RETO KRAPFs Medical Voice

Frisch ab Presse:

U-förmige Beziehung zwischen kardiovaskulären Ereignissen und der HDL-Konzentration

Seit den 70er Jahren (v.a. nach der berühmten Framingham-Studie) wird im Allgemeinen angenommen, dass zwischen der Wahrscheinlichkeit eines kardiovaskulären Ereignisses und der HDL-Konzentration eine inverse Beziehung besteht. Allerdings waren Interventionen zur Anhebung des HDL (Niacin, Fibrate u.a.) wie auch der Alkoholkonsum (siehe unten!) der einen Subtyp des HDL erhöht von keiner signifikanten Wirkung auf die Ereignisrate. Eine systematische Analyse der publizierten Studien bestätigt, dass tiefe HDL-Werte mit einer erhöhten kardiovaskulär bedingten Mortalität assoziiert sind, dass aber auch hohe Werte (>80 mg/dl bei Männern und >100 mg/dl bei Frauen) kontraintuitiv mit einer erhöhten Mortalität assoziiert sind. Es gibt eine Reihe von Hypothesen für den negativen Effekt sehr hoher HDL-Werte aber noch keine definitive Erklärung. Müssen nun die vielen Risikokalkulatoren für kardiovaskuläre Ereignisse und Mortalität revidiert werden?
JCEM 2024, doi.org/10.1210/clinem/dgad406, verfasst am 27.01.2024

Erhöht Testosteron-Substitution die Frakturrate?

Diese vielleicht unerwartete Frage erhebt sich angesichts einer neuen Studie, welche in einer Population von mehr als 5000, durchschnittlich 64-jährigen Männern mit Testosteronwerten unter 10 nmol/L (aber nicht weiter abgeklärten Ursachen) den Effekt einer transdermalen Testosteronsubstitution auf die Frakturrate evaluierte. Die Männer waren adipös (durchschnittlicher BMI bei 35), und fast ¾ waren Diabetiker. Nach einer Nachbeobachtung von mehr als 3 Jahren betrug die Frakturrate unter Testosteron 3,5%, unter Plazebo 2,5%. Die Gründe für diese kontra-intuitive Beobachtung sind unklar, könnten aber auch banal sein: Testosteron verbessert die körperliche Aktivität und Belastbarkeit, somit die Unternehmungslust, was zu erhöhter Frakturgefährdung führen könnte, wenn auch in dieser Studie keine erhöhte Sturzinzidenz gefunden wurde. Eine Geschichte wohl mit Fortsetzung also.
NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMoa2308836, verfasst am 26.01.2024

Welches ist die Ursache der blutigen Tränen (Hämolakrie)?

Blutige Tränen zu weinen, gilt in religiösem Zusammenhang als Wunder. Sie werden aber auch Graf Dracula zur illustrativen Steigerung seiner Blutrünstigkeit zugeschrieben. Ein 52-jähriger Patient kommt wegen unstillbarer Epistaxis und Nasenschmerzen auf die Notfallstation, wo ihm eine vordere Tamponade angelegt wird. Später entwickelte er während einer Stunde blutige Tränen im rechten Auge, die aus dem oberen und unteren Tränenwinkel kamen. Die CT des Kopfes und der Orbitae schloss Frakturen aus.
Die wahrscheinlichste Ursache ist:
A. Ein viraler Infekt der oberen Luftwege und der Tränendrüsen
B. Ein Sjögren Syndrom
C. Eine traumatische Schädigung der Tränendrüsen
D. Eine durch die Tamponade ausgelöste venöse Stase
Antwort: Bakterielle und virale Infekte und auch Autoimmunkrankheiten können bei Einbezug der Tränendrüsen zur Hämolakrie führen. In der Tat war der Mann aber ein paar Stunden zuvor auf der Strasse in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Die augenärztliche Untersuchung zeigte indes keine traumatischen Läsionen. Die Hämolakrie lässt sich hier durch einen retrograden Fluss venösen Blutes bei (wahrscheinlich sehr satt liegender) Nasentamponade erklären. Nach Revision derselben und Applikation topischen Adrenalins sistierte die Hämolakrie. Richtig ist also Ursache D dieser seltenen Komplikation. Falls Sie die Ursache C angekreuzt haben, bekommen Sie mindestens einen halben Punkt, denn das Trauma war ja das «primum movens», sozusagen.
NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMicm2307811, verfasst am 28.01.2024

Stringentere Anforderungen an «statisch signifikante» Resultate sind nötig!

Im Sinne einer Selbstdeklaration möchten wir jenes Niveau von statistischer Stringenz angeben, von dem wir uns – neben anderen Kriterien – bei der Auswahl der für Sie vorgestellten Studien leiten lassen. Wir wurden von der Anwendung dieser Regeln nur selten enttäuscht, weder dass etwas unsere Praxis veränderndes verpasst noch eine Innovation zu optimistisch eingeschätzt worden wäre. Wir beschränken uns hier auf die zwei für die praktische Medizin wichtigsten Studientypen, nämlich einerseits auf kontrollierte Studien, bei denen ein P-Wert von < 0.05 als statistisch signifikant akzeptiert wird. Andererseits auf epidemiologische Studien, die – typischerweise nach vielen Korrekturen – eine Assoziation, z.B. zwischen einer Krankheit und einem exogenen oder endogenen Faktor im Sinne einer Risikoveränderung angeben, diese Krankheit zu erleiden oder zu vermeiden.

Wir folgen der Forderung einer grossen Gruppe von Biostatistikerinnen und Biostatistikern, die für klinische Studien ein zehnfach stringenteres P, d.h. ein solches von < 0.005, verlangen. Bei Anwendung eines P von nur <0.05 droht anscheinend in der Hälfte bis zu 2/3 der Fälle, dass die Studien nicht reproduziert werden können oder durch gegenteilige Evidenz in Frage gestellt werden (1).

Bei epidemiologischen Studien hätten wir sehr gerne Resultate, die eine Risikoverminderung auf einen Viertel (0.25 und kleiner) oder eine Risikoerhöhung um einen Faktor 4 zeigen (2, 3). Bei geringeren Risikoveränderungen kann anscheinend später nur in einer von 4 Studien auch eine gewisse Kausalität gefunden werden.

Wenn wir einmal Studien vorstellen, die diesen strengen Kriterien nicht entsprechen, handelt es sich um begründete Fragezeichen, ob z.B. eine «negative» Studie aus einer Reihe von Gründen nicht doch klinisch relevant sein oder es werden könnte.

Wir geben zu: Die angewandten Kriterien sind rigoros und vereinfachend! Sie sind aber doch zumindest in guten Teilen geeignet, unsere kostbare Lektürezeit für Publikationen mit hoher Wahrscheinlichkeit eines langfristigen Überlebens ihrer Schlussfolgerungen zu priorisieren.
1. JAMA 2018, doi:10.1001/jama.2018.1536, 2. Science 1995, DOI: 10.1126/science.7618077 3. Science Advances 2022, DOI: 10.1126/sciadv.abn3328, verfasst am 16.01.2024

Grenzgebiete der Medizin

Der gesunde Menschenverstand

In medizinisch-fachlichen Diskussionen, aber auch im Rahmen von Instruktionen an die Patientinnen und Patienten appellieren wir nicht selten an den gesunden Menschenverstand. Wenn wir das tun, geben wir vor zu wissen, was das, der gesunde Menschenverstand, ist und stellen den Anspruch, ihn selber auch zu haben. Gibt es ihn aber wirklich und kann man ihn nachweisen, wenn nicht gar messen? Wahrscheinlich schon. Aber was in der Bevölkerung darunter verstanden wird, ist erstaunlich heterogen und nicht abhängig von Alter und Geschlecht. Mehr als 2000 Individuen beurteilten 50 zufällig ausgesuchte Aussagen des gesunden Menschenverstandes. Dabei handelte es sich um Aussagen wie «Jeder Effekt hat eine Ursache» oder «Das Ganze ist grösser als seine Teile». Interessant, aber intuitiv zu vermuten, erfreuten sich Aussagen über gesunden Menschenverstand bei technologischen und naturwissenschaftlichen Themen der grössten Übereinstimmung, während diese bei psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Themen am geringsten ausfiel. Bei Gebrauch des Ausdruckes «gesunder Menschenverstand» ist also Vorsicht walten zu lassen, da das Gegenüber mit einer ansehnlichen Wahrscheinlichkeit dies nicht so sieht wie Sie oder es anders interpretiert.
PNAS 2024, doi.org/10.1073/pnas.230953512, verfasst am 28.01.2024

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

Normaldruckhydrozephalus – Ein Fallbericht

Der Normaldruckhydrozephalus (NPH) ist eine wichtige Diagnose, da er zu den behandelbaren Demenzen und Gangstörungen gehört. Die klassische Trias muss nicht immer vollständig erfüllt sein. Die Diagnostik erfolgt mit einer Bildgebung, wo sich erweiterte innere Liquorräume zeigen, die über das Ausmass einer generalisierten Atrophie hinausgehen. Mit einem Liquorablass von mind. 30-50ml mit standardisierter Testung von Gangbild und kognitiven Funktionen kann die Diagnose erhärtet und der Therapieeffekt abgeschätzt werden.

Normal pressure hydrocephalus (NPH) is an important diagnosis because it is one of the treatable dementias and gait disorders. The classic triad does not always have to be completely fulfilled. The diagnosis is made with imaging, which shows enlarged internal CSF spaces that go beyond the extent of generalised atrophy. With a CSF drain of at least 30-50 ml with standardised testing of gait and cognitive functions, the diagnosis can be confirmed and the therapeutic effect assessed.
Key Words: Normal pressure hydrocephalus (NPH), treatable dementias, gait disorders, CSF spaces, CSF drain

Fallbericht

Eine 77-jährige Patientin war lange aufgrund von Rücken- und Beinschmerzen bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule bei Schmerzmedizinern und Rheumatologen in konservativer Behandlung. Im weiteren Verlauf entwickelte die Patientin eine Gangataxie, die primär auf die Wirbelsäulenveränderungen mit Affektion neuraler Strukturen zurückgeführt wurde. Einige Monate später traten jedoch auch kognitive Störungen mit Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses hinzu. Anamnestisch wurde auch eine intermittierende Urininkontinenz berichtet, was somit das klassische Bild einer Hakim-Trias vervollständigte. Sodann erfolgte die Vorstellung bei einem neurologischen Kollegen, welcher die bildgebende Diagnostik veranlasste. Das MRI zeigte eine typische Erweiterung aller vier Ventrikel und zusätzliche Zeichen einer beginnenden Liquordiapedese der Vorderhörner in der FLAIR- und T2-Sequenz. Nach zweimaliger Liquor-Punktion und Liquorablassversuch von ca. 35-40 ml Liquor zeigte die Patientin jedoch keine klare Besserung der Symptomatik und es wurden Zweifel an der Diagnose des NPH erhoben. Sieben Monate später wurde die Patientin aufgrund zunehmender Vigilanz-Schwankungen und Zunahme der Gangataxie erneut zugewiesen. Die cerebrale Bildgebung zeigte eine Zunahme der inneren Liquorräume. In der Folge wurde die Indikation zur Einlage einer lumbalen Drainage im Rahmen einer stationären Abklärung gestellt. Ein Tag nach Implantation der lumbalen Drainage (mit einem Fluss von 5-10 ml/Stunde) zeigte die Patientin eine signifikante Besserung des Gangbildes und der Kognition. Nach Entfernung der kontinuierlichen Lumbaldrainge kam es wieder zu einer Verschlechterung der Symptomatik. Damit wurde die Indikation für die VP-Shunt-Einlage gestellt. Der peri- und postoperative Verlauf gestaltete sich komplikationslos und die Patientin konnte im Verlauf bei deutlicher Besserung der Symptomatik, mit selbständigem und sicherem Gang, entlassen werden.

Bei der ersten postoperativen Kontrolle nach 6 Wochen gab die Patientin zwar eine Besserung der Hakim-Trias an, beklagte jedoch starke positionsabhängige Kopfschmerzen. Das Schädel-CT zeigte typische radiologische Zeichen einer Überdrainage mit sehr schmalen Seitenventrikeln und subduralen Hygromen. Nach Umstellungen des Shunt-Ventil-Druckes auf höhere Drücke verschlechterte sich die Gangataxie weiter und es konnte keine Besserung der positionsabhängigen Überdrainage erreicht werden. Somit wurde die Indikation zur Implantation eines positionsabhängigen Antisiphon-Gravitationsventils gestellt und in Lokalanästhesie infraklavikulär im distalen Shunt-Schlauch zwischengeschaltet. Die Patientin zeigte bereits nach 2-3 Tagen eine komplette Regredienz der Kopfschmerzsymptomatik bei gleichzeitiger Normalisierung des Gangbildes. Nach 6 Wochen hatte die inzwischen klinisch unauffällige Patientin auch im Schädel-CT eine komplette Resorption der subduralen Hygrome sowie eine Normalisierung der inneren Liquorräume. Ein Jahr postoperativ zeigte die Patientin weiterhin einen sehr erfreulichen Verlauf mit völliger Selbstständigkeit im Alltag, wobei weiterhin leichte kognitive Einschränkungen vorhanden waren.

Klinische Präsentation & Differentialdiagnostik

Die klassische Hakim-Trias beinhaltet eine Gangstörung, eine dementielle Entwicklung sowie eine Blasenfunktionsstörung (1, 2). Die Symptome können auch sequentiell auftreten, wie in dem beschriebenen Fall, oder müssen nicht zwingend vollständig vorliegen.

Gangstörung

Die Gangstörung ist sicherlich führend, wobei sich meist eine Verlangsamung zeigt, mit breitbasigem, kleinschrittigem Gangbild. Das Gangbild ähnelt dem «lower body parkinsonism», wie wir es von den vaskulären Parkinsonformen kennen (3). Die Differentialdiagnose zu einem Parkinson-Syndrom ist somit naheliegend, wobei die NPH-Patienten meist eine gesteigerte Mitbewegung der Arme zeigen (4). Generell ist eine Beteiligung des Oberkörpers für einen NPH äusserst untypisch. Wenn sich ein deutlicher Rigor an den Armen oder sogar ein Ruhetremor zeigt, muss eher an ein Parkinson-Syndrom gedacht und probatorisch mit L-Dopa behandelt werden. In der späteren Phase können auch Instabilität und Stürze auftreten, mit einer Retropulsionstendenz, wobei wiederum eine Progressive supranukleäre Blickparese (PSP) davon abzugrenzen ist (5).

Dementielle Entwicklung

Praktisch alle Patienten weisen auch kognitive Defizite auf, wobei sicherlich auch hier die Verlangsamung als Zeichen einer subkortikalen Demenz im Vordergrund steht. Daneben können sich auch frontale Zeichen finden, bis hin zur Disinhibition. Nichtsdestotrotz können die kognitiven Störungen sehr heterogen sein und machen es deswegen nicht selten schwierig, die richtigen Tests sowohl für den Liquorablass, als auch für den postoperativen Verlauf (Outcome) zu wählen. Folgende Hauptbereiche sind meist beteiligt: globale Funktion, exekutive Funktionen, Kurzzeitgedächtnis und Lernen, psychomotorische Geschwindigkeit und räumliche Wahrnehmung (6). Es ist naheliegend, dass sich entsprechend nicht der Minimentalstatus (MMSE), sondern eher der MoCA-Test anbietet, nicht zuletzt, weil Letzterer auch in unterschiedlichen Varianten vorliegt, sodass kurzfristige Lerneffekte vermieden werden können (1).

