Gunter Sachs. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.5.2011, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/wortlaut-der-abschiedsbrief-von-gunter-sachs-1637779.html (accédé le 19.8.2024)
2. Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie (FGPG), Grundsatzpapier „Sterbewünsche in der palliativen Geriatrie“. FGPG Berlin 2023, https://www.fgpg.eu/wp-content/uploads/2023/05/GSP-05_Sterbewuensche-Druck.pdf (accédé le 19.8.2024)
3. van Rickstal R, De Vleminck A, Chambaere K, Van den Block L. People with young-onset dementia and their family caregivers discussing euthanasia: A qualitative analysis of their considerations. Patient Educ Couns 2023; Oct:115:107882. doi: 10.1016/j.pec.2023.107882
4. Schmid J, Jox R, Gauthier S, Belleville S, Racine E, Schüle C, Turecki G, Richard-Devantoy S. Suicide and assisted dying in dementia: what we know and what we need to know. A narrative literature review. Int Psychogeriatr 2017;29(8):1247-59.
5. Appelbaum PS. Assessment of Patients’ Competence to Consent to Medical Treatment. New Engl J Med 2007 ;357:1834-40.
6. Mangino DR, Nicolini ME, De Vries RG, Kim SYH. Euthanasia and Assisted Suicide of Persons With Dementia in the Netherlands. Am J Geriatr Psychiatry 2020;28(4):466-77.
7. Académie Suisse des Sciences Médicales. Directives médico-éthiques: Attitude fae à la fin de vie et à la mort. Version de 2018, révisée en 2021. Bâle 2022. https://www.samw.ch/fr/Publications/Directives.html (accédé le 19.8.2024)
8. Académie Suisse des Sciences Médicales. Directives médico-éthiques: Prise en charge et traitements des personnes atteintes de démences, ASSM, Bâle 2018.
9. Bosisio F, Sterie AC, Rubli Truchard E, Jox RJ. Implementing advace care planning in early dementia care: results and insights from a pilot interventional trial. BMC Geriatr 2021;21:573.
10. Bosisio F, Jox RJ, Jones L, Rubli Truchard E. Planning ahead with dementia: what roles can advance care planning play? A review on opportunities and challenges. Swiss Med Wkly 2018:148w14706.
11. Jox RJ, Black I, Borasio GD, Anneser J. Voluntary stopping of eating and drinking: is medical support ethically justified? BMC Med 2017;15(1):186.
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