Blasenfunktionsstörung

Die Urininkontinenz wird bei weniger als 50% der Patienten beobachtet, vor allem im späteren Verlauf. Als frühes Zeichen findet sich eine autonome Blasenentleerungsstörung mit Detrusorüberaktivität, d.h. Drang-, respektive Urgesymptomatik (7).

Pathophysiologie

Zugrunde liegt wahrscheinlich eine Liquorresorptionsstörung, welche idiopathisch, aber auch symptomatisch – z.B. nach Trauma, SAB oder Meningitis – auftreten kann. Nicht selten verstreichen hierbei mehrere Jahre zwischen dem auslösenden Agens und der klinischen Entwicklung. Leichte oder transiente Druckerhöhungen, resp. das Auftreten von Scherkräften führen allmählich zur Ausweitung der Liquorräume und zur Liquordiapedese durch die Ventrikelwände. Mit der Ausweitung kann sich der Druck wieder normalisieren. Eine schwedische Studie fand erhöhte Neurofilament-Leichtketten und niedrigere Amyloid-Vorläufer- und Tau-Proteine (8). Die Autoren interpretieren ihre Daten als Hinweis für einen reduzierten periventrikulären Metabolismus, keine wesentliche kortikale Degeneration, jedoch periventrikuläre axonale Degeneration. Die Liquorbiomarker unterschieden sich charakteristisch von älteren gesunden Kontrollen und Patienten mit Alzheimer-Demenz.

Diagnostik

Im Vordergrund der Diagnostik steht natürlich wie immer die passende Anamnese und die klinische Untersuchung. Als entscheidende Zusatzdiagnostik folgt dann eine zerebrale Bildgebung und bei entsprechendem Verdacht auf einen NPH ein Liquorablassversuch (Tab. 1).

Bildgebung

Neben den klinischen Kriterien müssen auch die radiologischen Befunde zur Vervollständigung der Diagnostik des NPH hinzugezogen werden. Obwohl in einem CT die Erweiterung der Ventrikel und eine Hirnatrophie gut darstellbar sind, wird empfohlen, für die Diagnostik des NPH möglichst immer ein MRI des Schädels zu veranlassen, um insbesondere sonstige Parenchymläsionen und die Liquorkommunikation im Ventrikelsystem besser dazustellen. Eindeutige radiologische Unterscheidungskriterien zwischen einem idiopathischen und sekundären NPH gibt es nicht. Da jedoch die Patienten mit einem idiopathischen NPH in der Regel älter sind, zeigen sich dort häufiger Zeichen einer Hirnatrophie.

Typischerweise ist beim NPH eine überproportionale Erweiterung der Seitenventrikel mit Ballonierung der Frontalhörner, Temoralhörner und des dritten Ventrikels zu beobachten (Abb. 1-3). Als quantitative Kriterien haben sich einerseits ein erhöhter Evans-Index >0.3 (Verhältnis zwischen maximaler Weite der Vorderhörner und dem maximalen inneren Schädeldurchmesser auf einem axialen Schnittbild, vgl. Abb. 1) sowie der Corpus-callosum-Winkel etabliert (1, 9, 10). Zur genauen Berechnung des Corpus-Callosum-Winkels bedarf es einer 3-D-Rekonstruktion, was aufgrund der Praktikabilität im Alltag eher sekundär ist und idealerweise von radiologischen Kollegen bei der Fragestellung berechnet wird. Dabei wird auf einer koronaren Schicht auf die Commissura posterior zentriert und exakt zur AC-PC Orthogonal-Linie und Fissura longitudinalis cerebri ausgerichtet. Auf dieser Schichtebene wird dann der Winkel zwischen der medialen Wand des Seitenventrikels gemessen (Normalwerte 100-120°, NPH 50-80°, Cut Off 90°). Das Sulcus cinguli-Zeichen ist eine neuere MR-Beschreibung, wobei sich der posteriore Anteil enger als der anteriore darstellt (11).

Liquorablass (Miller Fisher-Test)

Der Liquorablass kann in der Regel unproblematisch in der neurologischen Praxis durchgeführt werden. Wichtig ist hierbei, dass neben allfälliger Liquordiagnostik (Ausschluss Meningitis, Blutungsresiduen, pathologische Tumorzellen des ZNS, ggf. Demenzdiagnostik) und der Druckmessung, v.a. ausreichend Liquor (mind. 30-50ml) abgelassen und genügend lange bis zur Reevaluation gewartet wird. Effekte vor einer Stunde sind nicht zu erwartet, wenn sich noch keine Veränderungen zeigen, sollte zwischen 24 und 48 Stunden nochmals nachuntersucht werden.

Als relativ kurzdauernde, pragmatische Verlaufsparameter bietet sich ein vorgegebener Gehtest mit maximaler Geschwindigkeit an. In einer kürzlichen Studie erwies sich der TUG (Timed Up & Go) als bester Test für Geschwindigkeit, Gleichgewicht und Ausdauer (12). Aber auch Flurlängenmessungen auf Zeit, mit Dokumentation der Schrittzahl, bieten sich an. Im Weiteren soll auch die kognitive Veränderung vor und nach dem Ablass dokumentiert werden (z.B. MoCA-Test oder als pragmatische Lösung auch Frauen-, resp. Männernamen in einer Minute aufzählen).
Letztlich sollte zwingend der Patient, resp. die Angehörigen über den subjektiven Eindruck gefragt werden, insbesondere was die Blasenstörung angeht.

Der Liquorablass kann bereits länger anhaltende therapeutische Wirkung haben.

Lumbale Liquordrainage zur Diagnostik

Bei Situationen, wo die einmalige Lumbalpunktion mit Liquorablass keine eindeutige Diagnostik zulässt, stellt die Einlage einer lumbalen Drainage in einem stationären Setting eine zusätzliche diagnostische Möglichkeit dar (13). Das Gangbild zeigt manchmal erst nach 24 Stunden eine eindeutige Besserung. Insbesondere die Beurteilung der kognitiven Leistung ist nach 2-3 tägiger Liquordrainge gegenüber einer einmaligen Liquorpunktion überlegen (14). Ein weiterer Vorteil ist, dass der postpunktielle Kopfschmerz nach Ablassen von einer relativ grossen Liquormenge von 30-40 ml in relativ kurzer Zeit bei der Einmal-Punktion im Vergleich zur langsamen kontinuierlichen Drainage seltener ist. Die Einlage der lumbalen Drainage erfolgt im Rahmen eines stationären Aufenthalts. Hierbei wird unter sterilen Bedingungen ein lumbaler Spinalkatheter ca. 15 cm intrathekal eingelegt und an ein externes Ableitungssystem mit einem Auffangrohr zur Messung der Liquormenge angeschlossen. Die Menge der Liquordrainage wird über die Höhe des Auffangrohres im Verhältnis zum Gehörgang eingestellt und wird 2-stündlich dokumentiert, um eine Überdrainage zu vermeiden (max. 5-10 ml/h). Somit wird ca. 120-240 ml/24 h drainiert. Bei Mobilisation des Patienten für den Toilettengang, Essen oder Gangprüfung kann die Drainage abgeklemmt werden. Somit sind die Patienten nicht an eine strikte Bettruhe gebunden. Eine Thromboseprophylaxe erfolgt in der Regel mit niedermolekularem Heparin (z.B. 1x täglich Fragmin 5000 I.E.).

Gangprüfung und kognitive Testung werden nach jeweils 24 und 48 Stunden gemäss standardisiertem Protokoll durchgeführt. Danach wird die lumbale Drainage entfernt und nach 4-stündiger Bettruhe können die Patienten nach Hause. Weitere diagnostische Tests, wie der Infusionstest, die kontinuierliche Liquordruckmessung und hämodynamische Tests, haben sich aufgrund der Praktikabilität und fehlendem Vorteil der Vorhersage hinsichtlich des Erfolges einer Shunt-Operation bis heute nicht durchgesetzt.

Operative Therapie & Prognose

Während Mumenthaler und Mattle vor 25 Jahren noch darauf hinwiesen, dass die Diagnose eher zu häufig gestellt wurde und entsprechend zu viele Patienten einen Shunt erhielten, spricht die aktuelle Leitlinie der DGN eine deutlich andere Sprache (15, 1). Die ventrikuloperitoneale Drainage (VP-Shunt) stellt heute den Goldstandard zur operativen Behandlung des idiopathischen NPH dar. Es gibt allerdings für besondere klinische Konstellationen folgende alternative OP-Techniken: die endoskopische Dritt-Ventrikulostomie, der ventrikulo-atriale Shunt (Herzvorhof) oder sehr selten auch ein lumboperitonealer Shunt. Der lumboperitonale Shunt wird aufgrund von signifikant höheren Komplikationsraten (ca. 30% LP versus ca. 10% bei VP) nur in Ausnahmefällen eingesetzt (16). Zur Vermeidung von Implantat-assoziierten Komplikationen wurde die «implantatlose» endoskopische Ventrikulostomie des dritten Ventrikels (ETV) bei der Behandlung des idiopathischen NPH untersucht (17, 18). Bei dieser Methode wird über einen endoskopischen Zugang eine Verbindung zwischen dem dritten Ventrikel und der präpontinen Zisterne zur internen Umleitung des Liquorflusses hergestellt. Die ETV führte bei ca. 2/3 der Patienten zu einer initialen klinischen Besserung. Klinische Studien zeigen jedoch eine signifikante Überlegenheit der VP-Shunt-Gruppe, sodass die ETV bei idiopathischem NPH nicht primär indiziert ist (19, 20). Bei Patienten mit vielen intraperitonealen Voroperationen, Infekten des Peritonealraumes oder Dauerimplantation einer abdominellen Ableitung (z.B. PEG-Sonde, Zystofix, Anus-Präter) wird eine VP-Shunt-Einlage nicht empfohlen. Hier kann alternativ eine ETV versucht werden. Falls sich die Symptomatik nicht verbessert, besteht die Option einer ventrikulo-atrialen (VA) Drainage bei gesunder Herzfunktion.

Etwa 10-15% der Patienten zeigen eine positionsabhängige Überdrainage nach der VP-Shunt-Einlage. In einigen Kliniken wird bei jeder NPH-OP ein Gravitationsventil (Anti-Siphon-Device) implantiert. Da jedoch auch ein grosser Teil der Patienten ohne dieses Zusatzventil gute Resultate zeigt, wird eine sekundäre Implantation eines solchen Ventils erst bei klinischer Manifestation einer positionsabhängigen Überdrainage bevorzugt.

Prognose und Komplikationen

Das Resultat der postoperativen Verbesserung der Symptomatik hängt entscheidend von der Patientenselektion und präoperativ korrekten Abklärung ab. Weiterhin ist die postoperative, interdisziplinäre Betreuung der Shunt-Patienten essentiell. Dadurch kann gewährleistet werden, dass die für den Patienten individuell angepasste Ventil-Druck-Einstellung gefunden wird. Hinreichende Erfahrung im Umgang mit Komplikationen und korrekte Diagnostik der potentiellen Shunt-Dysfunktionen sind ergänzend wichtig. Die Erfolgsraten der Shunt-Operationen variieren in der neusten Literatur zwischen 75-90% (16, 21). Während die perioperative Mortalitätsrate mit nahezu 0% angegeben ist, beträgt das Risiko einer Nebenwirkung oder Komplikation ca. 11% und das Risiko für bleibende neurologische Defizite bei ca. 6% (16). Pujari et al. 2008 zeigten bei einem Follow-up bis 7 Jahre eine Verbesserung des Gangbildes, der Kognition und der Inkontinenz bei jeweils 87%, 84% und 80% der Patienten (22). Bei knapp einem Viertel der Patienten sind im Langzeit-Verlauf Revisionsoperationen notwendig (16, 21, 23, 24).

Historisches

Salomón Hakim Dow (1922-2011) war ein kolumbianischer Neurochirurg mit libanesischen Wurzeln (25). Nach seinem PhD in Harvard beschrieb er zusammen mit dem Neurologen und Neuropathologen Raymond Delacy Adams (1911-2008) seine Beobachtungen. Als er einen 16-jährigen Jungen mit schwerem Schädelhirntrauma nach Verkehrsunfall nach einem Monat wiedersah, vermutete er einen Hydrozephalus als Ursache der persistierenden Somnolenz. Der Liquordruck war jedoch bei 15cm CSF. Trotzdem liess er 15ml CSF ab, worauf der Patient aufklarte. Im Pneumoencephalogramm stellte er einen inneren Hydrozephalus fest. Weil sich der Zustand des Jungen am kommenden Tag wieder verschlechterte, entschloss er sich im Verlauf, einen Ventrikelshunt einzulegen. Der Junge verbesserte sich fortan so gut, dass er nach vier weiteren Monaten wieder in die Regelschule zurückkehren konnte.

Mit zwei weiteren Fällen beschrieben die beiden erstmalig die Trias aus «mental dullness, inattentiveness, psychomotor retardation, unsteadiness of gait, and incontinence of urine», also mentale Trägheit, Gangataxie und Urininkontinenz (2). Im selben Jahr folgte dann auch die Beschreibung des atraumatischen, resp. idiopathischen Normaldruckhydrozephalus bei drei über 60-jährigen Patienten (26).

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Ali Reza Fathi

Neurochirurgie Fathi AG
Schachen 22
5000 Aarau

Prof. Dr. med. Andreas R. Gantenbein

Facharzt Neurologie
Neurologie am Untertor
Erachfeldstrasse 2
8180 Bülach
www.neurologie-untertor.ch

andreas.gantenbein@zurzachcare.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Paulus W et al. S1-Leitlinie Normaldruckhydrozephalus 2018. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 22.05.2022).
2. Hakim S et al. The special clinical problem of symptomatic hydrocephalus with normal cerebrospinal fluid pressure. Observations on cerebrospinal fluid hydrodynamics. J Neurol Sci 1965; 2(4):307-27.
3. Oertel JMK et al. There is more to NPH than lower body Parkinsonism. Acta Neurochir (Wien) 2021;163(10):2673-4.
4. Schniepp R et al. Walking assessment after lumbar puncture in normal-pressure hydrocephalus: a delayed improvement over 3 days. J Neurosurg 2017; 126(1):148-57.
5. Selge C et al. Subjective body vertical: a promising diagnostic tool in idiopathic normal pressure hydrocephalus? J Neurol 2016; 263(9):1819-27.
6. McGovern RA et al. Predicting Cognitive Improvement in Normal Pressure Hydrocephalus Patients Using Preoperative Neuropsychological Testing and Cerebrospinal Fluid Biomarkers. Neurosurgery 2019; 85(4):E662-9.
7. Sakakibara R et al. Mechanism of bladder dysfunction in idiopathic normal pressure hydrocephalus. Neurourol Urodyn 2008; 27(6):507-10.
8. Jeppsson A et al. Idiopathic normal-pressure hydrocephalus: pathophysiology and diagnosis by CSF biomarkers. Neurology 2013; 80(15):1385-92.
9. Evans WA Jr. An encephalographic ratio for estimating ventricular enlargement and cerebral atrophy. Arch Neurol Psychiatry. 1942;47(6):931-7.
10. Ishii K et al. Clinical impact of the callosal angle in the diagnosis of idiopathic normal pressure hydrocephalus. Eur Radiol 2008;18:2678-83.
11. Adachi M et al. Upper midbrain profile sign and cingulate sulcus sign: MRI findings on sagittal images in idiopathic normal-pressure hydrocephalus, Alzheimer’s disease, and progressive supranuclear palsy. Radiat Med. 2006; 24(8):568-72.
12. Davis A et al. Standardized regression-based clinical change score cutoffs for normal pressure hydrocephalus. BMC Neurol. 2020; 20(1):140.
13. Williams MA et al. Diagnosis and Treatment of Idiopathic Normal Pressure Hydrocephalus. Continuum. 2016;22:579-99.
14. Chaudhry P et al. Characteristics and reversibility of dementia in Normal Pressure Hydrocephalus. Behav Neurol. 2007;18:149-58.
15. Mumenthaler M et al. Hydrozepahlus malresorptivus. In: Neurologie, 10. Auflage, Thieme 1997, S. 151-2.
16. Halperin JJ et al. Practice guideline: Idiopathic normal pressure hydrocephalus: Response to shunting and predictors of response: Report of the Guideline Development, Dissemination, and Implementation Subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology 2015; 85:2063-71.
17. Gangemi M et al. Endoscopic thirdventriculostomy in idiopathic normal pressure hydrocephalus: an Italian multicenter study. Neurosurgery. 2008;63:62-7.
18. Hailong F et al. Endoscopic third ventriculostomy in the management of communicating hydrocephalus: a preliminary study. J Neurosurg. 2008;109:923-30.
19. Pinto FC et al. Role of endoscopic third ventriculostomy and ventriculoperitoneal shunt in idiopathic normal pressure hydrocephalus: preliminary results of a randomized clinical trial. Neurosurgery 2013;72:845-53.
20. Tudor KI et al. Endoscopic third ventriculostomy (ETV) for idiopathic normal pressure hydrocephalus (iNPH). Cochrane Database Syst Rev. 2015:CD010033.
21. McGirt MJ et al. Diagnosis, treatment, and analysis of long-term outcomes in idiopathic normal-pressure hydrocephalus. Neurosurgery. 2008;62 Suppl 2:670-7.
22. Pujari S et al. Normal pressure hydrocephalus: long-term outcome after shunt surgery. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2008 Nov;79(11):1282-6.
23. Mori K. Management of idiopathic normal-pressure hydrocephalus: a multiinstitutional study conducted in Japan. J Neurosurg. 2001;95:970-3.
24. Zemack G et al. Seven years of clinical experience with the programmable Codman Hakim valve: a retrospective study of 583 patients. Journal of neurosurgery. 2000;92:941-8.
25. https://www.hydroassoc.org/dr-salomon-hakim-a-giant-in-the-field-of-hydrocephalus (abgerufen am 22.05.2022)
26. Adams RD et al. Symptomatic occult Hydrocephalus with “normal” cerebrospinal-fluid pressure. A treatable syndrome. N Engl J Med 1965; 273:117-26.

Werden FXI Hemmer die neue Generation von Antikoagulantien?

Thrombosen und Blutungen unter Antikoagulantientherapie bleiben ein bedeutendes klinisches Problem mit lebensbedrohlichen Konsequenzen. Trotz bedeutender Fortschritte mit den direkten oralen Antikoagulantien persistieren relevante Blutungs- und Thrombose-Risiken. Besonders bei Patienten mit Begleiterkrankungen wie Tumore, Niereninsuffizienz und Leber-Zirrhose, sowie bei Patienten mit mechanischen Devices (Klappen, künstliches Herz, ECC), resp. Blutkontakt mit künstlichen Oberflächen – bekannt als «künstliche Kontaktflächen-assoziierten Thrombosen». Die FXI-Hemmung ist hier ein vielversprechender, neuer Ansatz mit alternativen Wirkmechanismen und Verabreichungsoptionen, was Flexibilität für die klinische Applikation bietet. Aktuellste Resultate aus Phase-II-Studien zeigen eine vielversprechende Tendenz zur Reduzierung des Blutungsrisikos bei venösen und arteriellen Thromboembolien. Die Ergebnisse, insbesondere der laufenden Phase-III-Studien, werden wertvolle Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit von FXI-Hemmern in der Thromboseprävention liefern.

Thrombosis and (anticoagulant) bleeding remain significant clinical challenges with potential life-threatening consequences. Despite major progress in anticoagulant development, concerns about residual thrombosis and induced bleeding persist, especially in patients with typical comorbidities such as oncological diseases, renal failure, liver cirrhosis, and those with mechanical devices and blood exposed to artificial surfaces — commonly referred to as “Artificial Contact Surfaces Associated Thrombosis” (ACSAT). FXI inhibitors have been developed as a promising novel approach using different mechanisms of action, routes of administrations, and half-lives, offering flexibility for specific clinical conditions and applications. Recent findings from phase II trials have shown a promising trend of reduced bleeding risks in both venous and arterial thromboembolism. The results of these trials and particularly of the ongoing phase III trials, will yield valuable insights into the efficacy and safety of FXI inhibitors in thromboembolic disease.
Key Words: FXI inhibitors; Anticoagulation; Thrombosis; ACSAT; Bleeding

Rational für die Hemmung von FXI als neues Antikoagulans

Antikoagulanzien werden sehr häufig zur Prävention und Therapie von venösen Thrombosen (VT), Lungenembolien (LE) und arteriellen Thromboembolien, z.B. von Schlaganfällen bei Vorhofflimmern (1, 2), angewendet. In den letzten Jahren wurden wirksame und gut verträgliche orale Antikoagulanzien entwickelt – die «direkten oralen Antikoagulanzien» (DOACs) – welche die FIIa und FXa hemmen. Die DOACs haben herkömmliche Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und in einigen Fällen parenterale Antikoagulanzien wie niedermolekulare Heparine (NMH) weitgehend, wenn auch nicht vollständig, ersetzt.

Dennoch besteht nach wie vor der Bedarf zur weiteren Reduktion des verbleibenden Blutungs- und Thromboserisikos auch unter der Anwendung der DOACs. Patienten, die speziell eine verbesserte Antikoagulationsstrategie benötigen, lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe umfasst Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko, darunter auch solche mit Niereninsuffizienz, Leber-Zirrhose und Blutungen in der Vorgeschichte sowie Krebspatienten und ältere Menschen im Allgemeinen. Die zweite Gruppe umfasst Patienten, bei denen die Wirksamkeit von DOACs getestet wurde und die sich entweder als ungenügend gegenüber VKA erwiesen haben oder für deren Verwendung keine ausreichende Evidenz vorliegt. Hierzu zählen Patienten mit kardiovaskulären Devices und/oder künstlichen Oberflächen, die entsprechend dem Blut ausgesetzt sind, und Patienten mit Antiphospholipid-Syndrom (3-5).

Bei Patienten mit mechanischen Herzklappen erwiesen sich beispielsweise Dabigatran und Rivaroxaban als weniger wirksam als VKA (6). Das Nutzen-Risiko-Verhältnis von oralen Antikoagulantien ist bei Dialysepatienten umstritten (7). Patienten mit linksventrikulären Support Devices oder solche, die einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) unterzogen wurden, waren nicht Bestandteil randomisierter kontrollierter Studien zur Bewertung von DOACs (8).

Entwicklung von FXI-Hemmer

Faktor XI (FXI) ist eine inaktive Form der Blutgerinnungsprotease, die zum Faktor XIa (FXIa) aktiviert wird (9). FXI kann nicht nur durch FXIIa, sondern auch durch FXIa selbst und Thrombin in einer positiven Rückkopplungsschleife aktiviert werden. Diese Rückkoppelung führt zu einer erhöhten Thrombinproduktion und verstärkt die Gerinnungskaskade. Die detaillierte Gerinnungskaskade ist in unserer zentralen Abbildung 1 dargestellt.

Der Kontaktaktivierungsweg (intrinsic pathway) wird ausgelöst, wenn Blut mit künstlichen Oberflächen in Kontakt kommt, was zur Aktivierung von FXII führt. Das FXIIa löst dann die Aktivierung von FXI aus, was wiederum zur Aktivierung von FIX, FX und Prothrombin führt. Obwohl FXII ein natürliches Ziel für die Hemmung des intrinsischen Weges sein könnte, sind die Daten aus FXII-Studien noch widersprüchlich. Studien an Patienten mit FXII-Mangel ergaben keinen Hinweis auf ein geringeres Risiko für thrombotische Ereignisse, und es gibt keinen Zusammenhang zwischen FXII und VTE, ischämischem Schlaganfall oder Myokardinfarkt (MI) (10, 11). Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass niedrige Konzentrationen von FXII die Verringerung der Thrombose durch eine Verminderung der Thrombus-Stabilität unterstützen, was zu einer stärkeren Embolisierung führen könnte. Andererseits ist zu beachten, dass die Thrombingeneration, die aus der Kontaktaktivierung stammt, ausreicht, um die Bildung eines hämostatischen Pfropfens einzuleiten, so dass eine Thrombinverstärkung nicht erforderlich ist. Dies könnte darauf hindeuten, dass FXI bei der normalen Hämostase nicht zwingend benötigt wird. Diese Ergebnisse stimmen mit der Beobachtung relativ leichter Blutungen bei Patienten mit ausgeprägtem FXI-Mangel überein (12). Interessanterweise haben Personen mit genetischem FXI-Mangel niedrigere Raten von VTE, Schlaganfall und möglicherweise auch MI im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (13, 14). Umgekehrt sind erhöhte FXI-Werte mit einem erhöhten Thromboserisiko, einschliesslich VTE und Schlaganfall/TIA, assoziiert (10, 15).

FXI-Hemmer

Aufgrund der verfügbaren Daten hat sich die pharmakologische Reduktion von FXI resp. die Hemmung von FXIa als potenzieller therapeutischer Ansatz mit (hoffentlich) minimalen Blutungen herauskristallisiert. Derzeit werden grundverschiedene Ansätze als mögliche therapeutische Strategien zur Hemmung der Bildung und Aktivität von FXI untersucht, wie in Abbildung 2 dargestellt. Dazu gehören Antisense-Oligonukleotide (ASOs), die auf Hepatozyten abzielen, um die FXI-Synthese zu reduzieren, kleine Moleküle, die an der aktiven Stelle von FXIa binden, monoklonale Antikörper (Mab), die die Aktivierung blockieren oder die FXIa-Aktivität hemmen, sowie DNA-Aptamere (16). Diese Medikamente weisen unterschiedliche pharmakologische Eigenschaften auf. Kleine Moleküle werden oral verabreicht, während ASOs und Mab parenteral gegeben werden müssen. Der Mab zeigt eine schnelle Wirkung, wenn intravenös injiziert, während kleine Moleküle 1-4 Stunden nach der oralen Einnahme den Plasma-Spitzenspiegel erreichen. ASOs, die subkutan verabreicht werden, benötigen etwa 6 Stunden, um den Peakwert zu erreichen. ASOs und die Mab weisen dagegen wie erwartet bemerkenswert lange Halbwertszeiten von bis zu 4-6 Wochen auf, während kleine Moleküle kurze Halbwertszeiten von wenigen Stunden haben und ein- oder zweimal täglich verabreicht werden müssen.

Klinische Daten zu FXI-Hemmern

Derzeit laufen klinische Studien der Phasen II und III, in denen der Einsatz von FXI-Hemmern in verschiedensten klinischen Situationen untersucht wird. Dazu zählen die VTE-Prophylaxe in spezifischen Szenarien wie Knie-Totalendoprothesen Operationen (Knie-TP), Nierenerkrankungen im Endstadium, bei Krebs-assoziierten Thrombosen sowie die Schlaganfallprävention bei Patienten mit Vorhofflimmern, die Therapie nach Schlaganfall oder nach MI. Detaillierte Zusammenfassungen der einzelnen klinischen Studien sind in Abbildung 3 sowie in Tabelle 1 zu finden.

Patienten, die sich einer Knie-TP Operation unterziehen mussten, waren die ersten, die mit den FXI Hemmern behandelt wurden, einerseits weil die VTE-Inzidenz ohne Prophylaxe hoch ist und andererseits, weil die VTE durch die Venographie standardmässig erfasst werden kann. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von vier randomisierten, kontrollierten Studien bestätigte, dass FXI-Hemmer bei Patienten, die sich einer TKA unterzogen, mit einer signifikanten Verringerung der Inzidenz von VTE und Blutungsereignissen jeglicher Art assoziiert waren (Odds Ratio [OR] 0.50, 95%CI 0,36-0,69) (17).

Später konzentrierten sich zwei separate Phase-II-Studien auf Patienten mit klarem Bedarf an verbesserter Antikoagulanzien-Therapie wie terminaler Niereninsuffizienz (ESRD) [18,19]. Die Studien zeigten, dass ASOs und Mab gut verträglich sind und minimale Blutungsrisiken aufweisen.

Grosse Phase-III-Studien wurden inzwischen bereits abgeschlossen und ergaben positive Ergebnisse hinsichtlich reduzierter Blutungsrisiken im Vergleich zum Placebo bei ASOs, dies bei Patienten mit ESRD. Zum Beispiel traten Blutungsereignisse mit 3,8 % bei 200 mg Ionis-Fx im Vergleich zu 5,7 % beim Placebo auf [NCT03358030], und 6,1 % bei 120 mg Fesomersen im Vergleich zu 9,7 % beim Placebo [NCT04534114], sowie bei monoklonalen Antikörpern; Blutungsevents lagen zwischen 3,6 % und 4,3 % bei Osocimab im Vergleich zu 6 % beim Placebo [NCT04523220, NCT05027074].

FXI-Inhibitoren haben ausserdem ein interessantes Potenzial zur Vorbeugung von krebsbedingten Thrombosen (Cancer-Associated Thrombosis, CAT) gezeigt. Derzeit laufen Phase-III-Studien, nämlich ASTER [NCT05171049] und MAGNOLIA [NCT05171075]. Diese Studien untersuchen die Auswirkungen von Abelacimab auf das Wiederauftreten von VTEs und Blutungen im Vergleich zu Apixaban (ASTER) und Dalteparin (MAGNOLIA) bei Tumorpatienten.

In Bezug auf die Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern zeigte sich, dass 20 und 50 mg Asundexian nach 12 Monaten im Vergleich zu Apixaban das Blutungsrisiko reduzierten, ohne signifikante Unterschiede in den unerwünschten (Schlaganfall) Ereignissen (20). Eine Phase-III-Studie ist derzeit im Gange, um die Schlaganfallinzidenz mit einer Beobachtung von 30 Monaten zu bestimmen [NCT05643573]. Neben Asundexian sind Phase-II- [NCT04755283] und Phase-III-Studien [NCT05712200] von Abelacimab im Gange und sollten voraussichtlich 2024 bzw. 2025 abgeschlossen werden.

Für die Sekundärprävention von Schlaganfällen wurden Milvexian und Asundexian bei Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder TIA untersucht, die gleichzeitig eine Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern erhielten. Nach 90 und 180 Tagen zeigten diese Inhibitoren im Vergleich zu einem Placebo keine Verringerung des zusammengesetzten Ergebnisses von stillen Hirninfarkten oder ischämischen Schlaganfällen. Die fehlende Reduktion könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Studien keine ausreichende statistische Power hatten und sich zunächst korrekterweise auf die Bestimmung der Sicherheitsdosis für die Schlaganfallprävention konzentrierten. Bemerkenswert ist, dass keines dieser kleinen Moleküle einen Anstieg der Blutungsrate zeigte (21-22). Weitere grosse Phase-III-Studien befinden sich derzeit in der Rekrutierungsphase und sollen voraussichtlich 2026 abgeschlossen sein [NCT05686070, NCT05702034].

Neben den Analysen zu Schlaganfällen hat Asundexian in Phase II Studien positive Tendenzen auf den Myokardinfarkt gezeigt, insbesondere bei hohen Dosierungen von 50 mg. Die Studien hatten keine ausreichende statistische Power, um die Wirksamkeit zu beweisen, die Anzahl der Todesfälle, wiederholter MIs, Schlaganfälle und Stentthrombosen waren aber numerisch geringer, obwohl die Anzahl der Ereignisse in jedem Arm äusserst niedrig war (etwa 20 Ereignisse pro Arm) (23).

Zusammenfassend haben die Ergebnisse der neuesten Phase-II-Studien trotz der begrenzten Teilnehmerzahl wertvolle Einblicke in das Sicherheitsprofil von FXI-Hemmer geliefert. Eine kürzlich durchgeführte Meta-Analyse, die acht veröffentlichte klinische Phase-II-Studien mit FXI-Hemmern einschließlich Knie-TP, Schlaganfall bei Vorhofflimmern/Sekundärprävention und MI einbezog, ergab eine um 51 % niedrigere Rate an Blutungen jeglicher Art, unabhängig von der verwendeten Dosierung (24). Zudem wurde im Vergleich zu LMWH eine 38 % Verringerung des in der Studie definierten Wirksamkeits-Endpunkts, wie beispielsweise der Inzidenz von VTE, MI und Schlaganfall festgestellt. Andererseits wurden beim Vergleich von FXI-Hemmern mit DOACs keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf schwere Blutungen oder Wirksamkeitsendpunkte festgestellt.

Zukünftige Entwicklungen der FXI-Hemmer

Die verfügbaren klinischen Daten der FXI-Hemmer zeigen vielversprechende Ergebnisse in verschiedenen klinischen Szenarien, insbesondere im Hinblick auf ihr Sicherheitsprofil. Es gibt jedoch noch bedeutende, ungeklärte Fragen bezüglich der Wirksamkeit und Dosierung in Studien mit grossen Patientenzahlen und bezüglich der Dosisanpassungen unter bestimmten Bedingungen (Niereninsuffizienz). Die Überlegenheit oder mindestens die Nicht-Unterlegenheit im (direkten) Vergleich zu dokumentiert wirksamen Antikoagulantien (DOACs, LMWH) nachzuweisen, wird die grösste Herausforderung darstellen. Die laufenden, grossen Phase-III-Studien werden die Antworten auf diese Fragen liefern.
Zusätzlich könnten FXI-Hemmer aufgrund ihrer Wirksamkeit in der Kontaktaktivierung auch bei Patienten mit hohem Thromboserisiko aufgrund mechanischer Geräte oder wegen Blutkontakt an künstlichen Oberflächen eine sehr nützliche Rolle spielen (bspw. mechanische Herzklappen, Dialyse-Shunts, ECMO-Therapie, liegende zentrale Venenverweilkanülen und Port-à Caths oder ventrikuläre Unterstützungsgeräten und «künstliche Kontaktflächen-assoziierte Thrombosen» (ACSAT). In solchen Fällen, in denen DOACs nur begrenzt wirksam oder kontraindiziert sind, könnten FXI-Hemmer eine interessante Option bieten (25). Entsprechend wurde auch festgestellt, dass hier FXII, welcher eine wichtige Rolle in der Kontakt-Aktivierung spielt, bei ACSAT vorteilhaft sein könnte (26). Eine Phase-II-Studie mit Xisomab 3G3, einem FXII-Hemmer, läuft derzeit, um seine Rolle bei der Prävention von Katheter-assoziierter Thrombose bei Krebspatienten, die eine Chemotherapie erhalten, zu untersuchen [NCT04465760].
Kurze Zusammenfassung aus der Publikation im Cardiovascular Medicine 2024: P. Lee and JH. Beer, Factor XI Inhibition: A New Therapeutic Principle in Anticoagulation, Cardiovascular Medicine 2024, in press.]

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med.Pratintip Lee

Labor für Molekulare Kardiologie
Universität Zürich
Wagistrasse 12
8952 Schlieren

Prof. Dr. med.Jürg Hans Beer

Leiter Gerinnungssprechstunde Kantonsspital Baden, 5404 Baden
Labor für Molekulare Kardiologie, Leiter Plättchenforschung,
Universität Zürich
Wagistrasse 12
8952 Schlieren

hansjuerg.beer@ksb.ch

JHB deklariert die Unterstützung durch den schweizerischen Nationalfonds (No. 324730_163339), Schweiz. Herzstiftung, Kardio-Stiftung Baden, Fortschungsbeiträge von Bayer und Vortrags-Honorare von Astra-Zeneca, Sanofi-Aventis und Daiichi Sankyo an die Institution. PL deklariert die Unterstützung durch die Jubiläumsstiftung SwissLife, die Theodor und Ida Herzog-Egli-Stiftung und die Schweiz. Herzstiftung.

◆ Die FXI-Hemmung ist ein vielversprechender Ansatz zur Verringerung von Thrombosen bei gleichzeitiger Minimierung des Blutungsrisikos.
◆ FXI-Inhibitoren aus Phase-II-Studien zeigten einen positiven Trend zur Reduzierung von Blutungsrisiken. Laufende Phase-III-Studien werden wichtige Einblicke in die Wirksamkeit von FXI-Inhibitoren in den verschiedenen klinischen Szenarien liefern.
◆ Bestimmte Patientengruppen, einschliesslich solcher mit mechanischen Geräten und diejenigen mit Blutkontakt mit künstlichen Oberflächen, könnten von FXI-Inhibitoren speziell profitieren und werden derzeit intensiv erforscht.

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Relevante Arzneistoffinteraktionen bei der Behandlung der Herzinsuffizienz und der Hypertonie

Polypharmazie ist der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten von Arzneimittelinteraktionen. Patienten mit Herzinsuffizienz oder Hypertonie haben oft eine Polypharmazie, wenn sie gemäss Leitlinien behandelt werden. Entsprechend hoch ist die Prävalenz von Arzneimittelinteraktionen bei diesen Patienten. Arzneimittelinteraktionen können die Pharmakokinetik von Arzneistoffen verändern, was meistens eine Folge der Hemmung oder Induktion von Enzymen zum Arzneistoffmetabolismus oder von Proteinen zum Arzneistofftransport ist. Daneben gibt es pharmakodynamische Interaktionen, wenn Arzneistoffe mit ähnlicher Wirkung aber unterschiedlichem Mechanismus kombiniert werden. Im Artikel gehe ich auf die wichtigsten Interaktionen von Arzneistoffklassen/Arzneistoffen ein, welche bei der Therapie der Herzinsuffizienz oder Hypertonie eine Rolle spielen.

Polypharmacy is the most important risk factor for the occurrence of drug interactions. Patients with heart failure or hypertension often have polypharmacy if they are treated according to guidelines. The prevalence of drug interactions is correspondingly high in these patients. Drug interactions can alter the pharmacokinetics of drugs, which is usually a result of the inhibition or induction of enzymes for drug metabolism or proteins for drug transport. There are also pharmacodynamic interactions when drugs with similar effects but different mechanisms are combined. In this article, I will discuss the most important interactions of drug classes/drugs that play a role in the treatment of heart failure or hypertension.
Key words: Polypharmacy, drug interactions, pharmacokinetics of drugs, heart failure, hypertension

Arzneistoffinteraktionen sind bei internistischen Patienten häufig anzutreffen. In einer von uns durchgeführten Studie hatten bei Spitaleintritt auf eine internistische Station ca. 30% der Patienten eine Arzneistoffinteraktion, die zu einer klinisch relevanten unerwünschten Wirkung hätte führen können (Vonbach et al., 2008). Bei Patienten mit dekompensierter Herzinsuffizienz fanden wir bei Entlassung aus dem Spital bei 89% eine Arzneimittelinteraktion, die meisten davon wurden hoch- oder mittelgradig relevant beurteilt (Straubhaar et al., 2006). Arzneistoffinteraktionen sind ein wichtiger Risikofaktor für das Entstehen von unerwünschten Wirkungen, aber nur bei einer Minderheit der Interaktionen treten unerwünschte Wirkungen auf (Egger et al., 2010). Trotzdem ist es wichtig, Interaktionen zu erkennen, das Risiko für das Auftreten sowie die möglichen Folgen einer unerwünschten Wirkung mit dem erwarteten Therapieerfolg zu vergleichen und zu entscheiden, ob die Interaktion toleriert oder aufgehoben werden soll. Der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten von Interaktionen ist die Polypharmazie (Rätz Bravo et al., 2005), welche gerade bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder Hypertonie oft vorkommt (Straubhaar et al., 2006). Allerdings wird in diesen Patientengruppen die Pharmakotherapie meist gemäss Richtlinien durchgeführt und ist deshalb standardisiert, was das Risiko für relevante Interaktionen senkt. Ein weiterer wichtiger Risikofaktor für das Auftreten von relevanten Interaktionen ist die Behandlung desselben Patienten durch verschiedene Ärzte (Tamblyn et al., 1996), was die Wichtigkeit einer guten Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten und die zentrale Rolle der Hausärzte bei der Vermeidung, Erkennung und dem Umgang mit Arzneistoffinteraktionen unterstreicht.
Bezüglich des Mechanismus von Arzneistoffinteraktionen kann grob zwischen pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Interaktionen unterschieden werden. Bei den pharmakokinetischen Interaktionen verändert sich die Plasmakonzentration des «Opfers» der Interaktion, währenddem bei pharmakodynamischen Interaktionen eine Kombination von Arzneistoffen mit ähnlichen pharmakodynamischen Eigenschaften (aber unterschiedlichem Wirkmechanismus) vorliegt. Die pharmakokinetischen Interaktionen beruhen meist auf der Hemmung oder Induktion des für den Abbau eines bestimmten Arzneistoffes verantwortlichen Enzyms oder des für den Transport des Arzneistoffes verantwortlichen Proteins. Die wichtigsten für den Arzneistoffmetabolismus verantwortlichen Enzyme, die Cytochrom P450 Enzyme (CYPs) und der wichtigste Arzneistofftransporter, das P-Glykoprotein (PGP) sind in der Tabelle 1 beschrieben. Im Gegensatz zu den pharmakokinetischen sind die pharmakodynamischen Interaktionen in der Kardiologie oft erwünscht, so z.B. bei der Kombination unterschiedlicher Antihypertensiva oder von Statinen mit Ezetimib zur Senkung des LDL-Cholesterins. Ob eine Interaktion klinisch relevant ist oder nicht hängt im Wesentlichen von der unerwünschten Wirkung ab, welche als Folge einer bestimmten Interaktion auftreten kann.
In der Folge gehe ich auf klinisch relevante Interaktionen bei Patienten mit Herzinsuffizienz und bei Patienten mit Hypertonie ein. Zusätzlich beschreibe ich auch die relevanten Interaktionen von Colchicin, welches zunehmend häufig bei Patienten mit Peri- und/oder Myokarditis eingesetzt wird. Die Interaktionen von Arzneistoffen in anderen Gebieten der Kardiologie (Therapie und Prophylaxe der koronaren Herzkrankheit und Embolieprophylaxe bei Vorhofflimmern) werden in einem Folgeartikel besprochen werden.

Interaktionen mit Arzneistoffen zur Therapie der Herzinsuffizienz

Wichtige Arzneistoffgruppen, welche bei der Therapie von Patienten mit Herzinsuffizienz gebraucht werden, sind ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorblocker (ARBs), Betablocker, SGLT2-Hemmer, Mineralkortikoidrezeptor-Hemmer (MKR-Hemmer) und Schleifendiuretika. Die wichtigsten Interaktionen von Arzneistoffen für die Therapie der Herzinsuffizienz sind in Tabelle 2 gelistet.

ACE-Hemmer

ACE-Hemmer werden als Ester (Ester sind Prodrugs, welche durch Esterasen zu den entsprechenden Säuren hydrolysiert werden) oder Säuren verabreicht, welche in der Regel nicht metabolisiert renal und/oder biliär ausgeschieden werden. Pharmakokinetische Interaktionen via CYPs oder PGP sind deshalb nicht zu erwarten. In der Literatur sind Fallberichte bezüglich Hemmung der renalen Ausscheidung von Lithium zu finden. Allerdings lag bei diesen Patienten oft auch eine Niereninsuffizienz (eventuell verschlimmert durch Akkumulation von vorwiegend renal eliminierten ACE-Hemmern wie Lisinopril) oder eine gleichzeitige Verabreichung von Thiaziden vor (Hommers et al., 2019). Unter Kontrolle der Nierenfunktion und Vermeidung von Arzneistoffen, welche die Elimination von Lithium behindern (wie Thiazide) sowie regelmässiger Bestimmung des Lithiumspiegels können ACE-Hemmer aus meiner Sicht gleichzeitig mit Lithium verabreicht werden.

Zu den pharmakodynamischen Interaktionen gehören der mögliche Blutdruckabfall zu Beginn der Therapie mit einem ACE-Hemmer bei Patienten, welche schon mit einem Schleifendiuretikum behandelt werden sowie die Hyperkaliämie bei Kombination mit MKR-Hemmern und/oder Zufuhr von Kalium. Die initiale Hypotonie kann durch vorsichtige Eintitration des ACE-Hemmers vermieden werden. ACE-Hemmer und ARBs gehören zur etablierten Therapie bei Herzinsuffizienz mit verminderter LVEF (HFrEF), ebenso die MKR-Hemmer Spironolacton und Eplerenon. Da sowohl ARBs/ACE-Hemmer und MKR-Hemmer durch Verminderung der Wirkung von Aldosteron zu einer Hyperkaliämie führen können, entsteht bei gleichzeitiger Einnahme eine pharmakodynamische Interaktion. Diese führt nur selten zur Hyperkaliämie, wenn die Patienten engmaschig überwacht werden. Faktoren, welche das Auftreten einer Hyperkaliämie bei solchen Patienten wahrscheinlicher machen, sind die gleichzeitige Zufuhr von Kalium und eine Niereninsuffizienz. Dem Auftreten einer Hyperkaliämie bei mit ACE-Hemmern/ARBs und MKR-Hemmern behandelten Patienten liegt dementsprechend oft eine prärenale Niereninsuffizienz zugrunde, sei es durch ungenügende Flüssigkeitszufuhr, Wasserverlusten durch Erbrechen/Diarrhöe oder durch überdosierte Schleifendiuretika. Die Nierenfunktion muss deshalb bei mit ACE-Hemmern/ARBS und MKR-Hemmern behandelten Patienten gut überwacht werden, insbesondere wenn weitere Risikofaktoren für eine Hyperkaliämie dazukommen.

Die Kombination des Neprilysinhemmers Sacubitril mit ACE-Hemmern muss vermieden werden, da es darunter zu einem Anstieg von Bradykinin und damit zu angioneurotischem Ödem kommen kann. Bei einem Wechsel von einem ACE-Hemmer auf die Kombination ARB/Sacubitrilmuss deshalb ein genügender zeitlicher Abstand (im Kompendium steht 36 Stunden, besser sind 5 Halbwertszeiten des ACE-Hemmers) eingehalten werden.

Betablocker

Bei der Therapie der Herzinsuffizienz gebraucht werden die kardioselektiven Betablocker Bisoprolol, Metoprolol und Nebivolol (Block der β1-Adrenozeptoren) und das nicht-selektive Carvedilol (Block der β1-, β2- und α1-Adrenozeptoren). Die stark lipophilen Betablocker Nebivolol und Carvedilol werden zu fast 100% metabolisiert (CYP2D6 für Nebivolol und CYP3A4, 2D6, 2A1 und 2C9 für Carvedilol). Bisoprolol und Metoprolol sind weniger lipophil und werden zu 50% (Bisoprolol) oder 40% (Metoprolol) unverändert renal ausgeschieden. Der Rest wird via CYP2D6 oxidiert und vorwiegend renal ausgeschieden.

CYP2D6 ist das Hauptsächlichste an der Metabolisierung von Betablockern beteiligte CYP. CYP2D6 kann nicht induziert, sondern nur gehemmt werden (Berger et al., 2016). Die wichtigsten Hemmer von CYP2D6 sind in Tabelle 1. aufgelistet. Relevant könnte die gleichzeitige Verabreichung eines starken CYP2D6-Hemmers vor allem für Nebivolol sein, da Nebivolol zu fast 100% via CYP2D6 metabolisiert wird. Der Effekt von Nebivolol wird in diesem Fall zunehmen, was klinisch an der daraus resultierenden Bradykardie und allenfalls Hypotonie gut erkennbar ist. Für die Wirkung von Metoprolol und Bisoprolol wird eine Hemmung von CYP2D6 weniger relevant sein, da ein beträchtlicher Anteil unverändert renal eliminiert wird. Beim Abbau von Carvedilol sind verschiedene CYPs beteiligt. Entsprechend steigt die Exposition nach Verabreichung des CYP2D6 Blockers Paroxetin um ca. 70% und nach Amiodaron (mittelstarker Blocker von CYP3A4, 2D6 und 2C9) um einen Faktor von ca. 2, was klinisch relevant ist.

Bei den Betablockern sind nebst den pharmakokinetischen auch die pharmakodynamischen Interaktionen erwähnenswert. Nichtselektive Betablocker hemmen durch Block der β2-Adrenozeptoren die Glykogenolyse (Abbau von Glykogen stimuliert via Aktivierung von β2-Adrenozeptoren durch Adrenalin) und damit eine Gegenregulation bei Hypoglykämie. Zudem hemmen alle Betablocker das Auftreten einer Tachykardie bei Hypoglykämie. Wenn Betablocker bei Diabetikern angewendet werden, sollten also kardioselektive gewählt werden, um nicht das Risiko für Hypoglykämien zu erhöhen. Zudem sollten Patienten darauf hingewiesen werden, dass die Symptome einer Hypoglykämie verschleiert sein können. Da Betablocker negativ inotrop wirken und die AV-Überleitung hemmen, verstärken sie diese Effekte bei den gleichzeitig verabreichten Calciumantagonisten Verapamil und Diltiazem. Der negative Effekt auf die AV-Überleitung muss auch bei einer Kombination mit Digoxin oder Amiodaron beachtet werden. Wie oben beschrieben, führt Amiodaron via CYP-Hemmung zusätzlich noch zu einer höheren Exposition von v.a. Carvedilol. Die Effekte auf die AV-Überleitung können natürlich erwünscht sein, wichtig ist das Erkennen der Interaktion und die Kontrolle der so behandelten Patienten.

SGLT2-Hemmer

In der Schweiz sind gegenwärtig die 4 SGLT2-Inhibitoren Canagliflozin, Dapagliflozin, Empagliflozin und Ertugliflozin im Handel. SGLT2-Inhibitoren haben eine gute Bioverfügbarkeit (≥65%) eine hohe Proteinbindung (≥86%) und werden vorwiegend glukuronidiert, aber nicht via CYPs abgebaut. Alle sind PGP-Substrate, weshalb bei gleichzeitiger Anwendung von PGP-Induktoren (siehe Tabelle 1), die Exposition (AUC) der Gliflozine sinkt (um 40-50% für Canagliflozin und Ertugliflozin). Die Hemmung von PGP spielt demgegenüber fast keine Rolle, weil die Bioverfügbarkeit schon fast 100% beträgt und nicht nennenswert gesteigert werden kann.

Alle SGLT2-Hemmer senken die Lithiumkonzentration im Serum, was klinisch bedeutsam sein kann. Eine erwartete pharmakodynamische Interaktion ist ein erhöhtes Risiko für Dehydration bei mit Schleifendiuretika behandelten Patienten.

Schleifendiuretika

Die Schleifendiuretika Furosemid und Torasemid haben eine gute orale Bioverfügbarkeit (≥65%) und werden vorwiegend renal mittels Filtration und Sekretion ausgeschieden. Furosemid wird zu einem geringen Anteil glukuronidiert (ca. 15%), währenddem Torasemid zu ca. 75% oxidativ (CYP2C9 und 2C8) abgebaut wird. Enzyminduktoren wie z.B. Rifampicin könnten deshalb den diuretischen Effekt von Torasemid vermindern. Beide Schleifendiuretika erhöhen die Lithiumkonzentration im Serum, was beachtet werden muss.

Bedeutsam sind auch die pharmakodynamischen Interaktionen wie Verstärkung des Effekts von Digoxin bei Hypokaliämie, mögliche Hypotonie in Kombination mit ACE-Hemmern oder ARBs bei Therapiebeginn und v.a. das Auftreten einer Niereninsuffizienz in Kombination mit NSAR inklusive COX2-Inhibitoren. Bezüglich Niereninsuffizienz sind v.a. Patienten gefährdet, welche dehydriert und zum Offenhalten der glomerulären Durchblutung auf renal produzierte Prostaglandine angewiesen sind.

Mineralkortikoidrezeptor-Hemmer (MKR-Hemmer)

Dazu gehören Spironolacton und Eplerenon. Spironolacton hat eine fast 100%-ige orale Bioverfügbarkeit und wird via Hydrolyse des Lactonrings zu Canrenon umgewandelt, welches das wirksame Prinzip darstellt. Canrenon wird vorwiegend unverändert renal via Filtration und Sekretion eliminiert. Die Bioverfügbarkeit von Eplerenon beträgt ca. 70%. Im Gegensatz zu Spironolacton ist Eplerenon kein Prodrug; es wird zu ca. 70% renal eliminiert, aber nur etwa 5% als unveränderte Substanz. Der Metabolismus geschieht v.a. via Oxidation durch CYP3A4.
Die Interaktion von Spironolacton und Eplerenon mit ACE-Inhibitoren und ARBs, welche eine Hyperkaliämie begünstigt, ist schon dort beschrieben. Zudem hemmen Spironolacton (Waldorff et al., 1983) und Eplerenon die tubuläre Sekretion von Digoxin, der Digoxinspiegel steigt um ca. 20%. Interaktionen mit CYP-Hemmern und Induktoren spielen nur für Eplerenon eine Rolle. Bei gleichzeitiger Anwendung von starken CYP3A4-Inhibitoren erhöht sich die Exposition von Eplerenon (AUC) um mehr als den Faktor 2, weshalb diese laut Kompendium kontraindiziert sind. Entsprechend fällt die AUC von Eplerenon bei gleichzeitiger Einnahme von CYP3A4 Induktoren. Bei einer Langzeittherapie mit CYP3A4 Induktoren empfiehlt sich deshalb ein Wechsel von Eplerenon auf Spironolacton.

Interaktionen mit Arzneistoffen zur Therapie der Hypertonie

Wichtige Arzneistoffgruppen, welche bei der Therapie von Patienten mit Hypertonie gebraucht werden, sind ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorblocker (ARBs), Calciumantagonisten, Thiazide, Betablocker, Mineralkortikoidrezeptor-Hemmer (MKR-Hemmer), α2-Adreno­zep­toren-Agonisten und α1-Adrenozeptoren-Blocker. ACE-Hemmer, ARBs, Betablocker und MKR-Hemmer sind bereits bei der Therapie der Herzinsuffizienz besprochen worden. Die wichtigsten Interaktionen von Arzneistoffen für die Therapie der Hypertonie sind in Tabelle 3 gelistet.

Calciumantagonisten

Alle Calciumantagonisten sind lipophile Substanzen, welche fast vollständig metabolisiert werden. CYP3A4 ist das wichtigste Enzym, welches am Metabolismus von Calciumantagonisten beteiligt ist, was die meisten pharmakokinetischen Interaktionen dieser Arzneistoffgruppe erklärt. Aufgrund der Struktur können die Dihydropyridine (Amlodipin, Felodipin, Isradipin, Lercanidipin und Nifedipin) von Verapamil und Diltiazem unterschieden werden. Mit Ausnahme von Amlodipin und Diltiazem haben die Calciumantagonisten eine Bioverfügbarkeit von <50%, bedingt durch einen relevanten first-pass Effekt. Der Abbau erfolgt dabei schon im Darm (die Dünndarm­epithelien haben eine hohe Expression von CYP3A4), was durch einen relevanten Anstieg der Exposition nach Einnahme von Grapefruitsaft gezeigt werden kann (Dresser et al., 2000) (Grapefruitsaft hemmt CYP3A4 nur im Darm, aber nicht in der Leber (Kupferschmidt et al., 1995)). CYP3A4-Hemmer steigern die Exposition und Wirkung aller Calciumantagonisten, wobei der Effekt auf Diltiazem und Amlodipin weniger gross ist als derjenige auf die übrigen Calciumantagonisten. Demgegenüber senken CYP3A4 Induktoren Exposition und Wirkung aller Calciumantagonisten. Da der Blutdruck gut überwacht werden kann, spielen diese Interaktionen klinisch eine eher untergeordnete Rolle.

Diltiazem und Verapamil (aber nicht die Dihydropyridine) sind gleichzeitig auch mittelstarke Hemmer von CYP3A4, was klinisch relevant sein kann und beachtet werden sollte. Verapamil hemmt zudem PGP, was die Exposition von PGP-Substraten wie z.B. Digoxin um 60-90% (Verschraagen et al., 1999) oder Dabigatran um 100-150% steigert (Härtter et al., 2013). PGP wird nicht nur in Darmepithelien, sondern auch in der canaliculären Membran der Hepatozyten, in den proximalen Tubuluszellen der Niere und in den Endothelien der Hirnkapillaren exprimiert. Währendem der Effekt von Verapamil auf Dabigatran durch eine Steigerung der Bioverfügbarkeit erklärt werden kann, ist derjenige auf Digoxin vor allem eine Folge der gehemmten tubulären Sekretion.

Im Gegensatz zu den Dihydropyridinen sind Diltiazem und Verapamil negativ inotrop und hemmen die AV-Überleitung. Mit Digoxin und auch mit Betablockern, welche die AV-Überleitung ebenfalls hemmen, kommt es also zu einer pharmakodynamischen Interaktion, welche bei der Behandlung des tachykarden Vorhofflimmerns erwünscht sein kann, aber erkannt werden muss.

Thiazide

Als Antihypertensiva werden in der Schweiz vor allem Hydrochlorothiazid und Chlortalidon gebraucht. Beide haben eine gute Bioverfügbarkeit und werden via Filtration und Sekretion fast vollständig unverändert renal eliminiert.

Thiazide erhöhen die Lithiumkonzentration, was bei mit Lithium behandelten Patienten beachtet werden muss. Gleichzeitig verabreichte NSAIDs oder COX2-Hemmer verringern den antihypertensiven Effekt von Thiaziden, am ehesten wegen verstärkter Natriumretention unter NSAIDs/COX2-Hemmern. Die Kombination mit ACE-Hemmern oder ARBs ist beliebt; einerseits wegen des additiven antihypertensiven Effekts, andrerseits auch, weil die Tendenz der ACE-Hemmer und ARBs zu Hyperkaliämie durch die Thiazide ausgeglichen wird.

α2-Adrenozeptor-Agonisten

Als Antihypertensivum wird aus dieser Gruppe Clonidin verwendet. Clonidin hat eine gute Bioverfügbarkeit und wird zu ca. 50% unverändert renal ausgeschieden. Die Stimulation der präsynaptischen α2-Adrenozeptoren im Hirnstamm führt zu einer Reduktion des Sympathikus in der Peripherie und damit Blutdrucksenkung sowie zu Mundtrockenheit und Sedation als unerwünschte Wirkungen.

Wegen der Reduktion der Sympathikusaktivität verlangsamt Clonidin die AV-Überleitung, was bei einer Kombination mit Betablockern, Digoxin, Verapamil oder Diltiazem beachtet werden muss (Markowitz and Patrick, 2001). Der sedierende Effekt von Clonidin wird durch andere sedierende Medikamente und auch durch Alkohol verstärkt. α2-Adrenozeptorantagonisten wie z.B. Mirtazapin können den antihypertensiven Effekt von Clonidin vermindern oder aufheben. In der Literatur sind Fälle beschrieben, in denen es beim schnellen Absetzen von Clonidin insbesondere bei Patienten, welche gleichzeitig mit Propranolol behandelt werden, zu einem gefährlichen Anstieg des Blutdrucks kommen kann (Markowitz and Patrick, 2001). Reboundphänomene sind unter Clonidin gut bekannt, weshalb dieses generell langsam ausgeschlichen werden sollte. Da Propranolol die β2-Adrenozeptoren hemmt, welche eine Vasodilatation vermitteln, kann der Blutdruckanstieg nach schnellem Absetzen von Clonidin noch verstärkt werden.

α1-Adrenozeptor-Antagonisten

Doxazosin ist der in der Schweiz gebräuchliche Alphablocker. Doxazosin hat eine gute Bioverfügbarkeit (65%) und eine hohe Proteinbindung (98%) und wird vorwiegend renal und 95% metabolisiert ausgeschieden. CYP3A4 ist das hauptsächlich am Metabolismus von Doxazosin beteiligte Enzym.

Entsprechend steigt die Exposition von Doxazosin in Kombination mit CYP3A4 Inhibitoren. Diese Interaktion kann klinisch relevant sein, weil dosisabhängige unerwünschte Wirkungen von Doxazosin, insbesondere die Neigung zu Orthostase, verstärkt auftreten können. Im Gegensatz dazu können CYP3A4 Induktoren die Wirkung von Doxazosin abschwächen. Eine pharmakodynamische Interaktion ist das Auftreten von Hypotonien bei gleichzeitiger Einnahme von PD5-Inhibitoren wie z.B. Sildenafil. Mit Doxazosin behandelte Patienten sollten darauf hingewiesen werden, keine PD5-Inhibitoren einzunehmen.

Colchicin

Colchicin ist ein Alkaloid der Herbszeitlose. Die orale Bioverfügbarkeit beträgt wegen eines relevanten first-pass Effektes ca. 50%. Es ist zu 50% proteingebunden (first pass effect) und wird zu ca. 50% unverändert renal via Filtration und Sekretion ausgeschieden. 50% werden durch CYP3A4 metabolisiert (O-Demethylierung) und vorwiegend biliär eliminiert. Die Halbwertszeit liegt bei 15-30 Stunden, Colchicin unterliegt einem enterohepatischen Kreislauf. Colchicin ist, wie oben ausgeführt, ein Substrat von CYP3A4 und auch von PGP.

Die Interaktionen von Colchicin sind kürzlich sehr gut zusammengefasst worden (Hansten et al., 2023). Die pharmakokinetischen Interaktionen sind aufgrund der Substrateigenschaften von Colchicin voraussagbar. CYP3A4- and PGP-Hemmer steigern die Exposition von Colchicin und Induktoren fördern sie. Starke CYP3A4/PGP-Hemmer wie Clarithromycin, Imidazolantimykotika und Proteaseinhibitoren können den Colchicinspiegel bis 10-fach erhöhen und sollten deshalb vermieden. Mittelstarke CYP3A4/PGP-Hemmer wie Amiodaron, Diltiazem und Verapamil führen zu einer Verdoppelung bis Verdreifachung der Colchicinexposition, weshalb in diesem Fall die Dosierung von Colchicin um 50% gesenkt werden sollte. Cyclosporin ist ein mittelstarker bis starker CYP3A4/PGP-Hemmer und führt zu einer Verfünffachung der Colchicinexposition. Allerdings sind beide Substanzen myotoxisch, weshalb die Kombination Cyclosporin/Colchicin aus meiner Sicht kontraindiziert ist. Andere mit Myotoxizität assoziierte Arzneistoffgruppen wie z.B. Fibrate und Statine erhöhen das Risiko für Myotoxizität, aber nicht die Exposition von Colchicin. Falls Colchicin mit solchen Arzneistoffen kombiniert wird, sollten die Patienten auf das erhöhte Risiko für Myopathien hingewiesen und entsprechend überwacht werden.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. em. Dr. med. et pharm. Stephan Krähenbühl

Klinische Pharmakologie & Toxikologie
Universitätsspital
4031 Basel

stephan.kraehenbuehl@usb.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Behandlung der Osteoporose

Osteoporose ist häufig und die Therapieindikation richtet sich nach dem geschätzten Fraktur-Risiko. Hierfür stehen Medikamente unterschiedlicher Potenz und Wirkweise (antiresorptiv bzw. osteoanabol) zur Verfügung. Die Auswahl der Substanz sollte unter Berücksichtigung des Ausgangs-Fraktur-Risikos getroffen werden. Der chronische Charakter der Erkrankung einerseits und die pharmakologischen Eigenschaften der unterschiedlichen Substanzen andererseits machen in den meisten Fällen eine sequentielle Behandlung erforderlich. Die sinnvolle Umsetzung solcher Therapie-Sequenzen setzt wiederum Kenntnisse über die eingesetzten Osteoporose-Medikamente voraus, die in diesem Beitrag vermittelt werden sollen.

Osteoporosis is common and requires specific drug therapy dependent on estimated fracture risk. Medications with differing potency and mode of action (antiresorptive or osteoanabolic) are available. The choice of substance should be based on the initial fracture risk. Owing to the chronic nature of the disease on the one hand and the pharmacological characteristics of the available drugs on the other, a sequential treatment strategy is usually necessary. This article aims to address and provide insights into the knowledge available in order to facilitate appropriate implementation of anti-osteoporotic drug therapy.
Key Words: estimated fracture risk, major osteoporotic fracture, antiresorptive drugs, osteoanabolic drugs, sequential therapy

Im Jahr 2019 waren in der Schweiz ca. 524‘000 Patient/-innen von einer Osteoporose betroffen, mit einem Frauen­anteil von knapp 80%. Besonders eindrücklich sind die damit verbundenen 82‘000 neuen Frakturen entsprechend 9,4 Frakturen pro Stunde! Die Schweiz ist zudem Spitzenreiter in Europa, was die Kosten durch osteoporotische Frakturen angeht (ca. 3,4 von ges. 74,9 Milliarden Euro) (1). Trotz Zunahme medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren ist immer noch von einer erheblichen Behandlungslücke auszugehen (2).

Therapie-Indikation

Die Indikation für eine Osteoporose-Therapie wird heutzutage anhand des geschätzten Frakturrisikos gestellt. Die Abschätzung erfolgt durch Eingabe der zu erfragenden Risikofaktoren (Tab. 1) und des minimalen T-Scores an LWS, Gesamthüfte bzw. Schenkelhals nach DXA-Messung in einen Kalkulator (z.B. FRAX der WHO oder «Tool der Osteoporose-Plattform», TOP). In erster Linie relevant für die Therapieindikation ist das geschätzte Risiko für eine osteoporotische Hauptfraktur (englisch «major osteoprotic fracture», kurz MOF), d.h. Wirbel-, Hüft-, proximale Humerus- oder distale Radius-Fraktur. Eine altersadaptierte Interventionsschwelle, wie sie die Schweizerische Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO) vorsieht (Abb. 1), wird gegenüber einer fixen Interventionsschwelle (z.B. 10-Jahres-Risiko 20-25%) kontrovers diskutiert. Für die Prophylaxe bei systemischer Glucocorticoid- oder hormonablativer Therapie sind gesonderte Empfehlungen zu beachten, die in diesem Beitrag aus Gründen des Umfangs nicht abgehandelt werden.

Unterschiedliche Erstlinien-Therapie je nach Ausgangsrisiko

Die SVGO hat im Jahr 2020 Behandlungs-Empfehlungen publiziert (3), die auf einer Stratifizierung nach Risikogruppen basieren (Abb. 2). Bei tiefem (densitometrisch Osteopenie ohne weitere Risikofaktoren) bzw. moderatem Risiko (densitometrisch Osteoporose, Frakturrisiko unterhalb der Interventionsschwelle) steht neben einer generell empfohlenen genügenden Calcium- und Vitamin-D-Versorgung die Prävention mittels Hormonersatz, selektiven Östrogen-Rezeptormodulatoren (SERM) oder optional oralen Bisphosphonaten im Vordergrund. Unverzichtbar ist eine knochenspezifische Behandlung bei hohem (Risiko über der Interventionsschwelle), sehr hohem (Risiko mindestens 20% über der Interventionsschwelle) oder imminentem Frakturrisiko. Letzteres liegt dann vor, wenn bei über 65-jährigen Patient/-innen eine MOF innerhalb der letzten 2 Jahre aufgetreten ist (3). Wie in Abbildung 2 ersichtlich, werden bei prävalenter osteoporotischer Fraktur konkrete Empfehlungen zur Erstlinien-Behandlung gemacht: Teriparatid bei vertebraler Fraktur, Zoledronat bei Hüft-Fraktur und Romosozumab bei anderen MOF. Grundlage hierfür bildet die Evidenz, dass entsprechende Medikamente in vorliegenden Ausgangssituationen eine gute bzw. gegenüber oralen Bisphosphonaten überlegene Wirksamkeit aufweisen (4, 5, 6). Zudem ist als Rationale für den Erstlinien-Einsatz von Teriparatid bzw. Romosozumab die Erkenntnis anzuführen, dass der unter osteoanaboler Therapie erreichte Dichtezuwachs ohne antiresorptive Vortherapie höher ausfällt. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sich die Limitationen für die Kostenübernahme der einzelnen Medikamente in der Schweiz nicht grundsätzlich mit den SVGO-Empfehlungen decken.

Die Medikamente (siehe auch Tabelle 2)

Antiresorptiva

Bisphosphonate wirken antiresorptiv durch Osteoklastenhemmung und werden seit ca. 30 Jahren zur Osteoporose-Therapie eingesetzt. Gängige Präparate sind in Tabelle 2 aufgeführt. Aufgrund ihrer Wirkweise durch Anlagerung an die Knochenoberfläche hält der antiresorptive Effekt noch nach Pausierung/Beendigung an, was die Bisphosphonate von allen anderen Osteoporose-Medikamenten unterscheidet. Am ausgeprägtesten ist dieser sogenannte «Tail-Effekt» bei Zoledronat. Seltene Nebenwirkungen sind Kieferosteonekrosen und atypische (=subtrochantäre) Femurfrakturen, wobei das jeweilige Risiko mit der Dauer der Therapie steigt. Entsprechend ist nach 3- bis 5-jähriger Bisphosphonat-Therapie eine Pause zu erwägen, zumal die Knochendichte nach dieser Behandlungsdauer trotz fortgesetzter Behandlung normalerweise nicht weiter zunimmt (7). Bisphosphonate sind kontraindiziert bei Schwangerschaft/Stillzeit und Niereninsuffizienz (GFR<35 ml/min). Denosumab (Prolia®) ist ein vollhumaner monoklonaler Antikörper gegen RANK-Ligand und wirkt via Osteoklastenhemmung. Im Unterschied zu den Bisphosphonaten zeigt sich auch nach 10-jähriger Anwendung kein Plateau des Knochendichteanstieges (8). Allerdings kommt es nach Beendigung bzw. verzögerter Anwendung unmittelbar zu einem überschiessenden Knochenabbau (sog. «Rebound-Phänomen»), welcher mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten multipler Wirbelkörper-Frakturen einhergeht (9). Denosumab eignet sich daher primär zur Langzeittherapie und sollte keinesfalls ohne Anschlusstherapie gestoppt oder verzögert verabreicht werden. Da die Datenlage für die sichere Langzeitanwendung von Denosumab auf 10 Jahre beschränkt ist (8), sollte die Indikation bei jüngeren Patient/-innen zurückhaltend gestellt werden. Sollte eine Beendigung von Denosumab dennoch nötig werden, hat sich insbesondere Zoledronat als Anschlusstherapie aufgrund seiner antiresorptiven Potenz etabliert. Hiermit lässt sich der Rebound zwar reduzieren, aber meist nicht gänzlich verhindern. Bezüglich optimaler Umsetzung der Anschlusstherapie ist die Datenlage noch ungenügend. Sowohl bei Bisphosphonaten als auch bei Denosumab sollten vor Therapieeinleitung eine Hypolcalcämie sowie ein relevanter Vitamin-D-Mangel ausgeschlossen werden. Zudem ist zur Reduktion des Risikos von Kieferosteonekrosen auf eine gründliche Zahnpflege zu achten; chirurgische Eingriffe am Kieferknochen (Zahn-Extraktion, Implantat) sollten unter etablierter Therapie möglichst vermieden werden.

Osteoanabolika

Teriparatid ist eine rekombinante Form des humanen Parathormons. Vor Anwendung bedarf es einer Kostengutsprache durch die Krankenkasse. Es wirkt osteoanabol durch Stimulation der Osteoblasten-Proliferation und -Differenzierung. Die Therapiedauer ist auf 24 Monate limitiert, das Präparat muss täglich subcutan gespritzt werden. Neben dem Originalpräparat Forsteo® existieren mittlerweile diverse (kostengünstigere) Biosimilars. Teriparatid ist u.a. kontraindiziert bei malignen Knochenerkrankungen oder vorausgegangener Strahlentherapie des Skeletts. Nach Abschluss von Teriparatid bedarf es einer antiresorptiven Anschlussbehandlung, da der erreichte Dichtezuwachs andernfalls vollständig reversibel ist.

Romosozumab (Evenity®) ist ein humanisierter Antikörper gegen Sclerostin und die zweite in der Schweiz zugelassene osteoanabol wirksame Substanz. Neben der knochenaufbauenden Wirkung besteht auch ein antiresorptiver Effekt; dieser duale Wirkmechanismus hebt die Substanz von allen anderen zugelassenen knochenwirksamen Medikamenten ab. Die Behandlung erfolgt durch monatliche subkutane Injektionen, die Dauer ist auf 1 Jahr beschränkt. Auch für Romosozumab ist eine Kostengutsprache durch die Krankenkasse nötig. Die Substanz ist nur für postmenopausale Frauen zugelassen und kontraindiziert bei Vorgeschichte eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls. Auch die unter Romosozumab gewonnene Knochendichte verliert sich nach Therapieabschluss, sofern keine antiresorptive Anschluss­therapie erfolgt.

Sequentielle Therapie

Aus den Eigenschaften der genannten Medikamente ergibt sich, dass in der Langzeittherapie einer Osteoporose eine sequentielle Behandlungsstrategie häufig unumgänglich ist. Hierzu 2 Fall-Beispiele. Im zweiten Fall wird auch auf die Möglichkeit einer Kombinationstherapie eingegangen.
Fall 1: Eine 62-jährige, postmenopausale, internistisch gesunde Patientin mit frischer LWK1-Fraktur und einem T-Score in der DXA von -4.4 SD an der LWS bzw. -3.3 SD am Schenkelhals erhält bei imminentem Frakturrisiko eine osteoanabole Erstlinien-Behandlung mit Romosozumab. Nach 1-jähriger Behandlung beträgt der T-Score jeweils -2.9 SD an LWS und Schenkelhals; neue Frakturen sind nicht aufgetreten. Aufgrund der Lebenserwartung der Patientin von deutlich über 10 Jahren entscheidet man sich für eine Anschlussbehandlung mit einem Bisphophonat für 3 bis 5 Jahre. Da die Patientin nach Abschluss der Anschlussbehandlung immer noch unter 70 sein wird, ist mit einer erneuten Behandlungsindikation zu einem späteren Zeitpunkt im Leben der Patientin zu rechnen.

Fall 2: Eine 83-jährige, rüstige Patientin erleidet eine Sakrum-Fraktur nach Sturz aus Standhöhe. In der DXA ist der T-Score der Wirbelsäule aufgrund degenerativer Veränderungen nicht aussagekräftig, an der Gesamthüfte beträgt der T-Score -1.3 SD und am Schenkelhals -1.6 SD. In dieser Konstellation ist die Limitatio weder für Teriparatid noch für Romosozumab erfüllt, so dass eine Erstlinienbehandlung mit einem Bisphosphonat oder Denosumab bleibt. In vorliegender Situation fiel der Entscheid aufgrund des Lebensalters >80 auf eine Behandlung mit Denosumab. Nach 4-jähriger Behandlung mittels Denosumab kommt es zu einer spontanen BWK11-Fraktur, weshalb die Optionen einer Therapieeskalation zu prüfen sind. Die Umstellung auf ein Bisphosphonat würde in puncto Wirkpotenz keine Eskalation darstellen, zumal der Rebound nach Beendigung von Denosumab durch ein Bisphosphonat wie erwähnt meist nur unvollständig verhindert wird. Im Falle einer Umstellung von Denosumab auf Teriparatid ist ein ausgeprägtes Rebound-Phänomen beschrieben, so dass diese Sequenz grundsätzlich zu vermeiden ist (10). Für die Sequenz Denosumab gefolgt von Romosozumab ist die Datenlage ungenügend. In vorliegender Situation ist die wirksamste Option eine Kombination von Denosumab mit Teriparatid (10) für 2 Jahre mit nachfolgender Weiterführung von Denosumab bis zum Lebensende.

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Dr. med. Gernot Schmid

Leitender Arzt Rheumatologie
Luzerner Kantonsspital
Co-Präsident Osteoporose-Plattform
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die Behandlungsindikation der Osteoporose basiert auf dem geschätzten Frakturrisiko, das sich aus dem tiefsten T-Score in der DXA (LWS, Gesamthüfte, Schenkelhals) und den erfassten Risikofaktoren unter Verwendung eines Risikokalkulators ermitteln lässt.
◆ Es stehen mehrere knochenwirksame Medikamente zur Verfügung, die sich neben der Wirkweise auch in ihrer Wirkpotenz unterscheiden.
◆ Bei der Auswahl des Medikamentes ist das geschätzte Ausgangsrisiko zu berücksichtigen, wobei bei sehr hohem/imminentem Risiko auch der Erstlinieneinsatz von Osteoanabolika erwogen werden sollte.
◆ Die Langzeitbehandlung der Osteoporose bedarf häufig einer sequentiellen Behandlungsstrategie.

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6. Lyles KW, Colón-Emeric CS, Magaziner JS, Adachi JD, Pieper CF, Mautalen C, et al.; HORIZON Recurrent Fracture Trial. Zoledronic acid and clinical fractures and mortality after hip fracture. N Engl J Med. 2007;357(18):1799–809.
7. Black DM, Reid IR, Cauley JA, Cosman F, Leung PC, Lakatos P, Lippuner K, Cummings SR, Hue TF, Mukhopadhyay A, Tan M, Aftring RP, Eastell R. The effect of 6 versus 9 years of zoledronic acid treatment in osteoporosis: a randomized second extension to the HORIZON-Pivotal Fracture Trial (PFT). J Bone Miner Res. 2015 May;30(5):934-44.
8. Bone HG, Wagman RB, Brandi ML, Brown JP, Chapurlat R, Cummings SR, Czerwinski E, Fahrleitner-Pammer A, Kendler DL, Lippuner K, Reginster JY, Roux C, Malouf J, Bradley MN, Daizadeh NS, Wang A, Dakin P, Pannacciulli N, Dempster DW, Papapoulos S. 10 years of denosumab treatment in postmenopausal women with osteoporosis: results from the phase 3 randomised FREEDOM trial and open-label extension. Lancet Diabetes Endocrinol. 2017 Jul;5(7):513-523.
9. Anastasilakis AD, Polyzos SA, Makras P, Aubry-Rozier B, Kaouri S, Lamy O. Clinical Features of 24 Patients With Rebound-Associated Vertebral Fractures After Denosumab Discontinuation: Systematic Review and Additional Cases. J Bone Miner Res. 2017 Jun;32(6):1291-1296.
10. Leder BZ, Tsai JN, Uihlein AV, Wallace PM, Lee H, Neer RM, Burnett-Bowie SA. Denosumab and teriparatide transitions in postmenopausal osteoporosis (the DATA-Switch study): extension of a randomised controlled trial. Lancet. 2015 Sep 19;386(9999):1147-55.

15 Jahre Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich

Einleitung

In vielen Ländern im angloamerikanischen Raum, aber auch in Europa, wie beispielsweise in England, den Niederlanden oder auch in skandinavischen Ländern, hat die Hausarztmedizin eine lange universitäre Tradition. Die akademische Verankerung geht in diesen Ländern mit einer starken Rolle der Hausarztmedizin auch im Gesundheitssystem einher. So sind beispielsweise die Niederländer vergleichbar einem Schweizer Hausarztmodell bei einer Ärztin oder einem Arzt ihres Vertrauens eingeschrieben und konsultieren diesen als primäre Anlaufstelle, ebenso im National Health Service, dem staatlichen Gesundheitssystem Englands. In Deutschland wurde der erste Lehrstuhl an der Medizinischen Hochschule Hannover 1976 eingerichtet, bis zum ersten Lehrstuhl in Bayern 2009 – einem Stiftungslehrstuhl, zur Hälfte von der Krankenkasse AOK finanziert – vergingen somit noch etliche Jahre. Erst 2015 wurde in Bayern als letztem Bundesland ein ordentlicher Lehrstuhl für Allgemeinmedizin in Erlangen etabliert. Demgegenüber war die Schweiz fast fortschrittlich, bereits 2008 wurde dort – nach einem einstimmigen Votum des Kantonsrats – ein Lehrstuhl für Hausarztmedizin geschaffen und besetzt. Neben dem an der Universität Zürich (UZH) verankerten Lehrstuhl wurde – wie bei allen anderen klinischen Fächern – auch ein Institut für Hausarztmedizin am Universitätsspital Zürich geschaffen. Um keine Konkurrenz zur Poliklinik und dem Lehrstuhl für Innere Medizin entstehen zu lassen, erhielt das Institut für Hausarztmedizin (IHAMZ) allerdings keinen klinischen Versorgungsauftrag und ist somit bis heute mit dem reinen Fokus auf Lehre und Forschung ein Exot am Universitätsspital (USZ). Im Nachfolgenden soll eine Bilanz aus den ersten 15 akademischen Jahren gezogen werden.

Lehre

Eine kleine Gruppe von Hausärzt/-innen um Frau Dr. Elisabeth Bandi-Ott war bereits vor Schaffung des Lehrstuhls in der Lehre an der Universität Zürich engagiert. Neben einigen Beteiligungen an Kursen bot man ein Modul im freiwilligen Mantelstudium an. Kurz nach Besetzung des Lehrstuhls wurde das sogenannte Einzeltutoriat, in dem Studierende mehrere Halbtage in eine Hausarztpraxis gehen, eingeführt. In dieser Lehrveranstaltung, die für alle Studierenden Pflicht ist, trifft zum ersten Mal das theoretische, universitär vermittelte medizinische Wissen auf die Realität im hausärztlichen Alltag. Hautnah erleben die Studierenden, was gemeint ist, wenn wir in den Vorlesungen vom «Niedrigprävalenzsetting» und vom Aushalten von Unsicherheit, Stufendiagnostik und «test of time» sprechen. Sie erleben mittels eigener Anamnese und Untersuchung, dass nicht jeder Thoraxschmerz ein Herzinfarkt ist, der eines Herzkatheters bedarf, und nicht jeder Kopfschmerz ein Hirntumor ist, der ein MRI braucht. Das Einzeltutoriat liefert eine Erfahrung, wie sie auch in einem Spital oder einer Notfallabteilung nicht möglich ist, denn an beiden Orten finden sich – meist durch die Hausärzt/-innen – vorselektierte Patient/-innen. Möglich ist diese Lehrveranstaltung nur, weil sich dankenswerterweise jedes Semester eine grosse Zahl von engagierten Kolleg/-innen findet, die bereit sind, Studierende in die eigene Praxis aufzunehmen. Auch wenn wir die individuelle Abstimmung nun maximal flexibilisiert haben und die Entschädigung auf ein adäquates Niveau angehoben wurde, bleibt die Gewinnung einer ausreichenden Zahl von Lehrärzt/-innen eine grosse Herausforderung. Einerseits sind die Studierendenzahlen deutlich gestiegen, von anfangs 250 auf mittlerweile 380. Andererseits führt der Konzentrationsprozess auf Praxisebene zu einem geringeren Angebot, denn die aus mehreren Einzelpraxen gebildete Gruppenpraxis nimmt eben auch oft nur eine(n) Studierende(n) auf. Dennoch ist es beispielsweise im Wintersemester 2023/2024 gelungen, 320 Hausärzt/-innen für dieses Lehrformat zu gewinnen. Viele Kolleg/-innen schätzen es, dem Nachwuchs ihr praktisches Wissen zu vermitteln und empfinden es als bereichernd, sich mit der kommenden ärztlichen Generation auseinanderzusetzen und auszutauschen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass das Einzeltutoriat zu den seitens der Studierenden mit am besten evaluierten Lehrveranstaltungen zählt.

Neben dem Einzeltutoriat existieren zahlreiche weitere Lehrangebote des Instituts. Neben zwei eigenen Angeboten im Mantelstudium, die regelmässig überbucht sind und somit sowohl die Qualität der Lehrveranstaltungen als auch das Interesse am Fach Hausarztmedizin zeigen, wirken Mitarbeiter/-innen noch an zwei weiteren Mantelsstudiumskursen mit. Hervorzuheben sind des Weiteren vor allem der Blockkurs und die Fokuswoche hervorzuheben. Im Blockkurs im 6. Studienjahr erleben die Studierenden einen Querschnitt der Hausarztmedizin, in der Fokuswoche bearbeiten sie Patientenfälle über die gesamte Versorgungskette der Allgemeinen Inneren Medizin hinweg, vom stationären Aufenthalt über die Entlassung bis hin zur Betreuung der chronischen Erkrankungen. Auch in dieses Lehrformat sind erfahrene und engagierte hausärztliche Kolleg/-innen involviert. Den praktisch tätigen Kolleginnen und Kollegen kommt so in der hausärztlichen Lehre eine ganz entscheidende Bedeutung zu, nur dank ihres grossen Engagements ist es möglich, die Lehrveranstaltungen von der theoretischen Ebene der Vorlesung ins richtige Leben zu heben.

Masterstudierende und Doktorierende

Die Betreuung von Doktorierenden ist eine wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Mitarbeiter/-innen des Instituts. Seit 2011 ist zudem die Anfertigung einer Masterarbeit eine essentielle Voraussetzung, um das Medizinstudium erfolgreich abzuschliessen. Im Vergleich zu früher muss man konstatieren, dass das Niveau der Masterarbeit heute qualitativ wie quantitativ das Niveau früherer Dissertationen erreicht hat und die medizinische Dissertation sich im Anspruch immer weiter hin zu den Anforderungen in anderen naturwissenschaftlichen Fächern entwickelt hat. Eine Dissertation neben einer klinischen oder gar praktischen hausärztlichen Tätigkeit ist heute nicht mehr möglich, wird sie doch in einem Vollzeitpensum am Institut absolviert. Seit 2011 wurden am Institut 65 Masterarbeiten erfolgreich abgeschlossen und seit 2010 haben mit 66 abgeschlossenen Dissertationen fast dieselbe Anzahl an Kolleg/-innen promoviert. Neben der rein akademischen Qualifikation bietet eine Masterarbeit oder Dissertation vor allem auch die Möglichkeit, die angehenden Ärztinnen und Ärzte über vielfältige, realitätsnahe, versorgungsrelevante und daher spannende wissenschaftliche Fragestellungen an das Fachgebiet der Hausarztmedizin heranzuführen. Nicht selten endet so eine Masterarbeit auch später in einer hausärztlichen Tätigkeit. Während im Bereich der Grundlagenforschung oder auch gerade in der klinischen Forschung gelegentlich die Betreuung von Doktorand/-innen – der Herausforderung der klinischen Versorgung geschuldet – manchmal verbesserungsfähig ist und Dissertationen abgebrochen werden, so sind wir auf eine nahezu hundertprozentige Erfolgsquote stolz. Bisher wurden nur zwei Dissertationen nicht abgeschlossen, einmal versiegte das Interesse des Kandidaten, einmal war das Engagement einfach zu gering.

PhD

Neben der Möglichkeit der klassischen Promotion gibt es am Institut auch die Möglichkeit einen PhD zu erwerben, entweder im Rahmen des «clinical scientist» Programms der Medizinischen Fakultät der UZH oder im Rahmen des «Swiss Learning Health System, SLHS», einem Verbund zahlreicher Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen. Anders als bei einer klassischen Dissertation wird ein PhD durch gezielte Fortbildungsmassnahmen und methodische Qualifikationsmassnahmen begleitet. International, insbesondere im angloamerikanischen Raum, ist der PhD die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Karriere, die Habilitation existiert nur im deutschsprachigen Raum. Ein PhD steht mit (meist) 4 – 6 Publikationen im Anspruch somit zwischen Promotion, die in der Regel auf einer wissenschaftlichen Publikation beruht, und der Habilitation, die meist um die 15 Arbeiten umfassen muss. Insgesamt konnten acht PhDs erfolgreich abgeschlossen werden, drei weitere sind gerade in der Publikationsphase.

Habilitationen

Ganz entscheidend für die akademische Etablierung eines Fachgebiets ist es, genügend Kolleg/-innen zu habilitieren und ihnen damit die Möglichkeit zu verschaffen, selbst akademische Positionen an anderen Universitäten zu besetzen. Aber auch in dem oft engagierten und herausfordernden Ringen um wissenschaftliche Erkenntnisse – oder öfter noch in der Interpretation dieser Ergebnisse – mit anderen Fachdisziplinen ist eine methodische Diskussion auf Augenhöhe wichtig. Eine abgeschlossene akademische Laufbahn und namentlich Habilitation sind hierbei oft eine wichtige Voraussetzung. Daher ist es eines der vorrangigen Ziele in Zürich, möglichst viele Kolleg/-innen zu habilitieren. Eine Habilitation hat naturgemäss einen längeren Vorlauf als etwa eine Promotion, bedarf es doch einer recht hohen Zahl (in Zürich 15) wissenschaftlicher Publikationen in angesehenen medizinischen Journals. Daher hatte es nach Gründung des Lehrstuhls natürlich etwas gedauert, bis die ersten Kandidat/-innen für diese akademischen Ehren parat waren. Mittlerweile konnten aber bereits 15 Kolleg/-innen habilitiert werden und drei weitere haben ihre wissenschaftlichen Arbeiten bereits eingereicht. Im Hinblick auf die Geschlechterverteilung sind wir im Institut sehr stolz, dass gerade auch Frauen sich sehr stark wissenschaftlich engagieren, so sind immerhin 6 der 15 Habilitand/-innen weiblich, bei den Masterarbeiten sind es 38 (58%) und bei den Dissertationen 41 (62%). Bei den PhDs dominiert erfreulicherweise das weibliche Geschlecht völlig, alle acht PhDs wurden von Frauen abgeschlossen.

Professuren und Lehrstuhlberufungen

Oliver Senn, der erste wissenschaftliche Mitarbeiter im Institut, erhielt nach seiner Habilitation zunächst eine Assistenzprofessur und zuletzt eine Berufung auf ein Extraordinariat ad personam, einen Ruf auf die Professur nach Mannheim der Medizinischen Fakultät Heidelberg lehnte er ebenso ab, wie Prof. Stefan Neuner-Jehle den Ruf nach Fribourg. Er hat heute eine Assistenzprofessur inne. Ein dritter früherer Mitarbeiter erhielt den Ruf nach Bern, den er allerdings ebenfalls abgelehnt hat, darüber hinaus wurde sechs weiteren Mitarbeiter/-innen die Ehre einer Titularprofessur zuteil. Insgesamt hat das Institut damit bisher acht Professor/-innen hervorgebracht und diese drei Rufe auf Lehrstühle erhalten.

Forschung

In der medizinischen Forschung kann man grundsätzlich drei Bereiche unterscheiden (Abb1.): In der Grundlagenforschung geht es um die theoretische Wirksamkeit unter Laborbedingungen, die sogenannte «efficacy», in der klinischen Forschung wird dieser Ansatz oder dieses Präparat unter kontrollierten Bedingungen an einer selektierten Patientenklientel getestet, die sogenannte «clinical efficacy». Ob diese Präparate oder Versorgungsansätze aber auch unter Alltagsbedingungen funktionieren oder wie sie implementiert werden können, wird im real-life Setting der Versorgungsforschung an einem un­selektierten Patientenklientel getestet. Hier sprechen wir dann von der «effectiveness» oder auch der «efficiency», wenn ökonomische Aspekte mitberücksichtigt werden. Es ist eine Alltagserfahrung, dass vieles, was im kontrollierten Setting der klinischen Studie funktioniert, im Alltag nicht umsetzbar ist oder nicht umgesetzt wird. Dieser «evidence-performance-gap» ist daher oft Gegenstand der hausärztlichen Forschung. Nicht selten bedarf es einer Adaption der rein klinischen Evidenz an die Realität der Versorgung.

In der Vergangenheit wurden Hausärzt/-innen dabei eher beforscht, als dass sie selbst forschten, und dabei wurden die Spezifika des hausärztlichen Settings oftmals zu wenig berücksichtigt und teilweise falsche oder gar diskreditierende Folgerungen gezogen. Forschung in der Hausarztmedizin ist daher kein Selbstzweck, es ist vielmehr das Wesen jeder autarken medizinischen Disziplin, eigene Forschungsfragestellungen zu entwickeln und zu beantworten. Hausärztliche Forschung beschreibt und belegt den Beitrag des Faches im Gesundheitssystem und entwickelt das Fach aber auch weiter im Kontext der Herausforderungen von Multimorbidität, Über- und Fehlversorgung und versucht durch innovative Ansätze wie Multiprofessionalität und evidenzbasierte Versorgungskonzepte die immer grösser werdende klinische Evidenz aus RCTs und Leitlinien in den Alltag zu implementieren.

Im Institut existieren hierzu zwei tragende Säulen, die eine stellt das FIRE-Netzwerk dar, die zweite Säule besteht aus einzelnen Forschungsprojekten. Methodisch werden hier fast alle Studienarten abgedeckt, von qualitativen Arbeiten über Querschnittserhebungen bis hin zur Königsdisziplin der randomisierten Interventionsstudie, dem RCT, oft als «Cluster»-RCT, weil die Randomisierung auf Praxisebene erfolgen muss. Adressiert werden dabei immer klinische Themen, die eine hohe Relevanz im hausärztlichen Alltag haben. Die Themen reichen von chronischen Erkrankungen, insbesondere kardiovaskulären Erkrankungen über Impfen bis hin zu klassischen «smarter medicine» Themen, wie deprescribing (1-7). Oftmals stehen dabei gerade auch Fragen, wie die Versorgung zu organisieren ist, also im Sinne einer Multiprofessionalität, im Fokus (8, 9). Das Ziel dabei ist, «das richtige Mass an Medizin, zum richtigen Zeitpunkt, für den richtigen Patienten» zu finden, ganz im Sinne der Versorgungsforschung (9).

In der Schweiz sind das Verständnis und die Akzeptanz der Versorgungsforschung noch gering ausgeprägt, was wohl mehrere Ursachen hat. Die traditionelle Stärke der Grundlagen- und klinisch-pharmazeutischen Forschung und die bislang grosszügig vorhandenen finanziellen Ressourcen im Gesundheitssystem lassen klassische Versorgungsforschungsfragestellungen oft wenig dringlich erscheinen. Dabei geht es in der Versorgungsforschung nicht primär darum, Kosten einzusparen, sondern vor allem darum, die Versorgung effizienter zu gestalten und das Ergebnis mehr am Patientennutzen zu orientieren, im Sinne einer «value based healthcare». Dies bedeutet oftmals, die Lücke aus medizinischer Evidenz und täglicher Praxis zu minimieren («evidence-performance-gap») (1, 3, 10-12). Denn auch die besten Medikamente wirken nicht, wenn sie nicht verschrieben oder genommen werden. In Bereichen, in denen diese Evidenz nicht vorhanden ist, handelt es sich dann um eine Fehl- oder Überversorgung, zu nennen sind hier als Beispiele sowohl nicht indizierte Bildgebung, arthroskopische Interventionen, aber auch nicht indizierte Vitamin-D- oder Vitamin-B12-Tests (13-15).

Finanzielle Förderung hausärztlicher Forschung in der Schweiz

In den Jahren ab 2008 standen für die hausärztliche Forschung 200’000.- CHF zur Verfügung, die über die Kommission RRMA (Recherches et Réalisations en Médecine appliquée) der SAMW (Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften) ausschliesslich an hausärztliche Institutionen vergeben wurden. Dieses Programm endete 2012 und wurde durch ein Förderprogramm «Versorgungsforschung» abgelöst, das ebenfalls von der SAMW begleitet wurde, und durch die Bangerter-Rhyner-Stiftung während 5 Jahren mit einer Million CHF jährlich gefördert wurde. Im Jahr 2015 erhielt die Versorgungsforschung in der Schweiz einen wichtigen Impuls, unterstützt vom Bundesamt für Gesundheit und der SAMW wurde mein Antrag auf Einrichtung eines nationalen Forschungsprogrammes (NFP) mit dem Fokus auf Versorgungsforschung umgesetzt und dann als NFP 74 «Gesundheitsversorgung» und einer Fördersumme von 20 Mio. CHF eingerichtet. Grundlage bildete das SAMW-Papier «Stärkung der Versorgungsforschung in der Schweiz» (16). Seit dem Auslaufen des NFP 74 steht in der Schweiz allerdings kein Förderprogramm mehr zur Verfügung, das explizit Versorgungsforschung adressiert oder auf die hausärztliche Forschung reflektiert. Mehrere Anträge an den Schweizer Nationalfonds im Rahmen einzelner Forschungsprojekte wurden – trotz positiver externer respektive internationaler Gutachtervoten – letztlich nicht gefördert, was die schwierige Drittmittelbeschaffung der Institute für Hausarztmedizin in der Schweiz verdeutlicht. Dort, wo die Gelder verteilt werden, existiert kein Bewusstsein und Verständnis für die Bedeutung auf der sogenannten «letzten Meile» der Versorgung hin zur/zum Patient/-in zu forschen. Ganz anders übrigens die Situation im Ausland, in Deutschland beispielsweise wurden wiederholt umfangreiche derartige Forschungsförderungen aufgelegt, im angloamerikanischen Raum existieren zahlreiche Finanzquellen für den Bereich «health services research».

FIRE

Die Herausforderungen der klassischen Forschung mittels RCTs in der Hausarztmedizin sind aber nicht nur finanziell besonders gross, auch die Gewinnung von Kolleg/-innen, insbesondere für Interventionsstudien, ist herausfordernd. Die Bereitschaft neben der praktischen Tätigkeit, sich an Studien zu beteiligen, ist trotz finanzieller Abgeltung und manch Wissenstransfer im Rahmen des jeweiligen Projektes verständlicherweise gedämpft. Umso grösser der Dank und die Anerkennung an all die Kolleg/-innen, die sich trotzdem immer wieder beteiligen und dafür sorgen, dass bisher jedes Rekrutierungsziel erreicht wurde. Neben der direkten Beteiligung an RCTs bietet FIRE eine exzellente Möglichkeit, sich an Forschung zu beteiligen, und dies ohne jeden Zusatzaufwand. Das FIRE-Netzwerk besteht seit 2008 und umfasst mittlerweile mehr als 720 Hausärzt/-innen (400 mit der neuesten Schnittstelle), die die strukturierten Daten vollständig anonymisiert und ohne Freitexteintragungen aus ihren elektronischen Krankenakten automatisiert auf einen geschützten Server der Universität hochladen (17). Über die Jahre ist damit eine der grössten Datenbanken mit hausärztlichen Routinedaten auf freiwilliger Basis weltweit entstanden. Mehr als 1 Mio. Konsultationen mit Diagnose, Labordaten und physiologischen Parametern wie etwa dem Blutdruck können longitudinal verfolgt werden. FIRE ermöglicht aber nicht nur Forschung, es ist auch ein exzellentes Instrument, um die Qualität der hausärztlichen Tätigkeit abzubilden und zu verbessern, denn anders als etwa bei den Versicherern ist es möglich, klinisch relevante Outcomes, wie etwa Blutdruckeinstellungen oder auch das gesamte kardiovaskuläre Risikoprofil abzubilden, mit den anderen Teilnehmern zu vergleichen und über Feedbackreports zurückzuspiegeln (18, 19). Die Eidgenössische Qualitätskommission, wo auch Ansätze künstlicher Intelligenz zum Einsatz kommen, fördert ein derartiges Qualitätsprojekt mit über 1 Mio. CHF. Grösste Herausforderung in FIRE stellen die Anbieter der KG-Software dar, da ihnen weder die immense Bedeutung der Daten für die Hausärzt/-innen noch für die hausärztlichen Netzwerke durch die teilweise an FIRE-Qualitätsindikatoren gekoppelte Steuerungsvergütung der Krankenversicherer bewusst ist und sie nur zögerlich Schnittstellen zur Verfügung stellen.

Guidelines

Spezialärztliche Leitlinien lassen sich nicht einfach auf das Niedrigprävalenzsetting übertragen, dies gilt insbesondere für die Diagnostik, wo es meist nur einer schrittweisen Eskalation bedarf (20). Die SGAIM als zuständige Fachgesellschaft publiziert keine eigenen Guidelines, einige hausärztliche Netzwerke haben dies übernommen, aber letztlich ist es wichtig, dass Leitlinien die aktuelle wissenschaftliche Evidenz widerspiegeln und dass sie weder durch die Pharmaindustrie noch durch wirtschaftliche Überlegungen des Netzwerkes beeinflusst werden. Daher erstellt das IHAMZ eigene, rein evidenzbasierte Leitlinien in einem interdisziplinären Team aus Hausärzt/-innen und Spezialist/-innen des jeweiligen Fachgebietes. Sie stehen frei zugänglich auf der Homepage des IHAMZ zur Verfügung und werden in der Zeitschrift «Praxis» publiziert (20).

Praxisassistenz und Curriculum

Über Vorlesungen, Kurse, Masterarbeiten und Dissertationen kann man den medizinischen Nachwuchs an die Hausarztmedizin heranführen. Früh schon wurde aber auch deutlich, dass die Hausarztmedizin gerade in der Phase der Facharztweiterbildung konkurrenzfähige Angebote machen muss (21). Mit der Gesundheitsdirektion Zürich konnte daher schon 2009 ein umfangreiches Förderprogramm ausgehandelt werden, das über die Jahre zudem sukzessive erhöht wurde. Mittlerweile werden 24 Praxisassistenzen und 6 Curriculumsstellen am USZ, die eine Rotation durch Dermatologie, ORL und Rheumatologie mit abschliessender Praxisassistenz ermöglichen, gefördert. Das Curriculum ist mittlerweile auf Jahre hinaus ausgebucht und auch die Nachfrage der Praxisassistenz entspricht mindestens dem Angebot. Die grösste Herausforderung ist hier die Kurzfristigkeit in der Planung vieler Assistenzärztinnen und Assistenzärzte sowie deren oft sehr dezidierten Vorstellungen, was die Weiterbildungsstätte und deren Engagement in der Weiterbildung anbelangt.

Résumé

Die 2008 mit dem ersten ordentlichen Lehrstuhl für Hausarztmedizin in Zürich begonnene Akademisierung des Faches hat mittlerweile alle Schweizer Universitäten erreicht. An allen medizinischen Fakultäten gibt es mittlerweile entsprechende Professuren. Die finanzielle Ausstattung variiert allerdings sehr stark und damit auch die Möglichkeiten, das Fach in Lehre und Forschung adäquat zu reflektieren. In Zürich existieren vergleichsweise positive Rahmenbedingungen, was sich in einem umfangreichen Lehrangebot niederschlägt. Im Bereich der Forschung hat sich das IHAMZ sogar zum aktivsten Institut im gesamten deutschsprachigen Raum entwickelt: Seit 2008 wurden allein 1’593 Publikationen veröffentlicht, pro Jahr also mehr als 100 Arbeiten. Über Lehre, Masterarbeiten und Dissertationen ist es gelungen, die Studierenden ganz anders an das Fach heranzuführen und via Praxisassistenzen und Curriculum wird ihnen auch niederschwellig der Weg in eine praktische hausärztliche Tätigkeit geebnet. An keiner anderen europäischen Universität wurden im selben Zeitraum so viele Kolleg/-innen habilitiert oder Professor/-innen ernannt, was zur akademischen Verankerung des Fachs an der medizinischen Fakultät wesentlich beigetragen hat. Es bleibt zu hoffen, dass die wichtigen Impulse, die von der Forschungsförderung der SAMW und des NFP 74 ausgingen, ihre Fortsetzung im Bewusstsein des Nationalfonds finden. Nur durch die Möglichkeit, ausreichend Drittmittel einzuwerben, kann die erfolgreiche Forschungstätigkeit langfristig gesichert werden und ihre Erkenntnisse mithelfen, das Gesundheitssystem in der Schweiz auf der Basis solider Evidenz effizient und zukunftsfähig zu gestalten.

Betrachtet man die Faktoren, die gerade in Zürich die Akademisierung so erfolgreich gemacht haben, dann sind dort neben den erwähnten günstigen finanziellen Rahmenbedingungen, die auch auf einer hohen Drittmitteleinwerbung basieren, vor allem zwei Faktoren ausschlaggebend: Zum einen ist dies ein hochmotiviertes und talentiertes Team, das sich durch eine extreme Konstanz auszeichnet. So sind viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Anfang an oder mehr als zehn Jahre dabei. Der zweite wichtige Faktor ist die enge Zusammenarbeit und tiefe Verankerung in der lokalen Hausärzteschaft. Nur durch das Engagement vieler engagierter Kolleginnen und Kollegen sind die zahlreichen Lehrveranstaltungen, Forschungsprojekte und auch das FIRE-Projekt möglich. Auch das ist etwas, was die Hausarztmedizin von anderen medizinischen Fächern unterscheidet: Nirgends wird die Zukunft so stark im gegenseitigen Austausch und Vertrauen zwischen akademischer Einrichtung und den niedergelassenen Kolleg/-innen gestaltet.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. Dr. Dr. med.Thomas Rosemann

Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich

thomas.rosemann@usz.ch

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